4. Thesen und Auszug aus dem Referat “Göttliche und menschliche Gerechtigkeit im Alten Testament” von Prof. D. G. von Rad, Heidelberg

(Gehalten auf der ökumenischen Tagung in Treysa am 2. u. 3. Aug.)

 

A. “Zum Ausgang werden die Untersuchungen von Cremer, Pedersen, Fahlgren u.a. genommen: Gerecht ist, wer Ansprüchen gerecht wird, die kraft eines bestimmten Verhältnisses bestehen. Der Begriff Gerechtigkeit hat in Israel keineswegs allein seine Wurzel im Forensischen.”

Seit Cremer ist der Begriff der biblischen Gerechtigkeit als ein Verhältnisbegriff erkannt. Allerdings fasst Cremer den Begriff noch zu einseitig forensisch. Durch Pedersen wurde der Begriff insofern präziser, als er auf den Bund als Gemeinschaftsordnung hinwies. Auf der andern Seite begegnet seine Deutung von ṣedaqa als Seelenkraft und Segenskraft einigen Bedenken. Der Referent begründete dann den Aufbau seines Referates nach geschichtlichen Gesichtspunkten: Man muss so vorgehen, weil Gott selbst mit Israel einen geschichtlichen Weg gegangen ist. Religion ist nicht etwas Abstraktes, sondern hat jeweils einen “Sitz im Leben”, der Gegenstand der Untersuchung sein muss. Die erste Frage muss deshalb lauten: Wo wurde auf Gott, wo wurde auf den Menschen das Prädikat “ṣadiq” bezogen?

1) “Der wohl älteste Beleg im AT ist Ri. 5, 11 von den ‘Gerechtigkeitserweisungen’ Jahwes. Im Schutz und in der Führung Israels erweist Jahwe seine Gerechtigkeit, d.h. sein rechtes Verhalten zu dem im Bund gesetzten Verhältnis zu Israel (Mi. 6, 5; Ps. 103, 6). Der ‘Richter’ d.h. der charismatische Führer ist der Beauftragte, der Israel zu diesem ‘Recht’ verhilft.”
Ri. 5, 11 liegt zweifellos keine sekundäre Übertragung aus irgend einem primär forensischen Sprachgebrauch vor. Gottes Gerechtigkeit ist sein Heilshandeln, seine Führungen, seine Wunder. Der Begriff zeigt trotz seines hohen Alters eine gewisse Weiterbildung gegenüber einer reinen Verhältnisbestimmung, insofern er nicht das Bundesverhältnis selbst, sondern seine Heilsfolgen für Israel zum Ausdruck bringt.

2) “Israel war gerecht, wenn es sich auf dieses von Gott gesetzte Gemeinschaftsverhältnis einstellte (Gen. 15, 6). Das Prädikat ‘gerecht’ wurde ihm aber in alter Zeit vom Kultus aus zugesprochen. ‘Gerecht’ war Israel, wenn es sich bestimmten Geboten Jahwes unterwarf. Aus einigen liturgischen Stücken

|17|

werden solche notae des ‘Gerechten’ deutlich (Hes. 18, 3 ff; Ps. 15, Ps. 24). In den apodiktischen Geboten, die am Höhepunkt der Bundeserneuerungsfeste liturgisch vorgetragen wurden, nahm Gott Israel immer neu in Beschlag.”
Methodisch empfiehlt sich, beim alten Kultus einzusetzen, trotzdem wir die betreffenden Belege teilweise nur im Zusammenhang späterer Zeugnisse vor uns haben. Traditionsgeschichtlich stehen wir tatsächlich vor sehr altem Material.
Zu Hes. 18, 3 ff: Offenbar so etwas wie ein alter Beichtspiegel. Werden hier Bedingungen oder maximale Forderungen aufgestellt, die die Zusprechung des Titels “ṣadiq” (Vers 9) ermöglichen? Weder das eine noch das andere! Man hat den Eindruck, dass die Frage nach der Erfüllbarkeit dieser “Bedingungen” hier gar kein Problem gewesen ist, vielmehr werden in Indikativsätzen die notae des “ṣadiq” aufgezählt. Faktisch handelt es sich um durchaus erfüllbare Forderungen. Anders verhält es sich beim Dekalog, der seinen Sitz im Leben im Laubhüttenfest hatte. (Mowinkel, Alt): Die Verkündigung der Gebote folgt der Beschlagnahme durch Gott (Dtn. 27, 9 “Heute bist du das Israel Gottes geworden”). Das Problem der Erfüllung dieser Gebote taucht für die Wallfahrer erst nach ihrer Rückkehr vom Laubhüttenfest in die Heimat auf. Wenn sie dann zum zweitenmal zum Hause Gottes kamen, wurde diese Frage schon dringender. Davon zeugen die Tor-Liturgien Ps. 15 und Ps. 24. Hier ist ein konditionaler Unterton nicht zu verkennen, aber das Heilsverhältnis, die Bundesgliedschaft ist dadurch nicht im Sinne eines Entweder-Oder in Frage gestellt. Freilich hören wir in den alttestamentlichen Texten nur die zum Kultus Zugelassenen; die Stimme der Ausgeschlossenen (vgl. etwa Hiob 30, 3 ff.) ist verschollen.

3) “Aber auch die Normen des bürgerlichen Zusammenlebens (konditionale Rechtssätze), die Israel zum grossen Teil ursprünglich von den Kanaanäern übernommen hatte, wurden durchgängig von Jahwe, dem Gott des Bundes hergeleitet. Gerecht im Sinne dieser Rechtssätze ist derjenige, der den Forderungen des bürgerlichen Gemeinschaftslebens entspricht.”
Hatten wir es im Kultus mit apodiktischen Geboten zu tun (siehe oben), so stossen wir hier auf konditional stilisierte Gebote: “Wenn einer . . ., dann . . .”. Dies ist juristisches Denken, sein Sitz im Leben ist die Rechtsgemeinde im Tor. Für unser Thema ist Dtn. 17, 8 besonders wichtig: eine Verkoppelung zwischen fas (Kultus) und ius: die Ortsgemeinde kann die meisten Fälle entscheiden; in schwierigen hilft Jahwe durch den Mund seiner Priester.
Ṣedaqa” bezeichnet hier überall die richtige Beziehung

|18|

zwischen Mensch und Mensch (Beispiel Dtn. 24, 13). Gerecht hat vielfach den Sinn von “anständig” oder “loyal”. In diesem Brauch ist auch der Komparativ (“gerechter”) möglich, z.B. 1. Könige 2, 32; 1. Sam. 24, 18. Im Kultus vor Jahwe wäre ein Komparativ undenkbar gewesen.
Trotz des jeweils anderen “Sitzes im Leben” kann im A.T. von einer wirklichen Trennung der Bereiche nicht die Rede sein: Auch über der Gerechtigkeit, von der hier gehandelt wurde, wacht Jahwe. Vgl. ausser Dtn. 17, 8 noch Ex. 23, 2 ff.

4) “Als Hüter und Garant des Gottesrechtes wird vor allem der König angesehen. In den Königspsalmen (vgl. Ps. 72) ist das vornehmste munus des Gesalbten die Durchsetzung des Gottesrechts auf Erden.”
Hier tritt die höhere Einheit zwischen kultisch-apodiktischem und juristisch-konditionalem Recht besonders deutlich zutage. Der König, sowohl in den Königspsalmen als auch in den eigentlichen prophetischen Weissagungen, ist der Mandatar Jahwes, der Garant der eschatologischen Durchsetzung des Gottesrechts (vgl. Jes. 11, 1 ff). Er rettet den Armen (Ps. 72, 12 ff). — Dies alles sind jedoch Aussagen, die das geschichtlich institutionell Gegebene weit transzendieren: Kein Gesalbter, der als Davidide auf dem Thron Jerusalems sass, konnte alle diese Titel für sich in Anspruch nehmen. Zu bedenken ist auch, dass die Gerichte in der Landschaft faktisch nicht der Oberhoheit des Königs unterstanden.

Abschluss Teil A: “So war also alles Recht im alten Israel Gottesrecht. Keines der atl. Rechtscorpora versteht sich als Staatsrecht; sie haben alle nicht die Staatsform sondern die sakrale Bundesgemeinde zur Voraussetzung (von hier aus erklärt sich der Zusammenstoss dieses Gottesrechts mit der Staatsraison). Zwischen den bürgerlichen Rechtssätzen (Nr. 3) und dem kultischen, etwa dem Dekalog (Nr. 2) unterschied Israel nicht grundsätzlich; wie ja auch die bürgerlichen und die sakralen Rechtssätze in den corpora ordnungslos nebeneinander stehen. So besteht auch kein grundsätzlicher Unterschied zwischen einer bürgerlichen Gerechtigkeit und einer Gerechtigkeit vor Gott. Keiner, auch keiner der bürgerlichen Rechtssätze wird naturrechtlich hergeleitet (irgend eine innere Verbindung mit den noachitischen Geboten (Gen. 9 ff.) ist nicht sichtbar). Dieses Gottesrecht galt im älteren Israel als erfüllbar.”

Weithin hat Israel auf dem Gebiet des Rechtslebens gemein orientalische Überlieferungen (konditionales Recht) übernommen. Trotzdem fehlt jedes Anzeichen einer naturrechtlichen Einkleidung. Alle Gesetze im AT gelten als Sinaï-Gesetze, d.h. als Gesetze Jahwes, des Erlösers aus Ägypten. Im Unterschied zum

|19|

alten Orient ist jedoch im AT kein Gesetz Staatsgesetz, sondern sie sind alle in der Kultgemeinde verankert. Bezugnahme auf ein Völkerrecht (Amos 1 und 2 oder der Abschnitt Gen. 9 von den agraphoi nomoi aller Menschen) stehen im AT merkwürdig vereinzelt. 1) Jedenfalls geschieht Gottes Selbstoffenbarung an Israel ohne jede Anknüpfung.

 

B. “Eine schwere Krise aller Glaubensvorstellung des alten Israel bedeutet 1. die Prophetie, 2. das Exil, 3. ein aufkommender Individualismus. Die Prophetie radikalisiert die Forderungen des Gottesrechts; sie verkündet, dass Israel den Bund gebrochen und dass das Ende über Israel gekommen sei. Das Exil riss Israel aus den sakralen Institutionen, durch deren Vermittlung ihm bisher das Prädikat gerecht zugesprochen war. Der Individualismus des 6. Jahrhunderts trennte den Einzelnen viel stärker von der Kollektivität ab und machte die Gerechtigkeit des Einzelnen und seinen Anteil an Jahwes Heilsgütern zum Problem. Von jetzt ab häufen sich die Belegstellen für ṣaddiq, ṣedaqa usw.; ein deutliches Zeichen, dass die Gerechtigkeit weitgehend ein Gegenstand der theologischen Reflexion geworden ist.”

In der Erläuterung dieser Sätze wie der Referent vor allem auf die Bedeutung der Tatsache hin, dass Israel nun in die Reihe der politisch aktiven Nationen eingetreten ist und sich dementsprechend militärisch und diplomatisch schützen muss: Dies ist das eine Problem, mit dem die Propheten sich befassen: sie reden den politischen Menschen an. — Hinzu kommt, dass Gott ihnen als der offenbar geworden ist, an dessen Heiligkeit der Mensch scheitern muss. Deshalb ist bei den Propheten viel weniger von Gottes Gerechtigkeit als von der vor Gott unzureichenden “ṣedaqa” des Menschen die rede. Gottes Gebote erscheinen hier zum erstenmal als Gesetz in dem Sinne, in dem wir diesen Begriff theologisch verwerten. Ein Beispiel dafür ist Jes. 33, 14 f. Hier lautet die Frage: “Wer kann dann weilen bei den ewigen Gluten?” (d.h. in Gottes Gegenwart) und die Antwort lautet: “Wer in Gerechtigkeit wandelt . . .” usw.; dies wird dann weiter in einer Art radikalisierter Tor-Liturgie entfaltet: Die Lage des Menschen vor Gott ist ausweglos.

1) “Die Propheten weissagen einen neuen Bund, ein neuer Jerusalem und eine neue Gerechtigkeit”.
Die eben erwähnte Ausweglosigkeit der menschlichen Situation vor Gott haben die Propheten an sich und an ihrer Verkündigung erlebt. Aber Gott zeigt ihnen auch einen neuen Weg, wie wir an den bekannten Texten Hes. 36 und Jer. 31 erkennen können. Bei der


1) Vgl. dazu oben S. 15.

|20|

Auslegung dieser Texte darf man keinen Gegensatz zwischen einem äusserlichen und einem innerlichen Gehorsam konstruieren. Der neue Mensch, von dem hier die Rede ist, ist als ganzer Mensch von Gott gefordert und er “wird Gottes Willen in seinem Herzen tragen”.
Beide Texte (Hes. 36 und Jer. 31) sind kollektiv gefasst, obwohl schon im 7. Jahrhundert die Stellung des Einzelnen vor Gott mehr und mehr zum Kernproblem geworden war. Das Ende des 12-Stämme-Bundes in den Katastrophen von 722 und 586 hat zu einer stark individuellen Auflösung geführt, die auch nicht von Esra und Nehemia rückgängig gemacht wurde. Früher gehörten die Begriffe “Bundesgemeinde” und “ṣedaqa” zusammen; jetzt stand das Gesetz als absolute, nahezu zeitlose Grösse vor dem Einzelnen (Noth).

2) “Viele Psalmbeter trösten sich einer individuellen Gerechtigkeit, die in ihrer Vollkommenheit merkwürdigerweise die subjektiven Möglichkeiten der Gehorsamsleistung weit transzendiert, die sie aber dennoch für sich in Anspruch nehmen und vor Gott beteuern; sie stellen sich vor Gott im Bild des paradigmatisch Gerechten dar.”
Die Psalmbeter zweifeln nicht an ihrer Gerechtigkeit. Man darf ihre Aussagen freilich keinesfalls autobiographisch verstehen. Überraschenderweise fehlt jede Klage über eine Last des Gesetzes. Vielmehr hören wir die Psalmbeter in steigendem Masse eine exemplarisch Gerechtigkeit rühmen. Der Kultus hat hier typisierende Kraft und enthält insofern ein Element der Weissagung — auf die oboedientia Christi hin! Die zweifelnde Aussage Ps. 143, 2 ist eine sehr vereinzelte Formulierung, die von hier aus verstanden werden muss.

3) “Hiobs Kampf ist vornehmlich ein Ringen um seine Rechtfertigung vor Gott (Hiob 9, 15-35; 13, 18 usw.). Der von fast allen Glaubensüberlieferungen gelöste, radikal individualisierte Hiob empfängt die Gewissheit, dass jenseits seines Erdenlebens Gott als sein Löser diese Rechtfertigung vollziehen wird (Hiob 19, 23 ff.).”
Das Auffallende ist, dass Hiob sich für “ṣadiq” hält (Hiob 9, 14 ff. und 20), obwohl er gemeindelos und isoliert vor Gott steht. In Hiob 31 haben wir offenbar einen alten Beichtspiegel vor uns, den Hiob benützt, um seine Gerechtigkeit vor Gott zu beteuern (Vers 6). Hiob 29 schildert ein geordnetes bürgerliches Leben als Folge des früheren Gnadenstandes. Ebenso hat die Klärung des Gottesverhältnisses Hiob am Schluss des Buches die Neuordnung der bürgerlichen Beziehungen (zu Hiobs Freunden) zur Folge.

|21|

Abschluss Teil B: “Auch in dieser spätern Zeit herrscht nicht die Vorstellung, dass Gerechtigkeit vor Gott verdient werden könne. Jahwes Gerechtigkeit ist für Israel — mit Annahme ganz weniger prophetischer Belege — durchgängig iustitia salutifera. Aber Israel hat zu ihr ein eigentümlich gebrochenes Verhältnis; sei es, dass es auf eine zukünftige Offenbarung und Realisierung von seiner und Jahwes Gerechtigkeit hin lebt, sei es, dass es sich präsentisch in einer Gerechtigkeit darstellt, die zwar vollkommen und nicht mehr steigerungsfähig ist, die aber den fehlsamen menschlichen Habitus der Beter weit hinter sich lässt. Auch dies ist Weissagung.”