7. Die Aussprache nach dem neutestamentlichen Referat.

(Diskussionsleitung am 4. August vormittags: Prof. W.M. Horton; nachmittags: Prof. W. Eichrodt.)

 

Die Aussprache wurde durch zwei ausführliche neutestamentliche Voten eröffnet:

Prof. H.D. Wendland — Kiel, wies zunächst darauf hin, dass an einem wichtigen Punkte die alttestamentliche Praxis im NT fortgesetzt werde: nämlich in der Verarbeitung und Übernahme naturrechtlicher Normen aus der heidnischen Umwelt. Es liesse sich nicht leugnen, dass eine solche Übernahme im NT vorliege. Sie werde kontrolliert durch den Rechtfertigungsglauben. Durch die neutestamentliche Eschatologie würden die Normen nicht (wie so oft fälschlich angenommen wird) entwertet, sondern im Gegenteil: sie erhalten hier gerade für den Christen eine neue Dignität, weil es ja die Normen sind, nach denen Gott sein universales Weltgericht vollziehen wird. — Die Übernahme solcher

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Normen ermöglicht den Christen auch die Kooperation mit den Nichtchristen: in der Bemühung um das dikaion stehen sie mit jenen in einer Front, allerdings in einer besonders qualifizierten Grundhaltung: die Christen wissen, dass diese Ordnungen gelten, weil sie von Gott gestiftet sind; zugleich sind sie sich aber auch dessen bewusst, dass es nur vorläufige Ordnungen sind; sie haben erhaltende Funktion bis zum Ende hin: dies ist ihr eschatologisches Telos. 1)

Im Folgenden ging der Sprecher dann ausführlich auf die Grundfragen der christlichen Ethik und der christlichen “Gerechtigkeit” ein. Man dürfe sich das Verhältnis des AT zum NT hier nicht so vorstellen, als kenne nur das AT die Möglichkeit einer erfüllten Gerechtigkeit, während diese als “Werkgerechtigkeit” im NT grundsätzlich ausgeschaltet sei. Auch im NT werde ganz “alttestamentlich” über die menschliche Gerechtigkeit geredet, vor allem in den Synoptikern (z.B. Matth. 25, 31 ff. und Mark. 13 Ende, vgl. auch die Gleichnisse Jesu, die zum grossen Teil voraussetzen, dass es “Täter der Gerechtigkeit” geben kann), aber auch bei Paulus, Johannes und in Apokalypse 2 und 3 und natürlich auch im Jakobus-Brief: das NT kennt die Freiheit zu einer vita christiana, die uns Christus eröffnet hat; wir dürfen uns den Blick dafür nicht durch konfessionell-dogmatische Vorurteile einengen lassen. Es handelt sich hier um ein Siegen mit Christus, ein Sollen, das das Können bei sich hat. So könne Paulus auf sich selbst als eine exemplarische christliche Existenz verweisen und Röm. 6, 11 ff. die neue “Lebens”-Gerechtigkeit aus der Gnadengerechtigkeit und der sakramentalen Christusgemeinschaft entfalten. Wir müssen lernen, in unserer Theologie nicht nur negativ von den “Werken des Gesetzes” im Sinne von Röm. 3, 28 zu reden, sondern auch positiv im Sinne von Matth. 5, 16 und 1. Kor. 15, 58 von dem “Werk des Herrn” und dem Tun der “Söhne der Gottesherrschaft”. Die Tatsache, dass kein Christ das neue Gebot Jesu vollkommen erfülle, sei nicht identisch mit dem unbiblischen Postulat der Unerfüllbarkeit dieses Gebotes.

Am Schluss verwies Prof. Wendland auf die These C 2 der deutschen Vorkonferenz über “Bibel und Naturrecht”, die er sich voll zu eigen machte: “Gegenüber der enthusiastischen Verachtung dieser Ordnungen erinnert das NT mit aller Schärfe gerade die Christen daran, dass diese Ordnungen gelten.” In


1) Auf der deutschen Vorkonferenz über “Bibel und Naturrecht” war H.D. Wendland in seinem Referat ausführlich auf diese Fragen eingegangen. Wir hoffen, den Text dieses Referates bald zugänglich machen zu können.

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dieser These sei implicite ausgesprochen, dass das NT keine klerikal-pharisäische Abgrenzung der Kirche von der Welt kenne. Die Christen seien vielmehr von ihrem Herrn zum Handeln in der Welt ermöglicht.

 

Als zweiter Neutestamentler ergriff dann Prof. N.A. Dahl — Oslo das Wort. Er erinnerte zunächst daran, dass die ganze Fragestellung unserer Konferenz dem NT unbekannt ist, worauf ja auch der Referent hingewiesen hatte. Es seien deshalb kirchengeschichtliche Erwägungen einzuschalten; unser Problem wird für die Christenheit erst seit Konstantin dringen. —

Die Fragestellung habe sich heute aber auch gegenüber dem AT verschoben; dort war die Gerechtigkeit zunächst kein Problem, wurde es aber immer mehr; deshalb habe der Vortrag von Prof. von Rad ganz richtig mit einer offenen Frage geendet, auf die die Antwort nur lauten konnte: Christus ist unsere Gerechtigkeit. Der Weg führt also innerhalb der Bibel von den festen Ordnungen des Gottesvolkes zu Christus. Unsere Frage sei die Umgekehrte: wie können wir von Christus her etwas zu den in sich haltlos gewordenen Ordnungen sagen? Zu diesen Fragen wolle er nun einige exegetische Beobachtungen vorlegen, die freilich nicht als vollständige Antworten gewertet werden dürften.

1. Es sei auffällig, dass in Jesu Verkündigung die Gebote nicht auf Gottes Heilshandeln mit Israel (z.B. Erlösung aus Ägypten) bezogen werden, wohl aber teilweise auf Gottes Schöpfertat (Matth. 5, 44 f.; 19, 4 f.). Dies sei nicht humanistisch-universalistisch zu verstehen; Jesus stand im Gottesvolke. Die Stellung Jesu müsse auf den Hintergrund des Spätjudentums gesehen werden: das — auch von Jesus interpretierte — Gesetz war verabsolutiert, und das Heil ein Jenseitiges geworden (Eingehen in das Reich Gottes). Entscheidend sei die eschatologische Orientierung der Forderungen Jesu, vom Kommen des Reiches Gottes her. Vor allem die im Rahmen des Passamahles gesprochenen Abendmahlsworte zeigen, wie die Erinnerung an die Erlösung aus Ägypten durch das neue Heilshandeln Gottes in Jesus selbst überholt war. Der Rückgriff auf die Schöpfung sei vermutlich von der in der neutestamentlichen und jüdischen Eschatologie geläufigen Beziehung von Urzeit und Endzeit her zu verstehen: angesichts des Kommen des Reiches Gottes wurde der ursprüngliche Schöpferwille Gottes von Jesus wieder rein zur Geltung gebracht.

2. Zur Bergpredigt: Das Wort vom “Salz der Erde” (Matth. 5, 13-16) dürfe nicht zur Legitimation unseres Anliegens herangezogen werden, als ob es einen Auftrag zur “Christianisierung der Welt” oder dergleichen enthielte. Es müsse vom Indikativ

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der Seligpreisungen her ausgelegt werden, der ein eschatologischer Indikativ sei. Der Sinn sei, dass die Jünger das bleiben mussten, was sie als die “eschatologische Gemeinde” durch Jesus und sein das Heil zusagendes Wort schon waren. Die folgenden Gebote der Bergpredigt seien als konkrete Entfaltung dieses thematischen Wortes zu verstehen (— so bei Matth. der aber Jesus sachlich richtig interpretiere). Es liege in der Bergpredigt eine Analogie zu den alttestamentlichen “Torliturgien” vor, wo die Rechtsforderungen an die als solche schon gerechte Kultgemeinde Gottes gerichtet wurden. In diesem Sinne sei die Forderung der neuen Gerechtigkeit (Matth. 5, 20) wie bei Paulus von der “Rechtfertigung” her zu verstehen. Matth. 5, 21 ff. enthalte ähnlich wie die alttestamentlichen Gesetze sowohl konditionale als auch apodiktische Sätze. Schon im AT bahnte sich eine Mischung an, wie in der vom alttestamentlichen Referent zitierten Stelle Dtn. 17, 8. Diese Umklammerung des konditionalen Rechts durch das apodiktische Gebot sei gleichsam vollendet in dem messianischen “Ich aber sage euch . . .” — Die vom neutestamentlichen Referenten erwähnte Radikalisierung sei Matth. 5, 22 besonders deutlich. Hier sei die konditionale Form nur ein Mittel zur Zersprengung der rabbinischen Gesetzeskasuistik. Es wird etwas gefordert, was sich juridisch gar nicht durchführen lässt; die Totalität der Forderung Jesu zersprengt die juridische Form und lässt zwischen juridischer Gerechtigkeit und Gebot Gottes eine Kluft aufbrechen.

3. Jesu Stellung zum menschlichen Recht: Hier müssen wir uns zunächst Luk. 12, 13 f. zuwenden. Jesus lehnt es ab, Erbschlichter zu sein. — Hinzu käme das Verhalten Jesu in seinem eigenen Prozess; er unterstellt sich der menschlichen Rechtssprechung und leidet Unrecht. Die Frage ist in beiden Fällen: wie steht es hier mit der Messianität Jesu? Hätte für den Messias nicht ein ganz anderes Verhalten nahegelegen? Und wie ist von hier aus unsere Einstellung zu Rechtsfragen zu bestimmen? Sind wir legitimiert, stärker einzugreifen als Jesus für sich selbst für richtig hielt?

4. Eschatologische und bürgerliche Gerechtigkeit. Sicher sei das Nebeneinander von eschatologischer und innerweltlicher Gerechtigkeit, von Christengemeinde und Bürgergemeinde, im NT stärker empfunden als im AT. Die neutestamentlichen, das bürgerliche Leben betreffende Anweisungen an die Christen reden davon, wie diese innerhalb der bestehenden Rechtsordnungen ihr Leben führen sollen (Haustafeln, Röm. 13). Die Frage ist, ob

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auch Ansätze vorhanden sind, aus denen sich Weisungen für die Gestaltung des bürgerlichen Rechts ergeben. Jedenfalls zwei Momente kämen hier in Betracht:

5. Erlösung und Schöpfung. Eine enge Beziehung sei zwischen dem vom anbrechenden neuen Aeon bestimmten Leben der Kirche und den Ordnungen des alten Aeons vorhanden, weil der Erlösungsglaube und der Schöpfungsglaube eine Einheit sind (Barnabas-Brief: ta eschata hos ta prota). Der Christ stehe zugleich im neuen und im alten Aeon. Aber eben auf Grund jener Beziehung bedeutet dies “zugleich” keine Zerreissung für ihn. — Dass diese innere Beziehung zwischen Schöpfung und Endzeit im NT wichtig sei, belegte der Sprecher durch Hinweis auf die Bezeichnung Christi als imago Dei und zweiter Adam; der Mensch “nach dem Bilde Gottes” ist Christus und der Mensch “in ihm” (im Zusammenhang mit ethischen Forderungen besonders deutlich Kol. 3, 10 f.). Dass Christus der Schöpfungsmittler gewesen ist, hat auch Konsequenzen für den Wandel der Christen (Kol. 1, 15 ff.; 3, 20-23). Die eschatologische Erfüllung von Gen. 2, 24 im Verhältnis Christi zur Kirche ist für die Gestaltung der irdischen Ehe vorbildlich (Eph. 5, 22-33). Von hier aus ergäbe sich eine grundsätzliche Berechtigung des von K. Barth eingeschlagenen Analogieverfahrens.

6. Kirche und Kirchenrecht: Wiederum wurde darauf zurückgegriffen, dass die Kirche bereits hier die neue Schöpfung repräsentiere. Hier taucht nun das Problem des Rechts in der Kirche auf. Müssten wir bei der Frage nach dem Wege von Gottes Gerechtigkeit zum menschlichen Recht nicht eigentlich zunächst die — freilich sehr schwierige — Frage nach dem “Kirchenrecht” beachten? Deutlich scheint zu sein, dass es nach neutestamentlicher Anschauung auch in der Kirche Christi so etwas wie eine Rechtsordnung gibt (Apostolat, Ordnung des kirchlichen Lebens). Dürfen wir dies so auffassen, dass die Kräfte des kommenden Aeon anfangsweise auch auf die Gestaltung des rechtlichen Lebens einwirken? Oder handelt es sich hier um eine Art Zugeständnis an den alten Aeon? Die Ansätze zum kirchlichen Recht treten ja vor allem dort in Erscheinung, wo der freiwillige Gehorsam nicht geleistet wird, z.B. 1. Kor. 5 und 6. Die Bemühungen um eine gerechte Gestaltung des Lebens der Christen untereinander seien auf alle Fälle für unsere Frage sehr wichtig. Dabei dürfte allerdings nicht vergessen werden, dass ein Hauptgewicht auf der Forderung der Bereitschaft zum Unrechtleiden liegt (1. Kor. 6, 7).

 

In der weiteren Aussprache gingen einige Teilnehmer auf die Frage nach dem Verhältnis des AT zum NT ein, die mit dem

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Problem der “erfüllbaren” aber faktisch nicht erfüllten Gerechtigkeit im NT zusammenhängt.

Bischof Neill erklärte zunächst, dass er an dem, was hierzu bereits gesagt worden war, mit Freuden festgestellt habe, dass die Konfessionen heute anfangen, einander näher zu kommen. Zu der Frage des Verhältnisses der verschiedenen Bünde zueinander erklärte er, dass es sich offenbar um einen ständig wiederholten Vorgang handle: jeder neue Bundesschluss bringe eine Verengung des Gesichtsfeldes (von der Menschheit zum erwählten Volk, von da zu dem erwählten Einzelnen: Christus) und zugleich eine Vertiefung und Klärung der Verbindlichkeit des Inhalts des Bundes mit sich: diese erreichte in Christus ihren Höhepunkt, denn hier sei nicht nur der neue Gehorsam gefordert, sondern auch die Kraft zur Erfüllung der Forderungen Gottes offenbar geworden. In der Ökumene sei zwar keine Einigkeit über das “sola fide” vorhanden; aber dass der neue Bund in Christus als ein Bund “sola gratia” gekennzeichnet werden müsse, werde allgemein anerkannt, auch von dem römischen Katholiken. — Zwar fehle das Element der Gnade nicht in den früheren Bundesschlüssen, aber es sei doch erst in Christus zum beherrschenden Element geworden. Die Frage sei aber dann: was hat innerhalb dieses Gnadenbundes das gesetzliche Element zu bedeuten; das paulinische Problem! Eine Antwort auf diese Frage ergebe sich aus der Erfahrung der Mission: Neubekehrte sind häufig zunächst beinahe schwärmerisch, wenn sie erkannt haben, welche Bedeutung die Gnade Gottes hat. Sie kommen in Schwierigkeiten, wenn es nun gilt, den Gehorsam des Glaubens praktisch zu bewähren. Hier brauchen sie Klärung und Hilfe, und damit kommt es zur Ausbildung eines Kirchenrechts: Gewöhnlich handle es sich hier zunächst um eine beinahe unverbindliche Übereinkunft; sobald daraus ein Gesetz werde, handle es sich um ein Zugeständnis der Tatsache gegenüber, dass die Kirche nicht im Gnadenbund allein leben kann. Dies Zugeständnis bezieht sich aber nur auf die empirische Kirche. Der Charakter des Bundes als Gnadenbund wird davon nicht berührt.

Prof. P. Brunner nahm nun die Eingangsbemerkungen des Votums von Prof. Dahl wieder auf: worin unterscheidet sich unsere Fragestellung von der Bibel? Er fragte, ob unser Thema so auf den Gedanken des “Volkes Gottes” ausgerichtet werden dürfe, wie das in der Schrift der Fall sei. Wenn wir das täten, müssten wir auf eine Personalunion von Heilsgemeinde und Bürgergemeinde hinsteuern. Gerade das scheine aber unserer konkreten geschichtlichen Lage nicht zu entsprechen, auf deren Beachtung andere bereits mit Recht hingewiesen hatten. Unsere

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Aufgabe ist also nicht: herauszuarbeiten, was das Richtige im Verhalten der Glieder des Volkes Gottes auf Erden ist, das dann auch als Weisung für die “draussen” proklamiert werden könnte. Wir stehen vielmehr dogmatisch und kirchengeschichtliche an einem anderen Ort:

Die ekklesia it nicht eine Fortsetzung des alttestamentlichen Volkes Gottes, sondern ist soziologisch gesehen eine Diaspora inmitten der Völker. Diese neutestamentliche Grundanschauung sei durch unsere gegenwärtige Lage durchaus bestätigt. Durch unser Konferenzthema seien wir demnach
a) weder nach den Ordnungen des Volkes Gottes im alttestamentlichen Sinne,
b) noch nach den Ordnungen der christlichen “Diaspora” inmitten der Völker im neutestamentlichen Sinne,
c) sondern nach der rechten Botschaft der Kirche für jenen dritten Bereich gefragt, der im NT gewöhnlich Welt genannt wird. Es ist der Bereich, den der messianische Endkönig noch nicht in seine Hand genommen, ja den er ausdrücklich von dem Bereich seiner Verantwortung unterschieden habe (Luk. 12). Unsere Frage ist also, wie unsere Verantwortung für diesen Bereich biblisch zu begründen und auszuüben sei.

Gegen die hier eingeführten Begriffe wurde zunächst von Seiten des neutestamentlichen Referenten ein Warnungssignal aufgestellt: Man müsse, wenn man hier weiter kommen wolle, den Unterschied zwischen “ekklesia” und “basileia tou theou” im Auge behalten. Auf der anderen Seite bestritt einer der Alttestamentler, dass das in diesem Votum gezeichnete Bild des AT zutreffend sei: wir hätten es im AT keineswegs mit einer Identifikation zwischen Bundesvolk und Nation zu tun, was man schon daran erkennen könne, dass die Existenz der Nation keine conditio sine qua non für das Fortbestehen des Bundes sei (der Gedanke des “Restes” bei den Propheten). Auf der andern Seite dürfe man nicht übersehen, dass es auch im NT eine positive Beziehung des Evangeliums zur Völkerwelt gebe (vgl. Matth. 28 und Apok. 21). 1) Trotz dieser begrifflichen Korrekturen wurde allgemein anerkannt, dass Prof. Brunner das zentrale Problem der Konferenz richtig bezeichnet hatte.


1) Dieses Gespräch zwischen einem Systematiker und zwei biblischen Theologen scheint uns in der Art, wie man sich gegenseitig zu korrigieren und zu verstehen sucht, vorbildlich für die Arbeitsweise zu sein, die in allen diesen Bibelstudien angestrebt werden sollte.

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Es wurde nun zunächst noch einmal der Versuch gemacht, auf die Genealogie des Rechts einzugehen. Dr. Dombois erklärte, dass das alttestamentliche Referat in ausgezeichneter Weise den typischen Prozess jeglicher Rechtsbildung beschrieben habe. Man könne diesen Prozess schematisch folgendermassen darstellen:
a) Erste Stufe: Gottes Gerechtigkeit ist die unproblematische Quelle alles Rechts.
b) Zweite Stufe: Im Kult erhält der Mensch durch die Rechtfertigung Anteil an dieser Gerechtigkeit und verbindet sich ihr im Gehorsam; auf dieser Stufe ist das Recht noch nicht konditional geformt.
c) Dritte Stufe: a) und b) machen die Ausprägung des positiven konditionalen Rechts möglich.
Ebenso sei im Blick auf den neutestamentlichen Tatbestand zu sagen, dass das Problem “Rechtfertigung und Recht” keineswegs nur ein christliches Problem, sondern in gewissem Sinne das allgemeine Problem aller Rechtsgeschichte sei. Es sei eine Verengung, wenn man dies Problem nur mit der Christologie in Zusammenhang bringe.

Hiergegen erhob sich Einspruch von theologischer Seite. Ein Alttestamentler erklärte, dass bei aller Anerkennung einer gewissen Parallelität zwischen heidnisch-apodiktischem Recht und dem Recht Israels der Unterschied zwischen den heidnischen Gottheiten und dem Gott Israels doch nicht übersehen werden dürfe — und dadurch falle auf alles ein anderes Licht. Hier stehen Gottes Erwählung und der Bund Gottes mit seinem Volk hinter den Forderungen Gottes. Hier wird der ganze Mensch gefordert, was dann bei Jesus erst recht deutlich wird. — Ein anderer Teilnehmer erklärte, dass ausserchristliche Parallelen zu dem Problem “Rechtfertigung und Recht” (K. Barth) doch höchstens formal interessant sein könnten. Jedenfalls handle es sich bei der Barth’schen Fragestellung nicht um eine christologische Verengung einer allgemeinen Erscheinung im Rechtsleben. Entscheidend sei die rechte Antwort auf die Frage nach der Autorität dessen, der hier so apodiktisch sagen könnte: “Ich aber sage euch . . .” — Wenn man hier Strukturgesetze aufstellen wolle, sei man in Gefahr, gerade das Entscheidende nicht zu Gesicht zu bekommen.

Ein eindeutiges Votum zugunsten der christologischen Orientierung aller christlichen Ethik gab dann der dänische Prof. Søe ab: Die Weisungen im AT und im NT müssen als frohe Botschaft, als Evangelium verstanden erden; deshalb sei auch kein Widerspruch zwischen der “Gerechtigkeit” in der

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Bergpredigt und dem paulinischen Gerechtigkeitsbegriff vorhanden. Woher die einzelnen Rechtssätze kämen, sei im Grunde uninteressant: die Bibel gibt ihnen dem Stempel der Wahrheit; man sollte dies nicht “Übernahme” nennen. Das könnte zu leicht zu einer doppelstämmigen Ethik führen. Der rechte Einstieg in alle christliche Ethik sei die christliche Anthropologie, die auszugehen habe von der Lehre vom getauften Christen. — Unsere Verkündigung sei immer Gesetz und Evangelium zugleich. Nicht wir, sondern der Herr scheide und verbinde beides miteinander. Wenn die Hörer unserer Botschaft in einzelnen Fällen etwa nur das Gesetz annehmen, dürfen wir auch dafür dankbar sein, wenngleich wir dann vermuten müssen, dass Entscheidendes noch fehle. 1) Im Übrigen: wissen wir eigentlich immer, was gut ist? Gibt es wirklich eine “moralische Weltordnung” innerhalb derer gute Taten belohnt und böse bestraft werden?

Durch die Äusserung Prof. E. Brunners war das Problem “Kirche und Welt” in den Vordergrund gestellt worden. Es wurde in dem bereits erwähnten Votum Bischof Neills noch einmal aufgegriffen: Für Paulus habe es drei Welten gegeben: Die Kirche, Israel und die Heiden. Unsere Lage sei von der des Apostels nicht allzu verschieden, wenn man an die Stelle Israels die von christlicher Tradition lebenden Völker setze. In der Begegnung zwischen der Kirche und diesen beiden andern Welten habe die erstere immer die Aufgabe, eschatologisches Zeichen zu sein: “Das Eschaton ist gekommen, und wir leben in den letzten Tagen”: und hierzu gehören die “guten Werke”. Das bedeutet, dass die Kirche zuerst die sozialen Fragen in ihrer eigenen Mitte klären müsse. Zu diesem zeichenhaften Dasein tritt das ausdrückliche Zeugnis. In den Fragen des Rechts ist das gegenüber einer heidnischen Welt schwieriger als gegenüber Völkern, in denen noch eine christliche Tradition lebendig ist. Aber auch in einer heidnischen Gesellschaft kann und muss die Kirche Vorschläge machen, die sich als Gesetz auswirken mögen, wenn sie auch für uns Teil des Evangeliums sind (Beispiel: Aufhebung der kastenlosen Klasse in Indien durch christlichen Einfluss).


1) Ein anderer Teilnehmer meldete in diesem Zusammenhang Bedenken gegen Prof. Dahls Auslegung von Matth. 5, 13-16 im Zusammenhang mit den Seligpreisungen an (vgl. oben S. 30 f.). Es wurde u.a. darauf hingewiesen, dass auch die Seligpreisungen in gewissem Sinne konditional gefasst sind, wodurch dann auch das Wort vom Licht und Salz eine konkretere Färbung erhalte.