3. Die Vorarbeiten in Deutschland.

 

Dass das Rechtsproblem vor allem in Deutschland als dringend empfunden wurde, bedarf kaum einer Erklärung. Dagegen ist es für das ökumenische Gespräch wichtig, sich vor Augen zu halten, warum viele deutsche und mit ihnen viele andere europäische Theologen gegen die Naturrechtslehre so überaus skeptisch geworden sind. Geht man von den Gesetzen aus, “die den geschaffenen Dingen selbst eingeprägt sind”, so kann dies — je nachdem wie man das Wesen der geschaffenen Dinge erkennt und beurteilt — zu sehr verhängnisvollen Schlussfolgerungen führen. Die nationalsozialistische Staats- und Rassenlehre ging ja auch von solchen, dem Wesen des Staates und der Rasse innewohnenden Grundgesetzen aus! Es ist klar, dass diese Auffassung vom Naturrecht in schroffen Gegensatz zu dem steht, was anderwärts als Naturrecht bezeichnet wurde und wird. Es fragt sich aber nun, ob man mit einer “besseren” Naturrechtslehre jene Auffassungen sachgemäss widerlegen kann, oder ob man nicht auf diesen Begriff ganz verzichten muss.

Unter diesen Gesichtspunkte wurde unmittelbar nach Kriegsende in Deutschland das Gespräch zwischen Juristen und Theologen

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in Gang gebracht, und zwar vor allem in den sogenannten “Evangelische Akademien” (Bad Boll in Württemberg und entsprechende Institute in anderen Teilen Deutschlands: im Christophorusstift in Hemer (Westfalen) 1) und an einzelnen Hochschulen (z.B. in Heidelberg) 2). Mit den gleichen Problemen hat sich die erste Synode der “Evangelischen Kirche in Deutschland” im Januar 1949 in Bethel bei Bielefeld befasst. Dort hielt Prof. F. Delekat einen Vortrag über “Kirche und Recht”, der dann von Prof. H. Vogel in einen improvisierten Korreferat über “Die Kirche und die Rechtsnot des Menschen heute” erwidert wurde. 3) — Zur Fortführung dieser Debatte lud der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland zu einer besonderen Studientagung über das Thema “Kirche und Recht” ein, die am 14. und 15. Mai 1949 in Göttingen zusammentrat. In den von dieser Tagung erarbeiteten Schlussthesen wird zum ersten Mal der Versuch gemacht, einen Ausgleich zwischen der christologischen und der trinitarisch-heilsgeschichtlichen Rechtsbegründung vorzunehmen. Die ersten drei Thesen spiegeln diese Spannung deutlich wieder; zunächst wird nur negativ formuliert, dass man keinen der drei Artikel des Glaubensbekenntnisses bei der Begründung des Rechts isolieren darf: dann wird in der zweiten These der Versuch gemacht, dies genauer zu entfalten. Die These beginnt mit dem Hinweis auf das Anrecht Gottes des Schöpfers auf den Menschen. Durch die Verneinung dieses Anspruchs habe der Mensch sein eigenes Recht zerstört, es wird ihm aber in Christus “aufs neue sein Recht gegeben, d.h. in der Person Jesu Christi zugesprochen” und zu eigen gemacht. Diesen neuen Stand des Menschen hat die irdische Rechtsübung zu achten. Ihn verkündigt die Predigt der Kirche. Insofern sind Christusverkündigung und Recht des Menschen untrennbar und insofern ist die Christologie für das Recht begründend.” — Das Verhältnis der ersten Sätze dieser These zum Schlusssatz ist nicht ganz eindeutig, weil die Frage der Rechtserkenntnis nicht angeschnitten wurde: an diesem Punkte führt das Schlussergebnis von Treysa zweifellos einen Schritt weiter. 4)

Die weiteren Thesen der Göttinger Konferenz befassen


1) Zu beachten ist, dass man sich in den Akademien und in Hemer meist mit sehr akuten Einzelproblemen, wie z.B. Fragen des Verfassungsrechts, des Eherechts, der Neubegründung des Strafrechts usw. befasst.
2) Die Studienabteilung hat einen ausführlichen Auszug aus den Protokollen der Heidelberger Sozietät veröffentlicht; vgl. unten S. 70, Nr. 50.
3) Vgl. Literaturverzeichnis unten S. 69 f., Nr. 31 und 53.
4) Vgl. unten S. 48 (These B I, 1).

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sich (4.) mit der “Unterscheidung von iustitia Dei und iustitia civilis”, (5.) mit der “Achtung vor dem Menschen” als einem Grundelement rechtlicher Ordnung”, (6.) mit den konkreten Aufgaben des Christen im Rechtsleben und schliesslich (7.) mit der Aufgabe der Kirche “für das Recht einzutreten, wo es not tut”. Im Blick auf die Naturrechtsfrage sind noch folgende Göttinger Sätze aus der 6. These von Bedeutung: “Der Christ weiss um die Gerechtigkeit Gottes und das Lebensrecht der Menschen. Von da aus wird er in Dankbarkeit und Freiheit auch die Rechtsgrundsätze anerkennen und gebrauchen, die im Rechtsbewusstsein der Menschen, in der Rechtsgeschichte der Völker und auch im naturrechtlich aufgenommenen Dekalog vorliegen. Von da aus ist er auch gesichert gegen die Überheblichkeit wir gegen die Hilflosigkeit aller naturrechtlichen Programme und Ausflüchte.” 5)

In welchem Sinne diese Freiheit, naturrechtliche Prinzipien in Gebrauch zu nehmen, biblisch begründet sei, wurde ein Jahr später von einer besonderen Konferenz über das Thema “Bibel und Naturrecht” untersucht. Sie wurde als ein Beitrag zur ökumenischen Untersuchung über die Bibelfrage von der deutschen Ökumenischen Centrale durchgeführt und fand ebenfalls in Treysa unmittelbar vor der ökumenischen Studientagung statt (29. Juli bis 1. August 1950). Die Ökumenische Centrale bereitet selbst einen Bericht über diese Tagung vor, den wir hier nicht vorwegnehmen wollen. Die beiden Referenten für das Alte und das Neue Testament (Prof. Horst — Mainz und Prof. H.D. Wendland — Kiel) setzten sich kritisch vor allem mit einem Aufsatz von Prof. C.H. Dodd zum Thema “Bibel und Naturrecht” auseinander. Die Studienabteilung hatte einen Auszug aus diesem Aufsatz in deutscher Sprache an die Teilnehmer beider Tagungen versandt. 6) Dodd hatte sich in diesem Aufsatz zunächst mit einer Reihe von Bibelstellen befasst, die naturrechtliche Erkenntnisse bei allen Menschen voraussetzen. Aus 1. Petr. 2, 12 und 2, 16 folgerte Dodd z.B., dass der Verfasser dieses Briefes der Annahme gewesen sein muss, “dass die Heiden eine Fähigkeit für gesunde moralische Urteile besitzen, einen communis sensus, der ihnen dazu verhilft, das als gut zu erkennen, was das offenbarte Gesetz Gottes als gut bezeichnet”. Ähnlich wurden Röm. 12, 17; 1. Kor. 11, 1-16; Röm. 13, aber auch Luk. 12, 57 und Luk. 14, 8-10 aufgefasst. Dodd befasste sich weiter mit den schöpfungsmässigen Grundgesetzen, mit dem Noah-Bund, den er als “jüdische Entsprechung zum


5) Vgl. Tagungsbericht “Kirche und Recht” im Literaturverzeichnis unten S. 67 Nr. 14.
6) Vgl. das Literaturverzeichnis unten S. 69 Nr. 33.

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stoisches Naturrecht” bezeichnete und schliesslich mit den Kardinalstellen: Röm. 1 und 2 und mit dem Prolog des Johannesevangeliums mit dem Hinweis auf “das Licht, das alle Menschen erleuchtet”.

Die Konferenz, an der auch einige Gäste aus dem Ausland teilnahmen, war an zwei Punkten kritisch gegenüber der von Dodd vorgetragenen Ansicht: Erstens hielt man es nicht für ratsam, den allzu vieldeutigen Begriff “Naturrecht” positiv zu übernehmen. Und zweitens wurde vor allem von dem neutestamentlichen Referenten betont, dass die christliche Eschatologie alles menschliche Recht einerseits begrenzt, andererseits aber auch unter die letzte Verantwortung vor Gott stellt, die sonst fehlen würde. Daneben spielte auf der Konferenz die Frage eine grosse Rolle, inwieweit es in der israelitischen Religion und im Christentum zu einer Umprägung übernommener Rechtsnormen gekommen ist. Der Schlussbericht der deutschen Studientagung hat folgenden Wortlaut:

 

Ergebnisse der deutschen Studientagung über “Bibel und Naturrecht”

Treysa, 29. Juli bis 1. August 1950

Vorbemerkung: Die folgenden Ergebnisse wurden von einer kleinen Gruppe von Konferenzteilnehmern formuliert, die sich nach Schluss der Tagung zusammengesetzt hat. Es wird hier nicht über den Verlauf der Tagung berichtet. Darüber wird der später von der Ökumenischen Centrale herauszugebende Konferenzbericht Aufschluss geben. Es werden vielmehr diejenigen Punkte aus den biblischen Referaten (Prof. Horst, A.T. und Prof. Wendland, N.T.) hervorgehoben, die sich in der Aussprache als besonders wichtig erwiesen haben.

A. Allgemein (Sätze, die sich auf die ganze Schrift beziehen):
1. Was unter Menschen wirklich Recht ist, kommt aus dem Willen Gottes, der der Gott Israels und der Vater Jesu Christi ist, darum gilt alles Recht nicht physei sondern thesei (theou).
2. Die Schrift zeigt, dass der Mensch, wo immer er steht, nie aus dem Anspruch entlassen wird, unter dem er kraft seines schöpfungsmässigen Ursprunges aus Gott steht.

B. Im Blick auf das A.T. ist besonders hervorzuheben:
1. Durch die bleibende Bestimmung des Menschen zum Bilde Gottes wird der Mensch davor bewahrt, in die Untermenschlichkeit herabzusinken. Gott will den Menschen als sein Gegenüber, mit dem er in echter Partnerschaft handelt; darin liegt die besondere Dignität des Menschen.

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2. Mit der bleibenden Bestimmung des Menschen zum Bilde Gottes ist mitgesetzt, dass der Mensch auch ausserhalb Israels, ausserhalb des geoffenbarten und geschriebenen Gesetzes unter bestimmten rechtlichen Normen steht, z.B. konkret unter dem Gebot der Unantastbarkeit des menschlichen Lebens. Indem der Mensch auf diese Weise als in der Sphäre des Rechts stehend angesprochen wird, wird von Gott her ein Damm errichtet, der dem Kampf aller gegen alle wehrt.
3. Durch Gottes Schöpferhandeln sind für alle Völker gültige und unter seinem Schutz stehende Normen und Institutionen gesetzt. Ausser Gen. 1-11 sind in diesem Zusammenhang besonders wichtig: Gen. 20, Amos 1 und 2 und Prov. 8.
4. Obwohl die universale Geltung der von Gottes Willen gesetzten Normen und Institutionen deutlich vorausgesetzt wird, findet sich im A.T. keine thematische Behandlung der Frage, wie die Erkenntnis solcher Normen zustande kommt. Die Auslegung von Psalm 82 ergab jedoch, dass hier die Wirksamkeit der Rechtsnormen in der Völkerwelt offenbar auf unter Gott stehende Engelsgewalten zurückgeführt wird.

C. Im Blick auf das N.T. ist besonders hervorzuheben:

1. Die neutestamentlichen Aussagen zu unserem Gegenstand sind durchwegs dadurch inhaltlich bestimmt, dass sie den kairos der messianischen Erfüllung und die damit im Zusammenhang stehende nahe Parusie des wiederkommenden Christus bezeugen. Die Weisungen der Apostel sind daher im N.T. eschatologisch, christologisch und pneumatologisch begründet. Sie gelten “in Christus” und im Leibe Christi. Die Anordnungen Gottes, durch die er seine Schöpfung erhält (Ehe, Verhältnis Herr und Knecht, Arbeit, Staat), werden begrenzt durch das kommende Ende und sie gelten und bestehen für die ganze Menschheit bis zum Ende hin.
2. Gegenüber der enthusiastischen Verachtung dieser Ordnungen erinnert das N.T. mit aller Schärfe gerade die Christen daran, dass diese Ordnungen gelten.
3. In diesem Zusammenhang erscheint es besonders wichtig, dass die von Gott gesetzten sittlichen Normen, die ausserhalb der Kirche wirksam sind, nicht einfach ausser Kraft gesetzt werden, sondern durch das Licht der messianischen Erfüllung in ihrer Wahrheit und Eigentlichkeit aufgedeckt und in die Gemeinde hineingenommen werden. Dadurch werden sie pneumatisch neu geprägt. (Vgl. besonders 1. Kor. 9, 7; 1. Kor. 11, 2 ff. und Phil. 4, 8 ff).
4. In dem Vorgang der Rezeption und Umprägung dieser Normen

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zeigt sich, dass ihre Gültigkeit für die Nichtchristen auch nach dem Zeugnis des N.T. vorausgesetzt ist (vgl. besonders Röm. 2, 14). — Soweit der Bericht der deutschen Tagung.