2. Die Behandlung der Rechtsfragen in der Ökumene von 1945 bis 1950.

 

Wir müssen es uns hier versagen, einen ausführlichen Überblick über die Behandlung des Rechtsproblems in der Ökumene zu geben. Selbstverständlich hat diese Frage seit den Tagen von Stockholm 1925 zur Debatte gestanden 2). Innerhalb der von der Studienabteilung des Weltkirchenrates seit 1945 durchgeführten Studien über “Die Autorität der Bibel für die soziale und politische Botschaft der Kirche in der Gegenwart” (wie der Titel von 1946 bis zur Amsterdamer Vollversammlung 1948 lautete) tauchte das Rechtsproblem bereits auf der


2) Vgl. besonders die Rede von Reichsgerichtspräsident Dr. W. Simons über “Christentum und Verbrechen” (in: Die Stockholmer Weltkirchenkonferenz, amtlicher deutscher Bericht von A. Deissmann, Berlin, Furche, 1926, S. 308 ff). Auf der Weltkonferenz in Oxford 1937 wurden ähnliche Fragen vor allem in der II. Sektion unter dem Gesichtspunkt des Verhältnisses von “Kirche und Staat” behandelt. Vgl. den Bericht über “Die Aufrechterhaltung von Recht und Gerechtigkeit als christliches Anliegen” (in: Kirche und Welt in ökumenischer Sicht, Bericht der Weltkichenkonferenz von Oxford . . ., Genf 1938, S. 134-136). Unter den Vorarbeiten für Oxford vgl. Prof. M. Hubers “Betrachtungen zum christlichen Verständnis der internationalen Rechtsordnung” (in: “Die Kirche Christi und die Welt der Nationen”, Frauenfeld und Leipzig, Huber 1938, S. 96-136).

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ersten Konferenz 1946 in London auf. Hier war es vor allem R. Bring (Lund, Schweden), der sich auf der einen Seite gegen die Naturrechtslehre und auf der andern Seite gegen den Rechtspositivismus abgrenzte und statt dessen auf den in der Schrift bezeugten dynamischen Gotteswillen verwies. 1)

Fast mit noch grösserem Recht könnte man die ökumenische Studientagung in Bossey im Januar 1947 als direkten Vorläufer der Treysaer Tagung betrachten. Dort lautete die Kernfrage: Ist die christliche Sozialethik (in der ja die Rechtslehre einen hervorragenden Platz einnimmt) an der biblischen Botschaft von der Königsherrschaft Christi oder ist sie ander biblischen Lehre von der Schöpfung und Erhaltung der alten Welt zu orientieren? Die betont christologische Ethik wurde in Bossey vor allem von K. Barth vertreten, während sich A. Nygren und andere für die zweite Anschauung einsetzten, die man als trinitarisch-heilsgeschichtliche Auffassung kennzeichnen kann. 2) Auf den ersten Blick mag es so scheinen, als handle es sich bei diesen Unterscheidungen um akademische Spitzfindigkeiten. Tatsächlich sind die Konsequenzen im Blick auf die “Botschaft der Kirche an die Welt” jedoch beträchtlich: die christologische Ethik wird immer darauf gerichtet sein, auch den “weltlichen” Bereich zu einem Spiegelbild der Herrschaft Christi werden zu lassen; die Sozialethik muss hier dem Evangelium auf dem Wege der Analogie folgen. Die Aufgabe, die uns mit unserem Studienthema gestellt ist, wäre demnach mit Hilfe solcher Analogien zu lösen. — Nach der trinitarisch-heilsgeschichtlichen Konzeption dagegen wird der Unterschied zwischen dem Reich Christi, das zum kommenden Aeon gehört, und der Welt, in der wir jetzt noch leben, betont; Gott ist der Herr über beide, aber er regiert auf verschiedene Weise; deshalb wäre es sinnlos, wollte man versuchen, die alte Welt mit dem Evangelium zu regieren: sie kann nur mit dem Gesetz regiert werden, und da bedarf es keiner Analogien. Hier kommt dann alles darauf an, die Spannung zwischen Gesetz und Evangelium in der Verkündigung der Kirche in rechter Weise fruchtbar zu machen.

Diese hier nur in groben Zügen angedeuteten fundamentalen Unterschiede durchziehen praktisch die ganze Debatte der letzten Jahre. Sie sind auch in Treysa sichtbar geworden. 3) Und doch


1) Vgl. “Der Weg von der Bibel zur Welt” S. 23 f. und dazu die Aussprache.
2) Vgl. “Der Weg von der Bibel zur Welt” S. 132 ff. und S. 149 ff.
3) Vgl. im Schlussbericht vor allem die Teile B II und B III, unten S. 50 ff. K. Barths Grundanschauung tritt auch in dem schriftlichen Votum von Prof. Ernst Wolf zutage; unten S. 62 ff.

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meinen wir, dass es in Treysa deutlich wurde, dass man bei diesem Gegensatz nicht stehen zu bleiben braucht, wenn die Kirche zu konkreten Rechtsfragen einmütig etwas sagen will.

Ausser den Schriften von K. Barth, Emil Brunner und J. Ellul wurde in der Diskussion über diese Frage vor allem eine Untersuchung des Freiburger Rechtsgelehrten Erik Wolf viel beachtet. 1) Die Studienabteilung hat einen hieraus hervorgegangenen Beitrag in den ökumenischen Sammelband “Biblical Authority for Today” aufgenommen. 2) In diesem Aufsatz, der als vervielfältigtes Manuskript den Teilnehmern der Konferenz von Treysa zur Verfügung gestellt wurde, versucht E. Wolf “Weisung und Richtschnur des Rechts” aus dem Neuen und Alten Testament zu entwickeln und erklärt: “Unter ‘Biblischer Weisung’ verstehen wir keinen Ersatz für die individuelle Gewissensentscheidung, sondern eine Anleitung zu ihr”. Es handelt sich um “Leitgedanken für Gesetzgeber, Richter, Anwälte” usw. — Daneben sind die “Richtschuren” für Erik Wolf “nicht starre, abstrakte Prinzipien, sondern beweglich, von Fall zu Fall neu zu interpretieren: gleichsam Grenzsteine und Wegweiser”. Erik Wolfs Vorschläge werden noch weiter diskutiert werden müssen.

Wie dringend eine gründliche Behandlung dieser Fragen auf ökumenischer Basis ist, kann man auch an den Amsterdamer Studienbänden ablesen, und zwar vor allem aus Band IV. Er enthält einen Aufsatz von Baron van Asbeck (Prof. für Völkerrecht in Leiden) über “Die Kirche und die Unordnung der Völkerwelt”, in dem die Schwierigkeiten, die einer wirkungsvollen internationalen Zusammenarbeit im Wege stehen, vor allem darauf zurückgeführt werden, dass “das Recht der internationalen Gesellschaft” keine “übernationale Gültigkeit” hat. Infolgedessen fordert van Asbeck die schrittweise Aufrichtung einer “Rechtsordnung über den Staaten”. Die Kirche müsse verkünden, “dass der Staat kein Selbstzweck ist und nicht sein eigenes Recht aufrichten darf, sondern Gottes Werkzeug für die Errichtung und Erhaltung einer Rechtsordnung in dieser Welt” ist — einer Rechtsordnung für das nationale wir für das internationale Leben — “Gerechtigkeit hier auf Erden gewinnt ihren tiefsten Sinn aus der Beachtung der Gebote Gottes in dieser zerstörten Welt.” “Wenn Christus der


1) Vgl. das Literaturverzeichnis S. 67 f. Nr. 4, 7, 11 und 26.
2) “Biblical Authority for Today, A World Council of Churches Symposium on: The Biblical Authority for the Church’s Social and Political Message Today”, edited by A. Richardson and W. Schweitzer, London, SCM-Press (erscheint im Frühjahr 1951; deutsche Ausgabe in Vorbereitung).

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‘Kyrios’ ist, dann hat die Kirche auf die Schaffung einer internationalen Rechtsordnung zu dringen”; dazu gehört, dass sie die Gewissen der Menschen dazu erweckt, sich für eine solche Ordnung einzusetzen. Dazu gehört aber auch, dass die Kirche sich “für den Schutz der Grundrechte und Freiheiten des Menschen als verantwortlicher Person” einsetzt: denn an diesem Punkte liegt teilweise der Ursprung der gegenwärtigen internationalen Unordnung. 3) In der Mitarbeit an der Erklärung der Menschenrechte, die von der UNO angenommen wurde, hat sich die Kommission der Kirchen für Internationale Angelegenheiten, deren Präsident Baron van Asbeck ist, mit besonderer Aufmerksamkeit diesem letzten Punkte zugewandt.

Zur weiteren Behandlung dieser Fragen wurde von der Kommission der Kirchen für Internationale Angelegenheiten, der Studienabteilung des Ökumenischen Rates und dem Ökumenischen Institut eine Sachverständigen-Konferenz für internationales Recht einberufen, die vom 11.-17. April 1950 in Bossey getagt hat. In dem Bericht, der darüber dem Zentralausschuss des Weltkirchenrates im Juli 1950 vorgelegt wurde, heisst es in dem für unsere Untersuchung entscheidenden zweiten Abschnitt: “im biblischen Verständnis . . . ist . . . Gerechtigkeit ein Verhalten Gottes, das mit seiner Heiligkeit einerseits, seiner Gnade und Bundestreue andererseits aufs innigste verbunden ist. . . . Gott bleibt seinem Worte treu . . . Darin ist die Heilsgeschichte begründet”. “Alle menschliche Gerechtigkeit” bleibt “stets unmittelbar auf Gottes vergebend und Gemeinschaft stiftende Treue bezogen”. Der Bericht lehnt dann die in der Geschichte der Theologie gelegentlich vertretene Meinung ab, dass “diese Gerechtigkeit Gottes oder auch die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, und das irdische Recht . . . überhaupt nichts miteinander zu tun” haben. Dann heisst es: “Dagegen vertrat ein Teil der Konferenzteilnehmer die Meinung, dass das irdische Recht zwar seinen höchsten Massstab in der Gerechtigkeit Gottes findet, dass es sich dabei aber nicht um die in der Heilsgeschichte und letztlich in Jesus Christus offenbarte, Sünden vergebende und Gemeinschaft stiftende Gerechtigkeit handelt 4), sondern


3) “Die Kirche und die internationale Unordnung”, IV. Band der Amsterdamer Reihe “Die Unordnung der Welt und Gottes Heilsplan”, Tübingen und Stuttgart, Furche-Verlag und Evangelisches Verlagswerk, 1948, S. 60, 74, 79 f. und 82.
4) Wie dies vor allem Prof. van Oyen in seinem Referat dargestellt hatte. Er war vom Bundesgedanken ausgegangen und hatte die Begriffe “Gerechtigkeit und Heiligkeit Gottes” von der Bundestreue her interpretiert (ḥesed). So erschien ihm ➝

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um jene Gerechtigkeit Gottes, in der Er von der von Ihm geschaffenen und erhaltenen Welt als Gesetzgeber gegenübertritt”. Man hat also auch auf dieser Konferenz vor dem Gegensatz zwischen der christologischen und der trinitarisch-schöpfungsbezogenen Auffassung vom Recht gestanden. Innerhalb der zweiten Gruppe unterscheidet der Bericht dann weiterhin zwischen solchen, die die Gesetze “nur dem geoffenbarten Wort entnehmen” wollten und andern, die der Meinung waren, “Gott habe diese Gesetze den geschaffenen Dingen selbst eingeprägt und ihre jedenfalls teilweise Erkenntnis dem natürlichen Menschen ins Herz gepflanzt . . .”: hier kam man zur Lehre vom Naturrecht. 5)

Den drei verschiedenen Betrachtungsweisen entsprechen drei Arten, “inhaltliche Forderungen an das irdische Recht” zum Ausdruck zu bringen, die sich aber “nur in ihren äussersten Konsequenzen, nicht jedoch in ihren Grundforderungen” ausschliessen: Diese interessante Beobachtung hat sich auf der Konferenz in Treysa durchaus bestätigt. 6)


➝ die Gerechtigkeit in erster Linie als Wille Gottes zur Integration bezw. Reintegration zur Gemeinschaft des Menschen mit ihm selbst. Vgl. Literaturverzeichnis unten S. 70 Nr. 52.
5) Vgl. den Bericht der deutschen Studientagung über “Bibel und Naturrecht”, die der ökumenischen Tagen voranging (unten S. 14).
6) Vgl. unten S. 45.