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1 Svetozar Stojanović, Kritik und Zukunft des Sozialismus, Reihe
Hanser 41, München 1970.
2 Siehe S. 37ff.
3 Stojanović, aaO S. 25.
4 Hans Dombois, Naturrecht und christliche Existenz, Kassel
1952.
5 Stojanović, aaO S. 34.
6 Rudolf Smend, D. politische Gewalt im Verfassungsstaat u.d.
Problem der Staatsform (1923), in: Staatsrechtliche Abhandlungen
(2) 1968, S. 68ff, und Carl Schmitt, Verfassungslehre, Berlin
1954, S. 7f.
7 Hans Dombois, Hierarchie — Grund und Grenze einer umstrittenen
Struktur, Freiburg 1971.
8 Hans Paul Bahrdt, Industriebürokratie, Stuttgart 1958, S.
23/24.
9 Entscheidungsbegriff und -problem, wie sie hier behandelt
werden, haben mit Dezisionismus nichts zu tun. Denn dieser beruht
gerade auf der Verzweiflung an eben der Rationalität, welche als
positives Merkmal für Hierarchie wesentlich ist.
10 Robert Havemann, Fragen, Antworten, Fragen — aus der
Biographie eines deutschen Marxisten, München
19702.
11 aaO S. 118: „Die Stalinisten beteuern ihre unendliche ,Liebe’
zur Arbeiterklasse, doch ist dies eine ,Liebe’ ohne Vertrauen.
Die futuristische ideologische Maske fiel in dem Augenblick von
ihrem Gesicht, als sie den Beginn des Aufbaus des Kommunismus
proklamierten, die Arbeiterselbstverwaltung aber wieder auf die
Zukunft verschoben.”
12 Die Voraussage einer solchen Systembildung findet sich, gegen
Marx verwendet, in einer Äußerung von Bakunin: „I detest
communism because it is the negation of liberty and because ...
communism concentrates and absorbs all the powers of society into
the state; because it necessarily ends in the centralization of
property in the hands of the state ... which on the pretext of
making men moral and civilized, has up to now enslaved,
oppressed,
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exploited and depraved them” (1868, Michael Bakunin, Oeuvres
(Paris 1913), Bd. II, § 1 nach James Joll, The Anarchists (Boston
1964), S. 107-108.
Ähnlich Alexander Herzen: „Mit Terror und Gewalttat kann man nur
zerstören ... Mit Petrograndismus wird die soziale Revolution
nicht über die Gleichheit von Zwangsarbeit ... und
kommunistischer [sic!] Fron ... hinausgelangen”, in: P is’mo k
staromu to varišču” in: A. Gercen, Sočinenija (Petersburg 1905),
Band V, S. 441 (Übersetzung Manuel Sarkisyanz, Rußland und der
Messianismus des Orients, Tübingen 1955, S. 167).
13 FAZ 25. 1. 1971, S. 17 (Wörterbuch der
Marxistisch-Leninistischen Soziologie, Ostberlin 1970).
14 Siehe Anm. 1.
15 aaO S. 12f — Habermas bietet in „Theorie und Praxis” eine
Übersicht über immanente Kritik am Marxismus. Schon der erste
Abschnitt über polnische Kritik am Stalinismus (Kolakowski, S.
324ff) zeigt das gleich sachliche und moralische Problem. Es geht
hier um eine „wissenschaftliche Analyse”, die die Bedingungen
jener „Deformationen des Sozialismus”, andererseits „die
Organisationsprinzipien” klärt, die die kommunistische Bewegung
außerstand setzen, rechtzeitig wirksame Gegenmaßnahmen
einzuleiten. Als ökonomische Basis des Stalinismus erscheint die
Ablösung der alten, auf Privateigentum an Produktionsmitteln
beruhende Klassengesellschaft durch eine neue, die sich auf die
politische Verfügungsgewalt über das gesamte gesellschaftliche
Potential gründet. Inhaber dieser Verfügungsgewalt ist die
parteigebundene Intelligenz, die man im sowjetischen
Sprachgebrauch „Kader” nennt. Ursache der stalinistischen
Deformation ist demnach zunächst eine zentralisierte Wirtschaft,
die sich auf einem niedrigen Niveau der Produktivkräfte
einspielen mußte, verbunden mit jenen neu entstehenden
Eigentumsformen, die Djilas jüngst veranlaßten, seine These von
der „neuen Klasse” zu formulieren. Hinzu kommt eine bestimmte
Organisationsform der Partei, die über dem Staat steht und darum
der gesellschaftlichen Kontrolle entzogen ist. Auch innerhalb der
Partei sind nur vertikale Kontakte gestattet, so daß ein Einfluß
der breiten Mitgliedermassen auf die Parteiführung ausgeschlossen
ist.”
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„Man wird dadurch zum Marxisten, daß man die Bereitschaft
mitbringt, einen Inhalt von Fall zu Fall so, wie ihn die Behörde
präsentiert, zu akzeptieren.” (327)
Auch hier wird festgestellt (Jerzey J. Wiatr in der
parteioffiziellen Warschauer „Polityka”): „Die Tatsachen, die von
großen Fälschungen in der marxistischen Soziologie zeugen,
verlangen echte soziologische Erklärungen, d.h. Erklärungen, mit
deren Hilfe wir die gesellschaftlichen Bedingungen verstehen, auf
Grund derer sich jene Erscheinungen verbreitet haben. Das wird
man erst dann tun können, wenn die marxistischen Historiker und
Soziologen auf wissenschaftliche Weise eine Erklärung dafür
finden, wie es zu den Entstellungen der ,Epoche des
Persönlichkeitskults’ kommen konnte. Aber ich kenne keine
Arbeiten, die bei uns über dieses Thema herausgegeben worden sind
...”.
Erstaunlich genug in der Formulierung des Problems ist schon die
kritische Anmerkung, daß hier eine Partei über dem Staat stehe
und darum der gesellschaftlichen Kontrolle entzogen sei.
Wie kann denn ohne Systembruch der Staat — zum Absterben bestimmt
— „als verfaßte Gesellschaft ...” konstitutiv nötig sein, um die
Partei zu kontrollieren!
Die Lösung, die Kolakowski selbst vorträgt, besteht in einer
Scheidung der Richtungen und Methoden, die Habermas wie folgt
formuliert:
„Die Linke vertritt die Haltung des permanenten Revisionismus,
die Rechte die des Opportunismus im Hinblick auf das Bestehende.
Kolakowski hält die eine für so ewig wie die andere und
verzichtet darauf, die ... Standorte selber noch historisch zu
begreifen und abzuleiten.”
Er interpretiert in der Folge Kolakowski selbst als
existentialistischen Dezisionisten.
In dieser Position ist die immanente Kritik schon wieder am Ende.
Die einen nehmen für die historische Durchsetzung des Systems und
als System schlechthin alle Konsequenzen, auch die inhumansten
auf sich; sie sind nicht nur Opportunisten, sondern auch Zyniker.
Die andere Position hat Habermas als unableitbar gekennzeichnet.
Diese Teilung ist eine Umkehrung des Satzes „divide et impera” —
teile und herrsche. Teile die Position, damit
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sie im Ganzen nicht verantwortet zu werden braucht. Denn die eine
Haltung verzichtet auf folgerichtige gedankliche Deckung, die
andere gibt immer nur einen Wechsel auf eine Zukunft, welche eine
permanente Kritik — wessen? — gewährleisten soll.
Tatsächlich liegt der entscheidende Grund in der soziologischen
Struktur des kritischen Bewußtseins selbst, in seiner Ambivalenz.
Nicht subtile endlose Korrekturen, sondern relativ einfache
Grundmuster bestimmen die Wirksamkeit solcher Bewegungen. Der
perfekt geworden Rationalismus erkauft Erhellung mit Verdunkelung
und verdeckt diesen Widerspruch durch die Zielprojektion eines
konfliktlosen Endstandes. Nicht so sehr eine spezielle Theorie
eines irgendwie interpretierten Marxismus, sondern eine
allgemeine Theorie des kritischen Bewußtseins überhaupt ist
gefordert. Dieser kritischen Einsicht stehen freilich höchst
wirksame Monopolinteressen entgegen.
Eine rechts- und wissenssoziologische Analyse der lateinischen
Kirchengeschichte seit der Scholastik würde beachtliche
Parallelen ergeben und zeigen, daß ein wesentlicher Teil dieser
Fragen, sozusagen der Grundriß, theoretisch und institutionell
auf anderer Ebene schon einmal mit fragwürdigen Ergebnissen
durchgefochten worden ist. Die Metakritik geistiger Prozesse, die
Durchbrechung einer scheinfreien Zwangsläufigkeit scheint die
schwierigste Aufgabe der Menschheit zu sein; sie hat wohl immer
erst eine Chance, wenn ganz unverhältnismäßige Unkosten längst
bezahlt worden sind.
16 aaO S. 14f.
17 aaO S. 20 — K. Marx und F. Engels, Das Kapital, Nachwort zur
zweiten Auflage, Dietz Verlag Berlin, Bd. 23, S. 27-28.
18 aaO S. 124.
19 aaO S. 46.
20 aaO S. 104.
21 aaO S. 44f.
22 aaO S. 30.
23 aaO S. 29.
24 aaO S. 56.
25 aaO S. 153.
26 aaO S. 134f.
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27 aaO S. 115f — „Die Initiative für eine wichtigere Kritik kommt
stets von der Spitze der Partei- und Staatshierarchie. Je
grundlegender diese Kritik sein muß, desto mehr ist sie an die
Spitze gebunden. Erst wenn die kritische Initiative von der
Spitze kommt, dann schalten sich die niedrigen Ebenen ein. Diese
arbeiten die Kritik, deren Umrisse sie von oben bekommen haben,
eigentlich nur mehr weiter aus. Deshalb hat die
Gesellschaftskritik den Charakter einer Kampagne. Zuweilen kommen
die Führenden der Hierarchie zu dem Schluß, man müsse bestimmte
Erscheinungen kritisieren, und dann beginnen sie eine kritische
Kampagne.
Jeder weiß, wie weit er in der Gesellschaftskritik gehen darf.
Die einfachen Mitglieder dürfen die Funktionäre nicht kritisieren
und die niedrigen Organe nicht die Führung.
Auch die Selbstkritik ist strikt hierarchisiert. Der Mensch auf
einer höheren Stufe, der zur Selbstkritik aufgefordert wird, tut
dies nur vor Leuten, die auf gleicher oder höherer Ebene stehen.
Die Abwesenheit von Gesellschaftskritik kann solange
gerechtfertigt sein, als die revolutionäre Bewegung sich die
Herrschaft noch nicht genügend gesichert hat. Doch schnell wird
die Gefahr einer Konterrevolution zum Vorwand, die Kritik zu
ersticken. Wird dieser Zustand konserviert und fängt die Bewegung
an, die Kritik nicht nur des Klassenfeindes, sondern der eigenen
Angehörigen unmöglich zu machen, kommt es unvermeidlich zur
Degeneration dieser Bewegung.”