Mit der Bildung von Hierarchie verbindet sich auch die Bildung von Klerus. Unter Klerus ist eine ausgesonderte Gruppe zu verstehen, die von den regelmäßigen Lebensvollzügen und Beurteilungsmaßstäben ausgenommen ist (Exemtion), die aber gleichwohl ein vorbehaltenes und überlegenes Wissen über diese Lebensvollzüge zu haben beansprucht. Wie bei jedem soziologischen Typus besitzt nicht jede hierher zu rechnende Form alle Merkmale. Trotzdem gilt tendenziell, im Idealtypus das hier Formulierte.
Wenn Hierarchie sowohl im religiösen wie im säkularen Bereich, aber ebenso auch als sichtbare und offen dargestellte wie als verleugnete oder unvollständige in Erscheinung tritt, so gilt das Gleiche für den Klerus. Eigenschaft und Anspruch als Klerus wird teils offen vertreten, teils verdeckt und versuchsweise abgeschwächt.
Die Klerusbildung ergibt sich aus der Minderheitssituation des kritischen Bewußtseins. Mehrheit und Minderheit bezeichnen nicht nur ein quantitatives, sondern auch ein qualitatives Verhältnis und können nicht ineinander aufgehoben werden. Was für die Minderheit gilt, kann nicht in vollem Umfang auf die Mehrheit übertragen werden. Beide stehen unter verschiedenen Gesetzen. Jede vertritt das ihr eigene Gesetz mit den ihr eigenen Mitteln. Die Minderheit such mit Eifer die Mehrheit zu durchdringen und in Bewegung zu setzen. Die Mehrheit sträubt sich nicht nur, sondern verweist auf die Andersartigkeit des für alle
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Geltenden. Sie argumentieren und handeln deswegen immer auf verschiedenen Ebenen. Das kritische Wissen, welches der Klerus begründet, gleicht einem Stausee, der durch ein Kraftwerk mächtige Energie erzeugen, dessen Wasser aber nicht gleichzeitig zur breiten Bewässerung verwendet werden kann.
Der Versuch, dieses Verhältnis von Mehrheit und Minderheit aufzuheben, ist ein Angriff auf die soziologische Logik selbst. Diejenigen, die Klerus bekämpfen, sind im Regelfall Vertreter eines geschichtlich nachfolgenden Klerus, der nur seine eigene Klerus-Eigenschaft nicht zugestehen will. So hat etwa in der Zeit der Renaissance und der Reformation der akademisch-theologische, humanistische Klerus die ihm ebenbürtige Ordenstheologie verdrängt und ausgeschaltet, ohne selbst darauf zu reflektieren. Will man aber den Weg der Klerusbildung als Folge des kritischen Bewußtseins vermeiden, so ist man gezwungen, den in sich folgerichtigen, aber praktisch unmöglichen Weg des Syndikalismus zu gehen, in dem nur noch partikulare Gruppen die ihr eigene Identität vertreten, aber nicht mehr Bedeutung für die Allgemeinheit erlangen können.
Freilich könnte die Klerus-Bildung nicht einsetzen, wenn diese Gruppe als Träger eines kritischen Bewußtsein nicht wirklich auf dem ihr eigenen Felde, durch das sie geschichtlich definiert wird, erhellende Einsichten besäße. Sie vermag starke Evidenzerlebnisse auszulösen, die eine Art Bekehrungscharakter haben. Nichts ist daher geschichtlich und psychologisch verkehrter gewesen als die Betrugstheorie der Religionskritik. Auch wenn man den Unbedingtheitsanspruch dieses Bewußtseins in Frage stellt und diese Phänomene in den Bereich geschichtlicher Relativität rückt, ist die Annahme ihrer Ineffektivität, ihre Qualifizierung als Schein absurd. Dies ist eine Art umgekehrter Wunderglaube. Da Klerus immer Gruppenbildung ist, muß das ihm vorbehaltene Wissen in angemessener Weise übertragbar sein. Klerus unterscheidet sich dadurch von allen Phänomenen kritischen Bewußtseins, die sich auf den je Einzelnen beschränken, wie etwa die Prophetie. Wie sich diese vergleichbaren Phänomene zur geschichtlichen Gesamtheit verhalten, ob dieses Verhältnis ein punktuelles oder tangentiales ist, und mit solchen Begriffen
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angemessen beschrieben werden kann, kann hier dahinstehen. Sicher stellt die Vermittelbarkeit dieses Wissens den Klerus mit voller Kontingenz in die Geschichte. Freilich besteht hier eine Spannung. Das kritisch überlegene Wissen ist zunächst evident weitreichender, es ist dem gemeinen Bewußtsein und seiner Erfahrung überlegen, aber nur im relativen Sinne. Gleichwohl hat es die Tendenz, diese prinzipiell überbietbare Relativität zu einer absoluten Bedeutung zu steigern. Es wird jedenfalls die Pflicht statuiert, das Höchstmaß möglicher Erkenntnis und damit Erkenntnis schlechthin anzustreben und zu bewahren. Dieses Verhältnis von Relativität und Unbedingtheit läßt sich, wie es scheint, nicht völlig abklären. Mitten innerhalb der Geschichte als Inbegriff aller Lebenszusammenhänge treten die Träger dieses vorbehaltenen Wissens als Subjekte einer schlechthinnigen Freiheit auf. Jede mögliche Freiheit ist — so betrachtet — jedenfalls bei ihnen.
Nicht aber ist bisher erkannt worden, daß gerade diese Position als Subjekt der Freiheit kraft überlegenen Wissens unabwendbare, beschreibbare soziologische Folgen auslöst; ihr Strukturzusammenhang soll nunmehr dargestellt werden.
Es wurde schon gesagt, daß Klerusbildung nicht ohne effektive Potenz zur Daseinserhellung denkbar ist. Vermöge der Stellung aber als Subjekt der Freiheit bewirkt gerade diese Erhellung zugleich unausweichlich, daß die Inhalte ihres Urteils zu Objekten werden. Dadurch verlieren sie in einem wesentlichen Maße ihr innere Bedeutung, ihren in sich verständlichen Lebenszusammenhang. Sie werden notwendig vergegenständlicht, veräußerlicht, verflacht. In einer zweiten Stufe, bei einer Verschärfung des Bedeutsamkeitsanspruchs von kritischem Wissen werden sie aus sekundär bedeutsamen untergeordneten Gegenständen sogar zum Gegenstande radikaler Verneinung, womöglich Verteufelung. Jede Stufe oder Welle neuen kritischen Bewußtseins in der Geschichte schafft von neuem ein solches Minderheits-Mehrheits-Verhältnis und damit zugleich die beschriebenen Objektivierungen. Je stärker auch die Ablösung der Minderheit aus der Mehrheit, desto stärker jene Wirkungen.
Die relativ genau extrapolierbare Dogmengeschichte der
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abendländischen Kirche bietet hier einige Beispiele. So hat etwa die Scholastik vermöge ihrer kritischen Rationalität den Lebenszusammenhang der Ehe Zweckkategorien unterworfen, die in einer beschwerlichen und verhängnisvollen Weise bis in die Gegenwart deren immanenten Lebenssinn, ihren kommunikativen Charakter zurückgedrängt und verdunkelt haben. Das Zweite Vatikanische Konzil war noch voll der Laienbeschwerden über diese Folgen. Die Sakramente überhaupt werden in einer bis dahin unbekannten Weise objektiviert und aus Vorgängen der Vergemeinschaftung zu Gnaden„mitteln”.
In der theologischen Tradition reformatorischer Herkunft vererbt sich ein verfehlter, nämlich wesentlich normativer und imperativer Verfassungsbegriff. Auf Grund dieses Verfassungsbegriffs können die integrativen Prozesse des politischen Lebens nicht verstanden und sinngemäß eingeordnet werden. Die Vorstellung aber, daß Staat und politische Ordnung wesentlich normatives Gesetz und imperativer Befehl seien, ist keine zufällige Mißbildung, sondern die notwendige Folge davon, daß die Theologie des Evangeliums den Christen im radikalen Sinne als Subjekt der Freiheit verstehen gelehrt hat. Der „freie Herr aller Dinge” gerät in das Subjekt-Objekt-Verhältnis. Wenn man der lutherischen Staatslehre eine verhängnisvolle Affinität zur Autorität nachgesagt hat, so ist dies eine typische Verkehrung von Ursache und Wirkung. Die theologischen Gründe für die Folgeerscheinung liegen gerade in der Radikalität des Freiheitsbegriffs.
Die oben beschriebenen hierarchischen Formen mit ihren strukturellen und psychologischen Merkmalen der Klerusbildung zeigen sich primär und mit größerer Stringenz im politisch-ideologischen Bereich der Staatspartei, erst in zweiter Linie in der ökonomischen Staatsbürokratie und dann auch im technischen Management, hier nicht wesentlich anders als in der kapitalistischen Großwirtschaft, die bekanntlich längst konzerninterne Bürokratien aufgebaut hat. Die Rangfolge zwischen allen drei Säulen ist deutlich. Die politische Hierarchie ist der primäre Ort der entscheidenden Bewußtseinsbildung und damit der Leitfunktion. Die Differenz zwischen Klerus und Volk, zwischen Zentrale und Basis, bleibt bestehen. Sie kann durch Postulate und Theoreme
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nicht überbrückt, sondern nur verdeckt werden. Damit bleibt auch das unterschiedliche Verhältnis zur Erfahrung, der unterschiedliche Standort im Verhältnis von Theorie und Praxis, die unterschiedliche psychologische Existenzstruktur.
Der Marxismus versagt dem homo oeconomicus die Aneignung, weil diese die geschichtliche Quelle alles Übels sei. Es ist dies eine Art ökonomischer Puritanismus, um nicht zu sagen ein allgemeines Zölibat, bei dem die Menschen bei sich bietender Gelegenheit nur zu gern ausbrechen. An die Stelle zahlreicher ökonomischer Subjekte muß dann aber ein einzelnes ökonomisches Subjekt gebildet werden, weil ohne ein Subjekt der Aneignung nicht gewirtschaftet werden kann. Diesem Kollektivsubjekt sind alle natürlichen Subjekte planwirtschaftlich-funktional unter strengem ethischen Appell nachgeordnet. Ökonomische Subjekte aber können sie vom Grundsatz her nie werden — die Differenz ist unüberbrückbar.
Die so entstehenden Mißverhältnisse beruhen jedoch auf einer nicht zufälligen Zerstörung des Verständnisses für die Sache selbst. Es ist die Mißachtung der leidigen sozialen Fakten, einschließlich der Gesetze der Soziologie und Psychologie.
Nun können diese Mißverhältnisse auch nicht dadurch wettgemacht werden, daß das kritische Subjekt der Freiheit in einer Selbstkritik diese Kritik noch steigert. Je mehr das geschieht, desto größer müssen die Mißverhältnisse werden. Jeder Rigorismus und Puritanismus gerät in ein noch immer stärkeres Mißverhältnis zu den immanenten Sinnzusammenhängen des Lebens.
Wir stehen also vor einer Ambivalenz. Die unzweifelhaft erhellende Kraft der Kritik, die Freiheit entbindet, führt zugleich eine von ihren eigenen Voraussetzungen her nicht behebbare Entleerung und Verzerrung der Lebensverhältnisse herbei, denen sie sich gegenübersieht und in denen sie wirken will. Dieses Folgeverhältnis aber ist keineswegs das Ende. Das kritische Bewußtsein vermag das von ihm selbst erzeugte Mißverhältnis weder einzusehen noch zu durchbrechen oder zu beheben: Vermöge jener Ambivalenz ist es in sich selbst blind. Da sich aber der aufgezeigte Widerspruch bemerkbar macht, entsteht mit der gleichen Folgerichtigkeit auch der Versuch eines Ausgleichs unter der
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fortdauernden Voraussetzung, daß jenes Mißverhältnis selbst nicht durchschaut wird. Es wird infolgedessen als eine Art Komplementärbegriff ein Horizont vorgestellt, in dem dieser Widerspruch aufgehoben wird. So erklärt sich die Entstehung von Begriffen, wie corpus mysticum, Priestertum aller Gläubigen, die Rückverweisung auf die Allgemeinheit und den Konsens der Vernunft, auf die reale Basis, auf die Praxis, auf das Klassenbewußtsein der Arbeiterschaft, auf die werktätigen Massen; es entsteht deren Hypostasierung und emphatische Lobpreisung — eine undialektische Harmonisierung aller vorgestellten Idealitäten. Da sich dieses Mißverhältnis auf das Erfahrungswissen und die unmittelbaren Sachverhältnisse bezieht, in denen Menschen leben, so muß dann auch diese Unmittelbarkeit als solche hypostasiert und idealisiert werden, etwa in der Vorstellung, daß nur die Handarbeit wirkliche Arbeit sei, weil nur in ihr der Mensch mit der vollen Wirklichkeit der Welt konfrontiert werde. Auch die Rede von der Weltlichkeit der Welt gehört zu diesen Komplementärbegriffen. Sie wird gemeinhin von Leuten aufgestellt, die selbst niemals wirklich ganz eben dieser Weltlichkeit ausgesetzt gewesen sind. Das Mißverhältnis zur Erfahrungswelt erzeugt Phantasmagorien, wie die Kargheit und der Durst der Beduinen die Sehnsucht nach den Oasen.
Die Komplementärbegriffe sind aber im Aufbau des geistigen Zusammenhangs notwendige Bildungen, obwohl sie innergeschichtlich niemals verwirklicht werden, niemals Gestalt annehmen können. Als Gegenbildungen, sozusagen als geistige Abschlußwände, haben sie eine unentbehrliche Funktion. Dasselbe kritische Bewußtsein also, das verdeckte Wirklichkeit aufdeckt, zerstört zugleich erkennbare Sinnzusammenhänge, und im gleichen Maße und Zuge, in dem es Schein zerstört, muß es notwendig zugleich Schein erzeugen.
Dieser wissenssoziologische Zusammenhang ist, wie mir scheint, in seiner inneren Folgerichtigkeit und Zwangsläufigkeit noch niemals aufgedeckt worden.
Wenn nun gegenüber dem Erfahrungswissen das kritische Bewußtsein ein Bewußtsein zweiter Stufe darstellt, welches freilich allzuleicht ein Obergeschoß ohne Untergeschoß zu sein versucht,
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so liegt die Annahme nahe, es müsse dieses zweite Bewußtsein durch ein drittes Bewußtsein methodisch korrigiert werden. Dieser schematische Gedanke reicht freilich nicht aus. Denn jede weitere Bewußtseinsstufe wäre immer nur eine subtilere Wiederholung des Vorganges, der sich zwischen dem zweiten und ersten Bewußtsein schon erkennbar abgespielt hat. So würde kein qualitative Veränderung geschehen. In gewisser Weise stellt jeder Puritanismus und Rigorismus als Steigerung einer kritischen Grundauffassung eine Art drittes Bewußtsein dar, welches jedoch ersichtlich gerade durch die Steigerung in eine Sackgasse führt. Mit Recht hat daher die alte Kirche eine Reihe von rigoristischen Bewegungen auf die Gefahr hin abgewiesen, des Laxismus beschuldigt zu werden.
Die Steigerung kritischen Bewußtseins steigert nur die Fehler, die damit behoben werden sollen. Die rigorose Zurücknahme jedes Einzelnen zur Selbstprüfung in den Schoß der Klerusgemeinschaft ist ja gerade dazu bestimmt, seine Haltung zu verstärken. Jene immer erneuten Selbstprüfungen, zu denen die sozialistischen Parteien ihre Mitglieder nötigen, sind die notwendige institutionelle folge ihres Charakters als Klerus. Nur so kann die Minderheitssituation durchgehalten werden, die zur immer erneuten Abgrenzung durch Bewußtmachung und Befestigung des gemeinsamen Inhalts geschehen muß. Es ist daher die Frage, in welchem Sinne eine Eingrenzung oder Kritik dieser Klerusbildung mit seinen denkerischen und konkreten Folgen überhaupt möglich ist.
Es kann sehr wohl ein ideales Verhältnis von Theorie, Praxis und kritischem Bewußtsein gedacht werden, in dem Sinne etwa, daß „alle Kritik Kritik der Praxis und die Praxis die Kritik der Theorie ist.”
Der Fehler liegt nicht in der Konstruktion dieses zirkulären Systems als in der Vernachlässigung der Position der Träger dieser Vollzüge. Nur ein idealer Supermensch vermag alles dies zu vereinen. Praktisch muß es in verschiedene Träger und Subjekte auseinandertreten. In Wahrheit entsteht gerade kritisches Bewußtsein nur durch das Heraustreten aus den konkreten Zusammenhängen: ebne dadurch entsteht die Ambivalenz von Erhellung
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und Verdunkelung. Praxis ist beinahe umgekehrt zu beschreiben, Theorie aber noch lange keine Synthesis beider. Alle drei sind engagierende Lebensvollzüge und lassen sich als Standorte weder einfach gegeneinander austauschen noch vereinen.
Alle drei sind spezifischen Verzerrungen ausgesetzt: die Praxis dem vordergründigen Augenschein der Konkretion, die Theorie der bloßen Konsequenz; das kritische Bewußtsein aber verliert selbst seinen kritischen Charakter, wenn es schon vorweg zu wissen beansprucht, was erst zu entscheiden und zu unterscheiden ist — wenn es also selbst keine Alternativen mehr offen läßt. Genau dies ist der Grund, der bisher eine Erörterung des Hierarchieproblems verhindert hat. Deren Anhänger fürchteten Begrenzung und Entzauberung; die Gegner setzten sich von vornherein seinem Wirklichkeits- und Bedeutungsgehalt gar nicht erst aus. Eine Kritik, die alles schon vorentschieden hat, wird zur Prädestination, die sich mit Theorie und Praxis nichts zu sagen hat.
Jeder Gelehrte muß das Ergebnis jahrzehntelanger Forschungen bedingungslos aufgeben, wenn das Experiment oder der historische Nachweis oder die Grenze der Schlüssigkeit alles zunichte macht. Dies setzt aber eine gleichzeitige und gleichwertige Hingabe an beide Weisen der Erkenntnis voraus, die sich in etwa gegenseitig auch wiederum ausschließen. Es ist für das kritische Bewußtsein die radikalste deminutio capitis, wenn es vor der schlichten Erfahrung kapitulieren muß. Dieses Verhältnis is im Prinzip unausgleichbar. Unsere Frage war in etwa in dem historischen Selbstverständnis der Fakultäten aufbewahrt. Die drei alten Fakultäten, die theologische, juristische und medizinische, haben sich sämtlich als praktische Disziplinen verstanden, da sie auf das direkte Handeln am Menschen ausgerichtet sind. Otto Weber hat dies für die Theologie in seiner Ansprache zum Katechismus-Jubiläum 1963 nachdrücklich betont. Erst die vierte Fakultät, die artes liberales, haben diesen humanen Praxis-Bezug gelöst und sich auf alle denkbaren Objekte der Erkenntnis bezogen verstanden, Methode und Horizont ihrer Arbeit, aber zugleich auch ihre wissenssoziologische Struktur verändert.
Die Philosophie hat noch einen anderen Ausweg gesucht, in dem gegenüber Theorie und Anspruch des Wissens eine Traditionslinie
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des Nichtwissens besteht, der docta ignorantia, die von der antiken Philosophie über Paulus, Cusanus bis in die Gegenwart nachzuweisen ist. Hier wird folgerichtig ein qualitativ anderes gesucht, aus einer mehr oder minder direkten Einsicht in die oben entfaltete Zwangsstruktur des kritischen Denkens.
Einen anderen Weg ist etwa der römische Klerus vor aller soziologischen Theorie mit innerer Folgerichtigkeit geführt worden. Als Ausgleich wurde jeder einzelne Kleriker an den einzig adäquaten Praxisvollzug verwiesen, nämlich an die tägliche liturgische Meßfeier und das Breviergebet. Dieses Gegengewicht war erst notwendig und sinnvoll, nachdem der Klerus zur Jurisdiktionshierarchie geworden war. Dieses ganze Problem wurde in der Antithese — Gesetz und Freiheit — völlig unverständlich. Lange Zeit wurde eine Koinzidenz von theologischer Lehre und geistlichem Vollzug durchgehalten, etwa in dem orthodoxen Satz von der „lex orandi — lex credendi”, oder auch von der benediktinischen Doppelregel des „ora et labora”. Mit einer gewissen Überlappung waren auch die großen Kirchenlehrer nur bis zu dem Zeitpunkt Heilige, als das kritisch-theologische Bewußtsein und der geistliche Lebensvollzug noch nicht von innen heraus geschieden waren. Rosenstock-Hüssy hat gelegentlich gesagt, der Heilige Geist sei die Versuchung der Intellektuellen. Mit gutem Grund habe daher die Kirche Kirchen immer nur auf den Heiligen Geist und einen leiblichen Heiligen zugleich geweiht, also auf einen Patron, der im Fleische dem Herrn nachgefolgt sei.