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II. Hierarchiebildung und Zentralismus

 

a) Hierarchiebildung im Allgemeinen

Für diese analytische Aufgabe benutze ich als Hypothese das soziologische Phänomen und Problem der Hierarchiebildung. Die Zulässigkeit dieses Verfahrens kann nicht vorweg begründet, sondern nur durch das Ergebnis belegt und erhärtet werden.

Für die Durchführung ist — obwohl es eine Verzögerung des Gedankenganges mit sich zu bringen scheint — erforderlich, den Stand der Erforschung des Hierarchieproblems als solchen kurz zu vergegenwärtigen. Ich nehme als später zu belegendes Faktum vorweg, daß Hierarchie sich nicht auf den Bereich der Phänomenologie der Religion beschränkt, sondern ohne Verkürzung des Sinngehaltes in eindeutig säkularen Erscheinungen wiederkehrt. Es genügt auch nicht die Annahme, daß es sich hier um Formenübertragungen aus dem religiösen Bereich handele. Die bedeutendste hierarchische Bildung außerhalb des Bereichs der Religion ist das seit dem 17. Jahrhundert ausgebildete Heerwesen. Gerade seine Modernität schließt aus, daß es sich hier um eine Anleihe aus religiösen Hierarchiebildungen handelt, während umgekehrt der in der kirchlichen Tradition vorkommende, zweifellos erheblich wirksame militia-Gedanke zur Begründung und ständigen Erhaltung der Hierarchie keinesfalls ausreicht. Dieser Hinweis macht die notwendige Distanz zwischen religiösen und säkularen soziologischen Formen noch einmal deutlich. Daß im modernen Heerwesen dieser hierarchische Charakter im Rückgang befindlich (aber noch keineswegs aufgehoben) ist, ist zu beachten, aber nicht durchschlagend.

Man sollte annehmen, daß die Soziologie der Religion veranlaßt gewesen wäre, eine Analyse der Hierarchie zu liefern. Gerade dies ist aber nicht der Fall gewesen. Die klassische Religionssoziologie bei Max Weber und Tröltsch war von ihrer liberalen religionsphilosophischen Basis her wesentlich an den als fragwürdig betrachteten Phänomen religiöser Machtbildung interessiert. Infolgedessen gingen in ihr die Formen religiöser

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Machtbildung ohne zureichende Differenzierung durcheinander, so daß eine diagnostische Aussonderung der Hierarchie weder versucht worden ist noch sich ergeben hat. Im Gegenteil verdeckt die Anhäufung relevanter Merkmale ganz verschiedener Strukturformen unser Problem. Dies ist in der Folge für die Religionssoziologie auch so geblieben.

Ich übernehme jetzt einige Ausführungen, die ich in meiner Studie über die Hierarchie7 gemacht habe, und übergehe hierbei die Anwendung des Gedankens auf die Phänomene kirchlicher Hierarchie wie auch die Darlegung der Gründe, aus denen in der Theologie der streitenden Konfessionen die Bildung einer Theorie der Hierarchie ausgeblieben ist.

Eine Hilfe besteht darin, daß die Profansoziologie unbefangen den Hierarchiebegriff aufgenommen und erörtert hat, obwohl auch sie zu einer allgemeinen Behandlung des Problems nicht vorgedrungen ist. Sie hat es sich offenbar doch nicht zugetraut, zugleich in vollem Umfange die hier unabweisbaren Bestände der Religions- und Kirchensoziologie zulänglich einzubeziehen. Insofern sind jene Bemühungen partikular geblieben. Immerhin werden wir im Folgenden eine aus der Industriesoziologie entnommene, brauchbare Definition als Einstieg benutzen können.

Eine ungemeine Erschwerung bedeutet andererseits wieder die Popularisierung und Verallgemeinerung der soziologischen Begriffe. Diese werden so unscharf gebraucht, daß sie jedes Bemühen um eine präzise Klärung mit der zeitraubenden Notwendigkeit vorbelasten, erst einmal die Summe der selbst im Bewußtsein geschulter Betrachter erzeugten Fehlassoziationen wirksam auszuschalten. Die Verluderung der Begriffe ist vollends heute zum Mittel einer planmäßigen Aggression geworden. Man dehnt bewußt den Anwendungsbereich kritisch betrachteter Begriffe so weit aus, daß er auch ganz andre Gegenstände polemisch mitumfaßt und erzielt durch diese Methode des „a fortiori” massive Wirkungen. Jeder Fuchs, der eine Gans stiehlt, wird zum Werwolf gestempelt, gegen den man die Landwehr aufrufen kann und dem ein mythischer Nimbus der Gefährlichkeit und Unbegrenzbarkeit anhaftet.

Ein höchst wirksames weiteres Hindernis bildet schließlich der

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negativen Mythos der Papstkirche. Jeder Versuch einer Erfassung des Phänomens im Ganzen wird sofort emotional auf den römischen Katholizismus — oder das, was man sich darunter vorstellt — zurückbezogen, und um so mehr, je geringer die konkrete Kenntnis der damit verbundenen schwierigen und komplexen Phänomene ist.

Mit den hier beschriebenen Mangeln und Hindernissen muß daher jede Untersuchung rechnen, die das Phänomen der Hierarchie überhaupt angreifen oder wie hier zur Erhellung eines bestimmten Gegenstandes benutzen will.

Ich nehme also hier als Einstieg eine Umschreibung aus der Industriesoziologie, in der Hierarchie wie folgt umschrieben wird:

„Hierarchisch nennen wir ein Sozialgebilde, dessen Ordnung wesentlich durch ein institutionalisierten Stufensystem eindeutiger Über- und Unterordnung bestimmt ist, wobei vorausgesetzt ist, daß dieses System mehr als zwei Stufen enthält.
Eine Hierarchie ist eine Ordnung, nicht nur eine Machtabstufung. Die Unterordnung ist kein bloßes Hinnehmen, sondern enthält ein Moment der Anerkennung. Die jeweils höheren Stufen besitzen die Aura einer gewissen Autorität.
Eine hierarchische Ordnung ist stets auch institutionalisiert: Macht und Autorität des einzelnen Funktionsträgers gründen nicht allein in seiner Person, sondern leiten sich stets auch aus der vorgegebenen, von der einzelnen Person abstrahierbaren und als Ganzheit vorgestellten Ordnung ab.
Eine hierarchische Ordnung besitzt mehr als zwei Stufen: der typische soziale Habitus eines hierarchischen Systems wird geprägt durch die Situation der mittleren Stufen, nämlich durch die Gleichzeitigkeit von Dienen und Herrschen und die hieraus entstehende Ambivalenz des Verhaltensstils. Die Problematik jeder Hierarchie zeigt sich stets an der Art, wie versucht wird, die Extremgruppen, die ,Untersten’ und die ,Obersten’, aus deren Position sich diese Ambivalenz nicht von allein ergibt, zu integrieren.”8

Diese richtige, aber nicht vollständige Darstellung bedarf der Ergänzung und Auslegung.

Das wichtige Merkmal der Stufung setzt eine weitgehende

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Rationalisierung bestimmter Funktionen oder Rollen voraus. Damit eine Stufenleiter der Kompetenzen entstehen kann, müssen die einzelnen Positionen eindeutig beschreiben sein. Das Verhältnis der ersten zur zweiten Stufe muß dem Verhältnis der zweiten zur dritten Stufe vergleichbar sein, so wie eine Leiter mehrere Sprossen hat. Wie diese besitzt Hierarchie auch ein Oben und Unten. Sie hat einen transzendenten Grund, aus dem sie hergeleitet wird und auf den sie sich rückbezieht und eine von ihr unterschiedene Basis, etwa die Laien im Verhältnis zum Priester. Laie ist hier jeder, der keine bestimmte Position in der Stufenleiter besitzt.

Infolgedessen besitzt Hierarchie eine definierbare Innen- und Außenstruktur. Die Innenstruktur ist jene Mindestfolge dreier vergleichbarer Stufen, die durch ein Oben und Unten eingeschlossen sind. Weniger Stufen dürfen es nicht sein, weil sonst die rationale Abstraktion jener Gleichung nicht möglich ist. Es können mehr Stufen sein; jedoch ist ihr Vorhandensein für die volle Ausbildung dieser Formen nicht wesentlich. Es besteht sogar eine gewisse Tendenz, Hierarchien in Dreiergliederungen aufzubauen.

Auch die Außenstruktur besteht in drei Elementen: der begründenden Transzendenz, der Mitte, in welcher die Hierarchie als Ganzes anzusetzen ist, und der Basis.

Ebenso wichtig wie das Formelement der Stufung ist auch die rechtliche Definition von Hierarchie durch die Begriffe Substitution und Status. Jeder Träger eines hierarchischen Amtes hat einen definierten Status, der mit seiner Person verbunden, ihm nicht ohne weiteres, d.h. nur bei wesentlichen Verstößen gegen den Sinn des Ganzen genommen werden kann. Andererseits kann der Vorgeordnete in die Kompetenz des Nachgeordneten eintreten und sie ersetzen. Der Offizier kann einem Unteroffizier jederzeit das Kommando abnehmen und an seiner Stelle befehlen, ohne daß damit eine sinnwidrige Verkürzung der Position des Untergebenen eintritt.

Der Instanzenzug der Gerichte ist deswegen nicht hierarchisch, weil die übergeordneten Gerichte nur unter der Voraussetzung des nicht ersetzbaren, unabhängigen Urteils der Vorderinstanz zu urteilen befugt sind. Eine reale Grenze liegt insbesondere darin, daß Entscheidungen der Eingangsinstanz in Rechtskraft erwachsen

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können, ohne daß die obere Instanz berechtigt ist, einzugreifen. Überall muß der Irrtum vermieden werden, daß einfache Über- und Unterordnungsverhältnisse sinnwidrig mit dem Begriff Hierarchie verbunden werden.

Status und Substitution stehen in einem dialektischen Verhältnis. Die Substitution darf den Status nicht aufheben oder seines Inhaltes berauben. Der eigene Status des Nachgeordneten kann aber auch nicht soweit ausgedehnt werden, daß Unterordnung und Substitutionsrecht gegenstandslos werden.

Mit jener Schematisierung des Grundrisses sind noch nicht die Triebkräfte aufgedeckt, die die Hierarchie erzeugen. Die Rückbeziehung der Hierarchie auf einen transzendenten Grund meint nicht primär eine Abbildung spekulativ ermittelter Seinsstufungen. Spekulation würde solche soziologischen Bildungskräfte nicht auszulösen vermögen.

Der transzendente Rückbezug hat vielmehr die Bedeutung, daß das hier gemeinte, durch die Hierarchie zu vollziehende Handeln existenzbestimmenden Charakter besitzt. Damit verbindet sich zugleich ein Element andringender Notwendigkeit, ein Entscheidungszwang.9 Hierarchie muß in ihrer Entscheidungsfähigkeit präsent sein. Sie ist etwas anderes als der Ort langwieriger Erwägungen und Urteilsprozesse. Im Gegenteil ist Hierarchie ein Machtgefüge, in dem diese lebensentscheidende Bestimmungsfähigkeit jederzeit aktionsbereit zur Verfügung gestellt wird und werden muß. Hier liegen die Triebkräfte, die so große historisch-soziologische Bildungen hervorgebracht haben. Hierarchie ist institutionalisierte, notwendige Dezision. Sie ist aber nicht Entscheidungswillkür aus der Skepsis gegenüber der Erkennbarkeit rationaler Maßstäbe, sondern wahrt sorgfältig Identität und rationalen Zusammenhang des Systems.

Sie muß zwar wie jedes System sich den Spielraum für Vorerwägungen und Planungen aussparen. Aber diese besitzen keine institutionelle Öffentlichkeit, durch welche Alternativen auftreten könnten, sondern gehen von der vorgegebenen und nur zu erkennenden und zu interpretierenden Einheit der Entscheidung aus, welche in Frage zu stellen oder zu gefährden tödlich ist. Daher ist das Kampfmotiv von wesentlicher Bedeutung, gleichviel

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ob es sich um religiösen oder weltlichen Kampf handelt. Die Disposition zur Hierarchiebildung tritt aber erst auf, wenn dieser Kampf in einem bestimmten Grade rationalisiert und systematisiert ist. Die alltägliche Selbstbehauptung des Bestehenden gibt diese Kräfte nicht her. Wo andererseits die Kampfspannung nachläßt, die Existenzbedrohung nicht mehr als evident glaubhaft zu machen ist, muß sie unter Brandmarkung falschen Friedens durch propagandistische Weckrufe am Leben gehalten oder neu erzeugt werden. Je stärker das Motive der Behauptung einer einzigartigen, von der feindlichen Welt grundsätzlich in Frage gestellten Existenzform ist, desto einseitiger tritt Hierarchie in Erscheinung. Dichte und Spannungsgrad können bei alledem sehr verschieden sein.

Andererseits stehen hierarchische Formen in einem Korrespondenzverhältnis zu deliberativen. Dezision und Deliberation stehen in einem zirkulären Verhältnis. Ein reines System der Dezision kann das deliberative Element über lange Strecken verdrängen und ausschalten, es zur Entscheidungslosigkeit spiritualisieren. Trotzdem haftet diesem System der Dezision, je reiner es ist, um so mehr ein Element der Defizienz an: das drückt sich in handgreiflichen Mangelerscheinungen aus. Die Korrespondenz zwischen Dezision und Deliberation läßt sich in aller Kürze für alle Formen hierarchischer Gestaltung andeuten: Bischof und Synode, Heer und politische Führung, Unternehmen und Markt, Staatsanwaltschaft und Gericht. Die Tatsache andererseits, daß es politische Gestaltungen gibt, die trotz oder auch gerade durch diese Einseitigkeit langfristig wirksam werden, muß gegenüber einer spekulativen Idealstaatslehre oder bloßen Postulaten und Wertungen beachtet werden.

Der Kürze halber fasse ich die These dahin zusammen, daß es Hierarchie in drei unterschiedlichen Formen gibt:
1. als religiöse Hierarchie, deren am stärksten entwickelte Form die Hierarchien der christlichen Kirche sind,
2. säkulare Hierarchien, die offen ihren hierarchischen Charakter zur Darstellung bringen, so insbesondere das rationale Heerwesen vom 17. Jahrhundert ab und die rechtsstaatliche Staatsanwaltschaft,

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3. informelle säkulare Hierarchien, die ihren hierarchischen Charakter weder sinnfällig machen noch sich zu ihm bekennen, ihn vielmehr mehr oder minder folgerichtig verdecken.

Aus dem oben beschriebenen Entscheidungscharakter wird zunächst die Tatsache verständlich, daß es religiöse und säkulare Hierarchien nebeneinander gibt. Das Phänomen gehört unmittelbar beiden Bereichen an. Die Entlehnung des Begriffs ist also nur eine verbale. Die Entstehung hierarchischer Formen im Heerwesen ist besonders charakteristisch. Sie bilden sich erst aus, nachdem im Gegensatz zum Mittelalter die Befehlsverhältnisse eindeutig definiert, die Handlungsvollzüge festgelegt und die Disziplin gesichert ist. Alles dies trifft für das frühere Heerwesen nicht oder nur sehr bedingt zu.

Das Moment des Entscheidungszwangs wird bei der rechtsstaatlichen Staatsanwaltschaft, einem bisher unbeachteten Beispiel, ebenfalls deutlich. Hier geht es zwar nicht um die eigene Endentscheidung dieser Behörde, wohl aber um die rationale Durchgängigkeit des allgemeinen Gesetzes und die Gefahr des Verlustes von Beweismitteln. Die Staatsanwaltschaft muß sofort zugreifen, wenn der Strafanspruch nicht als unbeweisbar verlorengehen soll. Hier wird insbesondere die Abgrenzung zu allen sozialen Gestaltungen deutlich, die deliberativen Charakter haben und infolgedessen auch ein völlig anderes Verhältnis zum Zeitbegriff haben — vor allem dem Gerichtswesen.

Der lebensbestimmende Charakter religiöser Entscheidungen ist formalsoziologisch kein anderer als die Entscheidungen, die ein General im Kriege treffen muß. Hierarchie im Vollsinne ist nur dort durchzuhalten, wo die Entscheidung jedes einzelnen Entscheidungsträgers an der Dignität des Vollzuges vollen Anteil hat. Die Absolutionsentscheidung des einfachen Priesters ist von derselben Dignität wie die oberste Entscheidung des Papstes. Der Operationsbefehl des Generals ist in der Anwendung auf das Handeln des Einzelnen genauso gefährlich wie der Befehl des Unteroffiziers, aus der Deckung zu gehen. Die Einstellungsverfügung des letzten Staatsanwaltes hat dieselbe rechtliche Dignität wie eine bedeutende Grundsatzentscheidung über die Frage, ob in der Abgrenzung der Auslegung ein bestimmter

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Sachverhalt als verfolgungswürdig angesehen wird. Die informellen Hierarchien sind insbesondere große Industriebetriebe und politische Parteien mit dem Charakter der ideologisch begründeten Staatspartei. Die Hierarchiebildung im ökonomischen Bereich beruht darauf, daß jedes ökonomische Subjekt um seiner Selbsterhaltung willen zentrale Entscheidungen treffen muß, von denen alles nachgeordnete Handeln abhängig sein muß. Es kann der Prokurist nicht anders disponieren als die Unternehmungsleitung. Die Einzeldisposition der Nachgeordneten schlagen zwar in ihrem ökonomischen Ergebnissen rechnungsmäßig zu Buch. Existenzentscheidend ist aber letzten Endes immer nur die Gesamtrechnung, innerhalb deren die einzelnen Posten austauschbar und sozusagen soziologisch banal sind.

Aus diesem hinkenden Charakter trotz deutlicher Stufungen ergibt sich auch der informelle Charakter dieser zweiten Form säkularer Hierarchien. Andererseits kann dieser Stufungscharakter bei entsprechenden Größenordnungen nicht vermieden werden. Das Gesetz der Selbsterhaltung der ökonomischen Einzelsubjekte kann nicht dadurch aufgehoben werden, daß es aus ideologischen Gründen bestritten wird.

Die uns besonders interessierenden Formen staatstragender Parteien entstehen dadurch, daß ideologische Gruppen den Anspruch erheben, den geschichtlichen Endsinn eines bestimmten Volkes oder der Menschheit überhaupt rational auslegbar erkannt zu haben. Damit verbinden sich Anspruch und Verpflichtung, die heilbringende Erkenntnis zu verwirklichen und die Folgerungen auch der übrigen Menschheit verbindlich aufzuerlegen. Die dogmatisch-ideologische Auslegung erlaubt zugleich eine begriffliche Entscheidung darüber, was diesem erkannten Geschichtssinn entspricht oder widerspricht.

 

b) Hierarchiebildung im herrschenden Marxismus

Nun hat die Entwicklung eines bürokratischen Sozialismus oder die Entwicklung des Sozialismus zur Bürokratie, zum bürokratischen Funktionärswesen besondere Beachtung gefunden, innerhalb

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wie außerhalb der marxistischen Bewegung lebhafte Kritik hervorgerufen.

Hierarchie unterscheidet sich von der bloßen funktionalen Nachordnung dadurch, daß ihren Angehörigen das — mindestens relativ — selbständige Urteil über die Sinngemäßheit ihrer Vollzüge nicht genommen werden kann. Der Funktionär ist in weit höherem Grade befehlsabhängig, besitzt aber andererseits keine Maßstäbe, um außerhalb der ergehenden Weisung sinngemäß zu urteilen. Dadurch kommt im Funktionärswesen die schroffe Exekution bestehender Anordnungen einerseits, die Willkürlichkeit und womöglich der Eigennutz im Bereich selbständiger Entscheidungen andererseits zustande.

Robert Havemann, der Wanderer zwischen beiden Teilen Deutschlands, beschreibt in seinem Erinnerungsbuch10 die marxistische Funktionärsbürokratie folgendermaßen:

„Die Partei- und Staatsbürokratie bildet keinen besonderen Körper innerhalb der Gesellschaft. Sie ist vielmehr einem verästelten und wuchernden System vergleichbar, dessen Fasern sich dem Mittelpunkt zu in immer mächtigeren Strängen vereinen. Sie ist dem Mycel eines Pilzes vergleichbar, das seinen Nährboden durchzieht und aussaugt. Dieses Geflecht hat zwar, hierarchisch gesehen, keine echte Schichtsstruktur, denn in den verschiedenen Etagen dieser Hierarchie existiert kein oder fast kein System von Querverbindungen. Alle Verbindungen sind nur in zentraler Richtung gezogen. Aber doch gilt, daß jede der Quasi-Schichten dieses Systems von der über ihr liegenden Schicht beherrscht wird und ihrerseits eine unter ihr liegende Schicht selbst beherrscht. Die gesamte gesellschaftliche Macht wird durch diese Struktur auf das Zentrum hin orientiert. Eine demokratische Meinungsbildung von unten ist absolut ausgeschlossen.”

Dieser von ihm leidvoll erfahrene Tatbestand ist, wie ersichtlich, erstaunlich wenig reflektiert — weder nach der Struktur noch nach den Triebkräften. Die Beschreibung bietet aber Anhaltspunkte für die weitere Analyse. Diese Hierarchie ist im Sinne der bloßen Befehlsabhängigkeit mechanisiert. Niemand hat hier mehr einen rechtlich gesicherten Status. Die Dialektik von Status und Substitution ist aufgelöst. Nicht nur die bürgerliche

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Rechtsordnung ist beseitigt, sondern der Rechtsgedanke im Verfassungsgefüge selbst in der Wurzel getroffen. Die positive Funktion der Verrechtlichung solcher Gefüge wird hier sichtbar. Aber dieser Befehlsmechanismus wäre sicher außerstande, sich als System zu erhalten, wenn nicht ein eigener Antrieb der Beteiligten vorhanden wäre. Havemann nennt ihn deutlich:

„Innerhalb des Machtapparats vollzieht sich ein unaufhörlicher Aufstieg der einzelnen Funktionäre, ein Aufstieg, der bei den meisten eines Tages mit einem jähen Absturz endet. ... Solange der Funktionär zuverlässig und zweifelsfrei alle von oben kommenden Weisungen befolgt und nach unten überträgt, ist seine Karriere gesichert. Ein einziger selbständiger Gedanke, der auch nur eine Spur von Zweifel an der Richtigkeit der Staatsmeinung erkennen läßt, kann das Ende seiner Laufbahn bedeuten. Mit Argusaugen bewachen seine Konkurrenten jeden seiner Schritte und hören auf jedes seiner Worte. Dieser Druck von unten, dieses dauernde Nachdrängen der Anwärter auf seinen Posten veranlaßt ihn, lieber päpstlicher zu sein als der Papst, um ja nicht in den Verdacht zu kommen, er sei ein Versöhnler, ein Liberaler oder gar ein Aufweichler. Dieser Mechanismus des Mißtrauens und des Karrierismus bewirkt, daß jeder noch so entschiedene Schritt der Führung in Richtung auf eine Demokratisierung oder ,Liberalisierung’ sich immer wieder totläuft und in einer neuen Periode der harten Linie endet. Die stalinistische Struktur reproduziert sich auf diese Weise immer wieder.”

Was Havemann hier schildert, ist als Funktionärswesen keineswegs nur „bürokratisch”. Es ist ein mit Elementen und Formen von Bürokratie verbundenes politisches System, dessen rezenter Kern jene hierarchieförmigen Erscheinungen darstellen.

Die Entstehung der Bürokratie als einer dritten Kraft neben und mehr oder minder unabhängig von hierarchischen und deliberativen Verfassungselementen ist ein Phänomen, das in der Moderne erstrangige Bedeutung gewonnen hat, obwohl es schon früher in sozialen Großverbänden vorgekommen ist, so etwa im späten römischen Reich. Zugleich wäre es ein Wahn zu meinen, Bürokratie könne wie eine Art Bluterguß in das gesunde Gefüge des politischen Ablaufs aufgesaugt und absorbiert werden.

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Gerade ihre Unvermeidlichkeit macht sie bedeutsam. Es fragt sich, wieweit dieses allgemeine Phänomen für die Differenzialdiagnose der marxistischen Herrschaftsformen spezifisch ist.

Nun hat sich Bürokratie in der Entstehung des modernen Staates zunächst als administrative entwickelt (allgemeine Staatsverwaltung, Standesamtswesen, Steuerwesen, Heeresorganisation als Erfassung aller personalen und materieller Wehrkraft). Dann haben sich die industriellen Großbetriebe je in sich als einzelne bürokratisiert; daneben wurde ein ähnliche Züge aufweisendes Verbandswesen entwickelt. Relativ begrenzt und wenig effizient ist das bürokratische Element des Parteiwesens in einem System konkurrierender Parteien, weil die Zugriffsmöglichkeiten auf die Parteimitglieder gering sind.

Bedrohlich und bedrängend ist nun das bürokratische Element in den sozialistischen Staaten dadurch geworden, daß drei voll ausgebildete bürokratische Aufbauzüge entstanden, die, eng mit einander verzahnt, zusammengenommen nahezu totalen Charakter erreichen: die politische Bürokratie der Partei, die administrative Bürokratie im Sinne des erhaltengebliebenen modernen Staates, und die zum Plansystem ausgebildete ökonomische Bürokratie. Dadurch wird der Raum für sachgebundene und erst recht personalbezogene, humane Entscheidungen außerordentlich wirksam eingeschränkt und tendenziell minimalisiert. Durch diese Totalität unterscheidet sich der institutionalisierte Sozialismus von allen anderen Formen des modernen Staates, in denen auch heute noch praktisch weite Bereiche dem bürokratischen Eingriff entnommen sind. Andererseits ist evident, daß weder die hierarchisch verfaßte ökonomische Bürokratie und noch weniger die traditionelle Staatsbürokratie die Antriebskräfte hergeben, um das Gesamtsystem zu bewegen. Der Technokrat hat nur einen fachmännisch begrenzten Horizont. Er will Spielraum für ein ökonomisch vernünftiges produktives Handeln haben, ungestört von unsachlichen Einflüssen. Auch eine gebildete, höchst leistungsfähige Administration vermag fehlende politische Antriebe nicht zu ersetzen. Dies hat die historische Schwäche des preußischen Staates ausgemacht. Eine gute Verwaltung ersetzt nicht eine gute Verfassung, aber eine schlechte Verwaltung ist eine

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schwere politische Belastung, die auf ein moralisches oder intellektuelles Defizit zurückverweist. In den sozialistischen Staaten hat nun die Parteibürokratie ein deutliches, verfassungsmäßig verankertes und ideologisch begründetes Übergewicht, vertritt einen ausdrücklichen Führungsanspruch — ebenso wie in den faschistischen Systemen die Partei dem Staat befiehlt, ihre Funktionäre als „Hoheitsträger” der politischen Organisation („P.O.”) auftreten. Diese Prävalenz ist folgerichtig. Wiewohl nun die Partei ihrerseits bürokratisch ist, so ist doch ihre spezifische Rolle nicht aus ihrer bürokratischen Form, sondern ihrem politischen Charakter und Anspruch zu verstehen. Trotz des historischen Materialismus liegt die Basis also nicht in ökonomischen Fakten, sondern in politischen Wertungen und Zielsetzungen. Insofern ist also der Begriff des bürokratischen Sozialismus unzulänglich, weil er zu dem Irrtum verführt, von einem übergreifenden Bürokratiebegriff her zu denken.

Der Marxismus gehört zu den freien Bewegungen, die gemeinte und versucht, ja sogar beansprucht haben, mit dem Staat als Herrschaftsform auch die Bürokratie als Symptom und Mittel der Entfremdung zu überwinden. Er ist jedoch noch weniger imstande gewesen, dies zu erreichen als andere; er hat durch seine besondere Struktur die Lasten und Probleme des Bürokratismus noch verstärkt.

Nach dem „Philosophischen Wörterbuch” ist „Bürokratismus mit Sozialismus und Kommunismus unvereinbar”. Trotzdem können sich Elemente halten. Dazu wird gesagt: „Die entscheidende Methode zur Überwindung von Erscheinungen des Bürokratismus ist der Demokratismus, besonders die Entwicklung der Volkskontrolle unter Führung der marxistisch-leninistischen Partei” (S. 95). Nach dieser These ist der Bürokratismus durch Mittel überwindbar, die man kennt und über die man verfügt.

Hier wird verkannt, daß der Bürokratismus der sozialistischen Staaten im Bereich der politischen Administration wie der Ökonomie von ihnen zwangsläufig auf Grund der Übernahme der Verantwortung für politische Hoheit und ökonomische Mittel gebildet worden ist, und daß die wiederum hierarchische Bürokratiebildung derjenigen der Partei selbst entspricht, mit der sie

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untrennbar verbunden ist. Die Bürokratie soll also durch die gleichen Kräfte überwunden werden, die sie begründet und geformt haben. Gerade eine von den hierarchischen Strukturen unabhängige Kritik demokratischer Qualität wird durch den Führungsanspruch der Partei und deren integrierende Struktur unmöglich.

Unter der fundamentalen Voraussetzung der führenden Rolle der jeweiligen kommunistischen Partei stellt sich das Beschriebene als Verfassungsform und System unter dem Begriff des „demokratischen Zentralismus” dar. Diese Verfassungsform des Ostblocks haben die Sowjet-Union und die ihr verbundenen Staaten gemeinsam. Es wird auch, wie das Prager Beispiel zeigt, dafür gesorgt, daß die Verfassungskonformität innerhalb dieses Systems aufrechterhalten bleibt. Der Begriff des demokratischen Zentralismus ist auch der einzige, der ausdrücklich behauptet, vertreten, wenn auch nicht definiert und analysiert wird. Er ist der einzige, der die Sinneinheit dieses politischen Systems umgreifend darbietet.

 

c) Demokratischer Zentralismus

Dieser Zentralismus ist mit dem Zentralismus nicht zu vergleichen, den wir aus anderen Staatssystemen, insbesondere aus der Staatstradition der romanischen Völker kennen. Die Frage freilich, welche tieferen, geistesgeschichtlichen und ideologischen Hintergründe der Zentralismus der französischen Revolution besitzt, kann nicht ganz beiseitegestellt werden. Ohne Zweifel ist ein Element des radikalen Rationalismus darin enthalten, ohne daß diese Erscheinungen völlig darauf zu reduzieren sind. Eben darum bleibt dieser Zentralismus noch ein relativer, so schwer sich auch etwa das gegenwärtige Frankreich tut, die evident negativen Folgen dieses Systems durch Gegenbildungen zu überwinden.

Der hier gemeinte Zentralismus ist in jenem Sinne kein relativer, sondern ein absoluter. Er ist etwa in dem gleichen Sinne systemnotwendig wie das Papsttum für die katholische Kirche. Er hat einen transzendentalen Charakter. Er ist die Bedingung der

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Möglichkeit dafür, in einem militanten System die weltgeschichtliche Aufgabe zu erfüllen, die der Kommunismus sich gesetzt hat. Dadurch widersteht er auch allen Relativierungen durch den Ausgleich mit anderen Verfassungselementen. Eine gemischte Verfassung im Sinne der Idealstaatslehre wie die Gewaltenteilung im Sinne der bürgerlichen Aufklärung wird so ausgeschlossen. Vorausgestellt wird die Gewalteneinheit, die höchstens funktional gegliedert wird.

Zugleich unterscheidet er sich dadurch vom Papsttum und allen religionssoziologischen Vergleichsbildungen, daß er jede personale Leitung durch Einzelne systematisch ausschließt. Der Kampf gegen den Personenkult ist insofern folgerichtig, und wenn man so sagen darf, ideologisch sauber. Er beruht darauf, daß es sich um ein streng deterministisches System handelt, in dem weder für das traditionale, noch das kontingent-kreative Moment personaler Leitung Platz ist. Der Determinismus dieser Anschauung versteht und rechtfertigt sich selbst als „wissenschaftlich”. Aus dem Element der Verwissenschaftlichung wird eine umfassende Bestimmtheit. Es handelt sich um die Fortschreibung eines konsequenten Rationalismus. Dieser hat schon in der klassischen Gewaltenteilungslehre der Anschauung vom politischen Handeln eine Vernunftmetaphysik zugrundezulegen und jede Kontingenz auszuschließen versucht. Freilich kann auch ein solches System soziologische Möglichkeiten nicht ausschließen, für deren Vorhandensein es keinen Verstand besitzt, und die es lediglich dogmatisch verwirft. Aber die theoretische Konsequenz ist anzuerkennen.

In diesem System sind die Stufungsphänomene sehr deutlich. Von oben nach unten wird der Mitgliederbestand der Partei als Gruppe mit kritischem Bewußtsein unter dem Gesichtspunkt der Bewährung immer neu überprüft. Der wiederholte Austausch der Parteibücher, die Überprüfung der Mitgliedschaft, der Abweichung Verdächtiger oder sonst einem gewissen Haltungsstand nicht Entsprechender und die Ausscheidung untätiger Mitglieder ist die institutionalisierte Form. Das setzt voraus, daß in den oberen Schichten abgrenzbare ideologische Maßstäbe vorhanden sind, die dieser Bestimmung einen Sinn geben, so gewiß diese auch

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wieder ein Mittel zur formalen Unterwerfung unter die Führung ist. Die Durchsetzung der ideologisch fundierten Parteitagsbeschlüsse wird zur Bewährungsprobe der Kader, zum syllogismus practicus der Erwählung, nach dem Grundsatz, daß die Praxis das Kriterium der Wahrheit sei. Immer wird versucht, im Urteil ideologische Festigkeit und praktische Bewährung zusammenzusehen.

Umgekehrt gibt es innerhalb des Apparates deutliche Aufstiegszüge, die in den mittleren Positionen nicht immer deutlich von bürokratischen Formen abgehoben werden können. Sie gewinnen aber ihre Bedeutung dadurch, daß mit den erreichbaren Stellen unmittelbare politische und zugleich gesinnungsbildende Macht unter Einschluß der kulturellen und wissenschaftliche Bereiche verbunden ist. Der Phänotypus ist zweideutig: er ist unscheinbar, unbetont, unformell, weist aber dann wiederum auch ausdrückliche institutionalisierte Stufungen auf.

Deutlicher wird der hierarchische Charakter in den oberen Führungsschichten. Hier gibt es Kandidaten und Vollmitglieder der Zentralkomitees. Hier gibt es unterschiedliche Ministerränge, einfache Minister, stellvertretende Ministerpräsidenten usf. Nirgends jedoch sind Gremien erkennbar, die auf einer durchgängigen Gleichheit aller ihrer Glieder unter Absehung von Bewährungsstufen gebildet werden. Deren Einführung aber setzt voraus, daß es Unterscheidungsmaßstäbe für diese Einstufung gibt und kollektive personale Träger, die diese Einstufungen zu vollziehen imstande und berechtigt sind. So kann hier für die Spitzen geradezu eine numerische Rangordnung aufgestellt werden. Ein etwa möglicher Dissensus in wesentlichen Fragen berührt dann immer schon wieder den Status des Einzelnen im Ranggefüge. Er wird zurückgestuft oder gänzlich ausgeschieden. Während hier die Durchsetzung von Richtungen und Maßstäben sicherlich zum Teil den Charakter persönlicher Machtausübung besitzt, sind diese Unterscheidungsvorgänge doch nicht ohne ein definibles ideologisches Substrat denkbar. Die hier verwendeten Maßstäbe müssen wenigstens bis zu einem gewissen Grade richtungsmäßig auslegbar und auf die Gesamtausrichtung rückbeziehbar sein. In diesem Sinne kann auch hier die Hierarchie nicht lediglich

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Schein oder Selbstbetrug sein. Wie richtig oder falsch man diese Ideologie bewertet: daß sie ihren eigenen Geschichtssinn festzuhalten und auszulegen imstande ist, solange sie lebt, sollte der Soziologe nicht zugunsten einer bloßen Formalisierung soziologischer Betrachtung in Verbindung mit einer ebenso formalen Religionspsychologie bestreiten.

 

d) Demokratischer Zentralismus

In der Verbindung von Zentralismus und Demokratie wird der Zentralismus durch den erst von Lenin geschaffenen Typus der stellvertretend im Namen des Proletariats denkenden und führenden Partei bedingt. Gleichwohl bezeichnet und versteht sich dieser Zentralismus als demokratisch. Die Berechtigung dazu bestreitet ihm die liberale Kritik nur mit bedingtem Recht. Denn es kommt darauf an, was man unter Demokratie versteht. Versteht man darunter rein formal die von aller Heteronomie und Tradition freigestellte Selbstverwirklichung der Menschen in Gemeinschaft, so wäre unter diesem Begriff auch der demokratische Zentralismus unterzubringen. Mit dem Anspruch der Stellvertretung wird freilich bereits der der Demokratie innewohnende Gleichheitsgrundsatz in Frage gestellt, der nur auf dem Wege einer postulierten Identifikation, also nur theoretisch gewahrt werden kann. Diese Spannung muß sich speziell im Nationalitäten-Problem („sozialistische Nation”) manifestieren, da ja die geschichtliche Nationalität als Ganzes von der führenden Klasse nicht gebildet, sondern unableitbar vorgefunden wird.

Vollends wird der Demokratiebegriff unanwendbar, wenn man unter Demokratie die Möglichkeit versteht, daß unterschiedliche ideelle und materielle Kräfte sich jeweils neu formieren, neue kontingente Einsätze finden und sich durch Integration im Gemeinwesen als politische Form gestalten. Entscheidend geht es um die Frage, ob es innerhalb der Geschichte Kontingenz gibt. Gibt es Rechte und Motivationen, die so, wie sie sind, das Recht haben, sich gerade nicht hinterfragen zu lassen und sich ebenso in notwendiger Unterschiedenheit und Pluralität selbst zu verwirklichen,

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dann hat dies keinen Platz mehr im demokratischen Zentralismus. Der demokratische Zentralismus ist die Verfassungsform eines objektiven Idealismus, in welchem die Endbestimmung der Menschheit in der rationalistischen Form einer schlüssigen Erkennbarkeit und Beurteilbarkeit sowohl vorgegeben wie aufgegeben ist. Es kann bündig darüber geurteilt werden, ob etwas in dem geschichtlichen Prozeß dieser Selbstverwirklichung seinen legitimen Platz hat oder nicht. Was dies inhaltlich meint, kann ebenso bündig definiert werden: „Aufhebung der Entfremdung, des Klassenkampfes und seiner Ideologieformen und die Herbeiführung einer klassenlosen, nicht antagonistischen Gesellschaft mit Gemeineigentum und Mitbestimmung aller als Erscheinungsform des wirklichen, wahren Menschen in der Geschichte” (Deutsche Zeitschrift für Philosophie). Dadurch wird das System zu einer permanenten Erziehungsgemeinschaft unter staatspolizeilich-parteilichem Zwang. Daß im Nachhinein bewußt in dieses System traditionelle Elemente aufgenommen werden, man die Geschichte als Anmarschweg auf dieses Menschheitsziel uminterpretiert, zeigt nur, daß dieser gewaltsame Idealismus die Wirklichkeit des Menschen überfordert und vergewaltigt. Es ist aber im strengen, immanenten Sinne kein Argument gegen seine Folgerichtigkeit. In der praesupponierten Übereinstimmung von Freiheit und Gemeinschaft wird versucht, die Eigentlichkeit des Menschen durch ständige Formung des Bewußtseins herauszubringen. Der unaufhebbare Antagonismus aber liegt im kritischen Bewußtsein selbst, seinen Bedingungen und Folgen.

Freilich resultiert aus alledem auch jener penetrante Pädagogismus, der den Menschen von den einfachsten Verrichtungen an in ein allmächtiges Erziehungssystem einspannt. Auch das Mißverhältnis zwischen Erziehern und Erzogenen in Niveau, Methode und Horizont, die Verengung des Blicks in geschlossenen pädagogischen Provinzen schnürt dem freiheitsliebenden Menschen die Luft ab. Folgerichtig aber ist es gewiß. Da aber der objektive Sinn dieser Verfassung in einem vorgegebenen Ziel liegt, kann ein zulängliches Bewußtsein für dessen Erfordernisse nicht in der Allgemeinheit vorausgesetzt werden. Infolgedessen

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beschränken sich die konkreten Gestaltungsmöglichkeiten auf begrenztere Verfassungselemente. Notwendig muß eine bewußte aktive Minderheit in immer erneuter Anspannung sich dieses Hochziels bewußt werden und es gegen das träge und unscharfe Bewußtsein der breiten Masse durchsetzen. Infolgedessen ist die Einheitspartei als tragende Institution des Staates unverzichtbar. Die Gesamtheit kann zwar zu zustimmenden Akklamationen aufgerufen werden. Man versucht sich ihrer Zustimmung oder wenigstens Duldung zu vergewissern. Man sucht die Lage so zu gestalten, daß die Versuchung schlüssiger Alternativen gar nicht erst auftritt. Was auch immer hier vor sich geht und vermittelt wird — weltanschauliche Indoktrination, platte, mehr oder minder kurzbeinige Propaganda, Einsicht in praktische Notwendigkeiten oder ernsthafte wissenschaftliche Erkenntnisse —, immer ist es objektiv vorgegeben und wird von dieser Vorgabe her vermittelt, es verlangt und erzeugt „Parteilichkeit” des gleichen grundsätzlichen Besserwissens, das sich fortpflanzt. Aber als konkretes Verfassungselement kann nur die Minderheitsorganisation in Betracht kommen. Ich vermeide hier den Begriff der Elite, weil er bis zu einem gewissen Grade verbraucht und vorbelastet wird und zugleich die Qualitätsfrage einschließt. Man muß die Tatsache sehen, daß ein soziologisches Gesetz ermöglicht und daher auch anreizt, durch eine straff organisierte, in einem bestimmten Sinne indoktrinierte Minderheit eine Mehrheit zu überwältigen, zu führen und zu erziehen, wobei die Frage der Qualität von Ideologie und Personengruppe nicht entscheidend ist. Im Gegensatz zu einer offen heteronomen (Gewalt-)Herrschaft, die ihre eigenen Interessen verfolgt und den Unterworfenen nur so viel übrigläßt, wie übrigbleibt oder das Herrschaftsinteresse selbst erfordert, ist hier eine theoretisch-ideologische Identifikation der Minderheit mit der Mehrheit erforderlich.11 Freilich nicht mit dieser, wie sie ist, sondern wie sie, gemessen an jenem transzendent-objektiven Ziel und zugleich „eigentlich” sein sollte. Für eine traditionelle oder subjektive Kontingenz im Leben der Betroffenen ist hier grundsätzlich kein Raum. Daher ist diese Minderheit und ihre Leitungsform nur in dem Sinne demokratisch, daß sie das Wollen und Meinen der Gesamtheit nicht einfach wie

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ein Gewaltherrscher übergehen kann und will, sondern das Bewußtsein dieser Mehrheit ständig zu formen und zu beeinflussen versucht. Ihr Handeln bedarf zwar keiner Rechtfertigung. Es steht in seiner objektiven Richtigkeit für sich. Und trotzdem muß es so umgesetzt werden, wobei allenfalls Fehler der Interpretation und der Vermittlung aufgedeckt und ausgemerzt werden können.

Die innere Folgerichtigkeit dieses Verfassungssystems ist demnach unbestreitbar. Seine ideologische Basis bestimmt eindeutig die Auswahl der in ihr möglichen Verfassungselemente und ihren gegenseitigen Stellenwert.12 Der idealistische Charakter wird in der naiv-harmonisierten Selbstbeschreibung sichtbar: „In der sozialistischen Gesellschaft entwickelt sich nach dem Prinzip des demokratischen Zentralismus ein harmonisches, einheitliches Autoritätsgefüge.”13 Interessant ist dabei das Fehlen jedes dialektischen Moments, jeder Spannung und Differenz. Es ist daher verfehlt, diese Form lediglich als bloße diktatoriale Herrschaft, als unwahrhaftige Inkonsequenz, oder was immer, zu diskreditieren. Dabei ist freilich einzurechnen, daß die eingangs geschilderte Denkstruktur des eschatologischen Rechts und der ihr eigene radikale Rationalismus im Zusammenwirken eine rechtliche Selbstbindung dieser Gemeinwesen ausschließen. Es kann hier keine wohlerworbenen Rechte geben. Jedes angeborene Recht aber der Freiheit, der Menschenwürde usw. kann immer nur in dem Gesamthorizont dieser vorgegebenen und aufgegebenen objektiven Sinnbestimmung der Menschheit verstanden werden, jenseits deren es überhaupt keine menschliche Existenz gibt, die diesen Namen verdient. Außerhalb dieser koinonia gibt es nur Sklaven, die zur Freiheit erweckt, und Sklavenhalter, die ausgeschaltet werden müssen.

Für die Beurteilung des demokratischen Zentralismus ist schließlich noch die Tatsache von Interesse, daß er im strengen Sinne niemals zur Diskussion und Analyse gestellt worden ist. Er ist ein apodiktisches Prinzip, weil jede methodische Erörterung seines Stellenwertes die Unbedingtheit des Gültigkeitsanspruches in Frage stellen würde, ein nutzloses und gefährliches Gedankenexperiment gegenüber jener radikalen Notwendigkeit. So tritt

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aus einsichtigen Gründen genau die gleiche Tabuierung ein, die einer methodischen Erörterung des Hierarchieproblems entgegengestanden hat. So ist das Prinzip des demokratischen Zentralismus ein staatstragendes Vorurteil. In einem allgemeineren Sinne wird auf die Struktur solcher Vorgänge in dem Schlußkapitel über die Ambivalenz des kritischen Bewußtseins eingegangen.

Wenn aber Programm und Wirklichkeit des demokratischen Zentralismus diesen auf ganz bestimmte Verfassungsgestaltungen verweisen, und hier die Führungsrolle einer Minderheitsgruppe an der Spitze steht, so müssen wir uns mit der Bildung von Minderheitsgruppen überhaupt grundsätzlich befassen. Diese stellt sich soziologisch als Problem des Klerus dar.

Diese Frage nehme ich nach Einschaltung einer jugoslawischen Marxismuskritik in Kapitel IV wieder auf.