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Die Anschauung vom Recht, die uns heute geläufig ist, kennt die Bibel nicht. Wo vom Recht die Rede ist, stellt dies nichts dar als einen Ausdruck der Gerechtigkeit. Ehe wir uns also dem Problem des Rechtes zuwenden, bedarf es einer kurzen Erörterung der zugrundeliegenden Anschauung von der Gerechtigkeit. Für das Wort „Gerechtigkeit” finden wir im Hebräischen zwei Ausdrücke. Der Sprachgebrauch schließt sich einerseits an die Wurzel sch-ph-th an, der die Vorstellung „richten”, „führen” zugrundeliegt; als abgeleitete Begriffe ergeben sich hier: „Recht”, „Gesetz”, „Gewohnheit”, „Daseinsform”, „äußeres Benehmen”, „Erscheinung”; im Gesichtsfeld steht hier ersichtlich die Gerechtigkeit in ihrem menschlichen, äußeren, sozialen Sinne. Andererseits entwickelt sich der Sprachgebrauch aus der Wurzel z-d-k, aus der dann auch die Vorstellung der Rechtfertigung hervorwächst; die Ableitungen bewegen sich scheinbar in entgegengesetzter Richtung: „Gerechtigkeit”, „Billigkeit”, „Wahrhaftigkeit” auf der einen, „Gnade”, „Unschuld” und „Rechtfertigung” auf der anderen Seite; hier steht im Blickfeld offenbar die Gerechtigkeit in ihrem göttlichen Sinne, die Gerechtigkeit Gottes, die ihren Ausdruck schließlich in der Gnade findet. Aber die Zweiheit ist nicht so scharf durchgeführt, wie die Wurzeln und die abgeleiteten Begriffe es mit sich bringen könnten; beide sprachlichen Grundformen treten in Wirklichkeit manchmal füreinander ein. Man könnte behaupten, daß es sich dabei lediglich um einen gewohnheitsmäßigen und unscharfen Sprachgebrauch ohne irgendwelche Tragweite handle. Immerhin gibt es mindestens einen Text, bei dem sich dies nicht sagen läßt: Deut. 1, 16-17. „Richtet nach der Gerechtigkeit zwischen jedermann und seinem Bruder und dem Fremdling. Keine Person sollt ihr im Gericht ansehen, sondern sollt den Kleinen hören die den Großen, und vor niemandes Person euch scheuen; denn Gott ist es, der Gerechtigkeit wirkt.” Das ist eine Weisung an die Richter, also fraglos eine Angelegenheit der organisierten menschlichen Gerechtigkeit, und zwar bezogen nicht nur auf Israel in seiner eigenen Mitte, sondern, wie der Text lautet, auch auf den „Fremdling”. Nun steht aber (am Anfang) bei dem „nach der Gerechtigkeit” das Wort zädäk; es soll also offenkundig
16) Der Begriff nach Visser ’t Hooft, a.a.O. Ich verdanke dieser Arbeit für das vorliegende Kapitel viel. Das gleiche gilt von S. de Diétrich, Le fondement biblique du droit; „Le Semeur”, Mai 1945, S. 40 ff.
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nach dem Maßstab der Gerechtigkeit Gottes geurteilt werden! Am Schluß aber — „Gott ist es, der Gerechtigkeit wirkt” — steht mischpath: in der Gerechtigkeit der irdischen Richter also handelt Gott! So werden hier — wie die Parallelität in beiden Sätzen es aufweist — ungezwungen beide Begriffe zusammengedacht und ungezwungen in dem je anderen Sinne verwendet. Wenn daher in anderen Texten ähnliches vorkommt, so liegt darin keine Ungenauigkeit, sondern der Hinweis auf eine theologische Erkenntnis. So gewiß beide Ausdrucksweisen ihre besondere Geltung haben, läßt sich doch nicht sagen, daß eine Gerechtigkeit Gottes und eine Gerechtigkeit des Menschen getrennt nebeneinander bestehen, wie zwei Größen, die bloß miteinander existieren, aber voneinander unabhängig sind. Es gibt tatsächlich nur eine einzige Gerechtigkeit, und sofern die Gerechtigkeit des Menschen lediglich Ausdruck der Gerechtigkeit Gotte ist, läßt sich unmöglich die eine ohne die andere begreifen. Es handelt sich hier nicht um eine zufällige Bezogenheit. Es ist schon darauf hingewiesen worden 17), wie sehr rechtliche Anschauungen für das Verständnis des Handelns Gottes Bedeutung besitzen: Gott läßt sein Handeln in das Gefüge menschlicher Formen eingehen. Wenn aber Gott für sein Handeln die Form des Rechts wählt, so gibt er damit der menschlichen Gerechtigkeit und dem Recht ihre Bedeutung und ihre wahre Gestalt. Folgerungen aus dieser Erkenntnis müssen wir später ziehen.
Es gilt jetzt, die Beziehungen zwischen Gottes Gerechtigkeit und der menschlichen näher zu bestimmen. Ohne den Anspruch zu erheben, eine „Analyse” der Gerechtigkeit Gottes geben zu können, meine ich einer kurzen Betrachtung der Texte folgendes entnehmen zu dürfen.
1. In der Gerechtigkeit Gottes äußert sich seine Transzendenz.
Auf der einen Seite verlangt Gottes Gerechtigkeit, daß jedes Vergehen bestraft wird und jeder empfängt, was seine Taten wert sind. Sie fordert also die totale Wiedergutmachung aller und jeglicher Sünden der Menschheit im gesamten Verlauf ihrer Geschichte. Aber gleichzeitig verbinden sich Gottes Gerechtigkeit stets mit Gnade und Vergebung. So haben wir Ps. 33, 5 eine Parallelität zwischen Gerechtigkeit und Güte. Nach Ps. 76, 9. 10 ist Gott ein schrecklicher Richter, aber er richtet, um die Armen zu erretten: „Es erschrickt das Erdreich und wird still, wenn Gott sich aufmacht, zu richten, daß er helfe allen Elenden auf Erden”. So heißt es ständig: wenn Gott richtet, so geschieht das nicht zum Tode, sondern zum Leben. Systematisch finden wir das in Hes. 33, 11 ausgesprochen. Dies ist aber keine zufällige Tatsache oder eine einseitige Auffassung von der Gerechtigkeit, die dann also eine Gerechtigkeit gegen die Reichen und für die Armen wäre. Nein, die Gerechtigkeit ist mit der Gnade verbunden, ja, sie ist in gewissen Maße die Gnade selber. So Ps. 33, 5: „Er liebet Gerechtigkeit und Gericht; die Erde ist voll der Güte des Herrn.” Dabei besteht bekanntlich in den einzelnen Psalmversen eine straffe Verbindung zwischen den parallelen Aussagen jeder Vershälfte; die Zueinanderordnung von „Gerechtigkeit” und
17) Vgl. Théo Preiss, Le témoignage intérieur du Saint-Esprit, 1945.
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„Güte” ist also wirklich bedeutungsvoll. Die Beispiele ließen sich vervielfachen. Wir stoßen also hier auf ein wesentliches Merkmal der Gerechtigkeit Gottes. Schon das Wort zädäk gab sie uns zu erkennen, das ja „Gerechtigkeit” wie „Gnade” meint. Das gleich aber finden wir in zahlreichen Mythen, die darauf weisen, wie Gott handelt: allemal wenn er ein Urteil spricht, ist Gnade mit ihm verknüpft — und trotzdem bleibt das Urteil im strengen Sinne, was es ist. So empfängt Adam sein Urteil, aber in diesem Urteil wird der Welt das Leben erhalten. Kain vernimmt sein Urteil, aber zugleich stellt Gott den Sünder unter seinen Schutz. Jona verkündet der Stadt Ninive das Urteil, aber es ist der Ruf zur Buße. Dabei sprechen wir hier noch nicht von dem Urteil über Jesus Christus!
2. Vor der Gerechtigkeit Gottes ist alle Gerechtigkeit des Menschen im Unrecht.
Was nicht Gottes Gerechtigkeit ist, das ist Ungerechtigkeit. „Alle unsere Gerechtigkeit ist wie ein unflätig Kleid” (Jes. 64, 5). Das ist leicht begreiflich, wenn man bedenkt, daß in der Schrift nur das „gerecht” ist, was dem Willen Gottes entspricht. Gerecht ist, wer auf dem Wege wandelt, den Gott ihm erschlossen hat. Es gibt keine Auffassung von Gerechtigkeit, die sich von dieser hier löste 18). Von sich aus ist der Mensch nicht fähig zu wissen, was Gerechtigkeit ist (Spr. 2, 9) — wir kommen darauf noch zu sprechen. Was immer der Mensch auf natürliche Weise tut, ist schlechthin ungerecht. Daher die Tiefe des Widerstreits im Buche Hiob!
Trotzdem nimmt Gott auf die menschliche Gerechtigkeit Bedacht. Und zwar nicht bloß auf die Gerechtigkeit, die in der vollkommenen Erfüllung seines Willens besteht und die es vor Dem, der der dreimal Heilige ist, gewiß nicht gibt, sondern auch auf die ganz relative Gerechtigkeit, die darin besteht, den Schwachen kein Unrecht zu tun, nicht zu stehlen usw., oder auch ein System der Rechtsprechung aufzubauen, gerechte Urteile zu fällen (Lev. 19, 15 z.B.) oder Ordnung und Frieden zu erhalten. So wertlos alle solche Werke im Vergleich mit Gottes Gerechtigkeit sind, so gewiß nimmt er sie als gültig geschehen an. Eine Verwerfung all dieser menschlichen Gerechtigkeit, weil sie vor Gottes Gerechtigkeit tatsächlich im Unrecht ist, geht also in Wirklichkeit doch gegen den Willen Gottes.
3. Die Gerechtigkeit Gottes ist ein ständiger Hinweis auf das Weltgericht am Ende der Zeiten.
Das ist also ein drittes Merkmal. Im Weltgericht erscheint Gottes Gerechtigkeit in ihrer Totalität: er allein übt ja Gerechtigkeit, und seine Gerechtigkeit findet ihren Ausdruck in einem Gericht, das über die ganze Erde ergeht (2. Petr. 3, 15). Dies eschatologische Verständnis ist hinreichend bekannt und bedürfte keiner Hervorhebung, wenn es nicht eng mit einer anderen Wirklichkeit verbunden wäre: so gewiß nämlich das Urteil auf das Ende der Zeiten aufbehalten wird, geben doch alle Texte, die von ihm sprechen, zu erkennen, daß die zedaka gleichzeitig das gegenwärtige Regiment Gottes über die Völker ist. Mit Leichtigkeit lassen sich dazu zahlreiche Texte
18) Schlemmer, Études théologiques et religieuses, Januar 1944.
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zitieren. „Der Herr ist Richter über die Völker. Richte mich, Herr ...” (Ps. 7, 9). Oder: „Der Herr regiert ewiglich, er hat seinen Thron bereitet zum Gericht, er richtet die Welt mit Gerechtigkeit, er richtet die Völker rechtschaffen” (Ps. 9, 8. 9). Es sei bemerkt, daß in diesem Test „richten” schaphath heißt, also im Sinne der rechtsförmigen Gerechtigkeit steht, die auch „Regieren” bedeutet. Auch muß man endlich in Betracht ziehen, daß die „Richter”, die unstreitig Wahrzeichen der Urteile Gottes darstellen, den Namen schephatim tragen. So ist das eschatologische Gericht Gottes gleichzeitig die Regierung der Völker durch Gott.
Die erwähnten Merkmale der Gerechtigkeit Gottes sind in sich wesenhaft widerspruchsvoll. Aber dürfen wir dabei stehen bleiben? Dürfen wir uns mit einer — in den Texten deutlich vorbereiteten — Analyse begnügen, ohne Synthese? Es gibt in der Tat keine menschliche Synthese zwischen den erwähnten Widersprüchen. Aber Gott selber hat uns die Synthese gegeben: in Jesus Christus. Er ist uns „zur Gerechtigkeit gemacht” (1. Kor. 1, 30). Es kann sich hier also nicht um eine verstandesmäßige Dialektik handeln oder um eine willkürliche Synthese, die auch anders hätte ausfallen können. Die Synthese besteht ausschließlich darin, daß die Person Jesu Christi die Gerechtigkeit ist. Er ist nicht bloß Zeichen, Zeuge, Element, Satisfaktion der Gerechtigkeit Gottes, sondern er ist selbst die Totalität dieser Gerechtigkeit. Er hat die Sünden des Volkes getragen und damit der auf Genugtuung gerichteten Forderung der Gerechtigkeit Genüge getan — zu gleicher Zeit aber hat er Gottes Gnade offenbart! Er hat — zum Beispiel in seinem Prozeß vor Pilatus — die Gerechtigkeit der Menschen in ihrer radikalen Ungerechtigkeit enthüllt, aber er hat sie gleichzeitig legitimiert, indem er sich ihr unterwarf! Wir werden noch sehen: wie er durch seinen Sieg über die Mächte dieser Welt die staatliche Gewalt autorisiert, so begründet er ebenfalls das gesamte menschliche Recht. In ihm ist über die ganze Erde das Urteil gesprochen, eschatologische Verdammung und Vergebung als bereits gegenwärtig ergangen, aber doch ist er es auch, für den und durch den die Erde erhalten und regiert wird; denn er ist ihr Herr. So haben wir hier, ohne uns im mindesten in weiteren Explikationen zu ergehen, völlig fraglos die Antwort vor uns, die Gott selber auf die Frage gegeben hat, die sich mit dem Problem der Gerechtigkeit stellt. Alle Merkmale der Gerechtigkeit Gottes sind im Leben, Sterben und Auferstehen Jesu Christi Wirklichkeit geworden.
Jesus Christus ist zur Gerechtigkeit Gottes gemacht. Es gibt also außerhalb Jesu Christi schlechthin keinerlei Gerechtigkeit, auch keine relative. Das zeigt die überraschende Doppeltatsache, daß der, der Jesus Christus verwirft, damit unmittelbar sich selber verdammt (Joh. 3, 18), weil es nämlich nun keinerlei mögliche Gerechtigkeit mehr für ihn gibt. Er kann sich vor Gott tatsächlich nicht mehr auf „gerechte” Werke berufen, weil es keine Gerechtigkeit gibt außerhalb dessen, der die Gerechtigkeit ist. Die Werke können also, welcher Art sie auch sein mögen, nie unabhängig von der Person Jesu Christi bestehen. Und umgekehrt ist der Glaubende eben durch seinen Glauben gerechtfertigt, ohne (verdammendes) Urteil; denn der Richtende ist ja auch der Rechtfertigende (Joh. 3, 18; 5, 24). Dies läßt uns auf anderen Wege zu der Einsicht kommen, daß es außerhalb Jesu Christi kein Studium
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des Rechtes geben könnte; denn es kann auch kein menschliches Recht, auch kein noch so relatives geben, wenn es nicht in Christus seine Grundlage hat. Was man unter diesen Umständen sonst erreichen kann, ist also genau gesagt ein „Nicht-Recht”.
Aber dadurch, daß Jesus Christus die Gerechtigkeit Gottes ist, übt er diese Gerechtigkeit auch. Man kann fast sagen, daß sein Leben die Übung dieser Gerechtigkeit ist, vermöge einer wahrhaften Rechtsübertragung, wie sie Ps. 72, 1-4 ausgesprochen ist: „Gott, gib dein Gericht dem König und deine Gerechtigkeit des Königs Sohne, daß er dein Volk richte mit Gerechtigkeit und deine Elenden mit Billigkeit. Laß die Berge den Frieden bringen unter das Volk und die Hügel die Gerechtigkeit. Er wird das elende Volk bei Recht erhalten. Er wird retten die Kinder der Armen und zerschmettern den Bedrücker.” Dieses Prophetenwort ist nichts anderes als die Ankündigung dessen, was Jesus selber sagt: „Der Vater richtet niemand, sondern alles Gericht hat er dem Sohne übergeben ... Und hat ihm Macht gegeben, auch das Gericht zu halten, darum daß er des Menschen Sohn ist ... Ich kann nichts von mir selber tun. Wie ich höre, so richte ich, und mein Gericht ist recht; denn ich suche nicht meinen Willen, sondern des Vaters Willen, der mich gesandt hat” (Joh. 5, 22. 27. 30). In diese Selbstzeugnis können wir schon jetzt zwei Gedanken unterstreichen. Der eine ist die schon angedeutete Umschreibung des Gerechten: er ist der, der den Willen des Vaters tut. Darum ist Jesu Gericht gerecht, und diese Gerechtigkeit ist nicht nur die moralisch, sondern auch die rechtliche. So finden wir auf eine neuen Wege die bereits entdeckte Wahrheit wieder, daß nämlich diese Gerechtigkeit keinen anderen Vollstrecker hat als Jesus Christus selber. Der zweite Gedanke ist der, daß Jesus Christus die Vollmacht zum Richten empfangen hat, weil er des Menschen Sohn ist. Hier finden wir eine neue Berührung mit unserem Problem. Ohne die ganze theologische Tragweite dieses Selbstzeugnisses aufzusuchen, müssen wir uns auf die Feststellung beschränken, daß Jesus Christus als Mensch und Gott die Vollmacht zum Richten eben deshalb empfangen hat, weil er Mensch und Gott ist, d.h. weil er, der die göttliche Gerechtigkeit erfüllt, zugleich die menschliche Gerechtigkeit annimmt. Damit aber erhalten wir eine vorläufige Beantwortung der schweren Frage, was denn wohl die Gerechtigkeit Gottes mit unserem Recht zu tun habe. Nämlich dies hat sie damit zu tun, daß Jesus Christus um seiner Fleischwerdung willen der Ort ist, wo Gottes Gerechtigkeit mit der Gerechtigkeit des Menschen zusammentrifft.
4. Aber genügt die Vorstellung eines solchen „Zusammentreffens”, um das Phänomen auszudrücken? Wir müssen, um diese Beziehung genauer zu fassen, auf ein letztes Merkmal der Gerechtigkeit Gottes kommen: sie ist stellvertretende Gerechtigkeit. Sie ist weder distributiv, noch vergeltend, wie alle Gerechtigkeit der Menschen, sondern stellvertretend, d.h. sie hat ihr Wesen darin, an die Stelle des sündigen Menschen, der ohne Hoffnung nichts verdient hat als das Todesurteil, den Gerechten treten zu lassen, der die Sünden der Welt trägt, der sie aber auch in seinen Tod hineinzieht (und damit tilgt) und den die Bande des Todes nicht festhalten können, weil er ohne Sünde ist. Diese grundlegende Stellvertretung aber bringt in die ganze
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Geschichte, bereits gegenwärtig in Hoffnung, aber erfüllt am Ende
der Zeiten, tatsächlich die Stellvertretung hinein: die Gnade
tritt an die Stelle der Natur, das Reich Gottes and die Stelle
des Reiches der Finsternis usw. Diese Erkenntnis muß auf das
Problem der Gerechtigkeit angewendet werden. Sie besagt, daß in
Jesus Christus, weil er das Urteil in seiner Hand hat, die
Gerechtigkeit Gottes stellvertretend für die menschliche eintritt
und damit selber in einem gewissen Maße menschliche Gerechtigkeit
wird, in dem Maße nämlich, wie der Mensch vor Gott mit der
Gerechtigkeit Christi umkleidet ist. Was das bedeutet, muß noch
erörtert werden; aber wir sehen bereits, daß für die Untersuchung
des Problems der Gerechtigkeit — auch der Gerechtigkeit im Recht
— die Person Jesu Christi streng im Mittelpunkt steht. In ihm
laufen die Strahlen zusammen:
die Grundlage des menschlichen Rechtes liegt in ihm,
die Verwirklichung des menschlichen Rechtes ist von ihm
vollbracht,
die Qualifikation des menschlichen Rechtes ist durch ihn bewirkt.
Diese Erkenntnis muß auf die Stellung, die wir im allgemeinen gegenüber der Gerechtigkeit Gottes einnehmen, von Grund auf umstürzend wirken. Soweit wir nicht überhaupt jeden Zusammenhang zwischen der Gerechtigkeit des Menschen und Gottes Gerechtigkeit leugnen 19), besteht unsere Haltung darin, die Gerechtigkeit Gottes als eine Art von obersten Appellationsgerichtshof anzusehen, auf die man seine Hoffnung setzen könnte, als eine unfehlbare Gerechtigkeit, wenn die menschlichen Organismen sich als fehlbar herausgestellt haben. Sagen wir, Gott wirke Gerechtigkeit, so meinen wir, es handle sich dabei um eine letzte Instanz. In Wirklichkeit aber umgreift Gott, wenn er Gerechtigkeit wirkt, in seinem Akt die ganze Gerechtigkeit; er begibt sich wie in der Fleischwerdung in den Bereich echten Mensch-Seins und tritt vor uns hin nicht als oberster Richter über eine relative Ungerechtigkeit, sondern als der Wirker jedweder Gerechtigkeit, weil nämlich seine Gerechtigkeit stellvertretend für sie eintritt. Mit anderen Worten: von einem hierarchischen Aufstieg der menschlichen Gerechtigkeit zur göttlichen hin kann keine Rede sein. Entweder ist die ganze Gerechtigkeit durch den Sohn Gottes begründet, verwirklicht und qualifiziert, oder es gibt gar keine und man kann auch keine anrufen, auch eine Appellation an Gottes absolute Gerechtigkeit ist dann unmöglich.
Damit haben wir zwar keine vollständige Untersuchung des theologischen Verständnisses der Gerechtigkeit geliefert, sondern lediglich die Grundlinien gezeichnet, die allerdings unerläßlich sind, um unserer Untersuchung über das Naturrecht die Richtung zu weisen.
Es kommt, wie wir bereits sahen, in der Schrift ein eigentliches Sprechen vom „Recht” nicht vor. Niemals ist von einem Recht die Rede, das aus sich selber lebte, von einer ewigen und unabhängigen Gerechtigkeit. Ob das Recht nun Prinzip oder System ist, rational oder mystisch, — ein autonomes
19) So tut es Brunner: Gerechtigkeit, 1943, S. 15 ff.
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Recht an sich gibt es in der Bibel nicht. In der Offenbarung ist keinerlei Raum für eine Rechtsanschauung, für eine Idee oder für ein Gesetz, von dem alle menschlichen Gesetze abhängig wären und das den Maßstab für jegliches Recht bildete.
„Recht” ist in der Schrift — schon der Etymologie nach — das, was einen vorgezeichneten Wege entspricht oder folgt. Im Rechtssinne ist „Recht”, was der Gerechtigkeit entspricht 20). Aber der Gerechtigkeit, wie wir sie im vorigen Paragraphen zu umschreiben suchten! Diese Anschauung gilt es genauer zu fassen. Wir biegen damit gewiß nicht zu der Ansicht zurück, wenn es kein Recht gäbe, so existierte doch jedenfalls eine Gerechtigkeit an sich. Zahlreiche Theologen haben tatsächlich auf verschiedene Wege behauptet, die Gerechtigkeit bestehe an sich und besitze an sich einen Gehalt, oder sie sei eine Eigenschaft Gottes. Das sind unter dem Blickwinkel der Bibel lauter Irrtümer. Es gibt keinerlei Gerechtigkeit unabhängig von Gott — als ob es eine Richtschnur für Gottes Willen oder ein ihm voraufgehendes Motiv geben könnte! Auch gibt es keinen Gehalt der Gerechtigkeit; denn die Gerechtigkeit findet, wie wir noch sehen werden, ihren Ausdruck im Urteil. Von einer Eigenschaft Gottes kann ebensowenig die Rede sein; denn Gott ist Gerechtigkeit. Das bedeutet nun wirklich: die Richtschnur der Gerechtigkeit ist der Wille Gottes; gerecht ist, was mit Gottes Wille im Einklang steht; Recht ist, was im Zusammenhang mit dieser Gerechtigkeit angeordnet ist.
Aber hier gilt es, Verwirrungen zu verhüten. Wenn man sagt: „Gerechtigkeit, die ewig an sich existiert”, oder wenn es heißt: „Gottes Wille ist Gerechtigkeit”, so bedeutet das nicht dasselbe. Die erstere Aussage ist wesenhaft statisch, und so hat es auch das griechische System schon aufgefaßt. Die zweite dagegen ist ihrem Wesen nach dynamisch. Gottes Wille ist, um wirklich ewig zu sein, doch nicht unbeweglich, im Gegenteil: alles, was uns die Schrift hierüber offenbart, ist dies, daß wir Gottes Willen nicht außerhalb der Offenbarung erkennen können, d.h. nicht außerhalb des Aktes Gottes und also des hic et nunc. So ist der Wille Gottes als Gerechtigkeit nicht gleichsam ein unverrückbarer Rahmen, in den wir unsere Gedanken einordnen könnten. Er ist ebensowenig ein Prinzip, aus dem wir ein System ableiten könnten. Er ist stets Akt. Das entspricht streng dem, was uns die Bibel über die Gerechtigkeit Gottes lehrt: sie ist allein im Akte des Urteils zu finden! Außerhalb des gegenwärtigen, heutigen Aktes Gottes, der ein Urteil ist, können wir weder ihr Wesen noch ihre Form erkennen. Mit anderen Worten: gibt es kein Urteil, so gibt es auch keine Gerechtigkeit, bzw. im Urteil ergreifen wir die Gerechtigkeit.
Gottes personhafter Wille — der also ein Urteil spricht — wirkt die Gerechtigkeit (Deut. 1, 17) und ist ihr einziger Maßstab. So erscheint das
20) Hiernach ist die Gerechtigkeit vom menschlichen Gesichtspunkt aus der wesentliche Gehalt und die unablösbare Qualität des Rechtes. Ich sehe also im Gegensatz zu den Rechtsschulen, die das „reine” Recht vertreten und der Ansicht sind, daß das Recht keiner Bezugnahme auf die Gerechtigkeit bedürfe (z.B. Durkheim), wie auch zu solchen, die als den wesentlichen Gehalt des Rechtes die Sicherheit bezeichnen, die Gerechtigkeit dagegen nur als einen kontingenten Bestandteil desselben betrachten (z.B. Roubier, a.a.O., S. 269 ff.)
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Recht in jeder Beziehung als Akt Gottes. Das müssen wir im Blick auf den Naturrechtsgedanken noch genauer umschreiben.
Wir dürfen nur nicht vergessen, daß alles, was wir gesagt haben, seinen Platz im Rahmen der Erlösung hat. Das bedeutet: die Gerechtigkeit Gottes, die sich im Urteil offenbart, ist stets diejenige, die im Tode Jesu Christi stattfindet. Am Kreuz ist das Urteil über die Welt endgültig gefällt. Am Kreuz ist Gottes Akt in seiner umfassenden Fülle geoffenbart, und eben diese Urteil ist der Ausdruck der ganzen Gerechtigkeit Gottes. Man kann also das Recht nicht begreifen, wenn man nicht das Kreuz Christi in den Mittelpunkt stellt.
Nun können wir unseren Gedanken präzisieren. Warum fällt Gott eigentlich ein Urteil? Mit anderen Worten: Warum ist Jesus Christus gekreuzigt worden? Das ist eine Katechismusfrage! Eben darum ist Christus gekreuzigt, weil der Mensch gesündigt hat, weil er daraufhin von Gott getrennt ist, in Satans Reich und schließlich zum Tode verdammt — und weil Gott in seiner Liebe diesen Zustand nicht ertragen kann, weil er die Verbindung wiederherstellt und den Menschen aus Satans Macht herausreißt! „Hölle, wo ist dein Sieg ...?”
Der höchste Akt der Gerechtigkeit Gottes bekundet also Gottes Willen zur Wiederherstellung! Dieser Gedanke ist für das Verständnis der Gerechtigkeit von äußerstem Gewicht. Wenn Gott richtet, so geschieht das, um wiederherzustellen, was verdorben worden ist: die Beziehung zwischen Gott und Mensch oder unter den Menschen! Wohlgemerkt: ich will nicht sagen, daß der Mensch Gott gegenüber in den Zustand Adams zurückversetzt sei. Aber er ist es in Hoffnung, und das Heilige Abendmahl ist ihm zum Zeichen dafür gegeben, daß diese Wiederherstellung gewiß ist. Entsprechend ist das Urteil, wie es Gott hic et nunc spricht und wie es uns die Bibel lehrt, nicht die Wiederaufrichtung der ganzen Gerechtigkeit auf Erden, wohl aber das Zeichen, daß Gott diese Gerechtigkeit wirksam wiederaufgerichtet hat und daß sie an ihm allein hängt. Man könnte jedoch sagen: wenn wir auch vermöge einer langen theologischen Gewöhnung einigermaßen klar sehen, was jene Wiederherstellung in Jesus Christus bedeutet, so begreifen wir doch schlecht, was diese Wiederherstellung „innerhalb der Rechtsordnung” auf sich haben soll. Hier müssen wir uns auf die Schrift beziehen; dann zeigt sich, daß ein wirklicher Unterschied gar nicht besteht. Wir wir in Jesus Christus die Wiedereinsetzung des Menschen in seien wahrhafte Geschöpf-Situation haben, so wirkt sich das Urteil Gottes auf dem Gebiet des Rechts dahin aus, den Menschen wieder in seine Rechte einzusetzen, in seinen wahrhaft menschlichen — und also geschöpflichen — Zustand. Was unter diesen „Rechten des Menschen” zu verstehen ist, müssen wir noch sehen. Vorläufig müssen wir den Gedanken festhalten und erwägen, daß Gott, wenn er den Menschen richtet, wenn er kraft seiner Gerechtigkeit eingreift, sein Urteil nach dem Recht des Menschen fällt.
„Richte mich, Herr, nach meiner Gerechtigkeit”, lesen wir Ps. 7, 9. Dabei geht es in diesem Psalm nicht um die ewige Gerechtigkeit oder das Recht vor Gott, sondern zuerst um die Gerechtigkeit im Angesicht der Bösen, der Widersacher. Immer wieder wird Gott in der Schrift als der Wahrer des Rechts eines Menschen angerufen gegenüber solchen, die es ihm entreißen
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wollen. Durch sein Urteil stellt er einen Rechtszustand wieder her, der durch Gewalt in Verwirrung geraten war (wobei natürlich dieses Urteil nur als Verheißung und Zeichen des in Jesus Christus ergangenen begriffen werden kann). So begibt sich Gott auf den Boden des Menschen. Besonders deutlich ist das in Ps. 50: „Zum Gottlosen spricht Gott: ,Was verkündigst du meine Recht und nimmst meinen Bund in deinen Mund? Der du doch Zucht hassest und wirfst meine Worte hinter dich! Wenn du einen Dieb siehst, so läufst du mit ihm und hast Gemeinschaft mit den Ehebrechern. Deinen Mund lässest du Böses reden, und deine Zunge treibt Falschheit. Du sitzest und redest wider deinen Bruder’ ...” (Ps. 50, 15-20). Gott gibt seiner Gerechtigkeit Ausdruck, indem er jeden Einzelnen in seiner besonderen Lage zur Rechenschaft zieht. Das ist gemeint, wenn ständig auf sein Gericht Bezug genommen wird: „Viele suchen das Angesicht eines Fürsten; aber eines jeglichen Gericht kommt vom Herrn” (Spr. 29, 26). Es gibt also keine abstrakte, in globo zur Anwendung kommende Gerechtigkeit; der Blick lenkt sich vielmehr ausschließlich auf die Verhältnisse des Einzelnen: auf sie wendet sich der Wille Gottes an, und dieser nimmt streng auf das Recht jedes Einzelnen Bedacht!
Dies ist der Sinn des Wortes Jesu: „Wie ich höre, so richte ich” (Joh. 5: 30), oder der furchtbaren Antwort an den nachlässigen Knecht, mit der er das Gleichnis von der anvertrauten Pfunden abschließt: „Aus deinem Munde richte ich dich, du Schalk — du wußtest, daß ich ein harter Mann bin, nehme, was ich nicht gelegt habe, und ernte, was ich nicht gesät habe” (Luk. 19, 22).
In alledem geht es durchaus nicht um ein objektives Recht, das nun zum Maß der Verhältnisse des Einzelnen gemacht würde, sondern im Gegenteil um eine konkrete Situation, innerhalb deren Gottes Wille auf das Recht jedes Einzelnen Bedacht nimmt und eingreift, um dieses Recht wiederherzustellen. Nun hat aber der Mensch diese seine „Rechte” nicht von Natur; sie sind nicht sein natürlicher Besitz, mit dem er vor Gott auftreten könnte. Wir müssen noch sehen, wieso der Mensch sie empfängt. Hier aber müssen wir, um unsere Darlegungen über das Recht zu vervollständigen, jedenfalls an die ständig wiederholte Wahrheit denken: „Mein Recht ist in dem Herrn” (Jes. 49, 4). Ein anderes Recht als dasjenige, das in dem Herrn ist und das er gewährt, hat der Mensch nicht. Eben deshalb aber geht es in den biblischen Texten immer darum, daß dem Elenden, der Witwe, dem Fremdling Recht widerfährt. Diese haben wirkliche Rechte, weil sie ihr Recht nämlich ausschließlich in dem Herrn haben. Der Reiche oder der Mächtige ist nicht deshalb im Unrecht, weil er reich oder mächtig ist, sondern weil er sein Recht auf seinen Reichtum oder seine Macht gründet. Darum tritt Gott für ihn nicht ein — eben deshalb, weil solch ein Recht, wie es sich der Mächtige ausdenkt, kein Recht ist. Wir brauchen uns nur der vielen Prophetenworte zu erinnern, in denen Gott den Menschen zum Gericht ruft, zur Verantwortung zieht — stets ist die Beweisforderung: kommt her und lege mir dein Recht vor, verteidige dich mit deinen Götzen, deiner Macht, deiner Weisheit! Von einer erfolgreichen Verteidigung des Menschen ist dabei natürlich keine Rede; denn der Mensch hat sich ja gerade in eine gegen das Recht sich richtende Lage versetzt, in der er sein Recht nicht vorbringen kann, weil er keines hat. Dies aber ist eben die Lage jedes Menschen vor
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Gott, und darum gibt es, aufs Letzte gesehen, nur einen einzigen Armen in Israel: Jesus Christus! Er allein hat ein Recht vor Gott, und in ihm allein empfangen die Menschen ein Recht vor Gott! Dieser Gedanke ist also für die Idee eines objektiven Rechts oder einer ewigen Gerechtigkeit schlechterdings vernichtend. Das Recht hat seine Gestalt allein durch Gottes Urteil, und dies wird in Wahrnehmung der Rechte des Menschen gefällt. Ein profanes Recht gibt es nicht: gerade all das, was der Mensch unter dem Namen „Recht” aufbaut, ist das Nicht-Recht, ist jene gegen das Recht gerichtete Situation, von der wir vorhin sprachen. Dann aber muß Klarheit über die Frage geschaffen werden, ob jene Verneinung des menschlichen Rechtes das Letzte ist, ob wir also anhalten und sagen müssen: das Recht der öffentlichen Gewalt auf Erden ist ein Nichts, — warten wir auf Gottes Recht! Wer dies behauptet, der leugnet die Inkarnation! Die Offenbarung selbst treibt uns also weiter. Wir müssen aber zuvor bemerken, daß schon das Gesagte für das irdische Recht schwerwiegende Folgerungen nach sich zieht. Zwar ist der ganze rechtliche Rahmen, den Gott unter den menschlichen Dingen auserwählt hat, um uns daran sein Handeln begreiflich zu machen, nicht das Wesen, sondern lediglich die Gestalt dieses Handelns; aber die Tatsache, daß Gott diese Gestalt erwählt hat, um sich zu äußern, gibt dem gesamten Rechtsgefüge seine Orientierung: gewiß steht auf der einen Seite die Erwählung dieser Gestalt durch Gott, die im wesentlichen pädagogische Abzweckung hat; aber daneben steht die Bedeutung, die das menschliche Rechtsgefüge auf Grund jener Wahl an sich trägt. Jetzt kann man nicht mehr an der Tatsache vorbeidenken, daß Gott sein Handeln so und nicht anders zum Ausdruck gebracht hat. Das Recht kann nicht mehr abgesehen von jener Wahl Gottes betrachtet werden, und diese bringt als Folgerung mit sich, daß das Recht nun so sein muß, wie Gott es gewirkt hat. Mit anderen Worten: der Ablauf Urteil-Gerechtigkeit-Recht ist normativ, weil er eine Analogie zu Gottes Handeln darstellt.
Alles soeben Gesagte ist aber durchaus unvollständig. Was fehlt, ist einerseits die Situation des menschlichen Rechtes und andererseits der Ursprung der Rechte des Menschen. Die Antwort auf diese beiden Fragen gibt uns der Bund.
Was ist der Bund? Zunächst: er ist Gnade. Das zeigt schon die Etymologie: berith, Bund, is vom gleichen Stamme wie barah: wählen, auswählen. Der Bund ist in erster Linie der Akt Gottes, in dem Gott einen Partner auswählt, erwählt. Er ist also seinem Wesen nach ein Gandenakt, ein Akt freier Gnade. Gott macht einen Bund, mit wem er will und wann er will. Er ist ja auch durch nichts gebunden; schließt er einen Bund, so treibt ihn dazu nichts anderes als sein eigener Wille und sein Wesen, das aber eben Liebe ist. Der ganze Bund trägt das Kennzeichen dieses Akts Gottes, er ist, obwohl er Vertrag ist (wie wir sehen werden), doch Gottes eigene Sache: er setzt die Grenzen, die Merkmale, die Bedingungen, das Zeichen des Bundes. Modern ausgedrückt: es ist sozusagen ein Vertrag auf Gefolgschaft (contract d’adhésion), d.h. ein Vertrag, bei dem eine der Parteien alle
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Bestimmungen trifft und die andere lediglich beitritt. Alles, was Gott hier vom Menschen verlangt, ist die Gegenzeichnung dessen, was er festgelegt hat. Dieser Art sind sämtliche Bundschlüsse, von denen uns die Schrift Zeugnis gibt: der Bund mit Adam, mit Noah, mit Abraham, mit Mose. Und in diesem Bunde offenbart sich Gott! Auch insofern ist der Bund Zeichen seiner Gnade und Erwählung. Er offenbart sich, genau genommen, nicht als der allmächtige, transzendente, dreimal heilige Gott, sondern als der Gott, der dem Menschen nahetritt, der zu ihm kommt: Immanuel! So bekundet der Bund in seinem Gehalt, was eigentlich der geoffenbarte Gott ist.
Auf den ersten Blick ist der Bund ein Vertrag. Aber wenn man dabei stehen bleibt, so gewinnt man doch nur eine ganz unzureichende Sicht. Ja freilich: hier wird durch den Austausch vertraglicher Aussagen ein Band zwischen Gott und dem Menschen hergestellt. Aber wieviel reicher erscheint der Bund, wenn man die Schriftzeugnisse im einzelnen studiert! Die erste Tatsache, die zum Bunde gehört, ist — das Richten Gottes! Gott richtet und offenbart seine Gerechtigkeit, und dann übt er Gnade und gewährt seinen Bund. So geht es bei Adam (Gen. 3). Gott richtet ihn, und Adam steht wirklich kraft seines Ungehorsams unter dem Todesurteil. Aber Gott erweist ihm Gnade und erhält ihm das Leben, indem er seine Bedingungen aufstellt und den neuen Zustand schafft, der sich daraus ergibt, daß zwar Adam durch seine Sünde die Beziehung zu Gott abgebrochen hat, Gott aber aus Gnaden seine Beziehungen zu Adam aufrechterhält. Ebenso bei Noah (Gen. 9). Gott richtet die ganze Erde und verdammt sie. Er läßt die Flut kommen und erfüllt seine Gerechtigkeit. Aber er läßt Noah Gnade widerfahren, er rettet ihn, und nachdem er ihn gerettet und ihn durch das Gericht hat hindurchgehen lassen, richtet er mit dem ganzen Menschengeschlecht, wie es in Noah seinen Repräsentanten hat, seinen Bund auf. Nicht anders bei Abraham. Dem vielfältigen Bunde, den der Herr mit Abraham schließt (Gen. 14-17), geht ein zweifaches Richten Gottes zur Seite: über Israel und über seine Bedrücker. Das findet seinen Ausdruck in dem prophetischen Akt seines Kampfes gegen die fremden Könige (Gen. 14), aber auch in dem Wort, das er im Traum vernimmt: „Das sollst du wissen, daß dein Same wird fremd sein in einem Lande, das nicht sein ist, und da wird man sie zu dienen zwingen und plagen vierhundert Jahre. Aber ich will richten das Volk, dem sie dienen müssen” (Gen. 15, 13. 14). Erst nach solchen Gerichtsworten offenbart Gott dem Abraham seinen Bund. Den mosaischen Bund hier in Erinnerung zu rufen, ist kaum nötig. Ihm geht im ersten Falle (Ex. 24) ein doppeltes Gericht vorauf: das vernichtende Gericht über das ägyptische Volk und das Gericht über Israel nach seinem Murren in der Wüste und seinen Aufruhrversuchen. Das ist außerordentlich charakteristisch: Gottes Gericht ergeht parallel gegen die Welt und gegen das erwählte Volk! Im Fall des zweiten Bundschlusses (Ex. 34) geht dem Bund das furchtbare Gericht über das Volk Israel vorauf, das sich ein goldenes Kalb gemacht hat.
In allen diesen Beispielen tritt der Bund nach einem Gericht ein. Warum?
Das Urteil, das Gott fällt, ist stets eine Verurteilung des Menschen, der sich von Gott getrennt hat, und sie ist in Wirklichkeit stets eine Verdammnis zum Tode, der ja übrigens der normale Zustand dieses von Gott
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gelösten Menschen ist. Wie wir sahen, greift nun im Bunde die Erkenntnis der trotzdem weiter bestehenden Gnade in das Geschehen ein. Gott gewährt diesem zum Tode verurteilten Menschen Gnade. Diese aber ist nicht abstrakt — wie es etwa die bloße Tatsache wäre, daß Gott dem Menschen das Leben läßt —, und sie ist auch nicht ohne Bedingungen, ist sie doch ein Akt der Güte! Es ist eine Gnade, in der sich Gott als Gott offenbart, als ein Gott, dessen Wille für den Menschen auf das bestimmteste festgelegt ist. Wie bei dem Adamsbunde, so steht bei allen Bundschlüssen am Anfang die Wiederherstellung der durch den Akt des Menschen abgebrochenen Beziehungen. Sie geschieht aber, indem Gott zugleich seinen Willen kundgibt, der jedoch kein despotischer, willkürlicher ist, sondern Wille für den Menschen. Deshalb sagt Gott stets „Mein Bund”: diese beiden Begriffe widersprechen sich scheinbar, sprechen aber Zusammengehöriges aus, nämlich daß der Bund Gottes Eigentum ist, Gott ihm aber nicht die Form einer abstrakten Verordnung gegeben hat, vor der der Mensch sich nur zu beugen hätte, sondern eben die des Vertrages.
Wir stoßen hier m.a.W. erneut auf den Gedanken, den wir bereits als wesentlich für das Verständnis des Rechtes im Sinne Gottes herausgearbeitet haben: den Gedanken der Wiederherstellung. In diesem Akt stellt Gott den normalen Zustand des Menschen wieder her, daß er nämlich einerseits Geschöpf ist, andererseits aber freies Geschöpf.
Die Weidereinsetzung des Menschen in seinen echten Geschöpfzustand, die Gott im Akt des Bundes vollzieht, hat zwei Seiten: Gott erhält dem Menschen das Leben und richtet seine Herrschaft über ihn auf. Die Lebenserhaltung kommt bei allen Bundschlüssen schon im Wortlaut zur Geltung. Dem Adam gegenüber setzt Gott die Bedingungen fest, unter denen das Leben fortgehen soll — zu Eva: „Ich will dir viel Schmerzen machen, wenn du schwanger wirst” Gen. 3, 16 —, und er selbst nennt gleich nach dem Bundesschluß „sein Weib Eva, darum, daß sie eine Mutter ist aller Lebendigen” (3, 20). Bei Noah heißt es: „Seid fruchtbar und mehret euch und erfüllet die Erde” (9, 1), bei Abraham: „Du sollst ein Vater vieler Völker werden” (17, 4). Bei Mose wird bekanntlich darauf hingewiesen — und hernach dauernd wiederholt —, daß das Volk Israel allein durch den mit Gott geschlossenen Bund das Leben haben kann. Im gleichen Akt aber setzt Gott fest, daß der Mensch, der durch ihn das Leben hat, ihm damit auch gehört. So hören wir es in ergreifender Form bei Hesekiel: „Ich breitete meinen Mantel über dich und bedeckte deine Blöße. Und ich gelobte dir’s und begab mich mit dir in einen Bund, spricht der Herr Herr, daß du solltest mein sein” (16, 8). So erhält der Mensch im Bunde seinen Platz als Geschöpf zurück — aber als freies Geschöpf oder, andres ausgedrückt: im „Gegenüber” zum Herrn. Dieser Gedanke setzt sich dann im Begriff des Bundes-Vertrages fort. Die Tatsache, daß Gott diese Rechtsform wählt, ist das Zeichen dafür, daß der Mensch für ihn nicht Objekt ist, nicht ein mechanisches Ding ohne jede Selbständigkeit, sondern vielmehr ein Wesen, das mit Gott einen Vertrag schließen kann, ein Wesen, das Gott frei macht und das, obwohl Geschöpf, doch Gott gegenüber lebt. Gott legt ihm nicht wir einem Sklaven seine Bedingungen auf, sondern behandelt ihn als freien Partner, dem die Bedingungen vorgelegt werden und der zu ihrer Annahme
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aufgefordert wird. So schließt also der Gedanke des Bundes die Vorstellung der Würde des Menschen in sich; das zeigt deutlich der Umstand, daß für Bundschlüsse unter den Menschen die gleichen Ausdrücke angewendet werden wie für den Bund zwischen Gott und Mensch. Auch noch der häufige Begriff „einen Bund schließen” ist hier zu nennen. Damit ist auch gesagt, daß eine Abrede, eine Verhandlung stattfindet, wie in einem Vertrag zwischen zwei gleichen Partnern. Nun sind freilich in Wirklichkeit die Partner keineswegs gleich, und der Vertrag ist, wie wir sahen, ein „Vertrag auf Gefolgschaft”. Das äußert sich in zwei offenbar grundlegenden und miteinander ein Ganzes bildenden Tatsachen: Gott setzt die Bedingungen seines Bundes, und er macht aus ihnen eine Bedingung des Lebens. Der Bund bleibt bestehen, wenn der Mensch die von Gott aufgestellten Bedingungen innehält; im anderen Falle ist er gebrochen, tritt Entheiligung ein: „Das Land ist entheiligt von seinen Einwohnern; denn sie übertraten meine Gesetze und brachen den ewigen Bund” (Jes. 24, 5). In die mit dem Bund gegebene Bindung ist der Mensch bei Todesstrafe hineinverpflichtet; denn eben damit ist ihm ja sein Geschöpfcharakter gewährt. Gott gibt (so sahen wir) das Leben und setzt seine Bedingungen; nimmt der Mensch diesen Bund nicht an oder bricht er ihn, so ist das sein Tod.
So setzt Gott durch diesen Akt in Freiheit seine Bedingungen, die dem Menschen dann auferlegt werden, und zwar im Bunde, d.h. in Erwählung und Gnade; denn die Annahme des Menschen ist nicht das Ergebnis seiner eigenen Wahl, sondern seiner Erwählung durch Gott.
Aber worin bestehen jene „Bindungen”, und wie stellen sie sich dar? Sie sind das Gesetz Gottes; die Relation zwischen Bund und Gesetz ist ständig vorhanden.
Dem Adam gegenüber gibt Gott das Gesetz des Kindergebärens, des Bruchs in der Gemeinsamkeit, das Gesetz der Mühsal in der Arbeit, das Gesetz des Todes (Gen. 3, 16-19). Noah empfängt von Gott das Gesetz der Herrschaft des Menschen über die Schöpfung, das Verbot des Mordes und zweifellos auch dasjenige der Zauberei (Gen. 9, 1-7). Bei Abraham gibt Gott das Gesetz der Trennung des erwählten Volkes von den übrigen, das dann durch die ganze mosaische Gesetzgebung vertieft wird. Daß Bund und Gesetz unzertrenntlich zusammengehören, wird ständig wiederholt. So z.B. Jos. 24, 25: „Also machte Josua desselben Tages einen Bund mit dem Volk und legte ihnen Gesetze und Rechte vor ...”. Ähnlich hören wir Ps. 105 von dem „Bunde”, „den er gemacht hat mit Abraham” und für Jakob als „Gesetz” aufgerichtet hat (V. 9. 10). Was hat diese Tatsache zu bedeuten?
Zunächst daß Gott dem Menschen gegenüber auch ein Recht, sein Recht, in Geltung setzt. Die von Gott gesetzten Bedingungen sind das Resultat seines Urteils und der Ausdruck seiner Gerechtigkeit, und sie entsprechen also genau dem bereits entwickelten Begriff des Rechtes. Dieses Recht ist die Bedingung, unter der jener Zustand, den Gott durch den Bund wiederhergestellt hat, erhalten bleiben kann. Eben an diesem Punkt kann also der Mensch durch die Offenbarung eine Anschauung von dem gewinnen, was Recht ist. Aber dieses Recht ist kein von der Gesellschaft aufgebautes System, sondern eine dem Menschen auferlegte Daseinsbestimmtheit. Die Lage des
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Menschen ist derart, daß er nicht auf jede beliebige Weise leben kann. Er steht vielmehr unter bestimmten Bedingungen, physischen, moralischen, rechtlichen. Er kann nicht leben, ohne zu essen, er kann aber auch nicht leben, ohne in Beziehung zu dem Gesetz zu stehen: „Der Herr hat uns geboten zu tun nach allen diesen Rechten ..., damit er uns das Leben erhalte” (Deut. 6, 24), oder zu dem Wort: „Du sollst mit Genauigkeit der Gerechtigkeit nachleben, auf daß du lebest” (Deut. 16, 20). Das ist nach dem, was wir von der Relation von Bund und Leben sagten, gewiß normal. Aber es zeigt, daß es nicht das Recht ist, was hier gegeben wird.
Ferner erkennt Gott im Bundesakt dem Menschen Rechte zu. Der Bund bewirkt, daß der Mensch, der mit Gott gebrochen hat, doch jetzt nicht mehr buchstäblich ein Outlaw ist, und das ist ja auch die Auswirkung der Wiederherstellung seines (ursprünglichen) Zustandes. Der Mensch empfängt von Gott eine Anzahl von Rechten, die ihm zu eigen gegeben sind: das Recht zur Herrschaft über die Schöpfung, das Recht auf Bestrafung eines Mörders, der sich an ihm vergreift (und damit das Recht auf Rache), das Recht, zum Zwecke seiner Ernährung (Tiere) zu töten usw., so wie es ja die Texte ausdrücklich aussprechen. Diese Rechte aber erfahren — das muß man begreifen — tatsächlich eine weitere Ausdehnung dadurch, daß der Mensch als „Rechtssubjekt” berufen wird, mit Gott einen Vertrag zu schließen. Der Begriff des Menschenrechtes ist nunmehr durch den Zustand bedingt, in den Gott ihn versetzt: daß er nämlich Vertragspartner Gottes sein darf. Mit anderen Worten: damit Gottes Bund wirklich ein Bund sei, gewährt Gott dem Menschen Rechte und versetzt ihn in einen rechtsfähigen Zustand.
Endlich: indem Gott mit dem Bundesschluß menschliche Rechtsformen anwendet, bestätigt er das Dasein eines menschlichen Rechts (über dessen Wesen noch nachzudenken sein wird). Schon der Begriff des Bundes ist menschlich, und es ergibt sich also, daß Gott damit den Vertrag als Rechtsform für sein formell dokumentiertes Handeln aufgenommen hat. Auch die Formalitäten des Bundes sind dem menschlichen Recht, wie es heute noch in Kraft ist, entnommen (vgl. das von Abraham dargebrachte Opfer, in dessen Verlauf Gott zwischen den zerteilten Opfertieren hindurchgeht; Gen. 15, 17). Gleiches gilt von den Unterpfändern des Bundes, die Gott im Einklang mit den Begriffen des gegenwärtig noch geltenden Rechtes gewährt (z.B. der Regenbogen, der als Unterpfand gilt und ein Band zwischen Erde und Himmel darstellen soll: in wirksamer Entsprechung zu dem Pfand, das die beiden Partner eines Bündnisses geben, um sich aneinander zu binden; Gen. 9, 16).
Damit haben wir nach meiner Sicht der Dinge die rechtlichen Ergebnisse des biblischen Bundesbegriffs erörtert.
Aber das soeben Gesagte würde unvollständig sein, wenn wir nicht dem Zusammenhang des Bundes mit der Person Jesu Christi nachgingen. Wirklichkeit hat dies alles nur, indem er kommt und den Bund erfüllt, einen neuen und letzten Bund aufrichtet, der allen voraufgegangenen Bundschlüssen Sinn und Wert verleiht, ohne Ausnahme, so gewiß, daß alle jene Bundschlüsse nur als Verheißung und Typus des in Jesus Christus geschlossenen da sind. Ist aber er der Erfüller, so bringt er damit keine Veränderung in
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der Sache; was wir also vom Bunde sagten, bleibt bestehen, nur daß es jetzt seine tiefe Verbindlichkeit und Bedeutung bekommt. Wie sich dies auswirkt, läßt sich in Kürze darlegen.
Der Neue Bund ist derjenige, in dem Gottes Urteil bis ins Letzte hinein und unwiderruflich ergangen ist, in dem die Zugehörigkeit des Geschöpfes zu Gott offenbar geworden ist, weil Gott sich durch das Blut Jesu Christi den Menschen erworben hat; es ist der Bund, in dem die Wiederherstellung wirksam wird — wie wir bereits sahen —, der Bund, in dem Gott seine Gerechtigkeit kundmacht.
Es bedarf jedoch der schärferen Fassung einiger Begriffe. Einmal: in diesem Bunde vollzieht sich die Setzung der Rechte des Menschen. Wie wir sahen, ist das bei jedem Bunde der Fall. Dieser Bund aber setzt die Menschenrechte schlechthin. Gerade indem Christus die menschliche Gerechtigkeit völlig zunichte macht, indem er dem Menschen alle seine Eroberungen, all seine Macht, alle seine Rechte entreißt, begründet er die neuen Rechte des Menschen. Denn er, Jesus Christus, erwirkt Rechte für den Menschen! Im Neuen Bunde ist Christus nicht allein das Opfer, in dessen Blut der Bund geschlossen wird, er ist auch der Mensch, der für alle Menschen mit Gott den Bund aufrichtet! Er ist der einzige Mensch, den Gott gelten läßt; durch ihn hindurch sieht Gott die ganze Menschheit: das ist das Wunder der Stellvertretung, und in diesem bekräftigt Christus die Menschenrechte. Der Mensch kann hinfort nicht mehr sagen, er sei ohne Recht; denn er kann sich auf Jesus Christus berufen. Das kann jeder Mensch tun; denn Christus ist für jeden Menschen gestorben. Es ist also nicht so, daß es hier Rechte für die Christen gäbe und ein rechtliches Nichts für die anderen; vielmehr sind alle in Christus Brüder, und in ihm empfangen alle Menschen Rechte. Das erste von ihnen ist ein Recht vor Gott: daß sie sich eben auf Christus berufen können! Um seinetwillen ist die Person des Menschen weder dem Zufall der geschichtlichen Ereignisse, noch dem Zufall des Rechtsdespotismus ausgeliefert. Um seinetwillen gibt es nun Rechte des Menschen, hinter welche weder Gott zurückkann, der sie auf ewig begründet hat, noch die Menschen, die die Tatsache des Sterbens und Auferstehens Christi nicht mehr aus der Geschichte tilgen können. Diese Tatsache aber begründet kraft des Bundes die Menschenrechte.
Auf der anderen Seite hat Jesus das ganze Menschsein auf sich genommen, in seiner Sündhaftigkeit und in der Totalität seines Daseins. Kein Gebiet menschlichen Lebens ist ohne Beziehung zu ihm; ja selbst soweit das vom Menschen geschaffene Recht, das Gefüge rechtlicher Vorschriften, der Sünde inhäriert, selbst soweit man behaupten kann, es sei eine Ausdrucksform der Sünde, gilt doch, daß Christus es gleichermaßen auf sich genommen hat. Dies zeigt er mit ganzer Schärfe dadurch, daß er eine Rechtsprechung und ein ganzes Rechtssystem an sich zur Wirkung kommen läßt, die ihm die Verurteilung bereiten! Unter diesem Gesichtspunkt stehen Taufe und Verurteilung Jesu in einem überraschenden Parallelitätsverhältnis. Der Sohn Gottes unterwirft sich der Taufe, um „alle Gerechtigkeit zu erfüllen” (Matth. 3, 15); und in der Tat: weil die Taufe ihm erteilt wird, darum wird sie gültig und erfüllt. Ebenso aber unterwirft sich der Sohn Gottes aus freiem Entschluß der Gerechtigkeit des Menschen. „Die Schrift” muß „erfüllt” werden
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(Matth. 26, 54), und das geschieht, indem das Gesetz an Jesus Christus vollstreckt wird! „Die Juden antworteten: Wir haben ein Gesetz, und nach dem Gesetze soll er sterben” (Joh. 19, 7). So nimmt Christus wirklich die Ungerechtigkeit dieses Rechtes auf sich und läßt sie an sich zur Auswirkung kommen, weil dieses Recht in einem bestimmten Maße Ausdruck des Willens Gottes ist („Du hättest keine Macht über mich, wenn sie dir nicht wäre von obenherab gegeben”; Joh. 19, 11!). Er nimmt es auf sich, sich dem (ungerechten) Richterspruch dessen zu fügen, der das Recht vertritt! Und aus diesem Recht macht er ein Werkzeug der — Rechtfertigung des Menschen! Indem er sich unterwirft, begründet er dieses Recht und gibt ihm eine Bedeutung, die es von sich aus nie haben könnte 21).
Bedenken wir wohl: dieses Recht ist nicht Gottes Recht, sondern ein menschliches Recht unter anderen. So wird auch dieses Recht nicht etwa in sich selber gerecht, sondern es wird von Gott angenommen, Christus nimmt es auf sich, und wir werden noch sehen, was dies auf dem Gebiet des Rechtes genauer bedeutet.
Der Bund trägt augenscheinlich die gleichen Merkmale wie die Gerechtigkeit Gottes. Das ist auch nicht erstaunlich; denn er ist ja letztlich nur ein Ausdruck der göttlichen Gerechtigkeit. Aber war es dann überhaupt notwendig, ihn in unserer Untersuchung zu erwähnen? Konnten wir uns nicht mit dem, was über die Gerechtigkeit Gottes gesagt wurde, einfach zufrieden geben? Immerhin läßt uns der Bund drei neue Gesichtspunkte erkennen.
1. Einmal tritt jetzt ein neues Element ins Blickfeld: der Mensch. Bisher hatten wir die Gerechtigkeit Gottes in der Offenbarung betrachten können, so wie Gott sie uns kundgibt, aber abgesehen von jedem organischen Zusammenhang mit dem Menschen. Dieser war bisher nur Objekt der göttlichen Gerechtigkeit. Diese war bisher gänzlich abstrakt gesehen, während sie nun, im Bunde, als konkret offenbar wird. Jetzt tritt der Mensch als Element im Recht auf; er ist nicht mehr bloß Gegenstand des Rechtes, sondern empfängt durch den Bund seine Stellung als „Rechtssubjekt”. Wir haben also hier den Punkt vor uns, an dem Gottes Gerechtigkeit auf den Menschen trifft.
2. Durch den Bund wird deutlich, was wir bereits früher behaupteten: daß das Recht ein Akt Gottes ist. Der Akt Gottes, der das Recht setzt, ist der Bund: er ist sozusagen Gottes-Gerechtigkeit-in-Bewegung, er ist die Setzung einer Relation, wo bisher keinerlei Zusammenhang mit dem menschlichen Recht sichtbar wurde, weil das göttliche Recht gleichsam als eine im Himmel aufgestellte Regel, als ein jeder irdischen Greifbarkeit entzogenes Ereignis erschien; all dies tritt jetzt in eine Relation mit dem Zustand des Menschen. Der Bund schlägt gleichsam die Brücke zwischen Gottes Gerechtigkeit und der Erde, er ist eines der Bande (mit dem zweiten werden wir uns noch befassen), die zwischen göttlichem und menschlichem Recht bestehen. Er ist aber zugleich der Ort, an dem der eigentliche Kern des menschlichen Rechtes konkret und einsichtig wird. Von einem Naturrecht kann dabei nicht die Rede sein, es handelt sich ja im Gegenteil um ein streng „übernatürliches” Recht.
21) Vgl. K. Barth, Rechtfertigung und Recht, 1938.
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3. Ein Drittes läßt der Bund als Gesichtspunkt hervortreten: daß das Recht Gnade ist. Wenn — wie wir sahen — das menschliche Recht in verschiedenen Übernahmeakten auf den Bund gegründet ist, so geschieht das nicht kraft eines dem Rechte innewohnenden Wertes oder einer — natürlichen oder auch nicht natürlichen — Notwendigkeit, sondern ausschließlich um Gottes freier Erwählung willen, also weil Gott Gnade walten läßt. Die Begründung des Rechtes liegt tatsächlich darin, daß Gott dem Adam und ebenso dem Noah Gnade erweist. Und das ist nun kein undeutliches Wort, mit dem man alles zudecken könnte, ohne das mindeste zu klären. Man darf ja nicht dabei stehen bleiben, in abstracto zu erklären, das Recht sei Gnade. Wir sahen, worin der Bund Gnade ist und worin Gott Gnade übt. Es ist alles von der gleichen Art wie die Gnade, die einem zum Tode Verurteilten verkündet wird. Für ihn hat das Wort „Gnade” wirklich einen Sinn. Und in diesem Sinne müssen wir die Gnade verstehen, die uns Gott erweist: daß wir nämlich ein Recht haben dürfen, das etwas anderes ist als eine Zusammenstellung von menschlichen Gesetzen oder ein abstraktes Modell, das an sich mit dem Menschen nichts zu tun hätte, oder als ein Stück Natur, von dem man nicht einsieht, wieso es mehr Achtung verdiente als irgendeine Erfindung des Menschen.
Damit kehren wir zum Naturrecht zurück.