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Einleitung

 

Es mag anmaßend erscheinen, wenn hier noch einmal eine Schrift über das Naturrecht vorgelegt wird. Noch anmaßender mag es vorkommen, daß ich die Naturrechtslehre als Ganzes wieder aufgreife (noch dazu auf ein paar wenigen Seiten!), statt mich auf ein begrenztes Teilproblem zu beschränken. Schließlich steht das Problem jetzt schon zweieinhalb Jahrtausende zur Debatte, ohne daß anscheinend bisher eine wirkliche Lösung herausgekommen ist. Fraglos ist viel Mühe daran gewendet worden, das spontane Rechtsgefühl zu erklären, wie es jeder Mensch an sich erfährt und wie es ja eine unbestreitbare, lebendige Realität darstellt. Trotzdem zeigt eine objektive — sagen wir: wissenschaftliche — Überschau über die Sachlage, daß es vergebens ist, auf eine einhellige Meinung über die Grundlage, den Gehalt und die verpflichtende Kraft des naturgebundenen Rechtes zu hoffen. Gerade wenn man vom Allgemeinen ausgeht, wird es unmöglich, feste Positionen aufrechtzuerhalten, und in der Stellungnahme der Freunde wie der Verächter des Naturrechts tritt ohne allen Zweifel eine vorweg getroffene Grundentscheidung, sozusagen ein a priori zutage.

Wer nämlich beim Menschen das Vorhandensein selbständiger geistiger Werte annimmt — Idee, Gestalt, Existenz usw. —, der kommt daraufhin auch leicht zum Glauben an ein ideales Naturrecht, aus dem dann das menschliche Recht seine Erkenntnisse schöpft. Andererseits: wer allein an die wissenschaftliche Beobachtung der Tatsachen, allein an die Realität des rational Begreifbaren glaubt, der wird das Naturrecht unweigerlich als unwissenschaftliche verwerfen (und unwissenschaftlich ist es wirklich!). So ist die Auseinandersetzung über das Naturrecht in gewissem Sinne ein Scheingefecht. In großen Linien gesehen, vollzieht sich hier in Wirklichkeit der Kampf zwischen Idealismus und Materialismus, und der Kampf um das Naturrecht ist lediglich Auswirkung. Es hat daher gar keinen Zweck, das Problem des Naturrechts auf dem Gebiet des Rechtes zu erörtern.

Trotzdem vollzieht sich gegenwärtig — nach ungefähr anderthalb Jahrhunderten partieller Sonnenfinsternis — anscheinend ein Zurückgreifen auf den Begriff des Naturrechts.

Seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts haben sich bekanntlich — ich brauch nicht ausführlich darauf einzugehen — zwei Schulen in die Gunst der Juristen geteilt: die historische Schule und die Schule des Positivismus. Nach der ersteren ergibt sich das Recht ausschließlich aus dem Volksbewußtsein und der Entwicklung. Die zweite läßt als „Recht” lediglich das gelten, was im Text der Gesetze steht, und neben dem, was sich in den Texten als klares Bewußtsein vom Recht ausspricht, kommt nichts anderes in Betracht.

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Beide Schulmeinungen führen zu einer radikalen Ablehnung der Lehre vom Naturrecht 1).

Selbst bei Juristen, die die gesamte Rechtswirklichkeit zu erfassen bestrebt sind, auch in ihrem geistigen Gehalt, ergeben sich als Umschreibung ihrer Position etwa folgende Sätze 2): 1. Das Recht ist von Hause aus nicht Norm, sondern Ergebnis einer bestimmten Lage der Gesellschaft, 2. das Recht ist die Ordnung einer konkreten Gemeinschaft, nicht aber das Produkt des Zwanges einer Macht, 3. das Recht ist das Produkt einer konkreten geistigen Situation, nicht aber ein Produkt des Zufalls und ebensowenig ein ewiges Produkt der „Natur” oder des Geistes.

Unstreitig hat man also zu einer Ansicht kommen können, die auf den Gebiete des Rechts den vollständigen Relativismus vertritt.

Unter diesen Umständen gibt es keinerlei Schutz der gesellschaftlichen Ordnung oder der dem Menschen gewährten Rechte gegen die Willkür, und es besteht kein Grund, die Unterscheidung zwischen Recht und Unrecht nicht einem allmächtigen Staat zu überlassen, der dann die Kriterien dafür festlegt 3).

Angesichts dieser Konsequenz nun, die ja eine Tatsache ist, und die wir in unseren Tagen erlebt haben, ist es zu einer Erneuerung der Naturrechtstheorie gekommen. Und nach verbreiteter Ansicht vermag allein diese Theorie den verheerenden Auswirkungen des Positivismus Einhalt zu gebieten. Ich muß hernach noch auseinandersetzen, weshalb ich dieser Annahme nicht zustimme. Aber ich muß sogleich bemerken, daß dieses neue Naturrecht mit unerhörten, nach meiner Meinung unüberwindlichen Schwierigkeiten rechnen muß. Ich weise nur auf die Tatsache hin, daß die traditionelle individualistische Auffassung des Privatrechtes, die seit dem 16. Jahrhundert vorherrschend war und die sich mit der Naturrechtslehre sehr wohl vereinigen ließ, dem gesellschaftlichen Verständnis des öffentlichen Rechtes das Feld geräumt hat, und zwar historisch endgültig; dieses Verständnis aber, das auf allen Gebieten sich durchgesetzt hat, meint eine nicht dem Menschen, sondern dem Staate inhärente Gegebenheit, und erscheint mit jenem „absoluten” Recht beträchtlich weniger verbunden.

Gleiches gilt von der Tatsache, daß das Recht je länger desto weniger als abstrakte, wenn nicht für alle Zeit gültige, so doch wenigstens in der Vernunft begründete Norm erscheint, sondern mehr und mehr als geschichtliches Phänomen, als Ausdruck einer nationalen Gemeinschaft, als ihrerseits in höherem oder geringerem Maße durch den Staat repräsentiert wird (und dieser bezieht seine Stellung nicht auf doktrinären Boden, sondern einzig auf dem Boden der im 19. und 20. Jahrhundert gegebenen Rechtstatsachen).


1) Zu den verschiedenen Rechtsschulen seit Beginn des 19. Jahrhunderts vgl. Roubier, Théorie générale du droit, 1946.
2) Z.B. Erik Wolf, Christentum und Recht, 1936.
3 Zu diesem Ergebnis gelangt auf etwas erstaunliche Weise die „normative” Schule: sie wollte aus dem Recht eine absolute, geometrische Wissenschaft machen und endete dann schließlich doch dabei, die Willkür des Staates zu rechtfertigen; vgl. besonders H. Kelsen, Allgemeine Staatslehre, 1925.

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Es ist schwer, einzusehen, wieso die Idee des Naturrechts mit dieser Lage in Einklang zu bringen sein soll.

Schließlich verdient in diesem Zusammenhang ein letzter Punkt Hervorhebung: das Auftreten zahlreicher, gan neuer Gebiete des Rechtes. Hier erheben sich im Blick auf das Naturrecht allerlei Probleme: man begreift einerseits nicht, warum das Naturrecht diese Rechtsgebiete nicht hat sichtbar werden lassen, bevor die Verhältnisse in der Gesellschaft darauf führten; und andererseits weiß man nicht, welche Stellung man angesichts dieser von Grund auf neuen und eigenständigen Probleme dem Naturrecht einräumen soll. Dies gilt vom Sozialrecht, vom Arbeitsrecht, vom Haftungsrecht usw.

Es kann also kaum die Rede davon sein, daß die von der modernen Rechtssituation aufgeworfenen Probleme durch ein einfaches Wiedererstehen des Naturrechts ihre Lösung finden können.

 

Unter christlichem Gesichtspunkt spielt das Naturrecht — gleichgültig welche Auffassung von ihm man voraussetzt — eine höchst eigentümliche und deshalb der näheren Umschreibung bedürftige Rolle. Meistens herrscht der Eindruck, als sei es ein notwendiger Bestandteil christlicher Lehre; es gilt dann entweder als inhärentes Element der von Gott geschaffenen Natur des Menschen, oder als Teil der Schöpfungsordnung, oder als eine in der Offenbarung des Gesetzes formulierte Norm, oder als Produkt der einer natürlichen Theologie fähigen Vernunft, oder auch als ein in Herz oder Gewissen des Menschen eingezeichnetes Recht. Man könnte noch sehr viele andere Umschreibungen aufführen. Aber hinter all dem steckt auf Seiten der Theologen stets ein bestimmtes Anliegen, das sich sehr einfach so ausdrücken läßt: es geht darum, ein Gebiet zu finden, auf dem Christen und Nichtchristen sich treffen können, ganz gleich, ob dieses Gebiet nun im Intellekt, im Geistigen oder einfach im Materiellen liegt. So sagt man z.B.: „Eine Naturrechtslehre ist unvermeidlich als Grundlage für ein Zusammenwirken von Christen und Nichtchristen” 4). Es herrscht also das Anliegen, jenseits der harten Trennung, wie sie Offenbarung und Gnade mit sich bringen, irgendwie die Möglichkeit einer Verständigung zu finden.

Das Problem ist unschwer zu verstehen. Man geht davon aus, daß wir Menschen, zumindest physisch, eine uns allen gemeinsame Natur haben. Diese ist durch die Gnade nicht verändert. Wie soll man es nun anstellen, daß diese Natur weiterhin festgehalten wird, ohne daß wir darüber die Gnade oder die Übernatur beiseite lassen? Welche Eigenschaften dürfen wir dieser Natur beimessen? Die Tatsache der Gnade kann doch nicht dazu führen, daß sich das Herz des Menschen zu einer radikalen Absonderung entschließen müßte; denn der Gott, der uns die Gnade gewährt, ist doch ein Gott der Liebe, der alle seine Geschöpfe liebt, der sie alle retten will und der sie alle zur gegenseitigen Liebe aufruft! Das Naturrecht stellt unter diesen Umständen nur ein Teilgebiet, einen Sondergesichtspunkt im Zusammenhang einer umfassenden (über die Gnade hinausdringenden) Bemühung


4 W. Horton, Natural Law and International order, 1945.

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um die Wiedervereinigung des Getrennten dar — es gehört mit der natürlichen Theologie (und dem Gnostizismus!), mit der natürlichen Moral und der Behauptung eines absoluten Wertes der Vernunft in eine Linie. Und alles dies hat den Zweck, dem Menschen ein Ausweichen vor der radikalen Notwendigkeit zu gestatten, daß er auf das Empfangen der Offenbarung angewiesen ist, um zu wissen, was das Gute und was die Wahrheit sei!

Damit haben wir den Umkreis vor uns, in dem die „christliche” Auffassung vom Naturrecht ihren Platz hat: der Mensch soll von sich aus wissen können, was als Regel des gesellschaftlichen Daseins zu gelten hat. Christen und Nichtchristen sollen sich verständigen können, um auf dem Boden einer allen Menschen gemeinsamen Gegebenheit eine gleiche soziale und politische Wahrheit auszusprechen. Auf Grund dieser Gegebenheit sollten sie zusammenwirken können, um die bestmögliche öffentliche Ordnung unter den Menschen aufzubauen. Gott erhält dann natürlich seinen Platz einigermaßen am Rande dieses Gebiets. In allen Theorien über das Naturrecht erscheint Gott eher als eine brauchbare Voraussetzung für die Überlegung, eine als Ausgangspunkt notwendige Hypothese, und kaum als der lebendige Gott, der Eine in drei Personen, Schöpfer, Erlöser und Offenbarer in einem. Es dreht sich in diesen Theorien stets um Gott ausschließlich als Schöpfer. Man nimmt, um die Einheit zwischen Christen und Nichtchristen aufzurichten, seinen Standort bei der Vorstellung einer durch die Schöpfung begründeten ursprünglichen Identität. Daß inzwischen Gottes neue Tat geschehen ist und alle Bezogenheiten umstößt — nämlich die Inkarnation —, das wird durchaus außer Betracht gelassen!

Auf der anderen Seite aber läßt man die Schöpfung im Ursprung durch Gottes Werk ins Dasein treten und nimmt dann doch für die weiteren Überlegungen seinen Ausgangspunkt bei einer Welt, die sich ganz allein um sich selber dreht, selbständig funktioniert und ihr Leben gleichsam in sich selber trägt, — als ob Gott nicht unablässig der Schöpfer wäre und als ob die Welt nicht in jeder Sekunde ihr Leben ausschließlich um Gottes willen hätte!

Dergleichen theologische Voraussetzungen — sie werden freilich nur selten ausgesprochen — sind schlechterdings unannehmbar. Man kann die Personen der Trinität nicht voneinander trennen, und ebensowenig läßt sich eine mechanistische Auffassung von der Schöpfung vertreten. Es geht also für uns zunächst darum, zu wissen, was der Offenbarung Gottes gemäß ist, und dabei haben wir uns auf die großen und gesicherten Gegebenheiten dieser Offenbarung zu stützen. Es kann sich dagegen nicht darum handeln, Abschwächungen oder Kompromisse auf Grund von festgestellten Tatsachen aufzusuchen; diese werden wir freilich nicht beiseite zu lassen haben, aber für uns sind sie nie etwas anderes,als was sie eben sind, nämlich festgestellte Tatsachen — normativ werden sie also für uns niemals.

Auf der anderen Seite: Wenn wir bei unserer Interpretation des Rechtes entschlossen „theozentrisch” 5) bleiben, so müssen wir unweigerlich einsehen,


5) Dieses theozentrische Verständnis ist von den theokratischen Systemen grundlegend verschieden. Diese sind verhältnismäßig einfach gedacht: das menschliche Gesetz ist ➝

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daß wir zu allererst feststellen müssen, was die menschlichen Institutionen, die menschliche Gerechtigkeit usw. im Blick auf Gott zu bedeuten haben, was sie bei Gott für einen Sinn haben, welche Stellung ihnen auf Grund der Offenbarung in Gottes Werk zukommt — erst danach läßt sich ermitteln, welchen Wert sie für den Menschen besitzen und welches Verhalten der Mensch ihnen gegenüber einnehmen soll. Denn das letztere muß sich aus dem ersteren ergeben. Die wirklichen Beziehungen zwischen Gott und den Institutionen der Welt müssen die möglichen Beziehungen zwischen diesen und dem Menschen bestimmen 6). Damit haben wir die erste Aufgabe unserer Untersuchung bestimmt: sie liegt folgerichtig auf einem völlig andren Boden als demjenigen, den sonst Christen zu betreten pflegen, wenn sie dem Naturrecht eine Begründung geben wollen.

Diese Haltung bringt nun aber für mich keineswegs den Glauben an die Existenz eines „christlichen Rechtes” mit sich 7). Wie es für mich keinen christlichen Staat gibt, weil nämlich der Staat von Gott zu einem anderen Zweck als zur Förderung des Glaubens gegeben ist, so kann auch das Recht keinen christlichen Gehalt besitzen. Das Recht ist tatsächlich für alle da, für Gläubige und Ungläubige. Auch die Christen gehören einem Volk auf dieser Erde an und sollen sich dem Recht dieses Volkes unterstellen, das seinerseits kein christliches sein kann; denn christlich ist das, was von dem Glauben an die Person Jesu Christi ausgeht, und dies kann man denen, die nicht glauben, auf keinen Fall auferlegen. Will man auf Grund des Gesetzes Gottes, ja auf Grund des Evangeliums ein Recht schaffen, das für alle gültig sein soll, so ist dies unbestreitbar eine Häresie; denn es ist dabei vorausgesetzt, daß Nichtchristen den Willen Gottes annehmen oder wie Christen leben können. Unsere Untersuchung bezieht sich also nicht auf ein mit christlichem Inhalt versehenes Recht, sondern darauf, was das Recht, so wie es ist, in der Herrschaft Jesu Christi bedeutet und welche Funktion ihm Gott zugewiesen hat. Nur bedenken wir: dieser Gott ist der, der seine Sonne aufgehen läßt über Gute und Böse und läßt regnen über Gerechte und Ungerechte. Und bedenken wir weiter, daß es schlechterdings nicht angeht, das Evangelium inhaltlich in ein Gesetz und noch gar in ein rechtlich gefaßtes Gesetz umzuwandeln. Das Recht gehört in den weltlichen Bereich — es ist ja selbst etwas Weltliches —, aber damit in einen Bereich, in dem Jesus Christus König ist!


➝ unmittelbarer Ausdruck des Willens Gottes. „Die Gesetze haben zu ihren Urhebern die Götter”, sagt Platon. Diese Auffassung ist dem, was uns Gott offenbart, schlechthin entgegengesetzt. Vgl. die Kritik bei G. del Vecchio, Leçons de philosophie du droit, 1936, S. 343.
6) Vgl. Ehrenström, Bericht für den Ökumenischen Rat, 1943.
7) Es sei gleich bemerkt, daß diese Untersuchung, mit dem Problem des Verhältnisses von Moral und Recht nichts zu tun hat. Vom christlichen Standpunkt her ist dieses Problem schief gestellt, weil man nämlich die Beziehungen zwischen einem Recht und einer Moral untersucht, die beide vom Glauben unabhängig sind und als Werte in sich selbst betrachtet werden (vgl. besonders G. Ripert, La règle morale dans les obligations civiles 3 1935). Nach dem, was uns Gott offenbart, besteht die hier gemeinte Beziehung zwischen beiden lediglich infolge ihres wechselseitigen Zusammenhangs mit dem Glauben; er ist die Stelle, wo Moral und Recht sich trennen und doch auch beide ihre personale Bedeutung im Leben der Schöpfung gewinnen.

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Vor dem Beginn meiner Studie möchte ich noch zwei Bemerkungen zur näheren Bestimmung des Themas machen.

1. Ich habe nicht die Absicht, das Geheimnis des Wesens des Naturrechts zu erforschen, ebensowenig wie ich seinen Gehalt ermitteln wil. Auch geht es mir nicht darum, das Naturrecht zu rechtfertigen oder es zugunsten des positiven Rechts aufzulösen. Mit dem Vorstehenden ist aber das Thema der bisherigen Untersuchungen zum Naturrecht umschrieben. Für uns reformierte Christen handelt es sich jedoch darum, die Tatsache des Naturrechts mit der Unterweisung der Heiligen Schrift zu konfrontieren, die unserem Glauben als Richtschnur gegeben ist. Diese Konfrontierung ist erforderlich, weil alles Bestehende und also auch das Recht sich innerhalb der Herrschaft Jesu Christi befindet, und weil andererseits diese Herrschaft kraft ihres konkreten Charakters nicht bloß eine Theorie ist, sondern in bestimmten Tatsachen ihren Ausdruck findet, die man nicht unter dem Vorwande beiseitelassen darf, sie seien nicht orthodox.

2. Wir sprachen soeben von „Tatsachen”: im Folgenden werden wir das Naturrecht vor allem als Tatsache betrachten. Viel zu häufig gilt das Naturrecht sonst als Lehre, als Interpretation von Rechtstatsachen oder als Rechtsphilosophie. Unzweifelhaft gibt es auch eine Philosophie des Naturrechts. Aber das Naturrecht ist von Hause aus mit einer solchen Philosophie nicht identisch. Von Hause aus ist es ein Phänomen, das nicht als Idee, sondern als konkretes geschichtliches Geschehnis existiert. Es ist eine Tatsache, die in einem bestimmten Zeitpunkt der Rechtsgeschichte ins Blickfeld tritt, und die man ebensowenig unbeachtet lassen kann wie die Tatsache Religion oder Staat. Es entsteht dann gewiß hernach eine Theologie, die verarbeitet wird, es entsteht auch der Gnostizismus. Es entsteht, ebenfalls nachträglich, eine Lehre vom Staat, von der Souveränität, von der Macht. Aber Religion und Staat existieren, bevor sie jemand gedanklich entfaltet oder rechtfertigt. Genau so ist es mit dem Naturrecht: es stellt sich zunächst einmal als eine bestimmte Form des Rechtes dar, und erst dann wird es zu einer Auffassung vom Recht. Diese ist also etwas Nachträgliches, und es ist schlechterdings nutzlos, Erörterungen über die Theorie anzustellen, ohne daß man sich dabei auf die Tatsache bezieht, aus der sie erst hervorgegangen ist.