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Vorüberlegung

 

Das Naturrecht als Phänomen

 

§ 1. Das Naturrecht in der Geschichte

Unsere geschichtliche Erkenntnis des Rechtes beschränkt sich auf das Abendland. Von der Entwicklung des Rechts bei den Azteken, Ägyptern, Kaldäern, Assyrern oder Hindus wissen wir nichts. Von diesem Recht können wir nur Einzelzüge erfassen. Beim chinesischen Recht sind wir über einen ersten Einblick in seine Entwicklung kaum hinaus, und Schlußfolgerungen lassen sich daraus noch nicht ziehen. Wir kennen einzig die Entwicklung des griechischen, römischen und abendländischen Rechtes (Deutschland, Frankreich, England, Italien, Spanien). Nur auf diesem begrenzten Erkenntnisgebiet können wir also auch über das Naturrecht nachdenken.

In jeder uns bekannten Entwicklung des Rechtes lassen sich nun drei Phasen unterscheiden 8).

Anfänglich ist das Recht religiös. Das bestätigen nahezu sämtliche soziologischen Tatsachen. Das Recht gilt als Willensäußerung eines Gottes, wird vom Priester formuliert und religiös sanktioniert. Dem Recht geht ein magischer Ritualismus zur Seite. Dementsprechend begegnen uns die religiösen Vorschriften in rechtlicher Form. Der Mensch stellt sich seine Beziehungen zur Gottheit vertragsförmig vor. Der Priester garantiert die Religion durch das Geheimnis des Rechtes.

Im weiteren Verlauf der Entwicklung kommt es allmählich zu einer Verweltlichung des Rechtes. Es entwickelt sich ein Unterschied zwischen der religiösen und magischen Vorschrift auf der einen, und der rechtlichen und moralischen auf der anderen Seite. Die Einflüsse, die zu diesem Wandel führen, sind verschiedener Art. Insbesondere aber tritt nun eine von der


8) Die Vorstellung von einer ständigen und zu stets größerer Läuterung führenden Entwicklung des Rechts kann ich nicht billigen. Diese Idee, die bei den Juristen noch sehr im Umlauf ist (vgl. Roubier, a.a.O., der sie nicht in Zweifel zieht), würde darauf hinauslaufen, daß — zufällige Rückschläge ausgenommen — die Entwicklung ein Fortschreiten wäre; es wäre daher unser gegenwärtiger Gerechtigkeitsbegriff wahrheitsgemäßer als der des Platon oder des römischen Rechtes, und unser Recht müßte gerechter und geordneter sein als z.B. das semitische. Diese Vorstellung ist völlig unzutreffend. Sie enthält drei Vorurteile: die Geschichte des Menschen ist hiernach eine Geschichte ununterbrochener Fortschritte, die Gerechtigkeit ist ein Geschöpf des Menschen, und es gibt außerhalb der Mittelmeerwelt kein Recht! Die Geschichte widerspricht dem allen. Und was die „zufälligen” Rückläufigkeiten angeht, so ist es doch schwer, an Zufälligkeiten zu glauben, wenn sie z.B. drei Jahrhunderte dauern wie die Barbareneinfälle in das römische Reich!

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religiösen Gewalt unterschiedene Staatsgewalt in Erscheinung. Damit beginnt eine zweite Phase: man kann sie die Phase des Naturrechts nennen. Konstituierend für das Recht sind jetzt Gewohnheit und Gesetz, unabhängig von der religiösen Gewalt und gleichsam als selbsttätige Schöpfung der Gesellschaft, unter dem Einfluß wirtschaftlicher, politischer und moralischer Faktoren. Dieses Recht wird nicht vom Staate verfügt oder in seinem Gesamtumfang geschaffen. Es kommt nicht von außen, sondern geht unmittelbar von der Gesellschaft aus, vom gemeinsamen Empfinden und Wollen, das nicht notwendig die erforderliche Bewußtheit besitzt, um in die Schaffung von Recht auszumünden, aber jedenfalls als Gewohnheit und pflichtmäßige Einordnung bewußt ist. So stützt sich dieses Recht auf eine willige Zustimmung der von ihm Betroffenen, und diese Zustimmung rührt daher, daß das Recht ja nichts anders ist als ein Ausdruck ihres Bewußtseins und ihrer Lebensbedingungen. Etwas anderes als jene freiwillige Zustimmung zum Recht könnte es gar nicht geben; denn das Recht beschränkt sich darauf, die beiden Elemente des Lebens der Menschen in einer Gesellschaft zum Ausdruck zu bringen.

Dann erst kommt es zur Verarbeitung dieses Rechtes als Theorie des Naturrechts: das Phänomen wird erkannt und verstandesmäßig entfaltet. So geschieht es in Griechenland im 4. Jahrhundert v. Chr., in Rom im 1. Jahrhundert v. Chr., in Italien im 16., in Frankreich im 17. und in England und Deutschland im 18. Jahrhundert. Man kann diesen Moment als den Höhepunkt des Naturrechts ansehen — durchweg meint man in ihm überhaupt das Ganze des Naturrechts zu finden; wir sind eben Intellektuelle und vermögen allgemach nur noch die Theorie ins Blickfeld zu bekommen! In Wirklichkeit aber ist dieser Moment bereits der Beginn des Abstiegs. Denn eben jetzt hört der Mensch auf, ganz von selbst „im Recht” zu sein. Er nimmt seinen Standort außerhalb und betrachtet das Recht; es wird Gegenstand der Spekulation und Interpretation. Der Philosoph setzt vernünftig auseinander, was wirklich das Recht sei; aber zu diesem Zweck versetzt er sich außerhalb des Rechtes und bricht aus dem Recht als Tatsache die Spontaneität des Rechts heraus. Und er findet sehr schnell Nachfolge beim Juristen, der dann auch seinerseits daran geht, das Recht tunlichst rational zu organisieren. Damit aber ist eine dritte Phase der Geschichte des Rechts angebrochen.

Jetzt wird das Recht zu einer Schöpfung des Staates. Man macht sich nun von den Prinzipien frei, verfügt ganze Hierarchien der Rechtsbildung, koordiniert die Gesetze und entwickelt eine Technik in der Handhabung des Rechtes, die immer präziser und immer rationaler wird, sich aber mehr und mehr von jeglicher Spontaneität entfernt. In diesem Augenblick erstarrt das Recht, es wird zu einem abstrakten Denkmal, es bleibt unablässig hinter der sozialen und politischen Entwicklung zurück und bedarf, um stets wieder auf den aktuellen Stand gebracht zu werden, unentwegt willkürlicher Schöpfungen, die sich mehr oder weniger gut der Gesellschaft anpassen. Das Recht wird zur Sache der Juristen, mitsamt seiner Weihe und Würde innerhalb des Staates.

Die Folgen, die dieser Prozeß in rechtlicher und sozialer Hinsicht nach sich zieht, müssen wir noch erörtern. Es sei nur bemerkt, daß dieser Prozeß

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mit der Zerfallsperiode jeder Gesellschaft zusammentrifft. Eine Wiederherstellung des Vergangenen ist unmöglich; hinter der Rechtstechnik ist keine neue Spontaneität des Rechtes mehr zu finden. Man kann einer verwelkten Blüte ihre vorige Frische nicht wiedergeben. Aber freilich: der Stock, der sie getragen hat, kann wohl eine neue Blüte hervorbringen! So kann auch die Gesellschaft, wenn sie wieder völlig von vorn anfängt und eine neue Kultur begründet, ein neues Recht aus sich heraussetzen.

Diese Entwicklung des Rechtes geht unfehlbar in jeder Gesellschaft vor sich, die sich ihrerseits entwickelt. Sie kann durch eine Katastrophe zum Stehen gebracht werden — so scheint es bei den Azteken der Fall gewezen zu sein. Sie kann auch beschleunigt werden — so anscheinend beim kaldäisch-assyrischen Recht, das die zweite, naturrechtliche Phase sehr schnell durchschritten und sich sehr bald zum technischen Recht fortentwickelt hat. Die relative Dauer der Phasen kann sehr verschieden sein — so war für das griechische Recht infolge der Einverleibung Griechenlands in das römische Reich die dritte Phase sehr kurz, für das byzantinische dagegen, das sich völlig ohne Sinn behauptet, sehr lang. Aber das obige Schema scheint mir die Entwicklung einigermaßen genau zu verdeutlichen. Dies erlaubt uns, das Naturrecht als eine Entwicklungsepoche des Rechtes zu betrachten und damit die sogenannten Naturrechtstheorien genauer zu bestimmen.

 

§ 2. Die Theorien des Naturrechts

Die Aufgabe kann hier nicht in einer vollständigen Aufführung des Bestandes gesehen werden. Wir müssen uns vielmehr darauf beschränken, summarisch die Hauptrichtungen dieser Theorien aufzuweisen. Die Bedeutung dieser Bemühung ist nur sehr relativ. Jedes Handbuch zum Studium des Rechtes oder der Rechtsphilosophie gibt eine ausführliche Darstellung der Systeme. Uns geht es im Folgenden nur um das, was für das gestellte Thema von Wichtigkeit ist.

Es ist jedoch eine Vorbemerkung zu machen. Nach den obigen Darlegungen sind die hier erörterten Theorien keine willkürlichen und rein rationalen Schöpfungen. Das Naturrecht ist kein philosophisches System, das lediglich die Erkenntnis des Absoluten zum Ziele hat und lediglich von den Erkenntnismitteln abhängig ist, so daß es also für alle Zeiten in Geltung stünde und mit fortschreitender Verbesserung der Erkenntnismittel vervollkommnet werden könnte. Wäre es so, dann müßten die Naturrechtstheorien zwei Merkmale aufweisen: sie müsten das absolute Recht in abstracto zu erkennen suchen, und sie müßten, wie die Philosophie, vom menschlichen Geiste unablässig hervorgebracht werden, wenn auch unter wechselnder Gestalt. Beides trifft aber nicht zu.

Was das erstere Merkmal betrifft, so haben zwar bekanntlich manchen Theorien den Anspruch erhoben, das Wesen des Rechtes aufzudecken. Es handelt sich hier aber um Theorien von Philosophen oder Theologen, die rechtlich keine große Bedeutung haben. Man wird aber doch zugeben, daß jede Theorie vom Recht auch von rechtlicher Tragweite sein muß.

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So haben z.B. die Stoiker eine abstrakte Rechtstheorie. Aber das hat für das griechische Recht — das bereits in seine technische Phase eingetreten ist — überhaupt keine und für das römische nahezu keine Tragweite gehabt. Der Einfluß des stoischen Denkens auf das römische Recht ist vielmehr stark übertrieben worden, und zwar weil man ihn bei Cicero feststellte. Cicero aber beweist, obwohl er Anwalt war, durch seine Schriften, daß er kein Jurist gewesen ist. Freilich greifen die Juristen manche Begriffe der Stoiker wieder auf; aber sie tun es in anderem Sinne, und jedenfalls ist ihre Auffassung des Naturrechts eine ganz andere als die der Philosophen.

Noch deutlicher zeigt sich der gleiche Tatbestand an der thomistischen Theorie vom Naturrecht. Bereits die augustinische Theorie war gegenüber dem Zusammentreffen zweier Tatsachen in den Hintergrund getreten: der Technisierung des römischen Rechtes und des Einbruchs der Germanen. Die thomistische Lehre stellt sich uns als eine Theorie dar, die ein Lehrer der Kirche innerhalb einer Gesellschaft vertritt, die die Autorität der Kirche als oberste Instanz anerkennt. Ein Gewicht hat diese Theorie aber keineswegs. Die Entwicklung des Rechtes, die Rechtswissenschaft, die Verarbeitung der Rechtsgewohnheiten — das alles geschieht vollkommen außerhalb. Keine mathematische Theorie hätte geringere rechtliche Auswirkungen haben können! Einzig auf dem engen Gebiet des kanonischen Rechtes finden wir Versuche, die thomistische Lehre anzuwenden.

Ebenso steht es endlich auch mit der Naturrechtstheorie Calvins. So große Auswirkungen seine Staatsauffassung gehabt hat, so sehr ist doch seine Naturrechtstheorie lebloser Buchstabe geblieben. Und das rührt daher, daß wir hier philosophische Theorien vor uns haben, die eine rechtliche Bedeutung nicht besitzen. Sie sind weder eine Entfaltung, noch eine Interpretation des Rechtes, sondern lediglich eine gedankliche Erfindung.

Soweit Naturrechtstheorien einen Sinn gehabt habe, erhoben sie nicht den Anspruch, zum absoluten Recht zu gelangen, sondern sie erstrebten lediglich eine für geltungskräftiger gehaltene Form des Rechtes oder eine Rechtskonstante oder eine besser vervollkommnete Ausdrucksform des Rechtes. Die Theoretiker dieser Art wollten vor allem davon Rechenschaft ablegen, wie sich ihnen das Recht darstellte, und wollen daraus rechtlich gültige Folgerungen ableiten. Eine Tragweite kommt einzig diesen Naturrechtstheorien zu.

Das führt uns zu dem zweiten Merkmal: gültige Theorien vom Naturrecht können nicht in jedem beliebigen Moment der Geschichte auftreten, weil sie nämlich in enger Abhängigkeit von der geschichtlichen Epoche des Naturrechts stehen. So gibt es in den zwölf Jahrhunderten der Geschichte des römischen Rechtes eine gültige und wirksame Naturrechtstheorie einzig und allein zwischen dem 1. Jahrhundert v. Chr. und dem 2. Jahrhundert n. Chr., zwischen Cicero und Papinian. Die späteren Juristen tun nicht anderes, als daß sie das, was vorher schon da war, reproduzieren und zuweilen verdunkeln; eine rechtliche Tragweite hat das nicht. Auch in den fünfzehn Jahrhunderten des abendländischen Rechtes sind die lebendigen Naturrechtstheorien stark lokalisiert; ich habe diese geschichtlichen Lokalisationen in den verschiedenen Ländern oben bereits angedeutet. Ohne Frage dürften sich z.B. die französischen Juristen des 19. Jahrhunderts als Adepten

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des Naturrechts erweisen — auch die heutigen noch ... Aber man kann ihre Haltung als „Epiphänomen” charakterisieren, als etwas Überlebtes.

Diese Juristen legen sich über die gegenwärtige rechtliche Lage keine Rechenschaft mehr ab; ihre Theorien befinden sich nicht mehr im Zentrum des rechtlichen Phänomens 8a).

Im Vorstehenden haben wir zwischen den philosophischen Naturrechtstheorien und den juristischen zu unterscheiden versucht. Wir haben jetzt nach den leitenden Gesichtspunkten beider zu fragen.

Unter den philosophischen Systemen wollen wir nur zwei summarisch vornehmen: das stoische und das scholastische.

Das Naturrecht der Stoiker ist wesentlich ein ideales und normatives Recht, das dem positiven als Richtpunkt und Modell dienen soll. Das ideale Recht ist ewig und unveränderlich; es ist ein göttlicher Sinngehalt, der in die Natur eingeschrieben ist, und zwar nichtallein in die menschliche; vielmehr ist vermöge des Teilhabens der menschlichen Natur an der kosmischen auch das Recht universal. Da der Sinngehalt eine Einheit darstellt, so kann die menschliche Vernunft jenes Recht unmittelbar erfassen und konkretisieren. Das positive Recht hängt also von jener Erfassung des Naturrechts durch den Menschen ab. Es kann also niemals ein Geschöpf des Staates sein, sondern ist vielmehr eine fortdauernde Schöpfung der Individuen, und wenn alle Individuen gleichmäßig das Naturrecht erfassen könnten, so wäre die Existenz eines Staates zur Sanktionierung des positiven Rechtes überhaupt nicht erforderlich.

Für die Scholastiker gehört das Naturrecht zur Natur des Menschen. Es ist ihm ins Herz geschrieben und geht völlig aus dem Prinzip hervor, daß man das Gute tun und das Böse meiden soll. Es stellt gleichsam ein Kriterium dar, das den Menschen in den Stand setzt, praktisch zu unterscheiden, was an dem bestehenden Recht gerecht und ungerecht ist. Gerecht ist, was mit jenem Recht, das Gott dem Menschen ins Herz geschrieben hat, übereinstimmt. Das drückt sich rechtlich in zwei wesentlichen Prinzipien aus, die die beiden Grundgesichtspunkte der Gerechtigkeit darstellen: suum cuique tribuere und neminem laedere. So ist die Gerechtigkeit selber eng mit der menschlichen Natur verknüpft. Der Mensch hat die Fähigkeit, aus sich selbst heraus zu entdecken, was wahrhaft gerecht ist, und es in der Welt anzuwenden; denn er ist ja nicht völlig gefallen, und es bleibt ihm ja ein Teilbestand göttlicher Wahrheit. Dieses Naturrecht im Herzen des Menschen ist der Widerschein des göttlichen Gesetzes und führt den Menschen dazu, als Zielpunkt des Rechtes das allgemeine Beste anzunehmen, das dann in der Regel durch die Regierenden näher bestimmt wird.

Diese beiden Systeme betrachte ich als typisch; denn sie stellen sich mit ihren Verschiedenheiten als eine Naturrechtsanschauung dar, die im Grunde sämtliche philosophischen und theologischen Systeme in sich tragen, trotz der augenscheinlichen Gegensätzlichkeiten und namentlich der voneinander abweichenden Formen. Zwei charakteristische Merkmale hat dieses Naturrecht.


8a) Diese Juristen, die sicherlich zu den besten gehören, haben vor allem eine hervorragende kritische Bedeutung gegenüber dem Rechtspositivismus; eine konstruktive Rolle im Sinne des Naturrechts kommt ihnen weniger zu (vgl. F. Gény, Science et technique en droit privé positif, Bd. 2, 1915).

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Einmal: es ist ein Idealrecht, auf moralischer Grundlage. Wäre es völlig verwirklicht, so hätten wir das goldene Zeitalter. Das positive Recht hat nichts anderes zu tun, als möglichst getreu jenes Naturrecht zu reproduzieren. Es braucht sich also gar nicht erst mit den unableitbar gegebenen Tatsachen, mit der wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Lage abzugeben. Es soll in das Recht das Absolute hineinbringen und sich also mehr und mehr dem Naturrecht annähern; denn dies ist ja vermöge seines — absoluten — Charakters ein unveränderliches Recht, und die ganze Geschichte des Rechtes erweist sich von hier aus im Grund als die Geschichte der Versuche, jenes allezeit unveränderliche Recht zu übersetzen. Zum zweiten: dies Naturrecht ist ein Kriterium der Gerechtigkeit; zwischen der göttlichen Gerechtigkeit und dem Naturrecht wird kein Unterschied gemacht. Die menschliche Gerechtigkeit ist das, was mit dem Naturrecht übereinstimmt, und dieses entspricht genau der göttlichen Gerechtigkeit. Man kann sich also des Naturrechts bedienen, um Recht und Unrecht zu unterscheiden.

 

Jetzt können wir den ungeheuren Abstand zwischen jenen philosophischen Systemen und den juridischen erfassen, wie wir ihn jetzt noch etwas ausführlicher herausstellen müssen. Wir wollen, wiederum summarisch, die Position zweier Rechtssysteme andeuten: des römischen und des Systems der Aufklärung 9).

Das Naturrecht der römischen Rechtsgelehrten besteht in dem, was in der Natur gegeben ist, ob nun in der gesamten belebten Natur oder auch in der menschlichen Natur für sich allein. Im ersteren Falle handelt es sich um eine vorsichtige Interpretation, die den Zweck hat, zwischen jus naturae und jus gentium zu unterscheiden: hier enthält das Naturrecht alles, was der Mensch in der Ordnung bestehender Beziehungen mit den Tieren gemeinsam hat, also z.B. geschlechtliche Beziehungen: Ehe, Fortpflanzung: Familie usw. In diesem Falle stellt das Naturrecht ein gemeinsames Minimum dar, um dem Leben eine soziale Prägung zu verleihen. Den gleichen Gedanken finden wir nun im zweiten Falle vor, nur ist er hier weiter und reicher gefaßt. Das Naturrecht ist nun die allen Menschen gemeinsame natürliche Art. Es gibt eine bestimmte Anzahl von Institutionen, die dazu notwendig sind, daß die Gesellschaft leben kann; diese Institutionen erweisen sich überall als identisch, weil sie dem Menschen inhärent sind, und damit haben wir letztlich die Grundlage des Rechtes vor uns, das sich zwar auf verschiedenartige Weise Ausdruck verschaffen, verschiedene Gestalt annehmen und durch zeitlich begrenzte, sekundäre Regeln ergänzen werden, aber in seiner Natur keinerlei Veränderung erleiden kann, ohne daß es zu schweren Wirrnissen kommt. Das positive Recht ist in diesem Falle der zu einem bestimmten Zeitpunkt am zusammenhängendsten vorliegende Ausdruck jenes Naturrechts. Jus est ars aequi et boni, d.h. die Kunst, die für einen bestimmten Zeitpunkt gerechteste und wirksamste Anwendung jener allen Menschen gemeinsamen Erkenntnis herauszufinden. Dieser Übergang vom einen zum anderen vollzieht sich nun nach einem genauen und festgelegten Überlegungsverfahren, das die römischen Juristen ratio nennen (was nicht dasselbe ist


9) Vgl. F. Senn, De la justice et du droit, 1927.

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wie Vernunft). Auf diese Weise enthält das Naturrecht Institutionen wie Familie und Eigentum und Vorschriften wie das Verbot des Diebstahls oder des Mordes. Es ist aber nicht die Gerechtigkeit. Diese erweist sich vielmehr gleichsam als eine doppelte Bezogenheit: einerseits zwischen dem Naturrecht und den tatsächlichen Umständen, unter denen es Gestalt gewinnt, andererseits zwischen dem positiven Recht und dem Handeln eines bestimmten Menschen.

Für das Zeitalter der Aufklärung ist das Naturrecht seinem Wesen nach in Übereinstimmung mit der Vernunft. Diese erscheint nicht mehr — wie bei den Scholastikern — als ein Mittel, um das Naturrecht aufzudecken, sondern als Ausdruck des Naturrechts. Was also auf dem Gebiet des Rechtes der Vernunft gemäß ist — und zwar alles, was ihr gemäß ist —, das konstituiert das Naturrecht. Es ist kein abstraktes, kein ideales Recht, sondern ein Produkt der autonomen Vernunft. Dabei können die Prinzipien, die man zur Ausgangsbasis nimmt, veränderlich sein; ihr Gemeinsames besteht darin, daß sie von einer natürlichen Gegebenheit ausgehen, nämlich von der Vernunft, die allen Menschen gemeinsam ist; und der Prüfstein unter den verschiedenen daraufhin vorgelegten Rechtssystemen, also das, was ein Rechtssystem qualifiziert, besteht in seinem mehr oder weniger rationalen Charakter, in seinem größeren oder geringeren Anteil an irrationalen Vorurteilen. So findet man es in Italien bereits im 17. Jahrhundert bei Vico. Genau so findet man es ständig in Frankreich im 17. Jahrhundert, und so verbreitet es sich, von Grotius an, im 18. Jahrhundert mit Hobbes, Rousseau und anderen über ganz Europa. Seinen Gipfelpunkt erreicht dieses System mit den Menschenrechten, und die Revolution hat nicht ohne Ursache den Kultus der Göttin Vernunft eingeführt. Die Vernunft liegt der Autorität des Staates zugrunde; auf ihr allein beruht das Naturrecht und mit ihm das gesamte Rechtssystem. Die rechtlichen Folgerungen, die man nun zieht, sind individualistisch — denn die Vernunft ist das gemeinsame Gut, das allen Menschen bewußt ist — und auf die Gleichheit aller gerichtet. Dagegen führt die Vernunft nicht zur Aufdeckung einer abstrakten Gerechtigkeit; vielmehr ist Gerechtigkeit hier stets in Institutionen niedergelegt und von ihnen nicht ablösbar. Das philosophische Prinzip im Blick auf das Recht ist die Vernunft und nicht die Gerechtigkeit.

Das damit umschriebene Naturrecht trägt zwei Merkmale, die es von dem, was die Philosophen unter Naturrecht verstehen, grundlegend unterscheiden. Es ist erstens von Hause aus kein moralisches Ideal, sondern eine rechtliche Gegebenheit. Hier gilt es nicht, einem goldenen Zeitalter entgegenzustreben, sondern unablässig auf ein Modell des menschlichen Rechtes zurückzugreifen. Dies Naturrecht ist keine Idee, sondern eine Realität. Das gilt auch für das Naturrecht des Aufklärungszeitalters, trotz dessen scheinbarer Idealität.

Zweitens ist dies Naturrecht kein Kriterium für Gerechtigkeit, sondern eine Zusammenfassung von Institutionen und Regeln, die man nennen, beschreiben und bestimmen kann. Man befindet sich hier viel näher bei einer möglichen rechtlichen Anwendung, man steht mehr im Gebiet des Rechtes, statt sich an ein Absolutes im Recht zu halten, das sich tatsächlich nirgendwo vorfindet. In den rechtsgelehrten Theorien vom Naturrecht, so verschiedenartig

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sie auch sein mögen, tritt als gemeinsamer Hintergrund die Bezugnahme auf eine tatsächliche Realität zutage, und mit dieser müssen wir uns jetzt beschäftigen.

 

§ 3. Die Existenz des Naturrechts

Das Naturrecht ist viel abgeurteilt worden. Man hat darauf verwiesen, es sei bloß eine Erfindung des Menschengeistes. Man hat es für unzulässig erklärt, an ein allgemeines Prinzip zu glauben, während es doch nicht gelang zu bestimmen, worin es überhaupt bestünde. Man hat die zahllosen Abweichungen der Naturrechtstheorien untereinander unterstrichen. Um derartigen Einwänden gegenüberzutreten, hat man die Theorie eines „Naturrechts mit veränderlichem Gehalt” 10) aufgestellt; danach ist der Gehalt des Naturrechts nicht wesenhaft und bleiben, sondern wandelbar, und doch bleiben gewisse Konstanten bestehen, die zum gegebenen Zeitpunkt als Grundlage für ein positives Recht in Betracht kommen.

Die Soziologie hat darlegen wollen, daß in den verschiedenen Formen primitiver Gesetzgebung überhaupt keinerlei allgemeine Regel bestehe und also auch keine „menschliche Natur”, der jene Formen entsprechen könnten. Die Philosophie hat darauf hingewiesen, es liege in der Idee der Natur etwas Unbestimmtes und Unfaßbares. „Ist die Naturordnung die Ordnung der Naturgesetze? Ist sie diejenige der primitiven Gesellschaftsformen, von denen man dann behauptet, sie entsprächen dem Plane Gottes, des Schöpfers, oder aber der späteren, die dazu berufen sind in Zukunft, am Ende einer fortschreitenden Entwicklung, das goldene Zeitalter heraufzuführen? Oder handelt es sich um die Gesetze der menschlichen Natur? Aber wer will in diesen Fall bei der wirren Vielheit ihres Strebens und ihrer Möglichkeiten das Wesentliche der menschlichen Natur bestimmen? Wird sie vom Instinkt dargestellt? Von der Vernunft? Vom Gewissen?” 11). Und schließlich: die reformierte Theologie lehnt das Naturrecht überhaupt ab und zeigt, daß es nur ein göttliches Recht gibt, ein Recht Gottes und nicht ein Recht der Natur 12). Darauf müssen wir noch zurückkommen.

Trotz aller dieser Kritik, die ich kenne und anerkenne, muß man m.E. doch zugeben, daß in diesem Problemkreis drie nicht mehr der Debatte unterworfene feste Punkte auftreten.

1. Das Recht existiert. Das bedeutet: der Mensch ist in jeder Epoche seines sozialen Daseins befähigt, eine Art Spielregel aufzustellen, nach der sich die Beziehungen der Menschen untereinander bestimmen. Dieser Regel treten Sanktionen zur Seite, deren Durchführung über die Macht des Einzelnen


10) J. Charmont, La renaissance du droit naturel, 2 1927, und besonders R. Stammler, Wirtschaft und Recht, 5 1924 — von diesem Buch hat man gesagt, es sei eine leere Flasche, die mit einem schönen Etikett geschmückt sei. Später hat man an die Stelle dieser Auffassung die Idee eines „Naturrechts mit progressivem Inhalt” gesetzt; so P. Renard, Le droit, l’ordre et la raison, 1927.
11 Vgl. P. Conord, Sociologie chrétienne, 1936, S. 56.
12 Vgl. Visser ’t Hooft, Droit naturel ou droit divin? in: „Correspondance”, Januar 1943, S. 81.

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hinausgeht. Es gibt keine Gesellschaft, die ohne Recht bestünde, und dieses Recht zeigt allenthalben verwandte Merkmale, z.B. die Sanktion, den von allen freiwillig geleisteten Gehorsam, eine organische Verbindung mit den grundlegenden Gegebenheiten der Gesellschaft und eine Regelung der Beziehungen unter den Menschen und Menschengruppen. Gegenstand und Mittel des Rechtes sind also an allen Orten und zu allen Zeiten gleich. Schon diese Tatsache verdient aufmerksame Beachtung. Der Mensch ist danach nicht allein befähigt, die Gesellschaft, in der er lebt, gültig zu organisieren, sondern er vermag solcher Organisation auch ein Schwergewicht zu geben, das er in sich selber gar nicht vorfinden kann — in der primitiven Gesellschaft ist dies der religiöse Charakter des Rechtes, den der Mensch dem Recht nicht etwa gewährt. Und endlich scheint der Mensch, gleichgültig unter welchen Umständen, innerhalb dieser Schöpfung gewissen Konstanten gehorsam zu sein; denn es treten ja gemeinsame Merkmale auf, die sich sonst nicht erklären ließen.

2. Der Gehalt des Rechtes ist tatsächlich überall der gleiche. Während über die Gleichheit des Gegenstandes und der Mittel des Rechtes keine Meinungsverschiedenheit aufgetreten ist, hat man vom Ende des 19. Jahrhunderts bis etwa 1930 die Gleichheit des Rechtsgehalts durchweg abgelehnt. Diese Ablehnung aber ging von den Soziologen aus, nicht von der Rechtshistorikern. Seit 1930 ist auch die Stellungnahme der Soziologie nicht mehr so eindeutig. Tatsächlich war sie der „Vorliebe für die Primitiven” erlegen, und ihre Behauptung, der Gehalt des Rechtes sei wesenhaft wandelbar, stützt sich vielfach auf örtliche Ausnahmen oder Degenerationserscheinungen.

In Wirklichkeit ist es so: geht man von der schlechthin primitiven Entwicklungsstufe aus, die kein anderes Recht als das Tabu und den Befehl des Häuptlings kennt, so findet man doch in dem Augenblick, wo die Gesellschaft sich organisiert und ein (religiös bestimmtes) Recht in Erscheinung tritt, sogleich einen Gehalt vor, der ganz ursprünglich sein kann, aber die ständige Tendenz zur Annäherung an einen gemeinsamen Typ aufweist. Dieser gemeinsame Typus erweist sich dann als vorhanden, wenn das Recht sich verweltlicht und die von mir als Phase des Naturrechts bezeichnete Entwicklungsstufe eintritt.

Nunmehr vollzieht sich eine echte Abklärung: aus dem Rahmen fallende Vorschriften werden nach und nach getilgt, und das Recht zeigt die Neigung zur Aufnahme eines immer stärker assimilationsfähigen Gehalts. So finden sich in allen Gesellschaften völlig allgemein Vorschriften für die Ehe (unter Einschluß der Todesstrafe auf Ehebruch), für die väterliche Gewalt, die Sklavenhaltung, für Eigentum, Mord, Diebstahl, Vertrag, Pfandrecht. Diese Regeln sind technisch keineswegs gleich; aber sie haben sämtlich auf die gleiche Institution, auf die gleiche Rechtswirklichkeit Bezug. Sobald also ein Recht im eigentlichen Sinne überhaupt besteht, hat dieses einen wesentlich allen Völkern gemeinsamen Gehalt. Dies läßt sich nicht aus Nachahmung erklären, auch nicht aus einer gegenseitigen Durchdringung der Kulturen; es erklärt sich ebensowenig aus der willkürlichen Entscheidung einer Regierung oder einfach aus dem Spiel wirtschaftlicher Verhältnisse. Das Phänomen der wesenhaften Einheit des Rechtsgehalts bei allen Völkern

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ist unbestreitbar ein natürliches Produkt der Entwicklung. Je mehr die Kulturentwicklung fortschreitet, desto größer wird die Möglichkeit, daß sich jene Einheit herausbildet.

Wird dann bei einer Anzahl von Völkern das Recht rein technisch, so setzt sich das technisch höchstentwickelte Recht allenthalben durch. So war es mit dem römischen Recht. So war es auch mit dem Code civil, der in so verschiedenen Ländern wie Japan und der Türkei Anwendung fand. Auf dieser rein technischen Stufe aber kann nun jedes beliebige Kriterium für Recht oder Nicht-Recht Anwendung finden. „Recht ist, was dem deutschen Volke nützt”, sagt nun das Nazisystem. „Recht ist, was dem Interesse des Proletariats dient”, sagt der Kommunismus. Eine derartige Einwirkung äußerer Kriterien auf das Recht ist nur im rein technischen Recht denkbar. Aber dies gehört zu den Auswirkungen der Ablehnung des Naturrechts, die wir noch erörtern müssen.

3. In der Rechtssetzung haben wir es weder mit einer willkürlichen Schöpfung des Staates, noch mit einer selbsttätigen Auswirkung sozialer und wirtschaftlicher Verhältnisse zu tun. Läge etwas derartiges vor, so wäre es bei der grundlegenden Verschiedenheit der wirtschaftlichen und sozialen Zustände unvorstellbar, wie es zu der erwähnten Einheit der Methode, des Gegenstandes und — wesentlich — auch des Gehalts hat kommen können. Hierzu gibt es eine interessante Arbeit aus dem 2. Jahrhundert n. Chr., die collatio legum mosaicarum et romanorum; hier werden die in der Tiefe liegenden Ähnlichkeiten zwischen dem hebräischen Recht des 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr. und dem römischen Recht des 2. Jahrhunderts unserer Ära aufgeführt — eine soziale Gleichartigkeit zur Erklärung dieser Tatsache besteht nicht!

Freilich ist der Einfluß der wirtschaftlichen und politischen Gegebenheiten unleugbar. Das Recht entwickelt sich mit ihnen in der gleichen Zeit. Man kann gar sagen, daß es eine Auswirkung von ihnen ist. Aber eine verarbeitete Auswirkung, keine rohe! Und der Träger dieser Verarbeitung ist der Mensch: er macht einen Unterschied unter den Regeln, die sich aus jenen Verhältnissen ergeben, ja, er verändert sogar manches Gegebene zugunsten des Rechtes. Er baut das Rechtssystem selbsttätig von sich aus auf. Und das tut er nach Prinzipien, die vom Ursprung her weder explizit vorliegen, noch theoretisch sind. Er tut es nach Prinzipien, die — sobald einmal eine Verarbeitung des Rechtes beginnt — unstreitig allen Menschen bis auf gewisse Ausnahmen gemeinsam sind 13). Nur von hier aus läßt sich die erwähnte Verwandtschaft erklären. In allen primitiven Rechten finden sich so komplexe rechtliche Erscheinungen wie den Vertrag oder das Pfand. Wie will man sie ohne eine gemeinsame Erkenntnis der Gerechtigkeit erklären? Sie beruhen doch unmittelbar auf dem Gedanken eines gemeinsamen sozialen Maßstabes und des subjektiven Leistungsausgleiches, auf Gedanken also, die man als das erste inhaltliche Moment jener Erkenntnis der Gerechtigkeit ansehen darf! Hier haben wir wieder einen Gedanken


13) Über diese Herausarbeitung der Rechtsgegebenheiten durch das Gerechtigkeitsgefühl vgl. Roubier, a.a.O. S. 153-184, der dazu eine bemerkenswerte Analyse liefert.

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vor uns, den die Soziologie in Frage gestellt hat, weil sie weder das Recht noch die Rechtsgeschichte genügend kannte; heute aber ist ihre Autorität auch im Sinken begriffen, und ihre oben wiedergegebene Behauptungen erscheinen in wachsendem Maße als fraglich.

Diese drei Punkten reichen zwar ersichtlich nicht hin, um eine Lehre vom Naturrecht zu begründen — dazu müßte man sie in rein doktrinärer Herausschälung aus dem gegebenen Zusammenhang zur Einheit verbinden. Als Grundelemente jeder Rechtstheorie aber müssen sie beibehalten werden.

 

§ 4. Die Verneinung des Naturrechts

Wie wir bereits sahen, tritt in bestimmten Epochen des Rechtes das Phänomen einer Verwerfung des Naturrechts auf. Gegenwärtig leben wir schlechthin in einer solchen Epoche. Wie sehen nun die Auswirkungen einer solchen Verneinung aus? Zwischen Auswirkungen und sie begleitenden Umständen ist dabei freilich schwer zu unterscheiden; aber wir dürfen jedenfalls fragen: welche Tatsachen sind mit der Verneinung des Naturrechts verbunden? Dabei kann die Verneinung explizit sein (so ist es heute der Fall) oder auch implizit (so am Ende der römischen Epoche).

1. Das Recht hat nun nicht mehr ein bestimmtes Empfinden oder eine bestimmte Vorstellung von Gerechtigkeit zum Maßstabe; es wird zur reinen Kombination technischer Regeln. Es gibt jetzt im Recht keinen normativen Faktor mehr. Die Rechtsübung beruht auf bloßer Geschicklichkeit, sie ist ein mathematisches Spiel. Die Gesetze haben mit der Gerechtigkeit keine Verbindung ehr, sondern sie werden unter dem Gesichtspunkt unmittelbare sozialen Vorteils geschaffen 14). Die Anwendung der Gesetze durch die Gerichte wird zur rein logischen Deduktion von Regeln, die immer weitere Gebiete erfassen und darauf aus sind, in einer maßlosen Reglementierung alle denkbaren Fälle vorzusehen und den persönlichen Faktor immer stärker aus der Rechtsschöpfung auszuschalten. Diesen Zustand kannten auch die Römer, und sie fanden dafür den Ausdruck: summum jus, summa iniuria: wenn das Recht technisch geworden ist und seine höchste Vervollkommnung erreicht hat, wenn es alle Verhältnisse in der Gesellschaft umgreift, dann ist für die Gerechtigkeit keine Platz mehr, und man kommt zum Gegenteil des Rechtes selbst (in-jus). Dieser Zustand muß aber eintreten, sobald keine Platz mehr da ist für ein regulierendes Element der Rechtstechnik, für ein — sagen wir vorerst: menschliches oder natürliches — Gegengewicht gegen die üppige Vielfalt des Systems. Die Rechtstechnik erweist sich nun, wie jede Technik, als blind; sie geht soweit,


14) Diese Verneinung des Naturrechts, die der technischen Phase des Rechts entspricht, stellt anscheinend für die „normative” Schule das Ideal eines Rechtes dar. Die „normative” Schule ist im Wesen mit der englischen utilitaristischen und der französischen positivistischen Schule verwandt; nur daß sie zum Extrem treibt. Diese drei Rechtsauffassungen, die mit einer bestimmten geschichtlichen Lage des Rechtes zusammenhängen, ziehen die im Text angegebenen Auswirkungen nach sich, und zwar trotz ihres Bestrebens, aus dem Recht einen universalen und nicht mehr der Debatte ausgesetzten Wert zu machen.

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wie sie gehen kann, soweit, wie das vernünftige Überlegen selber gehen kann; sie läßt sich überall anwenden, wo irgendein Nutzen ihre Anwendung erheischt. Sie ist logisch, aber nicht auf etwas Einheitliches gerichtet, sie ist systematisch, aber blind, sie ist allem Materiellen adäquat, aber nicht der Gerechtigkeit!

2. Die Rechtstechnik steht jetzt dem zur Verfügung, der sich ihrer bemächtigen will. Im Wege einer Art sozialer Kristallisation kann der technische Zustand des Rechtes sehr lange andauern; so ist es im byzantinischen Reich gewesen. Er kann aber umgekehrt auch von jeder beliebigen Macht in ihren Dienst gestellt werden. Dann setzt men der Technik, die ja an und für sich neutral ist, ein Ziel, man läßt sie nach neuen, willkürlichen Kriterien spielen, die sich an die Stelle der Idee der Gerechtigkeit oder des Naturrechts setzen. Davon war, im Blick auf Nazismus und Kommunismus, bereits die Rede. Möglich wird das, weil das Naturrecht versunken ist und die Idee der Gerechtigkeit einer bloßen Technik Platz gemacht hat. Mit dem Recht hat dieses Ganze nichts mehr zu schaffen: es handelt sich ja bloß um Regeln, die den Zweck haben, die Gewalt des Stärkeren zu stützen, und der Stärkere rechtfertigt sich, indem er dem Rechtssystem neue „Rechts”kriterien verleiht. Indessen erweist sich dies System lediglich als der Endpunkt des wachsenden staatlichen Eingreifens in das Recht.

3. Solange das Naturrecht in Kraft steht, ist der Anteil des Staates am Recht begrenzt. Das Recht erscheint als ein selbsttätiges Produkt der Gesellschaft. Der Staat ist zunächst die Macht, die das Recht — im doppelten Sinn des Wortes — sanktioniert: einerseits erklärt er, was von den entstandenen Regeln Recht ist und was nicht, andererseits setzt er dem, was Recht ist, den Rechtszwang zur Seite (und wendet ihn an). Sucht der Staat ein Recht zu setzen, das nicht nötig ist oder mit dem allgemeinen Gerechtigkeitsempfinden nicht in Einklang steht, so kann man sicher erwarte, daß die Gesellschaft dagegen reagiert und ein solches Recht verwirft. Sobald aber das Naturrecht verschwindet, hat der Staat die Hände frei. Jetzt hat er keine Schranken mehr, und er wird jetzt neben den Juristen zu einem der Faktoren der technischen Rechtsproduktion. Sobald aber die Juristen reine Technik schaffen, setzt der Staat Recht zu seinem Vorteil! Auf dem gesamten Gebiet gesellschaftlichen Daseins verschafft er der Staatsraison das Übergewicht und macht sie zum einzigen Faktor in der Rechtssetzung und zur einzigen Grundlage für den Wert des Rechtes. Nicht mehr unterliegt der Staat selber in seinem Handeln dem Urteil des Gesetzes, sondern er ist vielmehr Richter über das Gesetz, er hat es ja allein nach seinem Willen geschaffen! Eines der untrüglichen Kennzeichen für das Versinken des Naturrechts zeigt sich in einem Meinungsstreit, der in gewissen Epochen der Gesellschaftsgeschichte tatsächlich aufkommt: Ist der Fürst durch das Gesetz gebunden? Taucht dieses Problem auf, so kann man sicher sein, daß das Naturrecht verworfen ist oder im Begriffe steht, verworfen zu werden, und daß die Staatsraison als Richtpunkt für die Verarbeitung des Rechtes an seine Stelle tritt.

Im ganzen hat sich ergeben, daß das Recht, sofern es selbsttätig zustandekommt, auch keinen bewußten Zweck und kein außerrechtliches Ideal

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besitzt, das nun das Recht selbst zu verwirklichen hätte, sondern daß es aus der sozialen und politischen Lage hervorwächst und in einem bestimmten Verständnis der Gerechtigkeit Form gewinnt, das man einfach als bestehend anerkennen muß, und das weithin das Recht beherrscht. Tritt dies in den Hintergrund, so sucht sich das Recht einen Zweck außerhalb seiner selbst, und es findet ihn dann in der Staatsraison oder in einem anderen Kriterium für das Rechte — oder auch in einer philosophischen Naturrechtslehre, die vom Recht aus betrachtet ein Element von außen darstellt.

4. Eine weitere Auswirkung der Verneinung des Naturrechts besteht darin, daß das Recht nun mehr und mehr aufhört, beachtet und respektiert zu werden. In der primitiven Gesellschaft weiß der gewöhnliche Mensch wirklich nicht mehr vom Recht, als daß er seiner religiösen Charakter kennt, und sein religiöses Gefühl gibt dem Recht eine Grundlage; denn es ist allen gemeinsam, es unterliegt keiner Frage, es gewährt dem Recht Autorität. In der entwickelten Gesellschaft, wo also das Recht schon ein eigenes Dasein führt, besteht die Kenntnis des gewöhnlichen Menschen vom Recht in einem Empfinden für die Gerechtigkeit, das er besitzt 15). Auch dieses ist nahezu allen gemeinsam, es ist keinem Meinungsstreit ausgesetzt und bildet die Grundlage für die Autorität des Rechtes; es ist ja das Mittel, mit dem die sozialen Gegebenheiten zum Recht verarbeitet werden, und es ist die Ursache, weshalb der Mensch dem festgesetzten Rechte sich fügt. So besitzt das Recht ein gemeinsames Maß mit den Menschen und eine Autorität, die sich von seine eigenen Ursprung her begreifen läßt.

Was aber geschieht, wenn das Recht technisiert und zu einem Ausdruck der Staatsraison wird? Der Mensch, der sich sein Rechtsgefühl bewahrt, erkennt sich in einem derartigen Recht nicht mehr wieder. Zwischen dem Menschen und dem Recht besteht kein gemeinsames Maß mehr — abgesehen davon, daß sich eben einige Menschen das Recht zunutze machen. Freilich: da ist die Vernunft, die aus dem Recht einen Gegenstand macht; aber ein Gemeinsames zwischen Mensch und Recht schafft sie nicht. So kommt es, daß der gewöhnliche Mensch nicht mehr mit beiden Füßen in der Welt des Rechtes steht und sich dem Recht nicht mehr in der Tiefe unterstellt weiß. Und daraus ergibt sich die sehr ernste Folge, daß der Mensch überhaupt nicht mehr weiß, warum er eigentlich diesem Recht gehorchen soll. Es wird zum Abklatsch wirtschaftlicher und politischer Notwendigkeiten, aber im Blick auf den Menschen wird es widersinnig. Daher beruht seine Autorität jetzt nur noch auf der Sanktion. Diese aber hört auf, eine echte Reaktion der sozialen Gemeinschaft gegen einen Störenfried zu sein; sie ist nur noch die technische Maßnahme einer technischen Instanz, nämlich des Staates. Eine wirksame Kraft kommt ihr nicht mehr zu; denn die Menschen in ihrer Gesamtheit erkennen sie nicht mehr als echte Sanktion an —


15) Mit diesem Satz soll keinerlei Vorurteil über die Frage verbunden sein, ob dieses Empfinden „natürlich” ist, ob es der Natur inhäriert, oder ob es durch Erziehung zustandekommt oder sich als Ergebnis eines sozialen Vorurteils erweist, das die Auswirkung materieller Bedingungen ist. Es geht hier lediglich um das Faktum. Im übrigen vgl. zur Frage des Gerechtigkeitssinnes die Arbeiten von Le Fur und E. Lévy, Les fondements du droit.

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sie ist nur noch ein äußerer Zwang, den der Mensch widerwillig erleidet. Deshalb stellt sich mit dem Zurücktreten des Naturrechts regelmäßig eine Ausdehnung des Polizeisystems und eine Verschärfung des Strafmaßregeln ein. Allerdings ein vergebliches Bemühen! Denn der Staat ist außerstande, ein Recht im Gegensatz zum vorhandenen Rechtsempfinden aufzurichten. Ein neues Empfinden kann man höchstens auf mystischem Wege heranzüchten. Aber ein Recht, das als Gerechtigkeit aufgefaßt wird, entsteht so nicht. Schließlich bildet sich neben dem Recht des Staates ein anderes heraus, ein Volksrecht. Dafür ist in Frankreich das Phänomen des Schwarzen Marktes höchst charakteristisch. Die Strafe verliert ihr Gewicht so völlig, daß die Richter schließlich auf ihre Verhängung verzichten. Der Gehorsam gegenüber dem Recht hat aufgehört. Gerade weil man zu seinem Maßstab lediglich die Wirkungskraft gemacht hat, wird es vollständig wirkungslos. Das ist eine Erfahrung, die freilich durchweg ignoriert wird.

5. Noch eine letzte Bemerkung: auf dieser Entwicklungsstufe des Rechtes entsteht nun aus dem Bestreben, dem Recht neues Leben einzuhauchen, der Versuch, das Naturrecht künstlich zu erneuern. Darauf war u.a. das Unternehmen des Justinian gerichtet. Aber der Mensch ist in dieser Hinsicht schlechthin ohnmächtig. Durch ein Unternehmen des Staates läßt sich das Naturrecht unmöglich wiederbeleben. Was geschichtlich zerbrochen ist, das ist die Bezogenheit von Mensch und Recht, und diese kann man durch philosophische oder durch Rechtstheorien nicht neu schaffen. Die Theorie kann höchstens den Ernst der Frage besonders einleuchtend zum Bewußtsein bringen; aber eine Rückkehr in die Vergangenheit ist ein Ding der Unmöglichkeit. Mensch und Staat kann man nicht von außen her wieder in Einklang bringen. Die Haltung des Menschen zum Recht ist nicht mehr die gleiche. Notwendig wäre daher ein gleichzeitiger Wandel im Innern des Menschen — denn von da aus ist seine Einfügung in die Gesellschaft bedingt —, sowie im Äußeren des Staates und des Rechtes, und das heißt: notwendig wäre der Schlußstrich unter eine ganze Form der Zivilisation!

Ungefähr an diesem Punkt stehen wir heute. Eben darum halte ich es für schlechthin illusorisch, an der Konstruktion eines neuen Naturrechts zu arbeiten, das weder mit dem allgemeinen Bewußtsein des gegenwärtigen Menschen, noch mit der modernen Rechtsauffassung im Einklang steht, und für ebenso sinnlos, einen Meinungsstreit über die Notwendigkeit des Naturrechts als Theorie auszufechten. Notwendig ist es dagegen im höchsten Maße, sich tunlichst darüber Klarheit zu verschaffen, was das Recht innerhalb und vermöge seiner Beziehung zur Offenbarung bedeutet; denn die Entstehung einer neuen Kultur kann nur aus dem Willen Gottes hervorgehen. Notwendig ist es zu wissen, was das Naturrecht als Phänomen unter diesem Gesichtswinkel darstellt. Und notwendig ist es, die rechtlichen Folgerungen zu erwägen, die man aus solchen Erkenntnissen ziehen kann.

Wir fassen diese kurzen Bemerkungen zusammen. Es ergibt sich, daß in gewissen Entwicklungsstufen der Gesellschaft ein Recht auftritt, das der natürliche Mensch, augenscheinlich allein mit Hilfe seines Verstandes, konstruiert hat. Dieses Recht entspricht drei gegebenen Tatsachen. 1. Es entspricht einem bestimmten Rechtsgefühl, das zu einem gegebenen Zeitpunkt

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bei allen Menschen annähernd das gleiche ist, weil es nämlich gleichartigen Institutionen in ihrer Begründung zum Dasein verhilft. 2. Es entspricht einem Gleichgewicht zwischen der für die Verarbeitung des Rechtes unentbehrlichen Rechtstechnik und den menschlich-gesellschaftlichen Verhältnissen, und zwar derart, daß das Recht weder eine spontane, irrationale Auswirkung der Verhältnisse ist, noch eine rein rationale, mathematische Einrichtung, die mit den Verhältnissen nichts zu tun hätte. 3. Es entspricht einer vom Staate, der dem Recht untergeordnet ist, und von den einzelnen Menschen gleichmäßig anerkannten Notwendigkeit, die dazu führt, daß das Recht wirkungskräftig wird und Gefolgschaft findet. Diese drei Elemente sind miteinander verbunden; sie machen die charakteristischen Merkmale dessen aus, was man das Naturrecht als Phänomen nennen kann.