6. Kapitel

Die Stände als Träger der Staatsfunktionen
(Materielle Ständelehre)

 

Den Funktionen des Staates entsprechen bestimmte Funktionsträger, entsprechen Stände. Wenn in der Staatstheorie nach den Darlegungen Smends die Lehre von der Dreiheit der Staatszwecke in immer neuen Formen als unabweisbar zutage tritt, so gilt dies auch für das Bewußtsein, daß sich die menschliche Gesellschaft in der politischen Form des Staates in drei Stände gliedert. Auch in vielfachen wissenschaftlichen und populären Staatslehren tritt dies in bestimmten Formeln, etwa der vom „Wehrstand, Nährstand und Lehrstand” beinahe als Gemeinbewußtsein des Abendlandes hervor. Es ist dabei wichtig zu erkennen, daß es sich nicht um staatsrechtliche Formen, nicht um in der Wirklichkeit vorhandene soziale und politische Verbände handelte und handelt, sondern lediglich um den Bewußtseinsreflex der dem Staate wesensnotwendigen Funktionen, an denen jeder Mensch in irgendeiner Form Anteil hat. Welche Bedeutung geschichtlich und verfassungsrechtlich die Stände gehabt haben und haben können, ist eine davon völlig zu trennende Frage. Die Unklarheit hierüber ist Ursache eines großen Teils der Begriffsverwirrung, welche auf diesem Gebiete vorherrscht und vor allem in den Jahren nach 1919, aber auch schon das ganze 19. Jahrhundert hindurch konservative und christliche Politiker genarrt hat. Die Ständelehre des platonischen Staates andererseits ist nicht aus der Struktur des Staates als solchen, sondern aus einer bestimmten Anthropologie, aus einer Lehre von den Tugenden abgeleitet.

Faßt man die Entwicklung dieser Vorstellung mit einer gewissen unvermeidlichen Schematisierung begrifflich zusammen, so steht am Anfang eine Erscheinung, die man als Einheitstypus kennzeichnen kann. Die Volkskönige der germanischen und wohl der meisten urtümlichen Staaten überhaupt sind zunächst Staatsoberhaupt und Heerführer in einer Person. Der König ist dann zweitens — im Zusammenhang mit priesterlichen Funktionen — Arzt. Die Könige von Frankreich haben beispielsweise Jahrhunderte hindurch das Voorrecht und die Gabe in Anspruch genommen, durch Handauflegung die Skrofeln zu heilen. Als Ludwig XVIII. nach der Restauration in einer ganz anderen Zeit das Gleiche versuchte, gab es eine peinliche Szene. Daneben ist der König Verwalter nicht nur des Königsgutes, sondern des ganzen vergemeinschafteten Sachbereichs, der Flüsse, Forsten, Märkte,

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Straßen usw., also Treuhänder des gemeinen Bestes. Zum dritten ist er kraft seiner charismatischen Weisheit (wenn auch durchaus nicht uneingeschränkt) Gesetzgeber und oberster Richter. Dieser drei Hauptfunktionen werden durch ein Gemeinsames verbunden: Das Königtum ist auch im Wahlkönigtum eine charismatische Gnadengabe, welche Erleuchtung und Weisheit mit sich bringt. Damit ist der König zugleich zum Prototyp, zum Leitbild der höchsten Werte aufgerichtet.

Diesem charismatischen Einheitstyp steht in dem Dualismus insbesondere der germanischen Staaten gewissermaßen horizontal ein anderer Einheitstypus gegenüber. Der einfache fränkische Bauer beispielsweise ist stimmberechtigter Volksgenosse und gehört dem Heerbann auf dem Maifeld an, der den König wählt und gewisse politische Entschlüsse faßt oder billigt. Er ist zugleich Genosse des Markverbandes seines Dorfes als einer Wirtschaftseinheit und schließlich Rechtsgenosse, der als Umstehender unter den „Umständen” den Richterspruch nicht findet — denn das ist Sache der Weisheit und der Auslegung der getreu überlieferten Weistümer — sondern der ihn bestätigt und mitträgt.

Diese beiden horizontal einander gegenüberstehenden Einheitstypen wandeln sich und verbinden sich zu einem vertikal gegliederten hierarchischen System des Lehnrechts. Zwischen beiden bilden sich nebeneinander zwei Hierarchien, die des Adels und der Geistlichkeit. König und freier Bauer bilden Spitze und Basis dieser Pyramide. In ihr sind geistliche und weltliche Lehnsträger in vergleichbaren Rängen der gleichen Stufenordnung der Hierarchie vereinigt. Lehrstand und Wehrstand werden gleichermaßen als Orden ausgebildet.

Der Ritterstand als Wehrstand wird durch die geistliche Lebensregel des Rittertums streng zusammengehalten. Sein Ordensoberhaupt ist der König, im letzten der Kaiser. In der letzten Burg des europäischen Ostens gilt der gleiche religiös begründete Sittenkodex. Die Kombination beider treffen wir in den geistlichen Ritterorden an. Der freie Bauer scheidet allmählich durch Bildung eines gesonderten Ritterstandes, der die Landesverteidigung übernimmt, aus dem politischen Leben aus. In der Rechtsprechung wird er mindestens zum Teil zurückgedrängt.

Das vertikale System zersetzt sich dann wiederum zum horizontalen Nebeneinander der drei Stände des Adels, der Geistlichkeit und der Städte (als des Restes der nicht als Hintersassen aus dem politischen Leben Ausgeschiedenen). Während zunächst (so im Sachsenspiegel) weltliche und geistliche Lehensträger in der gleichen Stufenordnung vereinigt sind, treten sie später gleichberechtigt nebeneinander. Es entstehen jetzt gesonderte fachliche Berufsgruppen. Neben dem Adel bildet sich ein gesonderter Gelehrtenstand heraus, der als Lehrstand fungiert, zunächst im geistlichen, dann auch im weltlichen Gewande der Humanisten. Ein besonderer Richterstand als fester Typus hat sich vorzugsweise in Frankreich entwickelt. Hier ist seine

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Funktion aus besonders deutlich zu erkennen. Indem die Herren von der Robe, die Parlamente als Gerichtshöfe, die Gesetze des Königs registrieren oder als den Grundgesetzen und Gewohnheiten des Königreiches zuwiderlaufend auch ablehnen, messen sie in der Tat die politischen und gesetzgeberischen Akte des regierenden Königs an dem rechtlichen Gesamtbewußtsein, ohne ihrerseits in Anspruch zu nehmen Recht zu schöpfen, dem König die schöpferische Initiative überlassend. Daß das Stadtbürgertum als Nährstand nur ein Teil des dritten Standes ist, ist bereits erwähnt worden. Er ist der politisch mündig gebliebene Rest der wirtschaftenden Gesamtheit, deren Kernbestand an sich das Bauerntum bildet.

In der weiteren Fortentwicklung differenziert sich der Ständebegriff immer mehr bis zur wahllosen Anwendung auf jede erdenkliche Besonderheit, sei es der Ehestand, der Christenstand oder der Stand der Betrüger, so daß schließlich nur noch die eigentümlich ständisch-statische Betrachtung überhaupt bemerkenswert bleibt, während Adel und Geistlichkeit als fest umrissene Begriffe durchgängig bestehen bleiben.

Diese geschichtliche Differenzierung des Ständebegriffes ist längst vor der Reformation angelegt gewesen, und es ist ganz unsinnig, sie dieser in irgendeiner Form zur Last zu legen. Sie hat höchstens in der nominalistisch-diffusen Verwendung des Begriffs den letzten Schlußstrich gezogen. Das Wesentliche liegt an einem ganz anderen Punkte. Die Ständen werden erst durch den Absolutismus ihrer politischen Verantwortlichkeit und damit ihres Bezuges auf das Ganze entkleidet und entwöhnt. Sie blieben nur noch bloße soziale Lagen ohne aktiven politischen Gehalt. In der Person des absoluten Fürsten dagegen bildete sich ein neuer, aber nun einseitiger Einheitstypus. Der Fürst war nicht nur selbstverständlich Staatsoberhaupt und Heerführer; er war sodann im Sinne der landesväterlichen Kameralistik auch der Hausvater des Staates und damit auch der Wirtschaftsführer des letzten Bauernhofes und zog schließlich die Reste der Volksgerichtsbarkeit an sich. Diesem Einheitstypus, der sich zwar als Ingenieur außerhalb der Maschine des Staates dastehend vorstellt, aber doch alles in allem sein wollte und war, stand eine sozial streng gegliederte, aber ihren politischen Funktion entkleidete Gesamtheit der Untertanen gegenüber. Nicht die Differenzierung, sondern die Entpolitisierung war also das eigentlich Entscheidende. Der strengste und starrste Ausdruck dieser entpolitisierten Ständeordnung ist das preußische Allgemeine Landrecht von 1794. Diesem Einheitstypus des absoluten Fürsten tritt dann unter Auflösung der ständischen Differenzierung, die ja ihres politischen Sinnes bereits beraubt worden war, in der französische Revolution ein anderer Einheitstypus gegenüber: Der bürgerlich-rationale. Der Marquis und der Abbé werden zu Citoyens. Dieser Typus ist im tiefsten Grund nur von dem negativen Moment des Gegensatzes zu seinem Widerbild, dem absoluten Monarchen, bestimmt. Er gerät binnen weniger Jahrzehnte in einen sehr deutlichen Gegensatz nicht nur zu den

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fortwirkenden differenzierenden Kräften der alten berufsständischen Gliederungen und ihrem Ethos, sondern auch zu den ebenso differenzierenden Kräften der modernen Industriewirtschaft, die durch ihre Arbeitsteilung neue Gruppierungen schafft, die jene formale Gleichheit der Bürgerlichkeit mit sehr viel realeren Gegensätzen durchbricht und zerspaltet. So liegt der bürgerliche Liberalismus in Widerstreit sowohl mit den traditionellen Kräften der alten Gesellschaft wie mit den revolutionären der neuen. Dies wird in der Gegenwart sehr deutlich in der Zerreibung der liberalen Parteien in allen europäischen Ländern zwischen Konservativen und Sozialisten; der Liberalismus ist keine soziologische Formkraft, er ist im besten Falle ein Schmieröl, kein Lagermetall.

Gerade die Differenzierung der modernen arbeitsteiligen Wirtschaft ruft im psychologischen Gegensatz neue Tendenzen zur Einheit hervor: An die Stelle des formalen und negativen Einheitstypus des Bürgers tritt ein nunmehr sehr viel fester inhaltlich umrissene Ideal; wir treffen es sowohl im Faschismus wie im Bolschewismus in der Verherrlichung und Heroisierung ihrer Vorkämpfer unter der Einheitsformel „Arbeiter, Student, Soldat”. Hier tauchen wiederum Wehrstand, Nährstand und Lehrstand auf; aber nicht mehr statisch, sondern revolutionär, nicht mehr ständisch als Berufung in eine religiös begriffene Aufgabe, sondern rational und aktivistisch; nicht mehr Weisheit und Erfahrung gelten, sondern der Elan des Pioniertums. Aber es ist höchst charakteristisch, daß in der Einheit die alte Dreiheit wieder erscheint; es zeigt, daß es sich hier um ein positiv inhaltliches, nicht mehr negatives Leitbild handelt. In Rudolf Steiners „Dreigliederung des sozialen Organismus” findet sich ein Lösungsversuch für das gleiche Problem. Gegenüber der traditionalen und fachmännischen Berufsvorstellung, welche als einseitig und entleert empfunden wird, beginnt die Vorstellung zu überwiegen, daß jeder Mensch nebeneinander am politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben aktiv teilnehme. In den kämpfenden Staatssystemen der Gegenwart stehen sich als vorläufiges Endergebnis der Entwicklungen zwei verschieden Leitbilder der politischen Anthropologie gegenüber: der liberale negative Einheitstypus, der alle ständischen Besonderheiten grundsätzlich verwirft und verwischt, und der positiv totalitäre, der diese drei Elemente aktivistisch von neuem zusammenfaßt. Beide stehen gemeinsam in radikalem Gegensatz zu allen traditionalen sozialen Formen und Vorstellungen. Beide Leitbilder werden heute in den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion als den Trägern der großen politischen Ideologien vorzugsweise verkörpert und von beiden in ausgesprochen ideologischer Politik rücksichtslos in ihren Machtbereichen verwirklicht. Zugleich steht diese Idealbildung im Bolschewismus im harten Gegensatz zu dem dort aufs äußerste gesteigerten technischen Spezialistentum; dieses Ideal der Einheit ist jedenfalls kein Oberbau einer bestehenden Gesellschaftsstruktur.

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Handelt es sich hier in erste Linie um Erscheinungen der politischen Psychologie, so muß man feststellen, daß zu keiner Zeit ein Element das andere ganz zu verdrängen vermocht hat. In der Einheit lebte und lebt das Bewußtsein der Differenzierung; in der Differenzierung war stets das Bewußtsein der Einheit aufbewahrt. Geschichtlich dagegen scheint der Weg von der Einheit über die Differenzierung zur Einheit, vom Charisma über die funktionelle Entfaltung in die einheitliche Ratio zu gehen. In dieser Entwicklungskette steht wie in Gipfel und Umschlagpunkt zugleich die barocke Erscheinung der absoluten Monarchie. Beide Entwicklungsreihen weisen die gleiche Gesetzlichkeit auf: Der Einheitstypus in der dualistischen Antithese von König und Volk entfaltet sich zur Ständegliederung und vereinigt sich unter Ausscheidung des Volkes aus dem politischen Leben zum barocken Einheitstypus. Dessen konzentrierte Macht übernimmt ungeteilt der rationale Einheitstypus des Bürgers. An Stelle der geistlichen und blutsmäßigen Begnadung treten die rationalen Fähigkeiten der geistigen Produktivität, der Bildung einerseits und der ökonomischen Produktivität, des Besitzes andererseits. Diese Hierarchie zersetzt sich in die Breite nach technisch fachlichen Gesichtspunkten, bis der Fachmann als Leitbild abgelehnt und durch einen neuen materialen Einheitstypus in der absoluten Demokratie ersetzt wird. Diese rein geschichtliche Entwicklung ist insofern strukturell von Bedeutung, als die Dreigliederung trotz aller Abwandlungen auf allen Stufen der Entwicklung nachzuweisen ist; nur die geschichtlichen Gehalte sind verschieden, die sie ausfüllen. Daraus ergibt sich zugleich, daß die anthropologische Ständetheorie des Platonismus nicht imstande gewesen sein kann, diese geschichtliche Entwicklung entscheidend zu beeinflussen.