3. Kapitel

Zeit und Ende des Staates — Eschatologische Souveränität — Unaufhebbarkeit

A. Gemeinschaft

Die Grenze nun bedeutet keine mechanische Mauer, sondern einen je nach Grundsätzen und Bedürfnissen sehr verschiedenartigen Grad der Absperrung von der Umwelt. Das eine Extrem stellt der Zustand Japans bis zur zwangsweisen Öffnung seiner Grenzen durch die europäische Mächte dar, also die völlige Abschließung, die absolute Autarkie. Die Aufhebung der Grenzen dagegen auf der anderen Seite bedeutet als Grenzwert zugleich die Aufhebung des Staates überhaupt. Die katholische Staatslehre erörtert aus der aristotelisch-scholastischen Tradition den den Begriff der Autarkie, ohne ihn doch für den Gegenwart recht verständlich und verwendbar machen zu können. Die moderne Staatslehre hat ihn solange als ein Monstrum verworfen, bis moderne autarke Staaten entstanden, die jene Theorien Lügen straften und beim besten Willen nicht mehr als Absonderlichkeiten und Ausnahmen zu bezeichnen sind. Aber auch dann übersieht sie diese Erscheinungen noch geflissentlich.

Die Autarkie der antiken Polis bedeutet, daß in ihr der Mensch alles besitzt, was er zum vollkommenen Leben, zum „eu zen” an geistigen Gütern und materiellen Lebensbedingungen braucht. Auf dem Boden der natürlichen Religion fallen politische und Kultusgemeinde bruchlos zusammen. Jede Stadt hat außer den Göttern des Kulturkreises ihre besondere Stadtgottheit, der sie geweiht ist. Das kultische Leben gehört zum sozialen Leben untrennbar, wie man die Luft der Stadt atmen muß, wenn man ihren Boden betritt. Der Staat ist auch die Gemeinschaft der höchsten Güter und, soweit

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er dies ist, ist er auch autark. Es ist deshalb kein Zufall, daß die Autarkie des Staates gerade in Japan, dem Staate des Kaiserkults, ausgebildet worden ist. Erst hieraus wird dieses Beispiel verständlich.

Dieses grundsätzliche Verhältnis von Staat und Kultgemeinde verändert sich mit dem Auftreten von Offenbarungsreligionen. Die Offenbarung wird allen verkündet und angeboten, aber nicht von allen gehört und angenommen. Sie ist immer mit einer Scheidung verknüpft, die auf der anderen Seite zu einer neuen Gemeinschaftsbildung quer durch alle bisherigen Bindungen führt. Das alttestamentarische Judentum hat zwar in diesem Sinne versucht, zu missionieren und Judengenossen zu machen, hat dies aber nicht im wesentlichen Maße vermocht, weil es der Sache nach in der Nationalreligion steckenblieb und von den Konvertiten die Annahme des nationalen Gesetzes forderte. Erst mit dem Christentum ist der Gegensatz zwischen universaler Offenbarungsreligion und natürlicher Nationalreligion unausweichlich geworden. Harnack sagt in den ersten Kapiteln seiner großen Dogmengeschichte wiederholt, daß Christus ein neues Volk habe gründen wollen. Aber er führt diesen Gedanken nicht weiter. Wenn ein liberaler Theologe eine solche soziologische Tatsache hervorhebt, so muß schon etwas daran sein. Ihre geschichtliche Bedeutung indessen hat erst Spengler erkannt. Er weist darauf hin, daß durch das Christentum das bisherige connubium zwischen benachbarten Gemeinwesen aufgehoben worden sei zugunsten desjenigen zwischen Christen untereinander und Heiden untereinander. Er spricht von der Entstehung „magischer Nationen” und beschreibt diese Erscheinung ausführlich. Genauso besteht heute noch in den konfessionell gemischten Gebieten Europas zwischen den verschiedenen christlichen Konfessionen nur ein beschränktes connubium, und zwar so stark, daß konfessionell isolierte einzeln Dörfer in die Gefahr der Inzucht gebracht werden. Hier ist ein staatstheoretisch ganz entscheidender Punkt gekennzeichnet, derjenige nämlich, wo Nation und Kirche, politische und religiöse Gemeinschaft existentiell zusammentreffen — in der Ehe. Wir sind nur allzusehr gewohnt worden, das Bekenntnis zu einem Glauben als etwas rein Spirituelles, als eine theologische Idee oder gar eine Weltanschauung zu betrachten und diesen wesenhaften Sinn zu übersehen, der auch in der natürlichen Lebensgemeinschaft die Gemeinschaft der höchsten Güter erfordert. Es ist in diesem Zusammenhange interessant, daß die Fruchtbarkeit gemischter und dissidentischer Ehen bedeutend geringer ist als diejenige ungemischter konfessionsgleicher.

Nun hat Spengler die Bedeutung jener Erkenntnis dadurch herabgemindert, daß er sie in seine Theorie vom magischen Zeitalter als der ersten Epoche der abendländischen Geschichte einbezogen hat, während es sich in Wahrheit um eine zu allen Zeiten wirksame Tatsache handelt. Sie ist freilich dadurch wieder verdunkelt worden, daß nach wenigen Jahrhunderten ganze

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Völker das Christentum gleich einer Nationalreligion annahmen und innerhalb der Kirche mit sehr deutlichen Auswirkungen natürliche und Offenbarungsreligion zusammenflossen, wie es vielleicht am sinnfälligsten in dem gutkatholischen Heidentum Südfrankreichs und Süditaliens erkennbar ist. Dessenungeachtet ist die Tatsache, daß die Christenheit ein Volk geworden war, in Staatstheorie und Staatspraxis von der größten geschichtlichen Bedeutung geworden, die freilich von der positivistischen Staatslehre nicht gesehen worden ist. Im Verhältnis zu der einen Christenheit sind die Völker als natürliche Geburts- und Fortpflanzungsgemeinschaften nicht aufgehoben, sondern nur in ihrer Stellung und Bedeutung verändert worden. Ihre ursprüngliche und unableitbare Selbständigkeit drückt sich darin aus, daß ihre Könige alle staatlichen und Hoheitsrechte besitzen und ausübe, das Recht Krieg zu führen und Frieden zu schließen so gut wie die oberste weltliche Gerichtsbarkeit. Aber es ist zugleich bezeichnend und folgerichtig, daß die Kirche sich die Gerichtsbarkeit auf dem Konkurrenzgebiete beider Gewalten, auf dem Gebiete der Ehe vorbehielt. Das einzige Recht jedoch, welches unbestritten dem universalen Kaisertum als weltlichem Repräsentanten der christlichen Einheit zustand, war das Recht der Verleihung des Königstitels. Ohne seine Genehmigung wagte kein christlicher Fürst, sich diese Bezeichnung beizulegen. Kaiser Maximilian I. hat mit Erfolg dem Herzog von Burgund diesen Titel verweigert. Damit ist zunächst symbolisiert, daß den Königen alle Hoheitsrechte zustehen sollen, aber nicht das höchste und letzte, daß die höchste Gewalt nur eine in der Christenheit sei. Bezeichnenderweise ist der Königstitel fast ausschließlich solchen Fürsten zugebilligt worden, welche Volksoberhäupter waren. Es ist Napoleon vorbehalten geblieben, als Usurpator des Kaisertitels zur Erhöhung seines eigenen Glanzes deutsche Fürsten zu Zaunkönigen zu erhöhen und damit im Sinne der französischen Politik die Existenz eines deutschen Volkes zugunsten der Theorie von den „deutschen Völkern” zu verneinen. Dementsprechend ist auch, solange diese Gemeinsamkeit in Kraft stand, unter christlichen Völkern die Anwendung schrankenloser Gewalt ausgeschlossen gewesen. Es hat unter ihnen keine Vernichtungskriege gegeben. Solche gab es nur gegen Heiden und gegen Ketzer, die sich aus ihrer sakramentalen Gemeinschaft entfernt hatten und deren Schutz deshalb nicht mehr genossen. Das große Beispiel ist der Deutsche Orden. Er führte zwei Jahrhunderte Vernichtungskriege gegen die heidnischen Litauer mit Unterstützung und Billigung ganz Europas. Als die Litauer das Christentum annahmen, fiel diese moralische und praktische Unterstützung fort, und der Orden erlitt in der ersten Schlacht von Tannenberg (1410) eine entscheidende Niederlage. Die geistliche Einheit des Abendlandes wurde durch die gemeinsamen Lebensregeln des Priestertums, die weltliche durch die Lebens- und Kampfregeln des ebenso übervölkischen Rittertums gewährleistet. Sie hob Kampf und Krieg nicht auf, aber schloß die Anwendung letzter kriegerischer Mittel

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— zeitweilig sogar die Legung eines Hinterhaltes im Kriege — aus und wandelte diesen zum Wettkampf und Gottesgericht. Diese Haltung ist in den ritterlichen Traditionen des Offizierskorps aller alten europäischen Heere fortgepflanzt worden, bis sie in der Gegenwart durch den Satz „Der Zweck heiligt die Mittel” ebenso wie durch den Kreuzzugsgedanken und die Verächtlichmachung des Gegners preisgegeben wurde. Aber diese Preisgabe ist sehr stark und unmittelbar empfunden worden. Die Ächtung des Krieges hat diesen nicht beseitigt, sondern ihn nur seiner agonalen und Rechtsform beraubt.

Diese Gemeinschaft christlicher Völker hat sich im Laufe des 19. Jahrhunderts in den Kriegsregeln der Haager und Genfer Konventionen verweltlicht. Hier ist an die Stelle der Grundsätze der christlichen Ritterlichkeit die Gemeinsamkeit des humanitären Weltbildes getreten. Aber in dem Augenblick, wo man eine umfassende und allgemeine Wirksamkeit dieser Grundsätze hätte erwarten sollen, ist gerade das Gegenteil eingetreten: die Sprengung und Spaltung dieser Gemeinsamkeit durch Staaten, die deren Gesetze nicht oder nur sehr bedingt anerkennen, der faschistischen und bolschewistischen Staatengruppen. Die Freunde des Fortschritts und der Zivilisation sehen sich in einer objektiv grotesken und subjektiv erbitternden Weise um die Früchte ihrer Bestrebungen geprellt. Denn in jenen Staaten wird nunmehr das Recht der Klasse oder der Rasse oder der Einzelnation zum absoluten Wert gesetzt, und dieser oberste Wert kann im Konfliktsfalle anderen Werten nicht untergeordnet werden. Die Verallgemeinerung jener Wertbegriffe hat sie gerade wirkungslos gemacht. Die Verallgemeinerung jener Wertbegriffe hat sie gerade wirkungslos gemacht. Die Gründe dieser Erscheinungen gehören in den besonderen Teil dieser Arbeit; hier genügt es, die Tatsache zu sehen und staatstheoretisch auszuwerten.

Sie erklärt zunächst die sehr verschiedene Bedeutung der Grenze bis in die alltägliche Praxis. Wo der Staat einen solchen höchsten Wert einschließt, wird die Verbindung über die Grenzen hinaus nicht mehr als eine das eigene Leben bereichernde und notwendige Form der Gemeinsamkeit, des Austausches und der Ergänzung angesehen, sondern sorgfältig kontrolliert und mißtrauisch eingeschränkt, damit die Gültigkeit jener zentralen Werte nicht in Frage gestellt werde. Die Anfrage Chiles an die UNO über die Verweigerung der Ausreise sowjetischer Ehefrauen nichtsowjetischer Männer aus Rußland trifft inhaltlich ganz den entscheidenden Punkt. Ob sie formell berechtigt ist, hängt davon ab, ob die UNO eine verbindliche Gemeinschaft gewisser humanitärer Glaubensgrundsätze oder nur ein diplomatischer Kongreß in Permanenz ist.

Als Obersatz folgt aus dem Gesagten: Der Staat ist autark, wenn und soweit er die höchsten Güter einschließt. Er gibt seine Existenz preis, wenn und soweit er die Grenzhoheit preisgibt. Autarkie und Aufhebung der Grenzen sind die Minimal- und Maximalgrenzwerte völkerrechtlicher Vergemeinschaftung.

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Zugleich ergibt sich hieraus eine Doppelung des Souveränitätsbegriffs: Institutionelle Souveränität, d.h. Unableitbarkeit besitzt notwendig jeder Staat, eschatologische Souveränität, d.h. Autarkie nur derjenige, mit dessen Bereich der Gültigkeitsbereich eines höchsten Wertes zusammenfällt, wie es beispielsweise beim japanischen Kaisertum der Fall war, beim Bolschewismus der Fall ist. Wenn heute die Oberhäupter der kommunistischen Parteien Westeuropas verkünden, daß sie im Konfliktsfalle die sowjetischen Armeen als Befreier begrüßen würden, so bedeutet diese Lossagung ovn der nationalen Gemeinschaft nicht den Volksverrat zugunsten Rußlands, sondern das Bekenntnis zur magischen Nation der bolschewistischen Kirche. Der pseudo-religiöse Grund dieser Erscheinung wird von der übrigen Welt nur nicht begriffen. Die Zurückdrängung der nationalen Souveränität bis zur Aufhebung im heutigen bolschewistischen Ostblock ist nur so voll verständlich. Nach der Epoche der nur scheinbar vollsouveränen Nationalstaaten sind an Stelle des einen christlichen Abendlandes zwei, bis 1945 drei Staatensysteme entstanden, in denen jeweils die humanitäre, die materialistische und die naturalistische Ideologie verbindend wirkten und wirken. Die Scheinsouveränität der Nationalstaaten hat solange andauern können, als die Gültigkeit übernationaler, universalen Werte sich im Umbruche zwischen dem Christentum und den modernen Ersatzreligionen befand. Die Tendenz zur Aufhebung aller partikularen, traditionell-natürlichen Besonderheiten ist in beiden heute übriggebliebenen Systemen sehr deutlich. Die leidenschaftliche Kampf des orthodoxen Bolschewismus gegen Trotzkismus, Titoismus und alle nationalen Färbungen seiner Lehre wie gegen das Bauerntum als den Inbegriff aller schöpfungsmäßigen bodenständigen Gemeinsamkeiten ist der lebendige Beleg dafür. Sie haben schon zur fast völligen Aufhebung der Eigenstaatlichkeit der Satellitenstaaten geführt. In der Methode völlig anders, aber in der Tendenz kaum weniger deutlich ausgeprägt sind die Bestrebungen auf der Westseite. Mit ganz entsprechender Unbefangenheit und Entschiedenheit vertritt der Träger einer universalen Idee deren Ansprüche gegenüber jeder Besonderheit. Daß eine universale Gemeinschaft die partikulare Existenz nicht aufhebt, sondern gerade entfaltet, die polare Spannung zwischen Individualität und Universalität erhält, setzt eine Entfaltung des Persönlichkeitsbegriffs voraus, wie sie geschichtlich nur im Bereich des Christentums vorhanden gewesen ist.

Es ist immer wieder versucht worden, nach der Zerstörung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation diese europäische Gemeinschaft wieder zu erneuern — Napoleon hat es ebenso versucht wie Hitler. Beide Versuche sind an dem nationalen Freiheitswillen der Völker unter der Führung Englands gescheitert. Beide Tendenzen sind immanent vorhanden, aber nicht mehr fähig, zueinander zu finden. Revolutionäre und säkulare Politiker sind keine legitimen Erben — zwischen nationalem Partikularismus und universaler Idee fehlt die verbindende Mitte. Der faschistische Versuch, das Recht der

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partikularen Existenz absolut zu setzen, war allem Irrationalismus zum Trotz ein rationalistisches Unternehmen, das zur Vergewaltigung der freien Völker ebenso führte, wie es im Bolschewismus heute der Fall ist. Beide Bewegungen haben ein eigenartiges Schicksal gehabt. Aus dem Versuch des Nationalsozialismus, das Recht allein des deutschen Volkes zu vertreten, aus dem Gedanken, er könne keine allgemeingültige Lösung sein, entwickelte sich ein unteilbarer Kampf um die Herrschaft eines politischen Prinzips in der ganzen Welt. Der Bolschewismus dagegen, die alle völkischen Tendenzen bis zur Verödung blühender Provinzen bekämpfte, ist unversehens zum Träger großrussisch-orthodoxer und allslawischer Ansprüche geworden. Die Doppelexistenz des Menschen, der an natürlichen wie an universalen Werten teilhat, kann nicht willkürlich aufgehoben werden. Sie ist allein in der Konzeption der christlichen Völkergemeinschaft begrenzte Wirklichkeit geworden. Der Anspruch der alleinigen Rechtgläubigkeit, der mehr als von jeder anderen Konfession in der griechischen Orthodoxie erhoben wurde, bedeutet in der Lage Rußlands nicht allein eine anspornende Kraft, sondern zugleich eine gefährliche Isolierung; es rächt sich heute am Russentum, daß es sich frühzeitig au der abendländischen Gemeinschaft gelöst und in dem Bereich seiner Glaubensgemeinschaft von jeher keinen gleichwertigen und gleichberechtigten völkischen Partner gehabt hat.

Mit der Einführung des Begriffes der eschatologischen Souveränität sind auch neue Gesichtspunkte für das Völkerrecht gewonnen. Wenn Völkerrecht nur auf der Grundlage gemeinsamer höchster Werte bestehen kann, so können zwar auch ohne dies Verträge abgeschlossen werden, aber sie sind unvermeidlich speciales lege imperfectae, weil ihnen die metajuristische Garantie fehlt. Der naturrechtliche Satz „pacta sunt servanda” ist nur eine petitio principii, weil hier gerade das postuliert wird, was erst noch gesichert werden muß. In jedem Gastvertrag primitiver Völker ist diese Garantie in der Anrufung der beiderseitigen Götter gegeben, zwar nicht in der Gemeinsamkeit, aber in der Gleichwertigkeit und Gleichartigkeit der Gottesvorstellungen der natürlichen Religion. Der Vertrag wird unter den rächenden Zorn Gottes gestellt, der den Bruch jenes Eides strafen wird. Der Mangel einer Garantie zeigt sich heute besonders deutlich in dem Verhältnis der Westmächte zur Sowjetunion. Es zeigt sich, daß die Konventionen der formalen Logik und der diplomatischen Höflichkeit nur eine scheinbare Sicherung darstellen.

Jene Grenzwerte der Autarkie und der Aufhebung der Grenzen zeigen zugleich die Grenzen der möglichen Gehalte völkerrechtlicher Vereinbarungen an. Sie bewegen sich zwischen dem Minimum der allgemein anerkannten unbestrittenen Regeln des Völkerrechts, beispielsweise dem Rechte der Gesandtschaft, und dem Maximum einzelner Verträge. Die Grenze dieser Verträge liegt dort, wo der Satz eingreift: „ultra posse nemo obligatur”, wo die physische Unmöglichkeit mit dem unsittlichen Gehalt zusammentrifft.

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Wie im Kaufmann von Venedig kann das Unverfügbare nicht verfügbar gemacht werden, die Selbstentäußerung nicht zum Inhalt rechtlichen Verlangens gemacht werden. Man kann zwar unter gegenseitigen Verzicht auf Souveränitätsrechte einen Staatenbund schließen, aber man kann nicht einseitig den Verzicht auf wesenbegründende Staatsrechte vereinbaren, die die Eigenexistenz berühren, deren Verlust diese aufhebt. Die Anerkennung der gemeinsamen obersten Weren schließt die Anerkennung der Existenz des anderen in ihrer Unaufhebbarkeit ein. Jenes Minimum und Maximum sind nicht nur Grenzwerte, sondern zugleich reziproke Gesichtspunkte, die einander bedingen. Jenseits dessen besteht keine Völkerrechtsgemeinschaft, sondern beginnt das Unterwerfungsverhältnis. Die Zeitlosigkeit östlichen Denkens, die die dialektische Geschichtlichkeit des abendländischen Geistes transzendiert, steht dem Gedanken des Völkerrechts wesensfremd gegenüber.

 

B. Gericht: Ende des Staates

Hat der Staat inhaltlich Grenze und Ziel in universalen Werten, so hat er auf einer anderen Ebene betrachtet auch ein zeitliches ende. Gemeinschaft und Endgericht, Bewahrung des Lebens in der Gemeinsamkeit des Heils und Tod als Ziel des natürlichen Lebens stehen in tiefer Bezüglichkeit im dritten Artikel des christlichen Glaubensbekenntnisses, stehen in der gleichen Bezüglichkeit im Bereich der realen Soziologie. Dieses Moment wird freilich vernachlässigt, wenn man den Staat rein idealistisch als Begriff und damit freilich als unsterblich ansieht — losgelöst von seinem konkreten Schicksal. Der Staat als Ordnung mag währen bis ans Ende der Tage: der konkrete Staat stirbt seinen Tod. Die ernsten Worte Gottfried Kellers im Fähnlein der sieben Aufrechten über den Tod der Völker sind eine seltene Besinnung, die auch für die Staaten gilt. Die debellatio eines Staates durch den anderen wie die Karthagos durch Rom ist freilich ein Vorgang von brutaler Tatsächlichkeit, der kaum Anlaß zu theoretischen Erwägungen zu geben scheint. Aber deutlich anders ist es schon innerhalb einer Staatengemeinschaft. Der Teilung Polens hat immer ein Odium angehangen; man ist versucht, an das Wort der Schrift zu erinnern: „Es muß ja wohl Ärgernis kommen, aber wehe dem, durch den Ärgernis kommt.” Die Teilung Deutschlands beginnt sich als ein gleiches Skandalon zu offenbaren.

Krieg und Revolution sind die Formen, in denen der Tod an der Staat herantritt. Aber nicht der Krieg als äußere Gewalt, sondern die Revolution als innerer Vorgang nötigt zu grundsätzlichen Betrachtungen. Nachdem dargelegt wurde, in welchem Umfange revolutionäre Vorgänge den Ursprung von Staaten bilden, rundet ich der Kreis mit der Erörterung der Gründe, die zur Revolution führen. Scheidet man äußere mechanische Ursachen der Staatszerstörung nach der Art von Unfällen und Verwundungen wie den Tod

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im Kriege aus, so stirbt ein Gemeinwesen durch irgendeine Hemmung lebenswichtiger Funktionen, insbesondere des Regierungsstoffwechsels. Das funktionale und Bewußtseinskontinuum des Staates ist einer ständigen personalen und sachlichen Fortbildung unterworfen, die nicht gehemmt werden darf, ohne schwere Krankheitserscheinungen hervorzurufen. Die revolutionäre Beseitigung eines überlebten Staatszustandes aber ist nicht der entscheidende Fall der „Großen Revolution”, noch weniger der moral-theologische Schulfall der Beseitigung eines „Tyrannen”. Einen Tyrannen hat immer nur, der ihn verdient, ein Staatswesen, das aus eigener Kraft seine normalen Verfassungsfunktionen nicht mehr zu vollziehen vermag. Die antike Tyrannis, die den Namen dafür hergegeben hat, liefert auch die klassischen Beispiele dieser Erscheinung: durch solche Revolutionen wird das Kontinuum eines Staates nicht zerbrochen, sondern unter Umständen erst bestätigt und wiederhergestellt. Die echte Revolution ist ein viel tiefer greifender Vorgang. Sie drückt Veränderungen in der tragenden Substanz des Volkes aus, die allmählich zum Bewußtsein und dann zum politischen Ausdruck kommen. Die rassischen Hintergründe der russischen, französischen und zum Teil der englischen Revolution sind zwar manchmal von Rassentheoretikern überschätzt worden, bedürfen aber der Untersuchung. Sie sind gewiß nur eine Seite des Problems: Völker weiblichen Typus machen mit dem sadistischen Haß des von Natur Unterlegenen häusliche Revolutionen, männliche Völker führen Freiheitskriege gegen den äußeren Feind. Deutschland hat neben anderen Gründen deswegen keine große Revolution gehabt, weil es gegen seine eigene homogene Substanz nicht meutern konnte. Die planmäßigen Versuche, Revolutionen durch substantielle Vernichtung ganzer Schichten zu vollenden, wurden schon gewürdigt.

Der zweite Grund für revolutionäre Erscheinungen sind neben den Substanzveränderungen tiefgreifende Bewußtseinsspaltungen. Die Gründe für das Auftreten ideologischer Spaltungen liegen außerhalb der Staatslehre als solcher, sie müssen aber als Tatsache verzeichnet werden. Unverkennbar liegt eine steigende Anfälligkeit des modernen Menschen hierfür vor.

Das Recht der Revolution ist in der staatstheoretischen Literatur des neunzehnten Jahrhunderts mit vielfältigen theologischen und juristischen Gründen umstritten worden, die zu wiederholen sich erübrigt. Der berühmte Briefwechsel Bismarcks mit Gerlach in den „Gedanken und Erinnerungen” enthält wesentliche Teile dieser Auseinandersetzung. Sicher ist, daß niemand sich durch die halbreligiöse Gesetzlichkeit der formalen staatsrechtlichen Legitimität vor dem geschichtlichen Zwang zu revolutionären Handlungen bewahren kann. Das beste Beispiel ist das Schicksal des alten Deutschen Reiches. Es ist zu einem politischen Monstrum durch das Prinzip der Legitimität und der wohlerworbenen Rechte, praktisch durch das Verbot der

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Einziehung von Lehen geworden und hat sich mit dem revolutionären Akt des Reichsdeputationshauptausschusses von 1803 selbst entleibt. Fiat privilegium, pereat imperium — war sechshundert Jahre die Devise der deutschen Politik.

Aber ein echtes Wahrheitsmoment besaß der alte Legitimismus, wenn er die Revolution wie eine Todsünde verabscheute und wie eine Art staatsrechtlichen Sündenfall darstellte. Die Unterbrechung der staatlichen Kontinuität ist ein Vorgang von erstrangiger Bedeutung; noch mehr: nur in Ausnahmefällen hat bisher ein großes Gemeinwesen die Folgen eines solchen Ereignisses überstehen und ausheilen können. Die tiefgreifenden Spaltungen, welche sämtliche großen Staaten des europäischen Kontinents durchziehen, Spanien so gut wie Frankreich und Deutschland sind der Ausdruck der Aufhebung ihrer staatlichen Kontinuität durch Revolutionen. Allein England hat vermöge des einzigartigen Tatsachensinnes seines Volkes diese Erscheinungen überwinden können, aber auch dies nicht ohne eine Lähmung seines sozialen Fortschritts für die Dauer von fast hundertfünfzig Jahren. Der Schreck des im tiefsten Grunde konservativen englischen Volkes über die Rechtszerstörung der Revolution war so groß, daß Generationen lang auch der verstaubteste Rechtstitel eine selbst für England ungewöhnliche und durch nichts gerechtfertigte Heiligkeit erlangte. Trevelyan schildert diese Erscheinung in seiner englischen Geschichte. Nur so hat England trotz der noch andauernden Spaltung zwischen Staatskirche und Dissenters diese Erscheinungen schließlich überwinden können. Der Starrsinn der Stuarts und der kluge Verzicht der Torys von 1688 auf legitimistische Prinzipienreiterei haben England davor bewahrt, sich in ebenso unheilbaren Gegensätzen festzufressen wie die Völker des Kontinents. England bietet das Beispiel eines Mannes, der den Bruch der Wirbelsäule ausgeheilt hat — aber es steht damit auch als Sehenswürdigkeit da. Alle anderen Staaten sind einem unabsehbaren Siechtum verfallen, als sie die gleichen Unfälle erlitten. Das hat einen ganz bestimmten Grund: mit der Kontinuität als einer scheinbar und äußerlich und vielfach in der Auffassung ihres Verteidiger sehr formalen Tatsache verknüpft sich wie eine zweite Dimension, wie die Breite mit der Länge, die Ganzheit eines sozialen Körpers: wird die Kontinuität gestört, so zerbricht auch die Ganzheit — und die nachwachsenden und heilenden Kräfte sozialer Bindung und Loyalität knüpfen wie bei einem schlecht gerichteten Knochenbruch an zwei verschiedenen Enden an statt zusammen weiterzuwachsen. Auf beiden Seiten stehen erfahrungsgemäß positive Kräfte und können nicht mehr zueinander kommen; der unbefangene und an dem Streit unbeteiligte loyale Mensch findet keinen Anschlußpunkt mehr und verfällt der Zerstreuung, wird nicht mehr erfaßt. Solche Dinge wird freilich ein typischer Revolutionär in der Befangenheit seines Pathos niemals sehen. Diese Bewußtseinsspaltung führt indessen nicht nur zu unüberwindlichen subjektiv politischen Gegensätzen, sondern

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auch zu objektiven staatsrechtlichen Erscheinungen. Aus der Diktatur auf der einen und der Revolution auf der anderen als singulären Krisenerscheinungen werden Dauerzustände und Grundsätze. Auf der einen Seite steht in sehr verschiedenen Formen die Revolution in Permanenz. Die Vorstellung der jederzeitigen Ablösbarkeit der Regierung, die die Selbständigkeit der Exekutive und damit eine folgerichtige Regierungstätigkeit völlig in Frage stellt, ist die verhältnismäßig harmloseste Form. Eine quantitative, aber durchaus entsprechende Steigerung ist die Vorstellung vom Staate als einer nach eigener Gesetzlichkeit vorschreitenden Bewegung, oder vielmehr die Ablösung des Staates durch diese. Eine Verflüssigung des Staates tritt ein wie eine Rückbildung der erkalteten Erde in einen vorzeitlichen Sternnebel. In dieser Umformung tritt scharf der Gegensatz zwischen den Trägern dieser Bewegung und der Masse der Geführten hervor. Die Revolution scheint immer gefährdet und die Revolutionäre (oder die Demokraten) scheinen immer in der Minderheit.

Auf der anderen Seite sucht die Diktatur unter legitimistischen oder nationalistischen Vorzeichen um jeden Preis die aufgehobene Einheit mit äußeren Zwangsmittel wieder herzustellen und das zerbrochene Kontinuum traditionalistisch zu sichern. Auch der bekannte Zusammenhang zwischen Cäsarismus und Massenherrschaft deutet sowohl auf eine Desintegrationserscheinung wie auf eine Veränderung des politischen Aggregatzustandes.

Da es sich hier nicht um eine geschichtliche, sondern um eine staatstheoretische Erörterung handelt, ist nur das Grundsätzliche zu entnehmen: Es ist ein entscheidender Unterschied zu machen zwischen substantiellen und ideologischen Revolutionen einerseits und solchen der bloßen politischen Willensrichtung andererseits. Die bloße Änderung der politischen Taktik eines Staates, seines Kurses, ist freilich nicht immer ein so harmloser Vorgang we das Abtreten eines parlamentarischen Ministeriums nach einem Mißtrauensvotum. Mit den bisherigen Zielen erscheinen plötzlich auch die bisherigen Mittel und Personen verwerflich. Der leitende Staatsmann, in dessen Person sich ein bestimmtes außen- oder innenpolitisches System verkörpert, muß mit dem Leben für sein Beginnen einstehen. Dieses politische Gesetz haben immer wieder in der Geschichte Staatsmänner mit dem Leben bezahlt, die nicht schlechter waren als ihre Gegner. Um der Neuintegration des politischen Willensverbandes willen wird der entgegengesetzte Integrationsträger ausgeschieden. Daraus ergibt sich zugleich die Einsicht, daß diese Neuintegration sich auf dem Wege des politischen Gerichtsbarkeit immer nur gegen den Führer, sinngemäß niemals gegen die Geführten richten kann. Nur soweit sie Integrierende, nicht Integrierte sind, hat es Sinn, sie auszuschließen. Andererseits vollzieht sich diese Revolution nicht gegen, sondern vor dem Souverän. In den blutigsten Kämpfen rivalisierender Adelsgruppen und politische Parteien wird immer und grundsätzlich die

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Fiktion aufrechterhalten, daß der König außerhalb stehe, daß es nur darum gehe, nicht ihn, sondern seine schlechten Ratgeber auszuschalten. Der Souverän, sei es Fürst oder Volk, ist notwendig unverletzlich. Aus diesem Gesichtspunkt zeigt sich sehr deutlich ein entscheidender Unterschied der Revolutionstypen: Die substantielle und die ideologische Revolution richten sich gegen den Souverän, suchen ihn und damit den höchsten und Leitwert des Staates durch einen anderen zu ersetzen; die politische Revolution sucht unter Anerkennung der bestehenden Souveränität eine Neuintegration des Willensverbandes herbeizuführen.1

Greift nun eine revolutionäre Bewegung als neuer Willensverband, als Staat im Staate, als Staat im Entstehungszustande die Kontinuität des bestehenden Staates an, so wehrt sich dieser wie jedes Lebewesen sich gegen den Tod wehrt. In der Notwehr gibt es keine Kampfesregeln. Die Revolution hebt in der direkten Aktion die Rechtsordnung auf, der Staat antwortet mit der Diktatur des Ausnahmezustandes. Auch das demokratische England hat während des Krieges unbedenklich seine traditionellen bürgerlichen Freiheiten auf das Einschneidendste eingeschränkt. Wie der Körper im Falle lebensgefährlicher Verletzung oder Aushungerung alle Funktionen reduziert, alle Reserven einsetzt, auch die Muskeln und Organe angreift und aufzehrt, um die zentralen Organe zu retten, so wird zur Erhaltung des Staates in Krieg und Revolution die normale bürgerliche Ordnung im Ausnahmezustand unweigerlich aufgehoben. Eine strenge Hierarchie zwischen wesentlichen und unwesentlichen Menschen, Rechten und Werten tritt hervor. Von der Erhaltung des Willenszentrums hängt schlechterdings alles ab. Das Gesetz wird zerbrochen, um die Quelle des Gesetzes zu retten. Im Staate wie im königlichen Spiel des Schachs ist der König nicht der stärkste, sondern der wichtigste, den es durch die Aufopferung jedes anderen Steines zu schützen gilt. Souverän ist nach Carl Schmitt, wer über den Ausnahmezustand entscheidet — man kann dieses treffende Wort ergänzen: Souverän ist der, der auch im Ausnahmezustand in Funktion bleibt, um dessentwillen er verkündet wird. Mit diesem Worte Schmitts ist der eschatologische Charakter dieses Vorganges angedeutet: Wer über die letzten Dinge verfügt, ist in der Tat souverän.

Krieg und Revolution, dieses ungleiche Zwillingspaar von so gleichen staatsrechtlichen Wirkungen haben in der politischen Theorie ene seltsam gegensätzliche Wirkung erfahren. Wer den Krieg als eine unvermeidliche Erscheinung im Völkerleben ansieht und sich kühl darauf einstellt, pflegt


1 Vgl. hierzu die Schrift des Verfassers „Politische Gerichtsbarkeit”.

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die Revolution als eine willkürliche Störung der entscheidenden politischen Vorgänge, als einen Akt pöbelhafter Richtungslosigkeit zu verachten. Wer mit sittlichem Pathos das Recht auf Revolution für die Unterdrückten gleichviel welcher Art proklamiert, pflegt den Krieg als eine dumme Barbarei ehrgeiziger Fürsten und Generale, als die Machenschaft skrupelloser Kapitalisten zu verachten. Der Wahrheitsgehalt beider Anschauungen ist gleich fragwürdig. Wer das „Ob” schlechthin vor das „Wie” setzen will, muß gehorsam leiden wie Hiob. Aber das ist eine geistliche, keine politische Haltung. Wer das „Wie” schlechthin vor das „Ob” setzt, kommt auf der anderen Seite folgerichtig zur Aufhebung des Staates. Beides transzendiert daher notwendig nach beiden Seiten den Raum des Politischen, konkret den Staat. So erweist sich dieser als ein echter „Zwischenraum” zwischen transzendent-institutioneller Setzung und transzendent-eschatologischer Aufhebung, zwischen Schöpfung und Gericht.

Offensichtlich sind die Blickpunkte gänzlich verschiede, die Mittel dagegen nur in sehr geringem Maße. Ob Revolution und Bürgerkriege wirklich wesentlich weniger blutig und sozial zerstörend sind als Kriege, ist noch sehr zweifelhaft. Gewaltsam sind die einen wie die anderen. Wem es auf dieser Welt auf letzte Dinge mit wirklicher Entschlossenheit ankam, der hat so oder so auf die ultima ratio dieser Welt, die körperliche Gewalt nicht verzichten können und wollen. An irgendeinem Scheidewege muß unabweisbar die Frage ausgetragen werden, in welcher Richtung der Weg der Geschichte weitergegangen werden soll. Man kann diese Entscheidung sehr weit zurückstellen — man kann sie nicht aufheben, als durch die Indifferenz des Verzichts auf geschichtliche Existenz, des Verzichts auf Entscheidung. Kein Gesetz vermag den Menschen dieser Entscheidung zu überheben: Sie ist so unausweichlich wie der Tod. Wer ihr aber ausweicht, der ist schon gerichtet: Und abermals ist gesagt: Wer sein Leben lieb hat, der wird es verlieren. Er wird zur Beute dessen, der sich zu entscheiden instande ist. Aber nur eine letzte Überzeugung, eine Rechtfertigung vor letzten Werten ermöglicht die Entscheidung, welche diese Werte auch immer sein mögen. Wer sich keinem Herren unterwirft, ist herrenlos und wird dadurch gerade zum Objekt, daß er sich dieser Preisgabe zu entziehen trachtet. Der Zustand Frankreichs während des Panama-Skandals war derart, daß es nach einem berühmten Wort nur eines kleinen Fingers bedurft hätte, um das System zu stürzen. Aber niemand erhob diesen Finger, weil niemand die letzte Rechtfertigung fühlte, und damit die letzte Nötigung es zu tun. Wonach aber eben diese letzte Entscheidung zu treffen ist, das bleibt die Frage. In jener gegensätzlichen Bewertung der gleichartigen Erscheinungen des Krieges und der Revolution stehen sich schon wesenhafte Unterschiede gegenüber. Außen- und Innenpolitik, nationale und soziale Gesichtspunkte treten gegensätzlich hervor; sie sind auf eine verhältnismäßig einfache Kernfrage

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zurückzuführen. Was ist entscheidend, das „Ob” oder das „Wie” der staatlichen, der politischen und menschlichen Existenz. Die populären Antworten hierauf führen nicht weiter. Wir müssen hier mit einer schlechterdings grenzenlosen Naivität, mit einem unbefangenen und vollständigen Mangel an Selbstkritik rechnen. Die Selbstverständlichkeit, mit der die Angelsachsen die Auswanderung oder die Revolution gegenüber einem mißliebigen System erwarteten oder verlangten, hat uns die Unterschiede gezeigt, die hier im Bewußtsein der Völker vorhanden sind. Eine tiefere Erkenntnis dieser Probleme aber ist nur aus einer systematischen Klärung der Fragen zu gewinnen, auf die die Untersuchung hingeführt hat, auf die Frage nach den Zwecken des Staates, nach seiner Teleologie. In ihr finden sich auf einer neuen Ebene der Betrachtung die ontologischen Probleme des Staates sinngemäß wieder.