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Erster Teil

Ontologie des Staates

 

1. Kapitel

Geist des Staates — institutionelle Souveränität — Unableitbarkeit

A. Entstehung des Staates

Die erste Frage, an der sich ein tragendes Merkmal des Staatsbegriffes entwickeln läßt, ist die nach seiner Entstehung. Jellinek unterscheidet hier in seiner Allgemeinen Staatslehre (S. 259) zwei Fragen, die nach dem geschichtlichen Anfang des Staates überhaupt und die nach der Bildung neuer Staaten innerhalb der entwickelten Staatenwelt als die der primären und der sekundären Staatsbildung. So verschieden indessen Formen und Umstände der Staatsbildung zur Zeit nomadisierender Stämme in grauer Vorzeit oder im hellen Lichte einer sich mit schriftlicher Überlieferung vollziehenden Geschichte sein mögen: der entscheidende Vorgang muß der gleiche sein — sonst müßten den Ergebnissen der sekundären Staatsbildung abweichende Merkmale anhaften bleiben. Das Ergebnis jedoch sind in beiden Fällen Staaten, denen niemand ansieht, ob sie so oder so entstanden sind. Ja, diese überschaubare Vorgänge mögen uns den Rückschluß auf Geschehnisse erlauben, die der Mythos allein auf ein Datum zusammendrängt, wie die Sage die Gründung Roms auf das Jahr 753 v. Chr.

Nun sind wiederum zwei Formen der sekundären Staatsgründung erkennbar: die kriegerisch-revolutionäre und die friedliche. Im Wege einer außenpolitischen Revolution sprengen die sieben niederländischen Provinzen den den spanischen, die nordamerikanischen Kolonien den britischen Staatsverband und behaupten ihre neue Selbständigkeit im Kampfe. Im Gegensatz dazu steht die friedliche Neubildung von Staaten innerhalb eines Staatsverbandes durch Teilung (Nord- und Südkarolina), Zusammenschluß (Thüringen 1920) oder Erhebung von bisherigen Verwaltungsbezirken zur staatlichen Selbstbestimmung (Alaska, brasilische Provinzen). Auch diese beiden Formen müssen also übereinstimmend die gleichen Merkmale, den gleichen Grundvorgang erkennen lassen. Jellinek gibt aus dem Bundesstaatsrecht der Vereinigten Staaten hierfür einen Hinweis von großer grundsätzlicher Bedeutung. Er betont, daß die Bildung eines neuen Teilstaates der Union niemals primär Akt der Bundesgesetzgebung sei. Diese trete in der Form der sogenannten Enabling-Act vollständig zurück und gebe den Raum frei für eine selbständige Konstitution des neuen Staates durch seine zukünftigen Bürger.

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Erst nach und auf Grund dieser Konstitution des neuen Staates erkennt ihn dann der Bund als sein Glied an. Das gleiche gilt für das Reichsstaatsrecht. Das Reichsgesetz über die Bildung des Landes Thüringen setzt den Unionsvertrag der sieben thüringischen Teilstaaten voraus und anerkennt ihn als Reichsrecht; aber das Reich vermag diesen Vertrag nicht selbst zu schließen. Der Zivilrechter kann die Zustimmung einer sich rechtswidrig weigernden Prozeßpartei durch seinen Spruch ersetzen; für jenen staatsrechtlichen Akt ist das Gleiche grundsätzlich nicht möglich. Es gibt hier keine Vertretung im Willen und keine Ableitung aus einer übergeordneten Rechtsordnung. Die übergeordnete Bundesrechtsordnung mag den neu geschaffenen Zustand als ihren Grundsätzen entsprechend anerkennen, aber sie vermag ihn nicht zu schaffen. Etwas ganz Ähnliches aber geschieht mit der diplomatischen Anerkennung der revolutionären Losreißung und Verselbständigung eines neuen Staates durch die übrige Staatenwelt — einschließlich des früheren Mutterstaates, sobald dieser es aufgegeben hat, die Abgefallenen wieder in seinen Verband hineinzuzwingen. Einem aus jeder vorausgegangenen Rechtsordnung unableitbaren ursprünglichen politischen Schöpfungsakt folgt erst die rechtliche Form und Anerkennung. Mit Recht gebraucht Jellinek — wenn auch nur in der Abwehr einer juristischen Theorie der Staatsgründung — das Bild der Zeugung: „Rechtliche Tatsachen gehen der Zeugung menschlicher Individuen voran und knüpfen sich an sie an. Der Zeugungsakt selbst aber liegt gänzlich außerhalb des Rechts” (S. 267). Unabhängig von jeder organologischen Betrachtung ist festzustellen: Der Staat verdankt seine Entstehung einer ursprünglichen, unableitbaren politischen Setzung, einer Institution. Die Unableitbarkeit dieses Setzungsakts zeigt das erste notwendige Merkmal der Ontologie des Staates, die

institutionelle Souveränität.

Dieses Merkmal besteht unabhängig von der Frage, ob und wieweit jeder Staat wie jedes Lebewesen im Augenblick seiner Entstehung der tatsächlichen Duldung und Anerkennung der Umwelt zu seiner Existenz bedarf. Ein Staat, der dem Willen eines anderen Existenz und Form verdankt, ist in eben dem Maße kein Staat — das ist eine axiomatische Tatsache, über die keine Macht sich hinwegzusetzen vermag — alles ist ersetzbar, nur das eigene und selbständige spontane Leben nicht.

Der Charakter der Setzung drückt sich insbesondere in der Namengebung aus. Der Mensch wie das Volk erhalten ihren Namen von den Eltern oder den Nachbarn, oder aber in gleichsam spielender Selbstbezeichnung nach der Art eines Übernamens. Der Staat allein gibt sich seinen Namen als wesensbestimmende, scharf begrifflich umrissene und als fortwirkendes Symbol hochgehaltene Bezeichnung mit voller Bewußtheit selbst.

In jenem Merkmal liegt auch der Grund, weshalb internationalen Verträgen, die wesentliche Teile eines Staates abtrennen oder grundlegende

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Souveränitätsrechte einseitig entziehen, nur auf dem Wege der Gewalt Gültigkeit, nicht aber echte Anerkennung verschafft werden kann. Man kann nur auf verfügbare Dinge, auf materielle Güter, Kolonien und sonstigen Außenbesitz verzichten; auf wesensbestimmende Merkmale der eigenen Existenz, auf zentrale Funktionen des Lebens dagegen nicht. Jeder lebende Körper muß notwendig, wo er beschnitten wird, Ersatzorgane ausbilden oder schwere Ausfallserscheinungen erleiden. Kein starres System geschriebener Verträge kann wie das Testament eines herrschsüchtigen alten Bauern das künftige Leben über ein gewisses Maß hinaus in seine Fesseln schlagen; auch das verbriefte Recht eines Shylock endet dort, wo es das Zentrum des Lebens, den Herzschlag des Blutes anzutasten unternimmt. Die Hartnäckigkeit, mit der Frankreich die Wiederherstellung seines 1871 beschnittenen Staatsgebietes betrieben hat und die geringe politisch-psychologische Bedeutung der großen kolonialen Erwerbungen, die Deutschland im Interesse der Beruhigung des besiegten Gegners begünstigte, ist ein gutes Beispiel dafür. Dasselbe Frankreich aber versuchte die Beschneidung der deutschen Souveränität im Versailler Vertrag Ewigkeitsbedeutung zu verleihen. Das ist ein Verstoß gegen politische Denkgesetze, der zu schweren Folgen geführt hat. Die außenpolitische Erfolglosigkeit der deutschen republikanischen Regierungen in den wesentlichsten Fragen der Staatshoheit und des Gebietes ist ein Faktor ersten Ranges für die Durchsetzung des Nationalsozialismus gewesen. Der Versuch, die Außenpolitik auf die Leugnung der politischen Existenz seines deutschen Nachbarn zu gründen, ist die Ursache der gefährlichen Unfruchtbarkeit der französischen Außenpolitik. Sie hat an Stelle der konstruktiven Neuordnung der europäischen Verhältnisse in zwei Weltkriegen zunächst die Balkanisierung Südosteuropas und dann mit der Zerstörung der zweiten deutschen Großmacht, Preußens, nur die Vorherrschaft Rußlands in Europa begründet. —

Bleiben wir nun zunächst bei der Sonderform der revolutionären Staatsbildung. Der revolutionäre Entschluß, gegen eine befestigte und formell in unbestrittener Rechtmäßigkeit bestehende Staatsgewalt die Freiheit einer eigenen und unabhängigen politischen Existenz zu erkämpfen, setzt eine Einigung seiner Träger auf Leben und Tod voraus, die über den Charakter des Vertrages aus dann weit hinausgeht, wenn sie sich aus ideologischen Gründen in die Form des Vertrages kleidet. Ihre typische Form ist nicht der Vertrag, es ist die Verschwörung, die Eidgenossenschaft. Diese muß die Kraft haben, den Einsatz der ganzen Existenz zu fordern, und sie kann es nur, wenn sie eine den ganzen Menschen umfassende, eine im modernen Sinne „existentielle” ist. Das Entscheidende ist die letzte Freiheit des Entschlusses, die höhere Nötigung vor die niedrige, alltägliche zu setzen, Gott oder dem Gesetz in der eigenen Brust mehr zu gehorchen als den Menschen, sich zu waffnen gegen eine See von Plagen. Das bloße Bestreiten des entgegengesetzten Rechtsanspruchs hat noch nichts zu besagen; es hat noch Platz, wo die

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Spielregeln des Parlaments und des Prozesses noch gelten. Wo die revolutionäre direkte Aktion in Kraft tritt, ist die Rechtsordnung aufgehoben. Ob sich eine neue an sie wiederum anschließt, ist eine zweite Frage. Nicht allein wegen ihrer allgemeinen Gefährlichkeit, sondern aus jenem präzisen Grunde wird mit vollem Recht jede bloße Teilnahme an einer hochverräterischen Verbindung mit Hochverrat selbst gleichgestellt. Dieser aber ist, solange er noch bestraft werden kann, immer ein mißlungener Versuch. Welch merkwürdige Straftat, die niemals vollendet werden kann, weil sie bei der Vollendung von selbst nicht mehr strafbar ist, und zwar aus einem rein tatsächlichen Grunde! Der Hochverrat als spezifisch politisches Delikt zeigt den Charakter der politischen Einung, der Bündigung sehr deutlich als den Keim eines entstehenden neuen Staates. Dieser steckt in jeder revolutionären Bewegung, die mehr ist als eine Meuterei oder intellektuelle Spielerei. Denn man setzt das gegenwärtige Leben nicht von ungefähr und willkürlich an das zukünftige. Der einzelne mag willkürlich handeln; eine revolutionäre Bewegung als Ganzes kann nicht aus bloßer Willkür entstehen. Sie enthält drei Phasen oder Elemente, je nachdem man auf den zeitlichen Ablauf oder auf die Struktur blickt.

 

1. Substanz

Erstens muß eine substantielle Grundlage vorhanden sein. Was geschichtliche Substanz ist, ist ebensowenig zu definieren, wie organisches Leben durch die chemische Analyse allein zu erfassen ist, mag man auch alle seine Elemente in ihrer bloßen Quantität darstellen. Ihre Wachstumsfähigkeit ist von Kräften abhängig, die qualitativer, nicht quantitativ-mechanischer Art sind. Sicher ist, daß ein gewisses Maß von Homogenität erforderlich ist. Diese bedeutet nicht, daß ein Element in chemischer Reinheit für sich allein vorhanden sein muß. Im Gegenteil. Wie selbst das edle Gold wegen seiner Weichheit nicht ohne Legierung praktisch verwendbar ist, so ist auch die Mischung bestimmter Elemente, Eigenschaften und Kräfte, die anlagemäßig in verschiedenen menschlichen Gruppen vorhanden sind, auch für die Gemeinschaftsbildung wesentlich. Aber ebenso sicher müssen die Elemente zueinander passen, sich gegeneinander binden lassen und nicht sich gegenseitig bekämpfen und zersetzen. Nicht reine Homogenität, sondern eine homogene Legierung von innerer Konstanz ist erforderlich. Geschichtliche Substanz sind also Menschen, aber nicht eine beliebige Anhäufung von zufälligen Einzelnen. Ohne Gemeinschaftsfähigkeit wird aus ihnen niemals ein geschichtliches Gemeinwesen entstehen. Ein jeder Mann kann mit einer beliebigen Frau Kinder erzeugen; eine Ehe kann er mit ihr nur führen, wenn zwischen ihnen eine wesenhafte Bezüglichkeit besteht, die über das rein Physische und Äußerliche hinaus eine beständige Gemeinschaft ermöglicht. Ebenbürtigkeit ist kein Anspruch des blauen Blutes, sondern eine sachliche Voraussetzung für jede Ehe. Sie wird nur dort zum strengen System ausgebildet,

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wo die Erhaltung des Familienstammes in seinem Wesen von entscheidender Bedeutung ist, wie dies für jede Dynastie der Fall ist. Ehe und Staat als Lebensformen sind auf allen Stufen der Betrachtung von genau gleicher Struktur.

Aus jenem substantiellen Grunde aber sind in erste Linie Völker als Fortpflanzungsgemeinschaften Träger geschichtlicher Staatsbildungen. Sind es nicht ganze Völker, so doch Teile von solchen, Stämme, Kantone, Stadtrepubliken, Ausschnitte aus einer größeren völkischen Gemeinsamkeit, die deren Homogenität und spezifische Legierung als Merkmal an sich tragen. Auch wer den Klassencharakter staatlicher Herrschaft behauptet, kann als Moment der Abgrenzung und damit der Staatsbildung kein der völkischen Gemeinsamkeit auch nur annähernd vergleichbar wirksames Element geschichtlich nachweisen. Auch scheinbar übervölkische Staaten sind kein Beweis für das Gegenteil. Auch die traditionelle Einheit der österreichisch-ungarischen Monarchie wurde weitgehend durch die Deutschen und Ungarn als Staatsvölker getragen. Auch für die Vereinigten Staaten ist das volksmäßig-traditionelle Element ihrer Wesensart das Angelsachsentum, welches den geistigen Gehalt, den staatlichen Stil und die Rechtstradition bestimmt, und welches sorgsam darüber wacht, daß der Anteil der Angelsachsen und der angleichbaren Nordländer und Deutschen gegenüber dem bunten Gemisch sonstiger Völker nicht vermindert wird. Wenn Jahrhunderte hindurch in weiten Gebieten nicht die Völker als Ganzes, sondern dynastische Bildungen, kantonale und munizipale Einheiten das geschichtliche Bild beherrschten, so tragen diese doch im Großen gesehen Ersatz- und Teilcharakter. Der einzelne Stamm, der Kanton, ja die Gemeinde vermag die Aufgaben zu übernehmen, wenn der größere Zusammenhang schwach wird oder aufgelöst erscheint.

Der wesentliche Einwand gegen die Auffassung von der staatsbildenden Funktion der Völker ist die Tatsache, daß das moderne Nationalitätenprinzip offensichtlich nur eine zeitlich begrenzte Phase bedeutete und sich durch den mißlungenen Versuch, die Staatsgrenzen mit den Volksgrenzen rein zur Deckung zu bringen, selbst ad absurdum geführt hat. Dies betrifft nur die Form und den Grad der Bewußtheit, nicht die objektive Gegebenheit der Substanz. Aber in Wahrheit sind heute die Staaten in höherem Grade als je zuvor darauf gedacht, durch Austreibung oder rücksichtslose Einschmelzung aller Fremdbestände und Minderheiten das Ziel der Homogenität zu erreichen. Wo aber heute die Idee des Nationalstaates durch übernationale Bildungen, durch die Entstehung größerer Unionen abgelöst wird, ist dies mit der Rückbildung der Hoheit des einzelnen Staates verbunden und gehört damit systematisch in den Problembereich der Begrenzung, der Auflösung und des Unterganges des Staates, seines Endes, nicht in den Bereich seiner Entstehung.

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2. Bewußtsein

Diese Gemeinschaft der Substanz, der Wesensart, muß dann zum Bewußtsein kommen, damit sie in die Geschichte eintreten kann. Dies ist keineswegs die notwendige Folge jeder möglichen politischen Gemeinsamkeit. Wenn Völker tausend Jahre ohne dieses Bewußtsein gelebt haben, bis die Romantik und das Nationalitätenprinzip sie zum bewußten politischen Leben erweckten, so ist nicht einzusehen, warum diese Entwicklung als notwendige angesehen werden müßte.

Dieses Bewußtsein wird durch nichts stärker ausgelöst, welcher Art es auch immer sein mag, als durch die Erfahrung des Gegensatzes, der Andersartigkeit. Sie gibt den Anlaß, die eigene Art des Seins, Lebens, Denkens zu betonen und sich an Hand dessen abzugrenzen. Das unbefangene Selbstbewußtsein sieht sich freilich nicht in der Negation, sondern begreift umgekehrt die ganze Summe der Fremden als die im eigentlichen Sinne nicht-Existenten, als die Barbaren und Heiden, die an den wesentlichen Gütern des Lebens keinen Anteil haben. Dieses Selbstbewußtsein entsteht auch keineswegs überall zugleich und in der gleichen Stärke. Der Freiheitskampf der Schweizer und Niederländer wurde von den Urkantonen und den sieben nördlichen Provinzen zunächst geführt, die sich dann allmählich die übrigen Teile des alpenländischen Alemannentums und des niederländischen Volkes anzugliedern verstanden. Aber obwohl Antwerpen und Brabant diesen Kampf mit nicht geringerer Leidenschaft mitgeführt haben, ist es geschichtlich doch nicht gelungen, die politische Einheit des ganzen niederländischen Volkstums herzustellen. Die Verschiedenheit auch eines unfreiwilligen geschichtlichen Schicksals hat zwischen Holländern und Flamen ohne jede Volksgrenze wirksame Unterschiede des geschichtlich-politischen Bewußtseins aufgerichtet, die der theoretische Forderung des Nationalitätenprinzips widersprechen.

 

3. Wille

Von dem Bewußtsein der Gemeinsamkeit bis zum Wissen staatlich politischer Selbstbehauptung ist nur ein kleiner, aber doch noch sehr grundsätzlicher Schritt. Auch er muß erst noch aus freiem Willen gegangen werden. Ein altes Kulturvolk wie die Chinesen war sich seiner gemeinsamen Wesensart in einem großartigen Gefühl der kulturellen Überlegenheit gegenüber der übrigen Völkerwelt bewußt. Aber es ertrug jahrhundertelang die Fremdherrschaft einer Minderheit kriegerischer Mandschus, weil die staatliche Selbstbehauptung ihm nicht mehr als ein sittlich erstrebenswertes Ziel erschien, weil es nicht mehr die Willenskraft, die Vitalität und die militärische Organisierbarkeit aufbrachte, die dazu gehörte. Dieser vitale Wille aber ist es, der schließlich die revolutionären Erscheinungen auslöst, unter denen Staaten entstehen und ihre Unabhängigkeit behaupten.

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Dieser dreigliedrige Vorgang ist vergleichbar der Mechanik eines Kompressionsmotors. In dem Gefaß des Hubraums ist ein zündungsfähiges, homogenes, sich nicht selbst zersetzendes Gemisch erforderlich; dieses wird durch den Kolben des Gegensatzes komprimiert, und der zündende Funke des Willens entflammt es zur Aktion. In dieser Konstruktion ist das Geheimnis der Bewegung auf ein Schema gebracht und in einfacher Form ausgenutzt. Alles Leben aber ist Bewegung. Diese vergleichsweise primitive Homunculusmechanik des Motors gibt nur sehr grob und annäherungsweise das wieder, was das biologische und wiederum auf einer höheren Stufe das geistig-soziale Leben schematisch betrachtet darstellt. In der Eizelle als abgegrenzter und homogener Substanz bildet sich durch die Befruchtung ein Wachstumszentrum, ein Schwerpunkt, der die Fähigkeit und Tendenz hat, diese Substanz sich zuzuordnen, sich heranzuorganisieren. Was dort die mechanische Kompression ist, ist hier die Organisation der Keimsubstanz, die zu Gliedern entwickelt und umgeformt wird. Schließlich aber sprengt das voll ausgebildete neue Lebewesen unter wehenartigen Schmerzen und Zerstörungserscheinungen die alte Hülle in Freiheitskriegen und Revolutionen. Das neue Leben setzt sich rücksichtslos über das alte hinweg. Es ist die Kraft der Selbstsetzung, die miet der ungebrochenen Unbefangenheit der Jugend nur sich selbst sieht, mag sie auch die Güter der Vergangenheit damit zerstören. Ein Geist ist es, der mit der substantiellen Anlage gegeben ist, nach dessen Gesetz diese Entwicklung bewußt antritt und sich im aktiven Willen vollendet. Die materielle Gemeinsamkeit muß vorgegeben sein; der Staat als Ausdruck bewußten Selbstbehauptungswillens ist Setzung, ist Institution.

Wenn im Bereich des Mechanischen der Gegensatz des Kolbens, im Bereich des Organischen die organisierende Kraft des Wachstumszentrums die Voraussetzungen für die Bewegung des neuen selbständigen Lebens schaffen, so vereinigt das geistig-soziale Geschehen beide. Die gewaltsame feindliche Bedrohung der Existenz von außen wie die friedliche Erfahrung organisierten Zusammenlebens erzeugen beide zusammen die Reflexion des Bewußtseins, die wie eine zweite Existenz spiegelnd neben die bloße tatsächliche tritt. Zwischen ihnen beiden besteht ebenso eine Wechselbezüglichkeit wie zwischen ihnen beiden zusammen als dem Gehalt und dem bloßen formalen Willen. Der Grundschema des mechanischen und organischen wie des geistigen Lebens ist daher das einer doppelten Polarität, einer doppelten Dialektik. Die natürliche Liebe zum Eigenen wie die Furcht vor dem Fremden wirken bei der Entstehung politischer Lebensformen zusammen; das Politische hat diese Ambivalenz mit dem Phänomen des Religiösen gemeinsam.

Der Wille zur Selbstbehauptung eines Ganzen enthält zwei polare Kräfte. Die frühe abendländische Geschichte zeigt uns in den Anfangsabschnitten der Staatsbildung beide in klassischen, aber extremen Beispielen. Der spröde Individualismus des unverfälschten Germanentums, den die Norweger- und

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Isländer-Sagas atmen, offenbart eine Fülle ungebrochener, ja starrer Charaktere, die sich in ihren unaufhörlichen Kämpfen verzehren. Nur schwer sind sie in eine geschlossene Ordnung einzufügen. Auf der anderen Seite überliefert die Gründungssage Rußlands, daß die slawischen Völker unterwerfungsbereit, aber nicht herrschaftsfähig sich aus dem Norden staatengründende Herrscher gerufen hätten. Mythos oder Wirklichkeit — es enthält eine echte Wahrheit. Die ungewöhnliche und dem Westen so gefährlich erscheinende Kraft der preußischen Staatsbildung erklärt sich aus der Mischung beider Elemente. Wichtig ist weit mehr die Erkenntnis, daß beides Kräfte sind, die aktive wie die tragende. Das Bild der Polarität darf nicht vergessen lassen, daß diese nur vorhanden ist, wo ein magnetisches Kraftfeld besteht. Der in Schulaufsätzen zu Tode gewalzte Gegensatz von Individuum und Gemeinschaft ist schon in der Ursprung des Staates hineingebettet und bezeichnet nur zwei Seiten der gleichen Sache — schöpferische Kraft wie Bindungsfähigkeit. Den Gegensatz zu dieser Kraft der Selbstbehauptung und der Selbstbindung bildet die soziale Neurasthenie der Gegenwart. Auf der einen Seite steht der hysterische Individualismus der Halbgebildeten, deren kostbare Persönlichkeit sich gegen jede echte Pflicht, gegen jedes echte Opfer wehrt — ein Intellektueller ist ein Mensch, der nicht an einem verbindlichen Gegenüber gebildet ist. Auf der anderen Seite steht dumpf wie die brüllende Dampfwalze einer Büffelherde der Kollektivismus des modernen Massenmenschen, der alles vor sich niedertrampelt, was außerhalb seines Begriffsvermögens steht. Diese Entartung zeigt sich am klarsten in den beiden sozialen Grundformen, in der Ehe und dem Staat. Die erotische Neurasthenie, die zur echten wesensmäßigen Bezüglichkeit wie zur kontinuierlichen Bindung unfähig ist, zeigt sich in der sprunghaft steigenden Scheidungsziffer der europäischen Völker; es ist ein Individualismus der Schwäche; ihr steht die Massenexistenz des Menschen im modernen Staat gegenüber, der zur Individualisierung ebenso immer unfähiger wird. Was ehedem in beiden Richtungen Kraft war, ist jetzt Schwäche. Aus welchen Gründen dieser Verfall eingetreten ist, mag als materielles Problem zurückgestellt werden. Festzuhalten ist, daß die Grundlage des Staates wie der Ehe eine Frage der Substanz ist. Substanz aber ist gerade für unser modernes physikalisches Denken immer weiter entfernt von ruhender Statik; sie ist die Dynamik einer Spannungseinheit von strenger Gesetzlichkeit, die wir für das soziale Leben erst wieder zu begreifen beginnen.

Jener dreigliedrigen Entfaltung von Substanz, Bewußtsein und Willen entspricht die Abfolge von Volk als Wesensgemeinschaft, Nation als Bewußtseinsgemeinschaft und Staat als Willensgemeinschaft. Daß jede dieser Schichten eine geringere Ausdehnung haben kann als die vorhergehende, ergibt sich aus dem bereits Gesagten. Dieser dreigliedrigen Entfaltung entspricht auch die Entwicklungsgeschichte des Staates selbst, wie sich am Beispiel des deutschen Staates zeigen läßt.

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„Der deutsche Staat”, so faßt Rudolf Sohm (Das altkatholische Kirchenrecht und das Dekret Gratians S. 578, Anm. 45) das Ergebnis der neueren verfassungsgeschichtlichen Forschungen Belows, Fehrs und Rosenstocks zusammen, „beruhte auf der ersten Stufe seiner Entwicklung in dem Gedanken des Volkes. Die deutschen Stämme mit ihren natürlichen Gliederungen machten den deutschen Staat. Das ist — nach Fehr — die Grundauffassung noch des Sachsenspiegels. Seit etwa 1200 tritt der Gedanke des Hauses als für den Staat grundlegend in den Vordergrund. Die deutschen Fürsten sind als Vasallen die persönlichen Diener (Hofleute) des Königs. An ihrer Spitze stehen die Träger der obersten Hofämter, die Kurfürsten. Das Reich wird von den Dienern des Königshauses, das Land von den persönlichen Dienern des Landesherrn regiert (Rosenstock, Königshaus und Stämme in Deutschland zwischen 911 und 1250). Auf seiner dritten Stufe erst ist der deutsche Staat durch den Körperschaftsgedanken bestimmt worden. Der Staat wird zu einem gesellschaftlichen Körper, der das Volkstum als Einheit willensfähig, handlungsfähig macht, so daß die ganze Kraft des Volkstums unwiderstehlich auch gegen eine Welt von Feinden sich erhebt. Der ganzen alten Welt was das unbekannt, aber der moderne Staat beruht darauf.”

Eine nähere Betrachtung dieses geschichtlichen Befundes ergibt, daß die Entwicklungsgeschichte des Staates als Begriff und Wirklichkeit eigentlich nur auf zwei Grundgedanken beruht, sich in zwei Phasen vollzieht, zwischen denen eine Übergangsperiode vermittelt. In der ersten Phase decken sich Volksordnung und Staat bruchlos; der Staat ist noch keine rationalisierte Organisation, sondern ist von oben nach unten wie von unten nach oben ein gewachsenes Gefüge. Das Volk erhebt den König, und der König verteilt aus der Fülle seiner Macht Gnadengaben und Privilegien, die sich traditional weitervererben. Auch die übertragenen Staatsfunktionen, wie etwa das Grafenamt, wandeln sich alsbald, einem unwiderstehlichen Zuge folgend, in eigenständige Rechte. Das Rechtsdenken ist charismatisch-substantiell, nicht funktional und zweckhaft; und so zerfällt nach und nach der Staat in ein Bündel von subjektiven Einzelrechten. Was einstmals aus der heiligen Gemeinsamkeit als Gnadengabe verliehen worden ist, nimmt erst spät die Körperschaftstheorie als unverzichtbares Hoheitsrecht der zu einheitlichen Willen verfaßten Gesamtheit zurück. Hierfür bildet die Hausmachtsbildung eine Übergangsform.

In dem Maße, in dem das Königs- oder Fürstenhaus zur Grundlage des Staates wird, bildet sich ein von der Volksorganisation getrenntes Zentrum. Dieses Zentrum ist nicht körperschaftlich, sondern familienhaft-personal aufzufassen. Es dehnt seinen Einfluß und seine Macht auf dem Wege einer kunstvollen Heirats- und Besitzpolitik aus, deren militär-geographische Bedingtheiten Albert von Hofmann aufgedeckt hat. Mit dem Besitzstreben, das sich von dem Landhunger des Bauern äußerlich nicht unterscheidet,

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verbindet sich dann der rationale Gedanke des allgemeinen Nutzens und wird zum Vehikel der Fortentwicklung zu einer einheitlichen, aus einer Quelle fließenden Staatsgewalt. Je mehr das Letztere das Erstere zurücktreten läßt, desto mehr wird der Staat zum Willensverband, zum modernen, rationalen Staat. Der Übergang vom Volksstaat zum souveränen Staat, von der Wesensgemeinschaft zur Willensgemeinschaft geht also über die Zwischenbildung der Hausmachtbildung. Parallel zu dieser vollzieht sich zugleich der Prozeß der politischen Subjektivierung, der Umbildung des Volkes zur Nation, zur Bewußtseinsgemeinschaft, ohne den die Entstehung des modernen Staates nicht denkbar ist. Aus dem traditionalen, irrationalen Denken der ersten beiden Epochen in Privilegien und Besitztiteln erklärt sich hinlänglich der fortschreitende Zerfall der alten Volkseinheit in wildgewachsene feudale und munizipale Territorien, deren Zersplitterung dann das moderne Prinzip rationaler Vereinheitlichung entgegenwirkt.

Die geschichtsphilosophische Deutung dieses Sachverhaltes hat vielfach behauptet, daß diese Folge identisch sei mit der Entfaltung des Staatsbegriffs, der Staatsidee schlechthin zu seiner Fülle. Der moderne Staat sei Ziel und Krone dieser Entwicklung. Dieser Fortschrittsoptimismus ist durch die Strukturwandlungen des modernen Staates an der Wurzel getroffen worden, so sehr man auch geneigt ist, sich darüber noch schönen Täuschungen hinzugeben. Vor allem aber sind mit diesen spekulativen Vorstellungen diejenigen nicht zufrieden, die es doch vor allem angeht: die Völker. Wie ein versunkenes Paradies lebt in ihrem Bewußtsein die Erinnerung an eine Zeit, in der Volk und Staat eine bruchlose Einheit bildeten. Die einen versuchen daher romantisch hinter die Entwicklung zurückzugehen und die gefährliche Einheitlichkeit der Staatsmach planmäßig zu zerschlagen und aufzugliedern. Die anderen suchen chiliastisch durch die äußerste Steigerung der einheitlichen Staatsmacht den Staat überhaupt zur Aufhebung zu bringen. Das gedankliche Ziel ist die Rückkehr zur substantiellen Homogenität. Ein besonderer Versuch, die Einheit von Volk und Staat wiederherzustellen, indem man den bösen rationalen Staat der Volksorganisation unterordnete, war derjenige des Nationalsozialismus. Aber wie der chiliastische Versuch der Staatsaufhebung im Marxismus, bedeutete auch er nur die außerordentliche, die höchstmöglichste Steigerung des Willensmoments, also gerade des wesentlichsten Merkmals des modernen Staates, den man zu bekämpfen auszog. Der Bruch, die Spannung zwischen ruhender Substanz und aktivem Willen wurde nur noch stärker; der Wille im Gegenteil mobilisierte und liquidierte, verflüssigte und verbrauchte alle Reserven des Unbewußten. Umgekehrt hat die föderalistische Bewegung nur verhältnismäßig geringe Wirkungen hervorgebracht. Wo Föderalismus Programm und nicht gewachsene Wirklichkeit ist, hat er meistens nur gefährliche Hemmnisse für die Entfaltung tatkräftigen Gemeingeistes aufgerichtet und sich selbst in Mißkredit gebracht.

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Romantik wie Chiliasmus sind gleichermaßen Früchte eines wirklichkeitsfremden Idealismus. Beide schütten aus ihrer gemeinsamen Staatsfeindschaft das Kind mit dem Bade aus, indem sie Anfang und Ende idealisieren. Denn das ende des Staates als menschlichen und zeitlichen Lebensform ist nicht ein gesellschaftliches Jenseits, sondern der Tod im Zerfall, in der Destruktion gegliederter Sozialformen. Die Unsterblichkeit der Idee hat diesem Denken die Sterblichkeit des Menschen verdeckt und eben dadurch zu Selbstzerstörung des Menschen mehr beigetragen als irgend etwas Anderes.

Es gibt „den Staat” ebensowenig wie „den Menschen”. Der Staat ist nicht Idee, sondern eine menschliche Lebensform von existentieller Notwendigkeit. Auch im Staatsleben wird die Abgeklärtheit des Alters erkauft durch den Verlust der Spannkraft der Jugend. Der Mensch ist immer auf dem Wege von der Geburt zum Tod, von der Schöpfung zum Gericht — und mit ihm sein Staat.

Auch der frühe Staat ist, wenn auch in einer für uns nicht mehr vollziehbaren irrationalen Weise, Willensverband. Auch der moderne Staat ist notwendig zugleich substantielle Gemeinschaft. Beide sind immer zugleich Bewußtseinsgemeinschaft, wenn auch dieses Bewußtsein in der Zwischenphase sich am stärksten entfaltet und heute in der Geschichtslosigkeit des modernen Menschen eine Rückbildung erfährt. Jedes dieser Momente stellt nur eine Seite des Ganzen dar. Tritt die eine hervor, so tritt die andere folgerichtig zurück. Wenn sie zugleich in zeitlicher Reihenfolge hintereinanderstehen, so ist es eine Lebensfrage, daß diese Abfolge nicht den Verlust der Ergebnisse der früheren Stufen bedeutet. Die geschichtliche Kontinuität vermeidet allein einen solchen gefährlichen Identitätsverlust. Wir Deutschen sind in besonderem Maße in Gefahr, durch die gewaltsame Idealisierung des Einzelnen — und durch unsere unglückliche Geschichte — die Einheit des Ganzen zu verlieren.

Jene Abfolge kann sich auch in gewissem Umfange umgekehrt vollziehen. Der Wille, sich frei von einer bedrückenden Herrschaft eine unabhängige politische Existenz zu schaffen, kann am Anfang einer Staatsgründung stehen, seine Menschen durch die kämpferische Erfahrung zusammenschmieden und schließlich auch sehr heterogene Elemente zur bleibenden Einheit verschmelzen. Die nordamerikanische Staatsbildung hat trotz ihrer angelsächsischen Volksgrundlage viel davon. Es ist nur ein Irrtum, dies als eine ausschließliche Frage der jederzeit präsenten Willens anzusehen.

Die soziologischen Grundstrukturen, die sich hier gegenüberstehen, sind nur mit den Kategorien der Religionsphänomenologie zureichend zu beschreiben. Die schöpfungsmäßig vorgegebene, alle Menschen eines Bereichs kraft Geburt umfassende Gemeinschaft steht dem frei gewählten, willensmäßigen Bund gegenüber. Deshalb beruhen die Staatsbildungen sekundärer Art, die Schweiz, die Niederlande, die Vereinigten Staaten in hervorragendem Maße auf Eidgenossenschaften und Kampfbünden, der Urkantone, der

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Geusen; wo immer das Wort „Vereinigte” auftaucht, liegt ein solches bündischer Tatbestand vor. Es scheint eine Paradoxie, wenn man unter dem Stichwort „Föderalismus” das Recht partikularer Interessen vertritt. Denn hier verteidigt man das Geschichtlich-Unverfügbare, während der Bund immer Ausdruck des freien, sich selbst setzenden Willens ist. Der zur substantiellen Gleichheit und Identität strebende Unitarismus dagegen wirkt durch die immer stärkere Steigerung des Willensmoments schließlich gegen jede freie, partikulare Besonderheit, gegen jede bündische Form. Die gegenwärtig gebräuchlichen politischen Begriffe sind also sehr fragwürdig.

Das Zitat aus dem Sohmschen Werke wird in seiner vollen Tragweite erst in dem kirchenrechtsgeschichtlichen Zusammenhange verständlich, in dem es steht. Sohm weist hier nach, daß sich im 12. Jahrhundert eine grundsätzliche Wandlung des Kirchenrechtsdenkens durch den Übergang vom Sakramentsrecht zum körperschaftlichen Kirchenrecht, vom Altkatholizismus zum Neukatholizismus vollzogen hat. Dies steht in sachlicher und zeitlicher Parallelität zu den Anfängen des modernen souveränen Staates.

Daraus ergibt sich die Bestätigung der Ansicht, daß zwischen einem ontisch-sakramentalen Recht, das sich im Ritus vollzieht, und einem körperschaftlich-teleologischen Recht, das auf der autonomen Setzung zweckhafter Rechtsnormen beruht, keine dritte Form von grundsätzlicher Eigenständigkeit vorhanden ist. In der folgerichtigen Ausbildung des Souveränitätsgedankens entspricht der Neukatholizismus genau der Entwicklung des modernen Staates, während die griechisch-orthodoxe Kirche auf der rechtsgeschichtlichen Stufe des altkatholischen Sakramentsrecht stehengeblieben ist. Der moderne katholische Föderalismus verweigert dem Staate also das, was er in der Kirche für heilsnotwendig erklärt — die Souveränität —, während die anderen großen Konfessionen sich in verschiedener Art umgekehrt verhalten. Es ist hier nicht der Ort, diese Dinge als kirchenrechtliche weiterzuverfolgen. Sie kommen hier nur zur Verdeutlichung der Strukturprobleme des Staates in Betracht.

Der Staat als politischer Willensverband entspringt also dem Willen zur Behauptung, zur Fortdauer nicht des Einzelnen und der vereinigten Einzelnen, sondern der Gemeinsamkeit, der Art. Wenn von jeher als Zeichen der Gesundheit eines Volkes und der inneren Stärke eines Staates die Heilighaltung und die Fruchtbarkeit der Ehe, die Waffentüchtigkeit der Männer angesehen worden ist, so ist damit nicht die physische Fortpflanzungsfähigkeit gemeint, die auch den verkommensten Völkern und Menschen erhalten bleibt, auch nicht die technische Fähigkeit und die rohe Kraft der Waffenhandhabung, sondern die moralische Fähigkeit, hinter das zukünftige Leben das gegenwärtige und seinen Genuß opfernd zurückzustellen. Ehe und Staat zielen beide auf den Fortbestand der individuellen wie der völkischen Artgemeinschaft. Der Eudämonismus allein ist der Tod — wer sein Leben lieb hat, der wird es verlieren.

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Staat und Ehe als Kulturformen entspringen gleichermaßen bewußt wie unbewußt dem Triebe der Arterhaltung. Aber beide sind deshalb nicht als eine Summe zweckhafter Akte dieser Arterhaltung zu definieren. Sie enthalten die ganze Spannung des menschlichen Miteinanderlebens, die Spannung der Geschlechter wie die Spannung der politischen Elemente. Die Zusammenordnung dieser Elemente in ihrer Verschiedenartigkeit und wechselseitigen Entfaltung ist die ständige, nie zu einem feststehenden Ergebnis, sondern immer nur zu einer Lösung und gleichzeitigen Neuspannung kommende Aufgabe. Der Rhythmus der Zeit und der Generationenfolge stellt diese Aufgabe immer wieder aufs neue.

Politik ist der Sexus der Nationen — und der Staat ist die Kulturform dieses Sexus, genau wie die Ehe die Kulturform der einzelmenschlichen Geschlechtserspannung. Zwischen dem Staat als dem sozialen Makrokosmos und der Ehe als dem Mikrokosmos gibt es im sozialen Leben kein Gebilde, dem der Mensch mit der gleichen Notwendigkeit und mit der gleichen Ungeteiltheit der Existenz angehört, auch nicht Stände, Klassen oder ähnliche Bildungen. Auf die Rolle der Kirche im prinzipiellen Sinne wird an anderer Stelle einzugehen sein. Der umfassende Charakter jener beiden Ordnungen ist schlechthin einzigartig. Man kann freilich aus beidem heraustreten. Man kann auch einem Staate austreten, aber nur um entweder einem anderen beizutreten und an dessen übergreifender Einheit teilzuhaben, oder um als Staatenloser auf geschichtlich-politischer Existenz zu verzichten. Der Staatenlose ist der Inbegriff der politischen Neutralität, aber damit zugleich der reien Objektstellung. Ich kann ebenso aus der Ehe treten, kann als Hagestolz leben, oder um einer großen geistigen oder geistlichen Aufgabe willen auf die Ehe verzichten. Aber ich verzichte damit auf der Ebene des natürlichen Lebens auf die Fortpflanzung in Kindern und Enkeln. Die Zufallsfrüchte des Konkubinats sind deswegen kein Ersatz für eheliche Nachkommenschaft, weil man ihnen von dem, was über das nackte Leben zum Menschen gehört, zu wenig und schwer etwas mitgeben kann, weil sie ohne Familie auch keinen Anteil an der Tradition haben.

Jene Kraft der Setzung, der Selbstbehauptung, der Institution ist eine Kraft der Zusammenordnung, ein qualitative Formungs-, nicht ein quantitativer Anhäufungsvorgang. Gewiß ist die Geschichte eine Folge von Schwerpunktsbildungen und Schwerpunktsverlagerungen. Aber diese entstehen nur und werden wirksam durch einen bestimmten Geist, der auch hier beides schafft, das Wollen und das Vollbringen, das Bewußtsein und die Tat. Aus diesem Grunde ist jede soziale Einheit wie jede biologische und die teleologische der Maschine ein Ganzes, in dem der Geist als die zusammenordnende Kraft das Prius ist gegenüber und vor den einzelnen Teilen. Aber er wird inhaltlich bestimmt durch die Substanz, die er ordnet und entwickelt und die ihm die Bedingungen seiner Entfaltung mitgibt. In der Abfolge von Substanz, Bewußtsein und Willen ist zugleich die Antithese zwischen

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ruhender Substanz und aktivem Willen eingeschlossen, die in allen Formen sozialen Lebens die Polarität der Geschlechter enthält, die auf der Brücke des Bewußtseins zusammentrifft und ihren Ausgleich erfährt. Denn das emotional-männliche Element der Zündung, der Befruchtung kann ohne die statisch-weibliche Substanz nicht zur Wirkung kommen. Dieser aber wird immer nur ein Minimum, ein Katalysator hinzugefügt, durch den sie in eine neue Form der Existenz, in einem neuen Aggregatzustand überführt wird.

Am allerwenigsten ist der Staat ein Verein höherer Ordnung wie die Ehe kein Verein zur Erzeugung von Kindern. Wenn man im Deutschen von einem „Verein” in Anführungsstrichen spricht, so meint man damit in verächtlichen Sinne einen Zusammenschluß, in dem die Selbstsucht der Mitglieder den verpflichtenden Gemeingeist sichtbar übersteigt und der deshalb keine wirkende Kraft und kein Ansehen besitzt. Der Verein als eine auf die satzungsmäßig begrenzte Gemeinsamkeit der Einzelinteressen abgestellte Verbandsform ist daher eine Minderform im Verhältnis zu allen existentiellen, d.h. das Leben der Menschen in seiner Breite umfassenden sozialen Formen, sei es die Ehe, die Kirche oder der Staat. Vom Standpunkt der heutigen formalen Bestimmungen des öffentlichen Rechts mag die Kirche eine Vereinigung zu religiösen Zwecken sein; in der Sache und für das Bewußtsein ihrer Glieder ist sie mehr. Die zweckhafte Verkürzung des Staatsbegriffs in einen kündbaren personenrechtlichen Vertrag hat nur das eine Wahrheitsmoment, daß allerdings kraft des Charakters des Staates als Willensverband der Wille des Menschen für die Aufrechterhaltung des jeweiligen Staatsverbandes entscheidend ins Gewicht fällt. Für den Begriff des Staates und die umfassende Wirklichkeit des Politischen in allen Räumen der Erde besagt das nichts. Wenn man auch die Staatsangehörigkeit wechseln kann, lebt dennoch jeder ursprünglich in einem Staatszustand, den er nicht geschaffen hat und in den er ohne seinen Willen hineingeboren worden ist. Der freie Eintritt des Menschen in den Staat ist eine aus ideologischen Gründen geschaffene Fiktion, ja mehr noch ein logischer Taschenspielertrick, der die Grundlagen der Staatswirklichkeit unversehens verschiebt, indem er sie zu beschreiben unternimmt.

Ist nun die revolutionäre Staatsbildung sekundärer Art nur eine Sonderform der Entstehung des Staates, so ist sie mit den übrigen Formen in grundsätzlichen Vergleich zu setzen und daraus das Allgemeingültige aller Entstehungsformen abzuleiten. Das Moment der institutionellen Eigenständigkeit und Unableitbarkeit ist sicher auch für die primäre wie für die friedliche sekundäre Staatsbildung gegeben. Wesentlich ist die Frage, ob das Moment des Gegensatzes notwendig und konstituierend ist. Die oben angeführten, im einzelnen ziemlich verschiedenen Vorgänge dieser Art haben sich innerhalb eines bestehenden Gesamtstaates so vollzogen, daß dessen föderale Form hergestellt oder umgebildet wurde. Der Wille zur Sonderung tritt hier also nur in einer sehr abgeschwächten, aber doch noch deutlichen Weise

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in Erscheinung. In höherem Maße muß man das Moment des Gegensatzes bei der primären Entstehung des Staates als wirksam voraussetzen. Seine Wurzel ist immer gleichbleibend unter allen geschichtlichen Bedingungen das Prinzip des Politischen, die bewußte Selbstbehauptung einer lebensmäßigen Gemeinsamkeit. Ob sein Ursprung in der Großfamilie oder im kleinen Stamm, im Kanton zu suchen ist, kann gleichviel gelten — es ist Familienpolitik so gut wie Stammpolitik denkbar — nur ein Mindestmaß an tatsächlicher Stärke und Fähigkeit zur Selbstbehauptung muß für die Ausbildung einer Kulturform dieser Politik vorausgesetzt werden. Die revolutionäre Staatsbildung drängt lediglich wie ein Zeitraffer die Entwicklungsvorgänge zusammen, während wir die Entstehung des Staates überhaupt uns als einen Prozeß der Verdichtung äußerer Beziehungen und innerer Organisation über lange Zeiträume vorstellen müssen. Die wesentlichen Merkmale findet man im Grunde in der revolutionären Staatsbildung vermöge ihrer gedrängten Wucht sehr viel plastischer ausgebildet als in langschichtigen, schwer aufhellbaren Geschehnissen der Vorzeit. Der Mythos verlegt einen grundsätzlichen Sachverhalt in einen bestimmten Vorgang und konkrete Personen. In der Gründungssage Roms wird etwas Wesentliches wohl ungeschichtlich, aber sachlich zutreffend dargestellt. In der Stadtgründung wird die Verdichtung einer in bäuerlicher Zerstreuung vorgeschichtlich wie vorstaatlich lebenden Landschaft zu festumrissener Gemeinsamkeit und zur bewußten Selbstbehauptung im Mauerkreis zusammengefaßt. Die besondere Form der antiken Polis als Stadtstaat betont noch diese festumrissene Form und Bewußtheit des gemeinsamen Lebens als notwendige Merkmale des Staatsbegriffes überhaupt. Diese Behauptung und Selbstbestätigung ist im Teilstaat eines Bundesstaates eine nur relative und begrenzte, seine Unableitbarkeit ist die gleiche.

 

B. Erhaltung des Staates

Mit dem revolutionären Durchbruch zur Selbstbehauptung und Selbstbestimmung aber ist nicht ein Ende erreicht — das ist der große Irrtum zahlreicher Freiheitskämpfer und Revolutionäre, sondern nur die Voraussetzung für die Bewältigung der eigentlichen Aufgabe gewonnen, für welche diese Kämpfer in den meisten Fällen nicht die moralischen und praktischen Fähigkeiten mitbringen, nämlich das Problem der Selbstbehauptung, der Kontinuität. Alles Leben will seine eigene Fortdauer. Mensch und Staat leben so, als ob sie ewig leben könnten. Auf die Institution folgt daher notwendig die Konstitution, das auf die Dauer berechnete Verfassungsgesetz, gleichviel ob es als Gewohnheit und Übung oder als ausdrückliches Gesetz erscheint. Das Gesetz ist der Inbegriff der Akte, deren regelmäßiger Vollzug zur Aufrechterhaltung eines Ganzen erforderlich ist, und zwar gerade durch die Regelmäßigkeit dieser Wiederholung. So ist das Gesetz mehr als ein

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technisches Instrument der Ausdruck der Bau- und Funktionsgesetze des Ganzen. So entfaltet sich der Staat im Gesetz als dem typischen und notwendigen Ausdruck seiner Wesenheit. Hier kann er nicht mehr von der revolutionären Verneinung des Fremden und Vergangenen leben, sondern nur von seinem eigenen positiven gemeinschaftsbildenden Gehalt.

Entspricht also der Staat dem Triebe zur Enthaltung der Gemeinschaft, so ist die Kontinuität sein zentrales Lebensproblem.

 

1. Kontinuität der Substanz

Dieses Problem stellt sich zunächst als Problem der Kontinuität der Substanz. Dies ist an zwei geschichtlichen Beispielen besonders klar darzustellen. Als die jakobinische und die bolschewistische Regierung die Bezahlung der Staatsschulden ihrer monarchischen Vorgänger ablehnten, entstand die Frage der objektiven Identität. Die Begründung, daß ein Volk nicht die Schulden seines Tyrannen zu bezahlen brauche, ist nun gewiß nicht mehr als eine revolutionäre Phrase. In Wahrheit ist es ein Problem der Substanz. Man kann einem früheren Staatszustand nicht den Charakter als Staat absprechen — wie es Ideologien etwa für die Zeit des Nationalsozialismus versucht haben —, aber man kann versuchen, die Identität der Rechtsnachfolge abzustreiten. Dies kann aber nur geschehen, wenn eine andere Staatssubstanz vorhanden ist, die nicht aus der des früheren Staates abzuleiten ist. Die Massenhinrichtungen in der Schreckenszeit, die Liquidierung der nicht proletarischen Schichten in Rußland sind nicht allein Exzesse, sondern zugleich folgerichtige Versuche, die Staatssubstanz wesentlich zu verändern. Solange bestimmte heterogene Schichten vorhanden sind, die auch unter veränderten politischen Formen und Bedingungen irgendwie wieder Berücksichtigung und Einbeziehung einfach durch ihre Existenz erfordern, solange ist der neue Staat noch nicht geschaffen. Die Parallelität zwischen französischer und russischer Revolution ist sehr charakteristisch. Sie tritt auch darin zutage, daß in beiden die Gräber der Könige geschändet und die Leichen vernichtet wurden, in Rußland nicht ohne sie auszurauben, und auch diesen Vorgang zum Bestandsteil des ökonomischen Prozesses zu machen. Damit wurde bewußt oder unbewußt in der Folgerichtigkeit des Hasses die ruhende traditionelle Substanz des Staates beseitigt. Jeder Versuch der Substanzänderung ist solange ein untauglicher, als die Quellschichten erhalten bleiben, aus denen sich die Vernichteten schließlich weiterbilden könnten. Deshalb ist auch nur so der konsequente Kampf des Bolschewismus gegen das Bauerntum zu verstehen. Da auch die größten Leistungen der modernen Massenmordtechnik nicht zur Änderung der völkischen Substanz ausreichen, sondern letzten Endes einen Schnitt in das eigene Fleisch darstellen, versucht man mit größerer Aussicht auf Erfolg wenigstens den sozialen Aggregatzustand dieser Substanz zu verändern, indem man den seßhaften landschaftlich gebundenen Bauern zum sterilen proletarischen Flugsand

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auflöst und damit soziale Erscheinungen hervorruft, die den Sandstürmen in den versteppten Weizengebieten des mittleren Amerikas sehr stark ähneln.

In diesem Zusammenhang ist eine Bemerkung Max Webers von großem Interesse. Er sagt gelegentlich, daß erst durch die puritanische Revolution das englische Volk begonnen habe, sich sichtbar von den kontinentalen Völkern und insbesondere vom Niederdeutschtum zu unterscheiden. Der physische Gegensatz zwischen Kavalieren und Rundköpfen ist bekannt. Es ist dabei die Frage, ob ein solcher Vorgang, mit biologischen Begriffen gesprochen, sich als Mutation oder als Änderung des Phänotypus darstellt. Die europäische Revolutionen sind überhaupt durchgängig Erscheinungen der Absonderung, der Spaltung und Trennung aus der abendländischen Gemeinsamkeit.

 

2. Kontinuität des Bewußtseins

Das Problem der Kontinuität stellt sich sodann als ein solches des Bewußtseins und insbesondere als Generationenproblem. Die Gemeinsamkeit, die sich aus der Lösung einer geschichtlichen Aufgabe, aus der Erkämpfung der Freiheit oder der Bewältigung eines bestimmten einzelnen Problems ergibt, muß ihre Beständigkeit erst dann bewähren, wenn dieser Erlebnisgehalt, vor allem die Bindung durch einen bestimmten Gegensatz nicht mehr in dem ursprünglichen Maße unmittelbar vorhanden ist. Deswegen lebt der Staat in hervorragendem Maße von kämpferischen Erlebnissen, die Amerikaner von der Abwehr monarchischer Herrschaftsansprüche in der Unabhängigkeitserklärung, die Schweizer vom Tell-Mythos. Mit Militarismus hat das gar nichts zu tun. Die nur ruhende wesensmäßige Gemeinsamkeit der Art und des jahrhundertelangen geschichtlichen Zusammenlebens tritt erst recht eigentlich ins Bewußtsein in der Erinnerung an die großen lebensbedrohenden Krisen, als welche sich vor allem Freiheitskriege darstellen. Die Erinnerung an die napoleonische Fremdherrschaft und ihre Überwindung hat für ein Jahrhundert das deutsche Gemeinbewußtsein wesentlich mitbestimmt.

Die Objektivierung solcher sinngebender Gemeinsamkeiten aber wird erfahrungsgemäß durch den Generationsablauf bereits etwa nach 15 Jahren, also nach der ersten halben Generation, auf die Probe gestellt, weil dann zum erstenmal in beträchtlicher Breite Schichten in die Verantwortung eintreten, für welche dieser Bewußtseinsgehalt nicht mehr unmittelbar Eigenbesitz ist, bei denen also das Problem der Tradition auftritt. Die Existenz des Staates hängt also im höchsten Grade von der gemeinschaftsbildenden geschichtlichen Überlieferung bestimmter Negationen und Positionen ab. Die Zerstörung des Geschichtsbildes einer Nation, der Bruch in ihrer Tradition ist daher ein unmittelbar lebensbedrohender Vorgang von höchster praktisch-politischen Tragweite. Die Varusschlacht hat die Romanisierung

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des festländischen Germanentums verhindert und damit wesentlich die Voraussetzungen für die Entstehung eines gesonderten deutschen Staates nach der gesamteuropäischen Einheit des Karolingischen Reiches bewahrt. Wer diese Tatsache aus dem geschichtlichen Bewußtsein streicht, hebt die politische Existenz des deutschen Volkes viel wirksamer von der Wurzel her auf, als irgendeine Einschränkung außenpolitischer Souveränität das vermag. Geschichtliches Nationalbewußtsein und Nationalismus als geschichtsphilosophisches Prinzip sind grundsätzlich ganz verschiedene Dinge, und es gehört zu den primitiven politischen Betrügereien der Gegenwart, das eine durch den Vorwurf des anderen zu zerstören. Geschichtliche Tradition beruht auf echten gemeinschaftsbildenden Tatsachen, Nationalismus ist eine ideologische Spekulation.

 

3. Kontinuität des Willens

Schließlich stellt sich drittens das Problem der Kontinuität auch als solches des Willens. Am politischen Leben nimmt freilich nicht nur der teil, der es bewußt und willentlich tut. Auch wer unreflektiert in der gesetzlichen Ordnung seines Staates lebt, trägt ihn mit seiner Loyalität mit. Der Nichtwähler, der die vordergründige Kämpfe der Politik sich ruhig abspielen läßt und hervortritt wie Cincinnatus vom Pfluge, wenn das Vaterland in Gefahr ist, ist kein Staatsbürger zweiten Ranges. Die für europäische Verhältnisse erstaunlich geringe Wahlbeteiligung in den Vereinigten Staaten ist ein Zeichen unverbrauchter Substanz, nicht mangelnder Stärke des Gemeingeistes. Nichts ist zerstörender gewesen als die Inanspruchnahme und Mobilisierung und damit der Mißbrauch der Tradition zu tagespolitischen Entscheidungen durch den Nationalsozialismus. Aber dessenungeachtet bedarf der Staat der wachsamen Handlungsbereitschaft und Handlungsfähigkeit. Er gibt sich selbst auf, wenn er nicht jederzeit entscheiden und sein Verhältnis zu seiner Umwelt bestimmen kann — er ist der einzige, der niemals die Entscheidung verweigern darf — hier tritt schon das eschatologische Moment im Staatsbegriff hervor. Wenn auch seine Bürger schlafen, muß doch immer die Führung wie eine Wache auf dem Posten sein: das Auge des Gesetzes wacht und nicht nur der spießbewehrte Kleinstadtpolizist eines Nachtwächterstaates, sondern die politische Führung selbst. Ein Bismarck, der tagsüber das schwierige kunstvolle Spiel mit den fünf Kugeln der Großmächte treibt, liegt nachts schlaflos unter dem Albdruck der Koalitionen.

Der dreifache Struktur seiner Entstehungselemente oder Entstehungsphasen — Substanz, Bewußtsein und Wille — entspricht für den konstituierten und zu freier Existenz durchgebrochenen Staat das dreifache Problem der Kontinuität dieser Elemente als das Grundproblem seiner Existenz. Jene Elemente aber werden wir ganz parallel an dem zweiten Merkmal des Staatsbegriffes, dem Gebiet, noch einmal entwickeln können.