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Die nachfolgende Schrift ist einem dreifachen Antriebe entsprungen. Die Rechtswissenschaft, der auch der Verfasser seine Schulung und Ausbildung aufrichtig zu danken hat, hat doch die Fragen der Generation zwischen den Kriegen weithin ohne Antwort gelassen. Die akademische Rechtsphilosophie entbehrte vollends der Überzeugungskraft. Diese Dinge haben tragische Folgen gehabt. „Ihr laßt den Armen schuldig werden, dann überlaßt ihr ihn den Pein ...” Die Bemühung um neue Konzeptionen ist deshalb durch die Lage zwingend geboten. Aus dieser Not entstand die Arbeit eines Praktikers, der in langjähriger Beobachtung politischer Vorgänge eine eigene Stellung zum Staatsproblem entwickelte.
Die moderne Staatslehre hat aus bestimmten geistesgeschichtlichen Gründen ihrer eigenen Systematik grundsätzlich nur sekundäre Bedeutung beigemessen und zugleich formal-idealistisch den Staat als zeitlosen Begriff, als Idee behandelt, die keine Ende, keinen Tod kennt. Diese Abwertung der Systematik bedeutet jedoch immer auch einen Verzicht auf bestimmte Erkenntnismöglichkeiten. Im Gegensatz dazu ist hier versucht worden, das Wesen des Staates in lückenlos ineinandergreifender Entwicklung und damit eben „strukturell” zu erfassen, Sache und System zur Deckung zu bringen. Nur so läßt es sich rechtfertigen, einen solchen Gegenstand in dieser Knappheit unter Verzicht auf einen wissenschaftlichen Apparat zu behandeln. Nirgends ist eine solche Aufgabe schöner beschrieben worden als in den Worten Rudolf Sohms über das Decretum Gratiani:
In seinem System des kanonischen Rechts entwickelt Gratian den Begriff des kanonischen Rechts ... Das Wesen des behandelten Gegenstandes ist zum Gesetz seiner künstlerischen Gestaltung geworden. Die Idee, die der Stoff selber in sich trägt, ist befreit und in die Herrschaft über die Gesamtdarstellung eingesetzt, so daß in allen Einzelheiten, in jedem Tropfen des Ozeans der Rechtssätze das Licht des Geistes sich widerspiegelt, der das Ganze geschaffen hat. (Das altkatholische Kirchenrecht und das Decret Gratians — Festschrift der Leipziger Juristenfakultät für Adolf Wach, 1917, § 5, S. 57.)
Wir wissen freilich heute, daß mit jeder Methodik — positiv oder negativ — unausweichlich Vorentscheidungen getroffen werden; es gibt keine
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Wissenschaft ohne den Gelehrten. Die Preisgabe ideal-begrifflicher Zeitlosigkeit läßt den Staat aus einer Idee, aber auch aus einer normativen Ordnung zu einer Lebensform von existentieller Notwendigkeit werden. Gerade dadurch gewinnt das Problem theologische Transparenz. So bedeutet die Schrift zugleich eine Frage an die Theologie. Zu dieser Frage besteht um so mehr Anlaß, als die Erörterung des Problems der Ordnungen auf der evangelischen Seite fast zum Erliegen gekommen ist, seitdem Karl Barth und Emil Brunner sie auf die Fragen von Rechtfertigung und Gerechtigkeit verlagert haben. Die Theologie der Offenbarung wird Veranlassung haben, die notwendigen Grenzen gegenüber der natürlichen Theologie zu überprüfen, je mehr sie die Aussagen der Dogmatik in den Lebensformen des Menschen wiederfindet. Dann aber ist es nötig, das Staatsproblem im Zusammenhang der Ordnungen überhaupt, innerhalb eines Gesamtgefüges unablösbarer Lebensformen, neben Kirche, Recht, Ehe und Ökonomie zu sehen. Ihre Darstellung in der gleichen methodischen Form strukturellen Denkens müßte also folgen. Erst nach diesem „Allgemeinen Teil” kann man die geschichtlichen Lösungen dieser Ordnungsprobleme in ihrer Entwicklung darstellen. Ein solcher „Besonderer Teil” müßte die Soziallehren der vier großen christlichen Konfessionen und der politischen Weltanschauungsgemeinschaften umfassen. Beides läßt sich freilich in der Darstellung nicht ganz in dem Maße trennen, wie dies ursprünglich versucht wurde. Deshalb ist die von der rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Göttingen 1950 als Dissertation angenommene Arbeit in einigen Teilen noch erweitert worden.
Schließlich hat eine Arbeit über einen politischen Gegenstand auch einen politischen Aspekt. Eine Generation, die in dreißig Jahren dreimal das politische System gewechselt hat, wird unausweichlich auf die Frage nach den „unwandelbaren Grundlagen des Staates” — um einen Buchtitel zu nennen — geführt. Die politische und moralische Verurteilung des Nationalsozialismus hat in den letzten Jahren eine tiefgreifende Besinnung auf eigene Fehler und Versäumnisse in verhängnisvoller Weiser verhindert. Dem Werke Preuß’ fehlte jener Funke schöpferischer Eingebung, der auch den vergänglichen Gestaltungen des Menschen den Rang der Geschichtlichkeit und damit echte Überzeugungskraft verleiht. Nicht die Reaktion der Alten, sondern die Enttäuschung der Jungen hat 1933 die Republik widerstandslos zusammenbrechen lassen. Unter dem Druck von Krieg, Gestapo und Galgen lebte mehr von dieser Selbsterkenntnis als später in Freiheit unter dem Einflusse eines falschen republikanischen Konservatismus.
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Trotzdem ist hier um der Grundsätzlichkeit der Arbeit willen darauf verzichtet worden, der Schrift eine verfassungspolitische Kritik von Weimar und Bonn anzuschließen. Sie wirbt vielmehr um Verständnis dafür, daß Verfassungsprobleme nur nach der einen Seite geschichtlich-freier Gestaltung unterliegen, daß es aber auf der anderen Seite echte Grundformen und Grundprobleme gibt, deren Verkennung sich straft.
Eine Staatslehre zu schreiben, gleicht heute in manchem der Abfassung einer Leichenrede. Auf der einen Seite wird in zunehmendem Maße der Staat als ein öffentliches Gemeinwesen ausgehöhlt durch die umfassenden Machtansprüche geschlossener Massenorganisationen, die seine Struktur aufheben und die politischen Probleme in ihren eigenen Bereich verlagern. Auf der anderen Seite wetteifern die gegensätzlichsten Richtungen darin, den Staat zum Feinde, zum negativen Mythos zu machen. Aber weder der Versuch der Erlösung vom Politischen durch weltliche Heilslehren noch die brutale Erhebung desselben zum höchsten Wert — national oder sozial — löst das Staatsproblem, läßt es vielmehr erst recht hervortreten. In diesem Zusammenhang und insbesondere zu Kapitel 5 darf auf eine ergänzende Schrift des Verfassers „Politische Gerichtsbarkeit” (Verlag Kirche und Mann, Gütersloh 1950) hingewiesen werden.
Fulda, im Herbst 1951
Hans Dombois