Es handelt sich für die Urchristenheit um die Organisation des Körpers der ganzen Christenheit als des Volkes Gottes, des Leibes Christi, um die Organisation des Körpers, welcher die Eigentümlichkeit hat, daß er an den verschiedensten Orten in unzähligen Einzelversammlungen gleichzeitig erscheint. Es handelt sich um die Organisation eines geistlichen, durch Gottes Geist geschaffenen und regierten Körpers. So versteht sich von selber, daß auch die Organisation geistlicher, von Gott stammender Art sein muß. Gott gliedert den Leib der Christenheit durch Verteilung der Gnadengaben (Charismen). Die Gaben berufen zum Dienst an der Christenheit (Diakonie im weitesten Sinn), zu einem „Amt”, d.h. zu einem religiös-sittlichen Tun. Die verschiedenen Gaben verleihen einen verschiedenen Beruf. Das Wirksamwerden der Gaben und damit das Wirksamwerden der „Ämter” vermittelt die Liebe. Sie verpflichtet den Begabten zum Gebrauch seiner Gabe und damit zur Unterordnung. Die Organisation der Ekklesia ist die charismatische Organisation. Das ist die Anschauung der apostolischen und geradeso der nachapostolischen Zeit.53) Sie wirkt nach in der
53) Die Hauptstellen sind bekanntlich Röm. 12, 4ff. 1 Kor. 12-14. 1 Petri 4, 10. Später die Apostellehre, Hermas, Irenäus (die Bischöfe haben das charisma veritatis) usf. Vgl. Kirchenrecht Bd. 1 S. 26ff. Harnack RE. S. 521. 523. — Sägmüller, Lehrb. des kath. Kirchenrechts 1904 ➝
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ganzen folgenden Entwickelung und ist die Grundlage der noch heute geltenden katholischen Kirchenverfassung.
Auf dem von Gott gegebenen Charisma beruht die Gewalt der Lehrbegabten, der Apostel und der apostolischen Männer (der „Evangelisten”)54), der Propheten und der Lehrer, aber ebenso auch die Stellung der Bischöfe und Diakonen, welche, an erster Stelle durch ihr Vorbild wirkend, sodann auch durch ihr Wort, für die Regel die geistlichen Führer, Hirten (ποιμένες, Pastoren) der Einzel-Ekklesia sind.
Das Charisma muß, wenn es wirken soll, die Anerkennung seitens der Christenheit (Ekklesia) besitzen. Daher die Erheblichkeit der „Wahl” durch die Ekklesia. Das Charisma schließt die Wahl nicht aus, und ebenso umbekehrt: die Wahl bedeutet nicht Berufung ohne Charisma. Im Gegenteil: die Wahl ist Bezeugung, Anerkennung des Charisma. Die Wahl durch die Ekklesia stellt klar die Wahl durch Gott. Der „Geist” spricht in der Versammlung der Christenheit.55) Er spricht durch die Stimme eines Geisterfüllten (Prophetie). Er bezeichnet den durch Gott Berufenen, d.h. den von Gott mit dem Charisma Ausgestatteten. Die Zustimmung
➝ S. 6 meint: „Diese angebliche charismatische
Organisation der Kirche ist eine ebenso der menschlichen Vernunft
wie der Geschichte der Kirche widersprechende contradictio in
adjecto.” Sägmüller ist also mit dem Apostel Paulus
wenig einverstanden.
54) Vgl. Erich Haupt, Zum
Verständnis des Apostolats im neuen Testament, 1896.
55) Nicht in der „Gemeindeversammlung” (die es nicht
gibt), sondern in jeder Christenversammlung (Ekklesia) kann die
„Wahl” zu einem Dienst an der Christenheit vor sich gehen. Nach
Ap. Gesch. 13, 1-3 erfolgte die Erwählung des Paulus und Barnabas
zum Missionswerk in einer Versammlung von nur fünf Männern, die
namentlich genannt werden (λειτουργούντων δὲ αὐτῶν τῷ
κυρίῳ καὶ νηστευόντων εἶπεν τὸ πνεῦμα τὸ ἅγιον). Ohne jeden Grund
„suppliert” Harnack RE. S. 514 „die antiochenische
Gemeinde”. — Archippus gehört der „Hauskirche” des Philemon an
(Philem. 2) und ist ἐν κυρίῳ zu einer διακονία für die
Christenheit bestellt, Harnack RE. S. 521. 522 (wo aber
wieder an Stelle der Christenheit „die ganze Gemeinde” gesetzt
wird.
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der Versammelten bestätigt, daß der Geist Gottes gesprochen hat (eine Stelle wie Ap. Gesch. 20, 28 beweist, daß solches Verfahren ohne weiteres als überall geltend vorausgesetzt ward). Eine Handauflegung schließt sich an, welche das Charisma des Erwählten bekräftigt. Das Entscheidende in dem Vorgang ist die Stimme Gottes. Die Wahl geht vor sich durch Inspiration. Sie ist eine Handlung der Verwaltung des göttlichen Wortes. Sie ist, entsprechend dem Wesen der Ekklesia, religiösen Inhalts und von religiösem Wert: wo das Wort Gottes ist, da ist die Ekklesia, und umgekehrt: wo die Ekklesia ist, da ist das Wort Gottes. Sie hat, wiederum entsprechend dem Wesen der Ekklesia, keinen rechtlichen Inhalt und keinen rechtlichen Wert. Sie kann ihn gar nicht haben. Sie bindet rechtlich niemanden. Die „Wahl” gibt nur die Form für das Wirksamwerden der von Gott stammenden charismatischen Organisation.56)
56) Das alles habe ich eingehend ausgeführt und mit Quellenzeugnissen belegt. Kirchenrecht Bd. 1, S. 31. 56-66. Auch von Harnack wird das jetzt in der Hauptsache anerkannt, RE. S. 514: „Der charismatische Charakter (der Apostel, Propheten, Lehrer) schließt nicht aus, daß ihr Mandat von der Gemeinde anerkannt bzw. erprobt sein muß”, dann wird als „klassische Stelle” Ap. Gesch. 13, 1ff. zitiert. Ganz anders war die früher herrschende Lehre. Wahl und Charisma galten als Gegensätze. So früher auch Harnack in den Prolegomena zu der Apostellehre (vgl. oben Anm. 28). Knopf, Nachapostol. Zeitalter S. 153. 154 gibt die herrschende Lehre dahin wieder: Bischöfe und Diakonen „erhalten ihre Stellung nicht auf Grund charismatischer Begabung, sondern sie werden von der Gemeinde gewählt”; „wo aber gewählt und bestätigt wird, da herrscht nicht Pneuma und Charisma, sondern das Recht und die Institution”. Auch jetzt noch (RE. S. 527) meint Harnack, daß nach der Apostellehre Bischöfe und Diakonen „im Unterschied von Aposteln, Propheten und Lehrern, von der Gemeinde bestellt Beamte sind”. Wenn aber die Apostellehre verlangt, daß „des Herrn würdige” Bischöfe und Diakonen erwählt werden, so sagt sie ganz deutlich, daß auch diese „Wahl” nur eine Form für die Bestellung durch den „Herrn”, d.h. für das Wirksamwerden der charismatische Berufung ist. Ohne diese Vorstellung würde die Handauflegung mit ihrer „sakramentalen” Wirkung für das Charisma (Harnack RE. S. 514) völlig unverständlich sein. Die Meinung, daß „die ➝
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Die charismatische Organisation der Kirche (Christenheit) schließt die Organisation aller Einzelekklesien in sich, ja sie erscheint, wie wir gesehen haben, nur in den Einzelekklesien. Gerade in der „lokalen” Organisation offenbart sich die charismatische Organisation der Gesamtekklesia. Darum gelten die soeben entwickelten Sätze nicht bloß für die Lehrbegabten (Apostel, Propheten, Lehrer), sondern genau ebenso für die in den Einzelekklesien auftretenden Bischöfe und Diakonen. Sie werden „gewählt”, aber auch ihre Wahl geschieht auf Grund einer Prophetenstimme, also durch den „heiligen Geist” (vgl. z.B. Ap. Gesch. 20, 28 und die ganz gleichbedeutende Stelle 14, 23).57) Auch ihre Wahl ist Offenbarung göttlichen Willens und geschieht auf Grund einer Inspiration. Sie bezeugt (vgl. 1 Tim. 6, 12; 2 Tim. 2, 2) die Berufung durch das von Gott gegebene Charisma. Cyprian spricht häufig von der Bischofswahl als einem Dei judicium58),
➝ Einzelgemeinde durch ihre Presbyter” die Handauflegung
hätte vollziehen können, Harnack RE. S. 515, ist
natürlich abzulehnen: die Handauflegung kann nie die Handlung
einer Körperschaft, sondern nur die Handlung eines Geisterfüllten
sein, und obgleich 1 Tim. 4, 14 von Handauflegung „des
Presbyteriums” spricht, zeigt doch der Ausdruck: Auflegung „der
Hände” des Presbyteriums, daß von keinem Handeln einer
Körperschaft, eines Kollegiums, sondern lediglich von einer
geistlichen Handlung der einzelnen Presbyter die Rede
ist.
57) Die Wahl kann also ebensowohl der Versammlung
(Ekklesia) wie der „weissagenden” autoritären Persönlichkeit
zugeschrieben werden. Wenn der erste Clemensbrief 44, 3 von
ἐλλόγιμοι ἄνδρες spricht, die unter „Zustimmung der ganzen
Ekklesia” Bischöfe und Diakonen bestellen, so ist damit (gegen
Harnack RE. S. 531) die „direkte Gemeindewahl” nicht
ausgeschlossen, sondern beschrieben. Eine andere Art der „Wahl”
war urchristlich überhaupt nicht denkbar. Solange die Auffassung
der Wahl als Kundgebung des „Geistes” wirklich lebendig war,
konnte der Versammlung immer nur die „Zustimmung” zu der Stimme
des Geistes zufallen.
58) Vgl. die Stellen Kirchenr. Bd. 1 S. 59 Anm. 7. Was
von der Bischofswahl gilt, hat genau ebenso Geltung von der
Einsetzung eines Diakonen: Gott hat ihn erwählt, vgl. das alte
Gebet (wahrscheinlich von Hippolyt) zur Weihe eines Diakonen bei
v.d. Goltz, Unbekannte ➝
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und noch heute ist die Wahl „quasi per inspirationem” eine nach kanonischem Recht gültige Form der Bischofs- und der Papstwahl. Für die anderen Wahlformen äußert der gleiche Grundgedanke sich noch lange darin, daß nicht die pars major als solche, sondern die pars sanior als entscheidend angesehen ward.
Es ist wenig treffend, wenn, wie das heute zu geschehen pflegt59), der Glaube an den Geistesbesitz und an unmittelbare Gottesoffenbarung als „enthusiastisch” bezeichnet und der „Enthusiasmus” als das Kennzeichen des Urchristentums gesetzt wird. Geradesogut könnte man den Katholizismus von heute als enthusiastisch charakterisieren. Von abnormer Erregung, von überspannter Begeisterung ist in dem allen keine Spur. Was im Urchristentum als eigentümlich hervortritt, ist lediglich die Ordnung einer sichtbaren Menschengemeinschaft (der äußerlich sichtbaren Christenheit) ausschließlich nach Maßgabe einer religiöse Idee. Diesen Charakterzug hat das Urchristentum mit dem Katholizismus gemeinsam, und diese Eigentümlichkeit des Urchristentums ist der Quellpunkt der zum Katholizismus führenden Entwickelung.
Die „charismatische Organisation” bedeutet den Ausschluß jeder rechtlichen Ordnung. Gerade darum ist sie außerstande, irgendwelche Widerstände zu überwinden. Sie ist ohne jede äußere organisatorische Kraft und muß darum zu den größten praktischen Schwierigkeiten führen. Sie liefert das Leben der Ekklesia „pneumatischem Anarchismus” aus.60) Das ist das Auffallende, anscheinend Unbegreifliche.
➝ Fragmente altchristl. Gemeindeordnungen. Sitzungsber.
der Kgl. preuß. Akad. der Wiss. 1906 S. 147.
59) Unter der Führung von Harnack (vgl. z.B.
Dogmengesch. Bd. 1 S. 56. 60 Anm. 1). In dem neuesten Aufsatz
Harnacks (in der RE.) ist der „Enthusiasmus” jedoch
bereits in den Hintergrund getreten.
60) Auch Harnack (RE. S. 514) spricht jetzt
von einem „sanften pneumatischen Anarchismus”, mit dem allerdings
nach seiner Meinung „die ➝
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Und doch ist das Forderung, Überzeugung des Urchristentums! Und was das Wunderbarste ist, aus dieser anarchistischen „charismatischen Organisation” ist der mächtigste Rechtskörper hervorgewachsen, den die Geschichte gesehen hat, der Verfassungskörper der katholischen Kirche! Wie war das alles möglich?
Die charismatische Organisation ist die Organisation der Kirche Christi, der ἐκκλησία τοῦ θεοῦ, d.h. der Kirche im religiösen Sinn. Für sie gilt kraft innerer Notwendigkeit unverbrüchlich, was der Apostel Paulus über die Gliederung der Ekklesia als des Leibes Christi sagt: heute ebenso wie damals, vor bald zweitausend Jahren. Das religiöse Leben der Christenheit (das Leben der Kirche im religiösen Sinn) gehorcht nur dem Charisma, niemals irgendwelcher rechtlichen Gewalt. Die Geistbegabten sind die alleinigen Führer, Regierer, Machthaber der geistlichen Christenheit, wie auch äußerlich ihr Amt, ihre Stellung sei. Das ist die aus dem Wesen des religiösen Lebens folgende, von Gott gesetzte unveränderliche Organisation der Kirche Christi, der Kirche im religiösen Sinn.61)
➝ gewaltigen rechtsbildenden Kräfte der jüdischen
Ordnungen konkurrierten” (vgl. darüber oben Anm. 35. 36).
61) Auch von Th. Kaftan, Vier
Kapitel von der Landeskirche, 2. Aufl. 1907, S. 60 wird
anerkannt, daß „die Kirche Jesu Christi” charismatisch und nur
charismatisch organisiert ist. Er fügt aber, gegen mich
polemisierend, hinzu: „Das alles gilt aber nicht von der Kirche,
für die man ein Kirchenrecht schreibt.” Die Kirche des
Kirchenrechts (Kirche im Rechtssinn) ist natürlich rechtlich,
nicht charismatisch organisiert, und habe ich darum auch die
charismatische Organisation als die Organisation der Kirche
Christi geschildert (Kirchenrecht Bd. 1 S. 22ff.). Meine
These ist, daß die rechtliche Organisation notwendig stets mit
der Organisation der Kirche Christi (der geistliche
Kirche) in Widerspruch sich befindet. Das ist es, was
Th. Kaftan anerkennt (indem er ja die der
rechtlichen Organisation entgegengesetzte charismatische
Organisation der Kirche Christi zugibt) und doch zugleich als „an
sich unhaltbar” bezeichnet. Ein vollkommener Selbstwiderspruch.
Die rechtlich verfaßte Kirche soll nach Th.
Kaftan „Leib und Organ der Kirche Jesu Christi”
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Das Urchristentum setzt die äußerliche sichtbare Christenheit mit der Kirche im religiösen Sinne, der Kirche Christi gleich. Das ist die Lösung des Rätsels. Weil die sichtbare Christenheit als das Volk Gottes gesetzt wird, muß die Ordnung der sichtbaren Christenheit mit der Ordnung des Volkes Gottes zusammenfallen und kann eine andere, rechtliche Ordnung gar nicht sein. Weil Christus, Gott als das Haupt der sichtbaren Christenheit gedacht wird, kann die sichtbare Christenheit (Kirche) nur durch den Geist Christi, d.h. nur durch Gott und das von Gott gegebene Charisma regiert werden.
Weil das Urchristentum nur den religiösen Begriff der Kirche hat und folgeweise diesen Begriff auch auf die äußerlich sichtbare Christenheit anwendet, ist ihm die charismatische Organisation der Kirche im religiösen Sinn notwendig zugleich die allein mögliche Organisation der sichtbaren Christenheit.
➝ sein, obgleich ihre Organisation der Organisation der Kirche Jesu Christi widerstreitet!