III. Der Ursprung des Katholizismus.

Sobald das Wesen des Katholizismus erkannt ist, ergibt sein Ursprung sich von selbst.

Das Urchristentum mußte sich zum Katholizismus entwickeln, wenn es außerstande war, die äußerlich erscheinende (empirische) Christenheit12) von der Christenheit im religiösen Sinn (dem Volke Gottes) zu unterscheiden. Diese Voraussetzung war es, von der alles andere abhing, und diese Voraussetzung war gegeben.

Nicht als ob das Urchristentum eine ausgesprochene Lehre von der Sichtbarkeit der Kirche (im religiösen Sinn) gehabt hätte. Aber instinktiv, naiv ward die sichtbare Gemeinschaft der Christen als solche mit der Gemeinschaft der Heiligen (ἅγιοι), der Erwählten (ἐκλεκτοί), der von Gottes Geist regierten Gotteskinder gleichgesetzt.13) War doch das Volk Israël, das Volk Gottes (Kahal, Ekklesia) im alten Bunde eine für jedermann sichtbare Größe! Die Christenheit beurteilte sich als das neue, das wahre Volk Israël!14) So mußte


12) Für die ganze alte Zeit bis in die Tage der Aufklärung fallen die Begriffe Christenheit und Kirche miteinander zusammen.
13) Vgl. Harnack, Die Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten, 2. Aufl., Bd 1 (1906) S. 337ff. über die Selbstbenennung, d.h. die Selbstbeurteilung der Christen.
14) Vgl. Harnack, Dogmengesch. Bd. 1, 4. Aufl., S. 171. Harnack, Mission Bd. 1, S. 60, 207ff., 337. Die älteste Selbstbezeichnung der ➝

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unwillkürlich auch das neue Gottesvolk nach Art einer äußerlich sichtbaren Volksgemeinschaft gedacht werden. Der religiöse Wert des sichtbaren Volkes Israël und ebenso der religiöse Wert des sichtbaren neuen Israëls, des Christenvolkes, ward durch die Bezeichnung Ekklesia (Kahal), d.h. Volk Gottes, ausgedrückt. So schreibt der Apostel Paulus der empirischen Christenheit zu Korinth: ihr seid zu eurem Teile (ἐκ μέρους, d.h. neben anderen Christengemeinschaften) „Christi Leib und Glieder” (1. Kor. 12, 27), d.h. ihr seid von Christus regiertes Volk, Gottes Volk. Dem entsprechend schreibt am Ende des ersten Jahrhunderts der empirischen Christengemeinschaft zu Korinth als dem „Volke Gottes, welches zu Korinth fremdlingsweise lebt” das römische „Volk Gottes”, d.h. die empirische römische Christenheit (1. Clemensbrief). Die äußerlich sichtbare Christenversammlung ist Ekklesia, d.h. Versammlung des Gottesvolks (1. Kor. z.B. 14, 5. 12. 23). In ihr ist Gott, Christus anwesend mit seinen Engeln (1. Kor. 11, 10; Hebr. 12, 22ff.). Wer ihre Stimme nicht hört, verachtet Gottes Stimme (Matth. 18, 17). Ihr Wort und Beschluß ist Wort und Beschluß Gottes selber, der sein Volk regiert (Ap. Gesch. 15, 22. 28). Jeder, der nach der Taufe in Todsünde fällt, galt darum bis in das dritte Jahrhundert als von selber au der Gemeinschaft der Christen ausgeschieden. Die empirische Christenheit soll die für jedermann (nicht bloß für den Gläubigen) wahrnehmbare Darstellung des von Gottes Geist geheiligten Gottesvolkes sein.15)


➝ Christgläubigen als „Schüler” des Herrn (μαθηταί) tritt früh zurück, Harnack, Mission Bd. 1, S. 335ff. und in Haucks Realenzykl. Bd. 20, S. 510.
15) Seit dem dritten Jahrhundert wird das Prädikat der Heiligkeit von den einzelnen Christen auf die Christenheit, nämlich auf die (in der Form der Einzel-Ekklesia) bereits rechtlich organisierte Christenheit übertragen. Aus der Gemeinschaft der Heiligen ward eine heilige Gemeinschaft: heilig, weil sie die Heilsmittel (Wort und Sakrament) besitzt. Vgl. Harnack in Haucks Realenzykl. Bd. 20 S. 511. Der rechtliche Verband und folgerichtig auch das rechtlich zuständige Amt (Bischofsamt) erscheint nunmehr als heilig (als im Besitz der Heilsmittel) auch bei Unheiligkeit der Verbundenen ➝

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Ein Unterschied zwischen der äußerlich sichtbaren Christenheit und dem nur für das Auge des Glaubens vorhandenen Volke Gottes, der Ekklesia, ward nicht gemacht. Das gilt nicht bloß für das vulgäre Heidenchristentum, sondern für das Urchristentum überhaupt (vgl. die soeben aufgeführten Belegstellen). Das ist nicht hellenisch noch jüdisch; es ist lediglich in der noch unreflektierten, auf dem Gebiet des Begrifflichen unentwickelten Art des ältesten Christentums begründet. Diese Tatsache aber bedeutet den Punkt im Urchristentum, als welchem mit Notwendigkeit die Entwicklung zum Katholizismus sich ergeben mußte.15a)

Das ist an der Kirchenverfassung der Urzeit zu erörtern, deren Grundlage in ihrem Kirchenbegriff beruht.

 

1. Kirche und Gemeinde.

Infolge der bald zweitausendjährigen katholischen Entwickelung, die aus der Christenheit einen Rechtskörper


➝ bzw. des Amtsträgers. Den Wendepunkt bezeichnet bekanntlich das kalixtinische „Edikt”. Harnack, Dogmengesch. Bd. 1 S. 444ff. Alle Schwierigkeiten, die sich hier ergaben, wurzelten darin, daß die Gleichsetzung der sichtbaren, nunmehr rechtlich verfaßten Christenheit mit der Kirche im religiösen Sinn gerettet werden sollte. So mußte die Kirche im religiösen Sinn zu einer bloßen Heilsanstalt werden (eine durchaus katholische Vorstellung), welche als Einrichtung heilig ist, d.h. in rechtlichen Formen das Göttliche besitzt, um es der heilsbedürftigen Menschheit zu vermitteln. Aus dem durch Gott geheiligten Volk ward das durch Gott geheiligte Gefäß, die Arche Noäh für Geheiligte und (zum Heil zu erziehende) Ungeheiligte. Die Zugehörigkeit zum Leibe Christi (zu der Kirche im religiösen Sinn, der katholischen Kirche) ist nicht mehr die Erlösung, sondern nur noch die unentbehrliche Voraussetzung der Erlösung durch Christum. Sie ist ein geistliches Rechtsverhältnis geworden, dessen Wirkung von der tatsächlichen Erfüllung der dadurch begründeten geistlichen Rechtspflichten (zum Glaubensgehorsam und zu christlicher Lebensführung) abhängig ist!
15a) Dagegen findet Harnack, Dogmengesch. Bd. 1 S. 239 die schon „in dem ältesten Heidenchristentum” gegebenen „entscheidenden Prämissen für die Entwicklung des Katholizismus” darin, daß „schon im ältesten Heidenchristentum selbst der hellenische Geist steckte”. Vgl. oben S. 4 Anm. 3.

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machte, sowie infolge des nicht minder mächtigen Kirchengesellschaftsbegriffes der Aufklärung sind wir seit langem gewöhnt, mit dem Ausdruck Kirche unwillkürlich die Vorstellung einer rechtlichen Organisation im Dienst des religiösen Lebens zu verbinden, so daß uns der Satz: Kirchenrecht steht mit dem Wesen der Kirche in Widerspruch, als kaum begreiflicher Widersinn erscheint. Aber der Kirchenbegriff trägt keineswegs naturgemäß und von vornherein rechtlichen Inhalt in sich. Vielmehr drückt das Wort Kirche (Ekklesia) sprachlich lediglich die Vorstellung des christlichen Volkes, der Christenheit aus. Noch heute haben wir den Begriff der Kirche im religiösen Sinn, den Begriff der geistlichen, wahren Christenheit, der, wenigstens nach protestantischer Ansicht, nichts Rechtliches an sich hat, wenngleich er allerdings nach der allgemein herrschenden Lehre dennoch in Beziehung zur Rechtsordnung tritt, da, wie man meint, die geistliche Kirche aus praktischen Gründen eine Rechtsordnung fordert, die ihrem Leben „Hilfe und Stütze” sei.16)

Die Urzeit hat den Begriff einer rechtlich verfaßten Kirche nicht gehabt. Sie hatte nur den Begriff der Christenheit, und zwar der Christenheit als einer religiösen Größe. Die Christenheit nannte sich Ekklesia (ἐκκλησία τοῦ θεοῦ, τοῦ Χριστοῦ), Israël, Heerde (ποίμνιον), Brüderschaft (ἀδελφότης). Alle diese Ausdrücke sind gleichbedeutend. Sie bezeichnen, wie wir schon wissen, die Christenheit als Volksversammlung (Volk) Gottes (Christi), als das von Gott auserwählte Volk, als die Heerde, die Gott durch sein Wort weidet und leitet,


16) Das ist das Wesen des Kirchenrechts (vgl. oben S. 10 Anm. 6), und von diesem Kirchenrecht gilt der Satz, daß es mit dem Wesen der Kirche Christi, der es dienen will, vielmehr in Widerspruch sich befindet. Der Kampf der Kirche Christi wider das Kirchenrecht ist der Inhalt der Geschichte des Kirchenrechts. Daß auch die heute geltende Rechtsordnung durch diese Tatsache bestimmt ist, werde ich in dem 2. Band meines Kirchenrechts zu zeigen versuchen.

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als die Gemeinschaft, welche durch Liebe, durch die der Gottesliebe entspringende Bruderliebe, verbunden ist. Sie bildet eine Einheit, einen Körper, den Leib Christi. Aber der Körper Christi ist keine Körperschaft, geschweige denn eine „christliche Körperschaft.”17) Was die Ekklesia zu einem Körper, zu einer Einheit macht, ist ausschließlich religiöser Natur: der eine Glaube, der eine Gottesgeist, der eine Zug der Lebensführung.18) Die Einheit der Ekklesia ist eine überirdische, ist göttlichen Ursprungs, ist ein Gegenstand des Glaubens. Das sind alles Vorstellungen, die uns noch heute für die Kirche im religiösen Sinn ohne weiteres klar sind. Wer würde auch nur daran denken können (wenigstens vom protestantischen Standpunkt aus), die Kirche im religiösen Sinn, im Sinn des dritten Glaubensartikels, für eine „christliche Körperschaft” zu erklären! Es ist unmöglich, daß die Kirche im religiösen Sinn anders als durch Gott, den Glauben, den Geist, d.h. anders als religiös eine Einheit bilde. Sie kann nicht zugleich rechtliche, d.h. körperschaftliche Einheit sein. Die Urzeit aber macht keinen Unterschied zwischen der Christenheit (Kirche) im religiösen Sinn und der sichtbaren Christenheit. Die sichtbare (empirische) Christenheit ist die „Heerde”, das „Volk” Gottes, der Leib Christi, also eine Einheit, die nur religiöser, nicht körperschaftlicher Natur sein kann, die jenseits des Rechtsgebiets sich befindet. Die Urzeit hat nur den Begriff der Ekklesia,


17) Ebensogut wie von einem „christlichen” (d.h. religiösen) Körperschaftsbegriff könnte man von dem christlichen Begriff eines Schießgewehrs sprechen. Aber durch den Katholizismus sind wir so an die Vermengung des Christlichen (Religiösen) mit dem Rechtlichen (Weltlichen) gewöhnt, daß der innere Selbstwiderspruch, der in einem „christlichen Körperschaftsbegriff”, einem „christlichen Eigentumsbegriff”, überhaupt in dem Begriff eines „christlichen Staates” und „christlichen Rechtes” liegt, gar nicht mehr empfunden zu werden pflegt.
18) Noch bei Tertullianus heißt es: Corpus sumus de conscientia religionis et disciplinae unitate et spei foedere (Apologet. c. 39).

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d.h. nur den religiösen Begriff der Kirche.19) Der religiöse Kirchenbegriff wird angewandt auch auf die körperlich sichtbare Christenheit. Das ist die Grundidee für alles andere, zugleich der Urquell für die ganze nachfolgende katholische Entwickelung, und weil die herrschende Lehre diese Tatsache verkennt, ist sie außerstande, zu einem befriedigenden Verständnis der Entstehung des Katholizismus vorzudringen.

Zwei Folgesätze sind in der hervorgehobenen Tatsache gegeben. Der eine: die Urkirche kennt keine Gemeinden (in unserem Sinn). Der zweite: wie Gemeindebildung, so ist überhaupt Rechtsbildung für die Urkirche ausgeschlossen.

Zunächst soll der erste Satz entwickelt werden.

Der Begriff der kirchlichen Gemeinde (in unserem Sinn) ist ein Rechtsbegriff. Er bedeutet eine örtliche, rechtlich in sich geschlossene und zugleich einem höheren, weiteren Verband (der Kirche) eingeordnete und untergeordnete Organisation. Für die religiöse Betrachtung, für das Verhältnis zu Gott gibt es selbstverständlich keine Gemeinden (die Gemeindezugehörigkeit ist religiös gleichgültig), sondern nur die eine Kirche Christi. Niemand geht am Sonntag „in die Gemeinde”. Man geht „in die Kirche”. An welchem Orte man zur „Kirche” geht, ist religiös unerheblich. Überall wo das Wort Gottes verkündet wird, ist für den Gläubigen dieselbe Kirche, dieselbe eine religiöse Größe. Die örtlichen Versammlungen sind als solche (als verschiedene Versammlungen) gar nicht da, sie sind religiös ununterscheidbar voneinander. Auch ist es religiös gleichgültig, ob viele oder wenige versammelt sind, ob Männer oder Frauen, ob kirchliche Amtsträger oder lediglich Umbeamtete. Wo „zwei oder drei” in Christi Geist versammelt sind, da ist religiös Kirche, immer dieselbe Kirche, dieselbe Christenheit, Ekklesia, Leben der Menschheit durch Christum mit Gott. Es gibt religiös


19) Vgl. Kirchenrecht Bd. 1 S. 16ff.

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nur die Kirche, keine Gemeinde, und zwar nur eine einzige, nicht konfessionelle, sondern lediglich christliche Kirche (die Kirche Christi), aber diese eine Kirche lebt, wirkt, erscheint (dem Gläubigen) in unzähligen „Kirchen”, in all den Versammlungen der Christenheit, durch die das Leben Christi sich offenbart.

Was von der Kirche im religiösen Sinn gilt, gerade das ist der Urzeit für die sichtbare Christenheit maßgebend, denn die sichtbare Christenheit wird nur als religiöse Größe beurteilt. So ist es der Urzeit unmöglich, für die sichtbare Christenheit den Begriff der Gemeinde (in unserem Sinn) auch nur zu denken. Die örtlich zusammengehörige Christengemeinschaft ist als örtliche Größe nichts, denn sie ist als örtliche Größe religiös wertlos. Sie ist alles, was sie ist, als Ausdruck, Erscheinungsform einer ökumenischen Gemeinschaft, der religiösen Größe der allgemeinen („katholischen”, Ignatius) Christenheit (Ekklesia). Sie ist Kirche (katholische Kirche), nicht Gemeinde. Nur wenn sie dasselbe Volk Gottes darstellt, welches auch an all den andern Orten sichtbar ist, nur wenn sie die wahre eine („allgemeine”) Christenheit auf Erden verkörpert, ist sie zu ihrem Teile (ἐκ μέρους) was sie sein soll, Leib Christi, Christenheit. Es gibt nur ein Volk Gottes, nur eine Ekklesia, nur eine Kirche im religiösen Sinne, aber die eine ökumenische Ekklesia erscheint in unzähligen Ekklesien, das eine Volk Gottes in unzähligen Volksversammlungen (Volksgemeinschaften), die alle religiös gleichbedeutend sind, weil sie alle religiös dieselbe eine Größe, die Kirche Gottes, darstellen. Die Christenheit zu Rom kann der Christenheit zu Korinth über göttliche Dinge ein Lehrschreiben senden (1. Clemensbrief). Aber es spricht in solchen Fall nicht eine Gemeinde zur andern. Es spricht „das in Rom fremdlingsweise wohnende Volk Gottes”.20) Die Christenheit zu Rom spricht als Kirche im


20) Die Adresse des ersten Clemensbriefes lautet bekanntlich: ἡ ἐκκλησία τοῦ θεοῦ ἡ παροικοῦσα Ῥώμην τῇ ἐκκλεσίᾳ τοῦ θεοῦ τῇ ➝

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religiösen Sinn. Darum gibt sie ihr Wort als das Wort Gottes (1. Clem. 59, 1; 63, 2); die Kirche im religiösen Sinne hat nichts anderes. Aber nur die Kirche und das Wort Gottes tritt auf, keine Rechtsinstanz und kein rechtlicher Befehl. Auch die korinthische Christenheit ist „Volk Gottes”, sichtbare Kirche im religiösen Sinn. Darin beruht die geistliche Unabhängigkeit der korinthischen Christenheit von der römischen. Noch gibt es keine unfehlbare kirchliche Machtstelle.21) Das Wort der römischen Christenheit ist ohne rechtlich (formell) bindende Gewalt. Es bedarf des freien consensus ecclesiae. Soll das Wort der Römer auch für die Korinther religiös verpflichtend sein, so muß es von der Kirche Gottes zu Korinth durch ihre Versammlung als Wort Gottes bestätigt, angenommen werden. Daher die drei römischen Presbyter, die mit dem Schreiben nach Korinth entsandt werden, damit sie „Zeugnis ablegen” in und vor der korinthischen Kirchenversammlung (Ekklesia). Die Entscheidung fällt für die Korinther in der korinthischen Ekklesia. Denn dieselbe Kirche Gottes erscheint in Korinth wie in Rom: sie kann nur durch ihr eigenes Urteil überwunden


➝ παροικούσῃ Κόρινθον, κλητοῖς ἡγιασμένοις ἐν θελήματι θεοῦ διὰ τοῦ κυρίου ἡμῶν Ἰησοῦ Χριστοῦ.
21) Es ist unrichtig, wenn Harnack in Haucks Realenzykl. Bd. 20 S. 513. 514 die Tatsache, daß das Wort der Ekklesia (der Christenversammlung) sich als Gottes Wort gibt, mit „Unfehlbarkeit” gleichsetzt. Die Unfehlbarkeit hat das Kirchenrecht zur Voraussetzung, nämlich den Rechtssatz, daß die Lehrentscheidung einer bestimmten kirchlichen Stelle für die Kirche im religiösen Sinn (die Kirche Gottes) formell (lediglich um ihres Ursprungs willen) verbindlich, daß also die Darstellung der Kirche Gottes als der Trägerin des Wortes Gottes einem einzigen kirchlichen Organ vorbehalten und damit die religiöse Gleichwertigkeit der Christenversammlungen (Kirchen) zugleich die religiöse Freiheit des Christenmenschen aufgehoben ist (jede Formalisierung des göttlichen Wortes ist, sobald sie bindend sein will, wider die christliche Freiheit). Davon aber ist in der Urzeit keine Spur. Es gilt vielmehr das Gegenteil. Erst allmählich werden gewisse Arten von Versammlungen (die Synoden, an denen mehrere Bischöfe teilnehmen) religiös bevorrechtet. Aber noch die Synode ➝

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werden.22) Da die sichtbare Christenheit ausschließlich unter dem religiösen Gesichtspunkt beurteilt wird, ist jede rechtliche Entscheidungsgewalt ausgeschlossen. Es gibt nur eine Ekklesia, und sie erscheint und ist geistlich mächtig an dem einen Ort ebenso wie an dem andern. Die Orts-Ekklesia ist nicht Gemeinde, sondern Kirche; sie ist die Kirche, die nur Gottes Wort Gehorsam schuldig ist, die Kirche im religiösen Sinne.

Aber nicht so, als ob nur eine bestimmte Versammlung, etwa die Vollversammlung aller Christen desselben Orts Erscheinungsform der Kirche Gottes wäre. Die Christenheit eines Hauses ist vielmehr geradesogut Kirche Gottes wie die Christenheit der ganzen Stadt. Denn die kleinste Christenversammlung ist religiös der größten gleichwertig. Darum gibt es auch an den einzelnen Orten viele Ekklesien (ἐκκλησίαι κατ᾽ οἶκον)23), nicht bloß eine Ekklesia. Die Ortskirche (Stadtkirche) ist genau so wenig eine geschlossene politische, verfassungsmäßiger Organisation fähige Größe wie die Gesamtkirche.


➝ von Nicäa war nicht unfehlbar. Vgl. über die Entwickelung, die hier stattgefunden hat, Kirchenrecht Bd. 1, S. 322ff. 434ff.
22) Die gleichen Gesichtspunkte gelten für das Schreiben der Ekklesia von Jerusalem an die von Antiochien, das sog. Aposteldekret (Ap. Gesch. 15, 22f.). Vgl. Kirchenrecht Bd. 1 S. 290ff.
23) Die „Hauskirchen” (nicht Hausgemeinden, wie allgemein übersetzt wird) werden bekanntlich oft erwähnt. Vgl. Röm. 16, 5; 1. Kor. 16, 19; Philem. 2; Koloss. 4, 15. Noch bis zum Ende des 2. Jahrhunderts gab es ganz regelmäßig in den größeren Städten verschiedene Orte, an denen die Christen zumsammenkamen, Harnack Mission Bd. 2 S. 68. Dazu bemerkt Harnack: „Wie dabei die Einheitlichkeit der Gemeinde hat aufrecht erhalten werden können, ist uns völlig dunkel.” Woher die Schwierigkeit? Weil Harnack mit der allgemein herrschenden Lehre eine rechtliche, körperschaftliche Einheit der „Ortsgemeinde” als selbstverständlich setzt und sucht. In Wahrheit gab es für die Urzeit gar keine rechtlich einheitliche „Ortsgemeinde”, und diese Tatsache hat lange nachgewirkt, nachdem bereits durch den monarchischen Episkopat die rechtliche Einheit der Ortsekklesia hergestellt war. Vgl. auch Harnack, Dogmengesch. Bd. 1 S. 169 Anm. 1.

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Die Anwendung des religiösen Kirchenbegriffs auf die sichtbare Christenheit schließt jede rechtliche, an erster Stelle jede gemeindemäßige Verfassungsbildung aus: es gibt nur das Volk Gottes, die ökumenische Kirche Christi, nichts Rechtliches, nichts Örtliches. Auch die Ortsekklesia ist keine Körperschaft.

Man darf wohl sagen, daß alles, was soeben ausgeführt wurde, von den Denkmälern der urchristlichen Zeit auf das unzweideutigste bezeugt ist.24) Trotzdem ist die allgemein herrschende Lehre eine ganz andere. Erst in jüngster Zeit bereitet sich, wie wir sehen werden, ein Umschwung vor.

Die überlieferte Lehre trägt die Grundbegriffe der Gegenwart in die urchristliche Zeit hinein.25) Ihr Ausgangspunkt ist der Begriff der Gemeinde, nämlich der Ortsgemeinde, als ein dem Begriff der Kirche entgegengesetzter Begriff. Obgleich die urchristlichen Quellen den Begriff der Gemeinde gar nicht kennen, ja nicht einmal ein Wort haben, welches ihn auszudrücken imstande wäre, werden die in den Quellenzeugnissen begegnenden Ekklesien zu Jerusalem, Rom, Korinth usw. ohne weiteres als Ortsgemeinden aufgefaßt, als „lokale Organisationen” heutiger Art, als mit rechtlicher, körperschaftlicher, jedoch (natürlich!) bloß örtlich gerichteter Verfassung ausgerüstet. Wie man früher meinte (zuerst Vitringa 1696) wären sie nach Art der jüdischen Synagoge verfaßt gewesen. Heute wird allgemein angenommen26), daß sie verfaßt waren nach Art eines Kultvereins. In diesen Ortsgemeinden ist nach der allgemeinen Lehre das Bischofsamt


24) Die Belege sind bekannt genug. Gesammelt sind sie in meinem Kirchenrecht Bd. 1.
25) Vgl. oben S. 9. 10.
26) Diese neuere Ansicht ist zuerst von Heinrici begründet worden, der überhaupt mit den (in anderer Beziehung sicher zutreffenden) Hinweis auf hellenistische Einflüsse vorangegangen ist. Dann haben namentlich Hatch (dessen „Gesellschaftsverfassung” viel zu hoch gepriesen worden ist; das Buch hat eine elegante Form, aber einen durchaus unklaren Inhalt) und Harnack in derselben Richtung gewirkt.

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als (wiederum selbstverständlich!) zunächst bloß örtliches Gemeindeamt aufgekommen, um erst im Laufe des zweiten Jahrhunderts sich zum Range eines Kirchenamtes zu erheben: die „Konföderation”, der „Bund” der Bischöfe (wiederum eine Art von Vereinsbildung!) erzeugt, wie man annimmt, in und seit dem zweiten Jahrhundert über der Gemeindeverfassung eine kirchliche (auf den Gesamtverband der Christenheit gerichtete) Organisation.27)

Nach der Entdeckung der Apostellehre (1883) hat das Bild in den Augen der herrschenden Lehre sich etwas, aber noch nicht wesentlich verändert. Harnack erkannte die ökumenische Rangstellung, die (wie die neuentdeckte Quellenschrift unzweideutig klarstellte) in den ersten Zeiten den Lehrbegabten zugekommen ist. Er unterscheidet darum für die Urzeit eine „doppelte Organisation”. Die eine diente der Wortverkündigung: sie beruhte auf dem Charisma der Apostel, Propheten, Lehrer und bedeutete die von Gott stammende Organisation der Kirche. Die andere diente der örtlichen „Ökonomie”, der Verwaltung, an erster Stelle der Kultusverwaltung: sie beruht auf „anderen Grundlagen”, nämlich auf den von der Gemeinde gewählten Bischöfen und Diakonen, und bedeutete die rechtlichen Formen zustrebende Organisation der Ortsgemeinde. Auf diese gewählten „Beamten” administrativer Art wäre dann die Lehrtätigkeit übergegangen: die Charismen traten zurück, und die rechtliche Ordnung der Ortsgemeinde ward die Grundlage der folgenden Entwickelung, die den monarchischen Episkopat zunächst als Gemeindeamt, dann als Kirchenamt hervorbrachte.28)


27) Vgl. den Literaturbericht Kirchenrecht Bd. 1 S. 8. 13.
28) Vgl. Harnack in seinen Prolegomena zur Apostellehre (Texte und Untersuch. z. Gesch. der altchristl. Literatur Bd. 2, 1886) S. 88ff., 93ff. Dogmengesch. Bd. 1, 4. Aufl. 1909, S. 236ff., 399ff. — Harnacks Auffassung ist für die herrschende Lehre durchaus bestimmend geworden. Auch noch in der 3. (und 4.) Aufl. von Harnacks Dogmengeschichte, die bereits auf mein Kirchenrecht Bezug nimmt, ist die alte Auffassung der ➝

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Erst ein jüngst in Haucks Realenzyklopädie für protest. Theol. und Kirche Bd. 20 (Heft 197/98, 1908) S. 508ff. von


örtlichen Ekklesien (auf diese kommt es an, weil in ihnen die Wurzel von alles Künftige liegt) als eines örtlichen körperschaftlichen (rechtlich geschlossenen) Verbandes unverändert die alte geblieben. Dem entspricht die herrschende Lehre. Man vgl. z.B. Knopf, Das nachapostolische Zeitalter (1905), ein Buch, welches die gemeinverbreitete Ansicht ohne eigene Zutat wiedergibt und deshalb ungeteilten Beifall gefunden hat. Auch hier erscheint die doppelte Organisation Harnacks: die der Kirche einerseits, die der Gemeinde (d.h. Ortsgemeinde) andererseits. Die kirchliche Organisation ist pneumatischer, charismatischer, die Gemeindeorganisation aber rechtlicher Art; der Kirche gehören die Apostel, Propheten, Lehrer, der Ortsgemeindeverfassung die Bischöfe (Presbyter) und Diakonen an (Knopf, S. 147ff.). Charakteristisch ist insbesondere S. 149: „Die ältesten Gemeinden auf heidenchristlichem Boden” erscheinen als „autonome Körperschaften”, welche „die Verwaltung ihrer Angelegenheiten, die Aufsicht über ihre Mitglieder selbst besorgen”. Belege: die „Gemeinde als ganze” übt die Sittenzucht, Vertreter der Gemeinde werden „von der gesamten Gemeinde” gewählt, soll Geld aufgebracht werden, so beschließt die Gemeinde über diese Leistung”. So erscheint alles in der schönen körperschaftlichen (rechtlichen, örtlichen) Ordnung, und man begreift allerdings, daß Pneumatiker wie Apostel, Propheten, Lehrer in solche stramme Lokalorganisation nicht hineingehörten. Schlägt man aber die Quellenzeugnisse nach, die für die aufgestellten Sätze angezogen werden, so ergibt sich, daß sie nichts Derartiges enthalten: 1. Die Gemeinde „als ganze” übte die Sittenzucht. Das soll aus Gal. 6, 1; 1 Kor. 5, 1-5; 2 Kor. 1, 23-2, 12. 7, 12 hervorgehen. Aber Gal. 6, 1 werden vielmehr die „Brüder”, und zwar als „Geistbegabte” (πνευματικοί) als mit der Sittenzucht betraut angeredet, also nicht die Körperschaft (eine rechtliche, von den einzelnen verschiedene Größe, die überhaupt keinen „Geist” haben kann), sondern die einzelnen Christen. 1 Kor. 5, 1-5 über der Apostel selber Kirchenzucht, indem er sich im Geist in die Versammlung der Korinther versetzt und „mit der Kraft unseres Herrn Jesu Christi”, d.h. mit der ihm persönlich gegebenen Kraft handelt; von einer Sittenzucht der Körperschaft ist hier so wenig die Rede wie in der Erzählung von dem Verfahren des Petrus gegen Ananias und Sapphira. 2 Kor. 1, 23-2, 12. 7, 12 bezieht sich auf einen Sünder, den „die Mehrheit” zurechtgewiesen hat; er hatte nicht „alle”, aber doch den größeren Teil der Korinther „betrübt”: es kann nicht deutlicher gesagt sein, daß die einzelnen Korinther, zwar (wie zu vermuten steht) in einer Versammlung, ➝

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Harnack veröffentlichter geist- und inhaltreicher Aufsatz über kirchliche Verfassung und kirchliches Recht im 1. und 2. Jahrhundert bedeutet einen entscheidenden Fortschritt über die


➝ aber nicht als Organ einer rechtlichen Körperschaft wie die „Betrübten” so auch die Zurechtweisenden gewesen sind (vgl. 1 Clem. 54, 2: die Menge rügt die Aufrührer, nicht die Körperschaft). Vgl. ferner unten Anm. 38. — 2. Vertreter der Gemeinde werden „von der gesamten Gemeinde” gewählt. Beweis 2 Kor. 8, 18ff., wo in Sachen der Geldsammlung für Jerusalem von „Sendboten der Ekklesien” (ἀπόστολοι ἐκκλησιῶν), die „von den Ekklesien gewählt sind” (χειροτονηθεὶς ὑπὸ τῶν ἐκκλησιῶν), die Rede ist. Aber ob Ekklesia die „gesamte Gemeinde” bedeutet, ist ja gerade die Frage. Wir wissen, daß Ekklesia für jede Christenversammlung gebraucht wird, und das Wort „Christenheit” (Ekklesia) bezeichnet zunächst die Christen, nicht eine christliche Körperschaft. — 3. Soll Geld aufgebracht werden, so „beschließt die Gemeinde über diese Leistung”. Die Stellen, um die es sich hier handelt, sind Röm. 15, 26ff: „Makedonien und Achaja” haben beschlossen, für Jerusalem eine Gabe beizusteuern (sollte jemand wirklich daran denken, diese Worte von einem Körperschaftsbeschluß Makedoniens und Achajas zu verstehen?); 1 Kor. 16, 1-4: der Apostel ordnet an, daß auch bei den Korinthern jeder einzelne sonntäglich für Jerusalem bei sich zurücklege (keine Körperschaft beschließt und keine Körperschaft nimmt das Geld entgegen); 2 Kor. 8ff.: die Korinther (die einzelnen Christen!) werden zu Hilfeleistung für Jerusalem ermahnt; Phil. 1, 1-3. 4, 10-19: „allen Heiligen” in Philippi „samt Bischöfen und Diakonen” dankt der Apostel für ihre Gabe. Daß die Gabe von den einzelnen Christen unter Führung von Bischöfen und Diakonen aufgebracht und gegeben wurde, nicht von einer Körperschaft, kann gar nicht bestimmter gesagt werden. Dadurch erläutert sich auch von selbst die Wendung, daß keine andere „Ekklesia” (Christenschaft) als die von Philippi schon früher durch Gaben für den Apostel sich ausgezeichnet hat. Von einem körperschaftlichen, den einzelnen rechtlich verpflichtenden Geldbewilligungsbeschluß ist nirgends auch nur mit einem Worte die Rede. — In allen diese Stellen, die schon von alters her für den gleichen Zweck als Beweis zitiert werden, wird der Begriff einer körperschaftlich geschlossenen Ortsgemeinde lediglich hineingetragen. Weshalb? Weil dieser Begriff uns heute als selbstverständlich sich aufdrängt. Solche körperschaftliche, rechtliche Organisation der örtlichen Ekklesia kann allerdings nur als Gegensatz zu der von der Apostellehre bezeugten charismatischen Organisation der Ekklesia erscheinen. Sie muß daher durch die Lehre von der „doppelten Organisation” gerettet werden.

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bisher herrschend gewesene Lehre hinaus.29) Ich darf wohl sagen, daß Harnack jetzt in sehr wesentlichen Stücken sich auf den Boden der von mir in meinem Kirchenrecht (1892) vertretenen Gesamtauffassung gestellt hat. Es ist das für mich um so erfreulicher, weil die übrige kirchengeschichtliche Literatur es im allgemeinen nicht für nötig erachtet hat, zu meinen Ausführungen überhaupt Stellung zu nehmen. Indem aber Harnack in seiner jüngsten Veröffentlichung dem Inhalt der Quellenzeugnisse mehr als zuvor gerecht wird, will er doch wesentliche Stücke seiner früheren Auffassung nicht preisgeben. Daher die inneren Widersprüche, in denen seine nunmehr vorliegende Darstellung sich bewegt. Das muß im folgenden klargestellt werden.

Der Fortschritt liegt darin, daß Harnack jetzt30) den Kirchenbegriff der Urzeit, den Begriff der Ekklesia (Kahal), des vom Gottesgeist regierten Gottesvolks, als grundlegend nicht bloß für Wesen und Organisation der gesamten Christenheit, sondern gerade auch für Wesen und Entwickelung der örtlichen Ekklesien anerkennt. Das letztere ist es, worauf es ankommt, denn die örtliche Ekklesia (die an den einzelnen Orten tatsächlich erscheinende „Kirche Gottes”)


29) Einen erweiterten Abdruck des Aufsatzes der RE. gibt Harnack in der Schrift über Kirchenverfassung und Kirchenrecht (1910), mit welcher das Vorwort zu dieser Arbeit sich beschäftigt. — In den Grundzügen hat Harnack die jetzt von ihm vertretene Auffassung schon entwickelt in seinem Werk: Die Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten, 2. Aufl., Bd. 1 (1906) S. 362ff. 386. 387.
30) RE. S. 512. 519. 520. Vgl. Mission Bd. 1 S. 363. 364. Dazu meine Ausführung Kirchenrecht Bd. 1 S. 21. 22. 161. 248ff. 344ff. Bereits in der 3. Aufl. seiner Dogmengeschichte Bd. 1 (1894) S. 45. 134 hat Harnack in Übereinstimmung mit mir wiederholt betont, daß der Urzeit „jede Ekklesia ein in sich geschlossenes Abbild und eine Auswirkung der ganzen himmlischen Kirche ist” (während er in der 2. Aufl., Bd. 1, 1888, S. 126 nur den ganz anderen Gedanken vortrug, daß jede Gemeinde „ein Abbild der heiligen Kirche Gottes sein sollte”, was in der 3. Aufl., S. 142 sowie in der 4. Aufl. S. 170 stehen geblieben ist); aber er hat damals von dieser Erkenntnis noch keinen weiteren Gebrauch gemacht.

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ist die Trägerin der ganzen (katholischen) Kirchenverfassungsentwickelung gewesen. Nach der bisher herrschenden Lehre ist die örtliche Ekklesia ein „Kultverein”, etwas Örtliches, Rechtliches, Irdisches, Gewillkürtes, etwas ganz anderes als die „Kirche Gottes” (wie daraus die katholische Kirchenverfassung hätte hervorgehen sollen, ist allerdings das Rätsel aller Rätsel!). Harnack hat jetzt erkannt, daß die örtlichen Ekklesien für die Urzeit „nicht nur den Namen (ἐκκλησία) mit der Gesamtgemeinde Gottes teilen, sondern jede einzelne auch ihr geschlossenes Abbild und ihre Auswirkung ist: das Ganze ist in dem Teil, nicht nur der Teil in dem Ganzen”. Ja, Harnack fügt ausdrücklich hinzu, daß es „ideell überhaupt keinen Unterschied zwischen Gesamtgemeinde und Einzelgemeinde gibt”; „die ideelle Einheit der beiden liegt in dem Wirken des Geistes”; „die Christenheit in jeder einzelnen Stadt ist im Grunde nicht Einzelgemeinde, sondern Erscheinung des Ganzen in dem Teil”. Aus dieser Tatsache wird dann die richtige Schlußfolgerung gezogen, daß auch die örtliche Ekklesia als geistliche Größe der rechtlichen Verfassung unfähig ist; auch für die Ortsekklesia gilt der Satz: der „Geist” regiert, „die Charismen bestimmen alles”.31) Die „Hypothese” vom „Kultverein” als der Urform


31) RE. S. 521. 523. 529. — Eine abweichende Entwickelung nimmt Harnack S. 516. 517 für die jerusalemische Gemeinde an. Aus der Apostelgeschichte geht hervor, daß die Apostel infolge der herodianischen Verfolgung Jerusalem verließen und nur noch vorübergehend dorthin zurückkamen. Seit dieser Zeit erscheinen daher an die Spitze der jerusalemischen Christenheit für die Regel nicht mehr die Apostel, sondern Jakobus, der Bruder des Herrn, und Älteste (Presbyter). Vgl. Ap. Gesch. 11, 30; 12, 17; 15, 2. 4. 6. 22. 23; 21, 18. Nach Harnack wäre damit sofort „eine totale Veränderung der Verfassung” vor sich gegangen; das „pneumatisch-messianische Element verschwindet”, man rezipiert die „herrschende jüdische Verfassung” mit Hohepriester (Jakobus) und Synedrium (Älteste); „unzweifelhaft” besaß Jakobus eine „monarchische Gewalt” mindestens nach Art des späteren monarchischen Bischofs auf heidenchristlichem Gebiet. Aber das ist alles ohne jeden Halt in den Quellen (die späteren Berichte über Jakobus sind, wie Harnack selber anerkennt, ➝

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der christlichen Gemeindeverfassung fällt dahin (endlich!) 32). Auch Harnack bekennt sich jetzt zu der Ansicht, daß erst im Clemensbrief (in Rom, Ende des 1. Jahrhunderts) das Kirchenrecht sich durchsetzt.33) Auch Harnack führt


➝ legendarischer Natur). Vielmehr kann das Gegenteil als „unzweifelhaft” bezeichnet werden. Auch zur Zeit des angeblich monarchischen Jakobus-Regiments treten die in Jerusalem anwesenden Apostel ohne weiteres mit an die Spitze und steht die Entscheidung bei der Versammlung, der „Ekklesia” als einer pneumatischen Größe (Ap. Gesch. 15, vgl. oben S. 25). Daraus folgt, daß auch die jerusalemischen Presbyter nichts anderes bedeuten als die sonst begegnenden führenden erprobten Alten, Ältesten. — Harnack verharrt in seiner Beurteilung der jerusalemischen Verhältnissen im wesentlichen bei dem von Ritschl, Entstehung der altkath. Kirche, 2. Aufl. (1857) S. 415ff. vertretenen Standpunkt. Wie von Ritschl, so wird auch von Harnack grundsätzlich das Katholische aus dem hellenistischen Christentum abgeleitet (vgl. oben S. 3ff.).
32) RE. S. 529. 530: „Die demokratische Gleichheit, die auf dem Boden der Charismen und in einem engen Bruderbunde gegeben war, konnte dazu verführen, gewisse freie Formen der Kultvereine zu rezipieren; aber von ernsten Christen ist das gewiß nicht geschehen, und selbst unreife konnten sie nicht absichtlich rezipieren, sondern sie waren nur mehr oder weniger wehrlos gegenüber ihrem Einströmen. Man muß also die Hypothesen, alte christliche Einrichtungen auf die Kultvereine zurückzuführen, mit höchster Vorsicht aufnehmen; späteren Zuständen gegenüber ist dieser Rekurs mehr am Platze.” Noch Mission Bd. 1 S. 363 erklärt Harnack die urchristliche Gemeinde für einen „Kultverein”, obgleich er (auf derselben Seite!) die Selbstbeurteilung der Gemeinde als „Abbild der gesamten Kirche Gottes hervorgehoben hat. So klingt denn auch seine jetzt vorliegende vorhin zitierte Erklärung recht gewunden, ist auch nicht ohne innere Widersprüche. Sachlich wird aber doch zugegeben, daß die Organisation nach Art eines Kultvereins mit der urchristlichen Idee von der örtlichen Christenheit als der sichtbar werdenden Kirche Gottes (Ekklesia) unvereinbar ist und deshalb „ernsten Christen” fern lag. (Auffallenderweise spricht Harnack RE. S. 534 dann doch wieder für die Zeit der Ignatiusbriefe von Versuchen, „mehrere selbständige θίασοι in einer Stadt zu etablieren”.) Auch in der späteren Zeit ist die Idee von der Ekklesia grundlegend geblieben. Sie wirkt noch im heutigen Katholizismus nach. So ist die Möglichkeit kultvereinsmäßiger Verfassungsbildung auch für die „späteren Zustände” ausgeschlossen.
33) RE. S. 531: „Zuerst im Clemensbrief wird diese gewordene Ordnung der Lokalgemeinde auf das alttestamentliche Vorbild und auf ➝

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nunmehr aus, daß erst durch den monarchischen Episkopat des 2. Jahrhunderts die örtliche (städtische) Ekklesia zu einer rechtlich geschlossenen Einheit geworden ist.34)

Aber trotzdem lehrt Harnack, in offenbarem Widerspruche mit sich selbst, noch in diesem jüngsten Aufsatz, daß die christliche Ekklesia von vornherein als Trägerin von Rechtsordnung auftrete. Er spricht35) von den „gewaltigen


➝ apostolische gesetzliche Anordnung zurückgeführt. Sie erhält dadurch den Charakter des Rechts, des geistlichen und sozusagen des profanen zugleich.” Dann heißt es weiter: „kolossal hat hier Sohm übertrieben, wenn er im Clemensbrief den großen Sündenfall der Entstehung des Kirchenrechts sieht und von der Verbreitung des Briefes die Verbreitung der neuen Anschauung ableitet; in Korinth muß die Majorität der Gemeinde bereits wesentlich ähnlich gedacht haben — und ein einzelner Brief kann überhaupt nicht eine solche Wirkung haben wie sie Sohm diesem Schreiben beilegt.” Dann aber wiederum: „Aber richtig ist: die Lokalgemeinde, einer bisher der pneumatischen Gesamtgemeinde enhypostatisch eingefügte Größe, wird nun erst eine auf sich selber oder vielmehr auf ihren Kultusbeamten ruhende Größe, und nun erst gibt es ein Kirchenrecht im eigentlichen Sinne, weil der pneumatische Faktor und die Gesamtekklesia ausgeschaltet ist”. Dieser „Umschwung der Betrachtung, wie er in Rom nachweisbar, hat sich um diese Zeit oder bald überall vollzogen.” — Was in meinem Munde „kolossale Übertreibung” ist, wird dann doch von Harnack vollauf bestätigt. Der sachliche Inhalt von Harnacks Ausführung ist volle Zustimmung zu dem, was ich Kirchenrecht Bd. 1 S. 157ff. über die Bedeutung des Clemensbriefes für die Entstehung des Kirchenrechts gesagt habe (nur in bezug auf die Bedeutung, welche dem entstandenen Kirchenrecht beizulegen ist, weiche ich von Harnack ab, vgl. unten S. 57). Daß der Clemensbrief allein, das Schreiben als solches so bedeutende Wirkung geäußert hätte, ist natürlich auch meine Meinung nicht. Ich habe selber (a.a.O. S. 164. 165) ausdrücklich hervorgehoben, daß der Erfolg des Clemensbriefes nur möglich war, weil bereits auch in Korinth und anderswo eine den Römern gleichgesinnte „Ordnungspartei” bestand.
34) RE. S. 534. Vgl. Kirchenrecht Bd. 1 S. 191ff.
35) RE. S. 513. 514. Ebenso schon Mission Bd. 1 S. 362: Die „Schüler Jesu setzten sich selbst als das wahre Israel und als die Ekklesia Gottes; sie führten damit die Form und den engen Zusammenschluß der Judenkirche zu sich hinüber — und waren, man kann sagen, mit einem Schlage im Besitze einer festen und exklusiven Organisation” (!). Dann ➝

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rechtsbildenden Kräften der jüdischen Ordnungen” (an die sich die älteste Gemeinde angeblich gebunden fühlte)36), von der Gewalt der Zwölfe, die obgleich „an und für sich nicht


➝ aber unmittelbar darauf: „Allein diese Organisation, welche alle Christen auf Erden umfaßte, bestand zunächst doch nur in dem religiösen Gedanken”. Wie das miteinander vereinbar ist, wird nicht gesagt. Zu der „rein idealen” (aber nach dem vorigen doch „festen und exklusiven”) Organisation „gesellte sich die lokale Organisation”, die das Christentum ursprünglich „ebenfalls von dem Judentum entlehnte, nämlich von der Synagoge”; die christlichen Vereine „bildeten die lokale Organisation mit doppelter Stärke aus, fester noch als  es die jüdischen Gemeinschaften getan hatten”; „höchst förderlich” war dafür die Betrachtung, daß „jede Gemeinde in sich abgeschlossen und ein Ganzes, ein Abbild der gesamten Kirche Gottes ist.” Ganz in den gleichen Selbstwidersprüchen bewegt sich auch die jetzt in der RE. vorliegende Darstellung Harnacks.
36) Aber auch die jüdische Christenheit hat sich als solche (als Ekklesia) niemals den Anordnungen einer jüdischen Behörde unterworfen. Es galt vielmehr der Satz: „man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen” (Ap. Gesch. 5, 29). Darauf weist Harnack RE. S. 513 selber hin. Was bleibt also von den „gewaltigen rechtsbildenden Kräften der jüdischen Ordnungen” übrig, wenn die Christenheit, auch die älteste Judenchristenheit, „im Konfliktsfall” sich „der Autorität des jerusalemischen Gerichtshofs zu entziehen genötigt sah”? Vor allem ist gegen Harnack die Stellungnahme der Christenheit zum jüdischen Sabbat entscheidend. Darauf hat mich Heinrici aufmerksam gemacht. Heinrici schreibt mit: „Mir scheint die Tatsache entscheidend: μία τῶν σαββάτων als Bezeichnung für den Auferstehungstag 1 Kor. 16, 2. Matth. 28, 1. Mark. 16, 2. Luk. 24, 1. In heidenchristlichen Kreisen ist diese Bezeichnung nicht entstanden, sondern aus judenchristlichen übernommen. Heidenchristlich ist ἡμέρα κυριακή Apok. 1, 10. Danach ist es wahrscheinlich, daß alle Christen von Anbeginn den Auferstehungstag als ihren Festtag angesehen haben, auch die Gläubigen der Muttergemeinde, trotzdem diese sich als nicht losgetrennt von der jüdischen Umgebung ansah. Nun ist aber der Sabbat das noli me tangere der jüdischen Frömmigkeit. Seine satzungsmäßige Feier ist das wichtigste Anliegen. Daher beweist die Tatsache, daß die Christen von Anbeginn den ersten, und nicht den letzten Wochentag als Feiertag ausgezeichnet haben, daß sie nicht jüdischen Kult und jüdische Verfassung als entscheidende Autorität aufrecht erhalten wollten oder übernommen haben.”

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rechtlicher Natur, doch zu einer förmlichen richterlichen Funktion wurde”37), von der „Strafgewalt”38) und der „Unfehlbarkeit”39) der „Gemeinde”.40) In Jerusalem soll die jüdische Verfassung


37) Beleg die „dunkle Geschichte AG. 5, 1ff.: Ananias und Sapphira”. Aber nicht dunkel ist, daß hier von irgendwelcher rechtlich gearteten „Strafgewalt”, auch von einer „förmlichen” richterlichen Funktion mit keinem Worte die Rede ist. Petrus handelt auch nicht, wie Harnack meint, „als Haupt der Zwölf” (als Organ irgendeines Regierungskollegiums), sondern lediglich als Träger göttlichen Geistes, d.h. kraft ihm persönlich zukommender Macht religiösen Ursprungs.
38) Matth. 18, 15ff. mit dem Schluß: εἰπὸν τῇ ἐκκλησίᾳ˙ ἐὰν δὲ καὶ τῆς ἐκκλησίας παρακούσῃ, ἔστω σοι ὥσπερ ὁ ἐθνικὸς καὶ ὁ τελώνης. Hier ist 1. von einer „Gemeinde” als einer geschlossenen Größe überhaupt keine Rede, sondern nur von der „Christenheit”, d.h. der Christenversammlung, zu welcher der Sünder sich tatsächlich hält, mag sie groß, mag sie klein (eine bloße „Hauskirche”) sein. Dann aber wird 2. gerade durch diese Stelle klar, daß die Versammlung (die Ekklesia) in der Urzeit keine Strafgewalt übt, sondern nur ermahnt (im Namen Gottes, vgl. oben S. 25, nicht als rechtliche Körperschaft). Bleibt die Ermahnung fruchtlos, so erfolgt keine Regierungshandlung, kein „Bann”, überhaupt kein Vorgehen der Versammlung (Ekklesia), sondern dem einzelnen Christen („dir”) liegt es ob, den, welcher die Stimme Gottes nicht hören will, als ipso jure aus der Christengemeinschaft ausgeschieden zu behandeln (vgl. oben S. 25 und Kirchenrecht Bd. 1 S. 34. 35). An die sämtlichen einzelnen Christen wendet sich auch die Mahnung des Apostels 1 Kor. 5, 11. 13. Vgl. oben Anm. 28.
39) Vgl. oben S. 31 Anm. 21.
40) Auch Harnack trägt ohne weiteres den Begriff der Gemeinde in die urchristliche Zeugnisse hinein. Die einzelne Ekklesia ist ihm „die Einzelgemeinde” bzw. „die Zusammenkunft der Gemeinde” (RE. S. 512). Dadurch kommt von vornherein ein Irrtum in den Ansatz (vgl. oben S. 32 Anm. 23). Damit hängt der weitere Irrtum zusammen, daß nach urchristlicher Auffassung der „Geist der Gemeinde als ganzer und als einer Einheit geschenkt sei” (RE. S. 519). Eine ideelle Einheit kann als solche überhaupt keinen Geist haben. In der Versammlung (Ekklesia) redet der Geist (selbstverständlich!) durch den einzelnen (vgl. z.B. Ignat. ad Philad. 7 und noch das von Cyprian abgehaltene karthagische Konzil, Sent. episc. c. 73), und die Zustimmung der Versammlung stellt (für diese Versammlung) klar, daß wirklich der Geist gesprochen hat (vgl. Kirchenr., Bd. 1 S. 52ff.). Der Geistesbesitz der Ekklesia, Christenheit ➝

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mit Hohepriester und Synedrium schon durch die „monarchische” Gewalt des Jakobus, des Bruders des Herrn, verwirklicht worden sein (vgl. oben S. 38 Anm. 31), aber auch „für die Verfassungsgeschichte der Heidenkirchen” ist „das meiste von dem in Ansatz zu bringen, was in bezug auf die der Judenkirchen ermittelt worden ist”.41) Und doch soll erst Ende des 1. Jahrhunderts (Clemensbrief) wirkliches „Kirchenrecht” aufgekommen sein!

Vor allem: auch jetzt bleibt Harnack bei seiner Lehre von der „doppelten Organisation”. Der leitende Gedanke auch seiner jetzt vorliegenden Darstellung ist die „Spannung” zwischen „Zentralorganisation und Lokalorganisation”, zwischen der „Gesamtgemeinde” (der Gesamtheit aller Christgläubigen) und der „Einzelgemeinde”: die „fundamentale Antinomie und Spannung, welche die Entwickelungsgeschichte der Verfassung beherrscht: die Gemeinde als Missionsgemeinde, als Schöpfung des Apostels, als sein Werk (Universalorganisation) und wiederum die Gemeinde als in sich geschlossene Lokalgemeinde (als solche aber auch Abbild und Auswirkung der himmlischen Kirche)”. Die „Universalorganisation” äußert sich in der Abhängigkeit der Gemeinde von ihrem Stifter, dem „apostolischen Missionar”, die Lokalorganisation aber bedeutet ihre Selbständigkeit. Organ, „Mandatar”, „Repräsentanten” der „pneumatischen


➝ bedeutet den Geistesbesitz der Christen (vgl. 2 Kor. 13, 5), nicht einer Körperschaft. Natürlich kann Harnack mit seinem Begriff von der „Gemeinde” die Hausekklesien (oben S. 32) nicht in Einklang bringen. Er sagt: das ursprüngliche Verhältnis der „Hausgemeinden” (aber in den Quellen ist von Hauskirchen die Rede!) zur „örtlichen Gemeinde” ist „uns ganz dunkel” (RE. S. 534; ebenso Mission Bd. 1 S. 372).
41) RE. S. 518. Das „monarchische Amt” des Jakobus (ebenso die Stellung der „Ältesten” nach Art eines Synedrium) entbehrt, wie schon bemerkt wurde, der quellenmäßigen Bezeugung (oben Anm. 31), und daß auf heidenchristlichem Gebiet bis auf die Zeit des Clemensbriefes nichts von „Kirchenrecht im eigentlichen Sinne” wahrzunehmen ist, hat Harnack selbst in eingehender Darstellung bestätigt.

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Gesamtgemeinde”, der „pneumatischen Universal- und Missionsorganisation” sind die Apostel und die apostolischen Männer (die Missionare). Sie üben „die Rechte eines General- und Missionssuperintendenten” über die von ihnen gegründeten Gemeinden. Organ der Lokalorganisation sind an erster Stelle die „lokalen Hirten” (Bischöfe, ποιμένες). Sie vertreten die Einzelgemeinde als nur dem himmlischen Kyrios unterworfene „Kirche Gottes’. Im 2. und 3. Johannesbrief wird uns nach Harnack in dem Gegensatz zwischen dem „Presbyter” Johannes und dem Diotrephes „ein flagranter Zusammenstoß der durch den Presbyter repräsentierten pneumatischen Universal- und Missionsorganisation mit der lokalen Organisation” anschaulichst geschildert. Aber die lokale Organisation hat den Sieg davongetragen. Der im 2. Jahrhundert sich durchsetzende monarchische Episkopat bedeutet, daß „der pneumatische Faktor und die Gesamtekklesia ausgeschaltet ist”: die apostolischen Männer sind verschwunden bzw. in den Hintergrund getreten. Die Lokalgemeinde gelangt zur „vollen Souveränetät” und der „monarchische Bischof ist der Exponent der in sich geschlossenen und souveränen Einzelgemeinde”.42)

Und all das, obgleich Harnack43) die Idee von dem „Ineinander von Gesamt- und Lokalgemeinde” als urchristlich erkannt hat! Obgleich die Einzelekklesia auch nach Harnack urchristlich nur eine „Darstellung”, „Projektion” der Gesamtekklesia bedeutet44), soll doch in jener und dieser ein entgegengesetztes Prinzip der Organisation wirksam gewesen sein: in der „Gesamtgemeinde” die pneumatische Gewalt des Apostels bzw. apostolisch begabten Missionars, in der „Einzelgemeinde” die dem Rechtlichen zustrebende Macht örtlicher Organe.


42) RE. S. 518. 520. 523. 524. 531. 533. 545. Wesentlich ebenso schon Mission Bd. 1 S. 386. 387, vgl. S. 375.
43) Vgl. RE. S. 529 und oben S. 37. 38.
44) RE. S. 521. 527. 528.

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In dieser Gedankenreihe setzt Harnack die Gesamtgemeinde (Ekklesia) mit der Missionsgemeinde gleich. Dadurch wird seine Ansicht verständlich. Dadurch wird sie zugleich aber widerlegt. Gewiß: Die Einzelekklesia ist einerseits Werk eines Missionars und deshalb geistlich von ihm abhängig; andrerseits ist sie Werk Gottes (Trägerin des von ihr aufgenommenen göttlichen Wortes) und deshalb geistlich selbständig, jedenfalls zu geistlicher Selbständigkeit berufen: als Gegensatz zu dem „Regiment der Missionsgemeinde” durch ihren Missionar ist ein nach Selbständigkeit strebendes „örtliches Gemeinderegiment” vorstellbar. Aber ebenso gewiß ist die Gleichsetzung der Missionsgemeinde mit der Gesamtgemeinde (Gesamtekklesia) ein Irrtum, auch abgesehen davon, daß die „Gesamtgemeinde” das Werk verschiedener Missionar ist, also in mehrere „Missionsgemeinden” zerfällt. Die Gesamtgemeinde, deren Widerspiegelung, Darstellung, Projektion die Einzelgemeinde bedeutet, ist die Ekklesia, das Volk Gottes, nicht die Missionsgemeinde irgendeines Missionars. Die Missionsgemeinde Petri, Pauli ist als solche religiös wertlos und darum für die urchristliche Anschauung überhaupt gar nicht vorhanden.45) Die „Missionsgemeinde” als solche ist nichts „Pneumatisches”, Religiöses, sondern etwas rein Zufälliges, Irdisches, Gleichgültiges. Pneumatisch ist nur die Ekklesia Gottes, die Gesamtekklesia ohne Unterscheidung der Missionsgebiete. Diese pneumatische Größe aber steht in keinerlei Gegensatz, Spannung zu der einzelnen Ekklesia: gerade sie (die „universale” Größe) ist das Werk Gottes (nicht eines Missionars), die Kirche Gottes (nicht eines Apostels), und nur weil diese Gesamtekklesia in der Einzelchristenheit erscheint, kann die letztere sich selbst als Ekklesia, als Kirche Gottes beurteilen. Die „doppelte Organisation” beruht auf der


45) Selbst die Teilung der Missionsgebiete, von welcher Paulus Gal. 2, 9 berichtet, spielt darum in der Kirchengeschichte keine Rolle.

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Verwechslung von Missionsgemeinde und Ekklesia (Kirche), auf der irrigen Beurteilung der „Missionsgemeinde” als einer pneumatischen, religiösen, selbständig (zentral, monarchisch) organisierten „universalen” Größe. Religiös (und nur diese Betrachtung gilt in der Urchristenheit) gibt es nur die Ekklesia, und zwar als „universale” Größe, das Volk (die Kirche) Gottes auf Erden, gibt es nur die, wenn man es so ausdrücken will, „Zentralorganisation” der Gesamtkirche, und diese „Zentralorganisation” steht nicht über und in Gegensatz zu der „Lokalorganisation”, sondern sie erscheint in der „Lokalorganisation” jeder einzelnen Christenheit. Die Organisation der allgemeinen Christenheit tritt ausschließlich in der Organisation der örtlichen Christenheit in die Erscheinung und in das Leben, da die allgemeine Christenheit nur in den örtlichen Christenheiten sichtbar und wirksam wird.46) Die geistliche Gewalt der Apostel und apostolischen Männer beruht in der Tatsache, daß durch die „Zentralorganisation” der allgemeinen Christenheit gerade die „Lokalorganisation” jeder örtlichen Christenheit maßgebend und ausschließlich bestimmt ist. Antinomie, Spannung, doppelte Organisation ist nicht da und kann überhaupt nicht da sein.

Gerade dies ist es, was die Quellen unzweideutig ergeben. Überall wo Betrachtungen über die Organisation auftreten, erscheint ausschließlich die Gesamtekklesia. Durch ihre Organisation ist die Organisation jeder örtlichen Ekklesia gegeben. Auch die Amtsträger (wenn man den Namen gebrauchen darf) der örtlichen Christenheit, Bischöfe und Diakonen, werden darum unter die Organe der ökumenischen Christenheit eingereiht. Sie dienen der Christenheit (eine andere Größe gibt es nicht), keineswegs einer Ortsgemeinde. Die allgemeine Kirchenverfassung äußert sich in der


46) Erst seit dem dritten Jahrhundert gehen aus der Ortskirchenverfassung Organe (die großen Synoden, die großen Bischöfe) hervor, welche Träger einer von der Ortskirchenverfassung sich unterscheidenden Gesamtkirchenverfassung werden.

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örtlichen Kirchenverfassung: würde doch sonst die örtliche Kirche keine Erscheinungsform der allgemeinen Kirche, der Ekklesia, sein! Diese Auffassung vertritt der Apostel Paulus.47) Ihr folgen die Apostelgeschichte, der Kolosserbrief, der Epheserbrief, der Petrusbrief, die Apostellehre, Ignatius, Hermas.48) Sie wirkt deutlich bis in das dritte Jahrhundert nach (Origenes).49) Harnack selber hat das erkannt und anerkannt. Und doch!

Die letzte Quelle für die Selbstwidersprüche Harnacks liegt in seinem Verhältnis zu dem Wahrheitsgehalt der urchristlichen Grundidee. Er findet die „ideelle Einheit” von Gesamtgemeinde und Einzelgemeinde „paradox” und meint: tatsächlich konnte der Unterschied „natürlich” nicht aufgehoben werden (vgl. die „doppelte Organisation”), er „machte sich vielmehr immer stärker geltend” (RE. S. 519). In seiner Missionsgeschichte nennt Harnack die Idee von der Darstellung der „gesamten Kirche Gottes” durch „jede Gemeinde” eine „merkwürdige Überzeugung”, wir „wissen nicht, wie sie entstanden ist”: die einzelne Synagoge hat „sich nicht so betrachtet”, und „mit einem Schlage hat sie sich nicht entwickelt”: Paulus hat „noch zwei sich widersprechende Vorstellungen” (die Ideen Harnacks von der „doppelten


47) Röm. 12, 4ff.: der (charismatischen) Gliederung des Leibes Christi gehört auch die „Diakonie” an (in der örtlichen Ekklesia dienende Tätigkeit). 1 Kor. 12, 27ff.: die Organisation der korinthischen Ekklesia ist durch die „von Gott gesetzte” Organisation des Leibes Christi (der Gesamtekklesia) gegeben.
48) Ap. Gesch. 20, 28: Der „heilige Geist” hat Bischöfe zu Ephesus eingesetzt, zu „weiden die Kirche Gottes.” Kol. 4, 17: Archippus hat seinen „Dienst” (διακονία) „im Herrn” empfangen (auf eine Weisung des Geistes): der von Gott gegebene Dienst ist Dienst an der Kirche Gottes. Eph. 4, 11: wie die Apostel und Propheten, so erscheinen auch die Bischöfe (ποιμένες) als Ausstattung der Gesamtekklesia. Genau die gleiche Anschauung in 1 Petr. 4, 10ff., in der Apostellehre, bei Hermas, Ignatius („wo der Bischof ist, da ist die katholische Ekklesia”). Vgl. die Ausführungen von Harnack selber RE. S. 519-523. 526. 527.
49) Vgl. Harnack RE. S. 520.

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Organisation” sind gemeint). Aber die merkwürdige Überzeugung bedeutete eine „wunderbar praktische Konzeption”, eine Lösung der schwierigsten Probleme jeder großen Organisation, die „jeder Staatsmann und Politiker aufs höchste bewundern muß” (!): die volle Selbständigkeit der lokalen Gemeinde ward verbunden mit einer „starken und einheitlichen, das ganze Reich umspannenden Gesamtordnung, die allmählich auch zu einer Gesamtverfassung wurde” (Mission Bd. 1 S. 363. 364). Nichts aber kann urchristlichen Gedankengängen ferner stehen als diese Auffassung Harnacks. Von der angeblich „starken und einheitlichen, das ganze Reich umspannenden Gesamtordnung” mag hier abgesehen werden.50) Die Hauptsache ist, daß Harnack die Christenheit hier als eine soziale, gesellschaftbildende Größe und ihre Organisation als eine politische setzt. Daher dies Wunder für den „Staatsmann und Politiker”, zugleich aber dies „Paradoxe”, „Merkwürdige”, eigentlich Unverständliche: die Einzelgemeinde ist ja sozial in Wahrheit nicht identisch mit der Gesamtgemeinde! Die urchristliche Grundidee erscheint bei Harnack als ein Widerspruch in sich selbst!51)

Alle Rätsel lösen sich, sobald die einfache Wahrheit klar erkannt wird, daß die Ekklesia des Urchristentums, die ἐκκλησία τοῦ θεοῦ (τοῦ Χριστοῦ), eine religiöse Größe darstellt (was ja selbstverständlich ist!), und daß sie folgeweise nur unter


50) Kurz vorher (S. 362) hat Harnack selber gesagt: die Organisation der allgemeinen Christenheit „bestand zunächst nur in dem religiösen Gedanken”, sie war eine „rein ideale” und wäre schwerlich auf die Dauer wirksam geblieben, wenn sich nicht „die lokale Organisation zu ihr gesellt hätte”. Der Selbstwiderspruch ist auch hier in vollkommener. Das Richtige ist, daß die lokale Organisation der Gesamtorganisation nicht zur Seite stand, sondern ihre einzige Ausdrucksform bildete, sowie daß die spätere Gesamtverfassung aus dieser örtlichen Verfassung (nicht aus einer von ihr zu unterscheidenden Gesamtordnung) hervorgegangen ist.
51) Daher die „fundamentale Antinomie und Spannung”. Die beiden sozialen Größen: die Missionsgemeinde (eines Apostels) und die Einzelgemeinde als solche können natürlich niemals miteinander identisch sein.

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dem religiösen, niemals unter dem politischen Gesichtspunkt betrachtet und beurteilt werden kann. Religiös erscheint die Christenheit auf Erden in ihrem ganzen Wesen, mit aller ihrer Kraft in jeder Christenversammlung. Es ist ganz das gleiche, ob alle Christen an einem Ort oder ob die verschiedenen Christen an verschiedenen Orten versammelt sind. Wo Christi Geist ist, da ist Christenheit, Ekklesia, immer dieselbe Christenheit, dieselbe Ekklesia. Die Versammlung von „zwei oder drei” ist religiös gleichwertig mit der ökumenischen Versammlung. Das religiöse Wesen der ökumenischen Christenheit wird sichtbar in den Versammlungen der örtlichen Christenheit (und zwar bis in das 3. Jahrhundert nur in ihnen). Religiös (ideell) ist die örtliche Christenheitsversammlung (nicht die „Gemeindeversammlung”, sondern jede Christenversammlung an jedem Ort) Erscheinung, Darstellung der gesamten Christenheit.

Nicht ist unpolitischer, aber nichts ist religiös einfacher und wahrer als diese Gedankenreihe. Wo ist die „fundamentale Antinomie und Spannung”? Wo das „Paradoxe”? Wo das „Merkwürdige”? Und wir sollten „nicht wissen”, wie diese „merkwürdige Überzeugung” entstanden ist? Wir sollten glauben, daß sie „nicht mit einem Schlage sich entwickelt hat”? „Aus dem Judentum stammt sie nicht.” Gewiß nicht! Ihr Ursprung ist anderer, höherer, geistlicher Art. Er ist von vornherein in dem Glauben der Christenheit gegeben. Er liegt in dem Wort des Herrn: „wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen”. Dies Wort geht durch die ganze Kirchengeschichte.52) Es führt die Alleinherrschaft in der Urchristenheit. Es gilt noch heute für die Kirche Christi, für die Kirche im religiösen Sinn (oben S. 29): die Kirche als geistliche Größe erscheint heute wie zu allen Zeiten in jeder Einzelversammlung der Christenheit.


52) Davon habe ich in dem ersten Bande meines Kirchenrechts zu handeln versucht.

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Weil das Urchristentum nur den religiösen Begriff der Kirche (Ekklesia) hat und folgeweise diesen Begriff auch auf die äußerlich sichtbare Christenheit anwendet, beurteilt es jede Einzelversammlung als Kirche, kennt es nur die Kirche, nicht die Gemeinde. Eine „doppelte Organisation” ist unmöglich. Was an Organisation, Verfassung aufkommt, muß Kirchenverfassung sein. Eine Gemeindeverfassung in unserem Sinne gibt es nicht.