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Vorwort.

Der nachstehende Aufsatz ist in den Abhandlungen der philosophisch-historischen Klasse der Königl. Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften Bd. 27 Nr. 10 (1909) zum erstenmal veröffentlich worden. Da die damals hergestellten Sonderabzüge vergriffen sind, erscheint hier ein zweiter unveränderter Abdruck. Ich füge ein Vorwort hinzu, um zu der Kritik Stellung zu nehmen, die Harnack an meinen Ausführungen geübt hat (A. Harnack, Entstehung und Entwickelung der Kirchenverfassung und des Kirchenrechts in den zwei ersten Jahrhunderten nebst einer Kritik der Abhandlung R. Sohms: „Wesen und Ursprung des Katholizismus” und Untersuchungen über „Evangelium”, „Wort Gottes” und das trinitarische Bekenntnis, Leipzig 1910). Zugleich bietet mit dies Vorwort erwünschte Gelegenheit, der wesentlichen Förderung zu gedenken, welche die zwischen Harnack und mir verhandelte Frage durch die soeben erschienene Abhandlung von O. Scheel, Zum urchristlichen Kirchen- und Verfassungsproblem (Theol. Studien und Kritiken Jahrg. 1912 Heft 3) erfahren hat.

Es ist nicht leicht, mit Harnack zu streiten, da sein Wort, insbesondere soweit es den ersten Jahrhunderten der Christenheit gilt, in der Wissenschaft mit Recht das größte Gewicht besitzt. Auf dem Gebiet der älteren Kirchengeschichte sind wir alle seine dankbaren Schüler. Um so mehr erfüllt es mich mit Genugtuung, daß Harnack den von mir entwickelten Gedanken in den Hauptsache zustimmt. Ich glaube das ausdrücklich betonen zu sollen, da ich in sämtlichen Besprechungen der Harnackschen Schrift, die mir zu Gesicht gekommen sind, habe lesen müssen, daß ich von Harnack „glänzend widerlegt” sei. Die eben erwähnte Schrift von Scheel ist

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die erste, welche hervorhebt, daß Harnack sich in wesentlichen Stücken an mich angeschlossen hat.

Der Grundgedanke meiner Arbeit lautet: Die älteste Christenheit kannte nur den religiösen Begriff der Kirche. Dieser Grundgedanke wird von Harnack (a.a.O. S. 162) bestätigt: „Ich unterschreibe dieses Wort, denn es läßt sich in der Tat an den Quellen sicher erweisen.” Mit der Anerkennung dieses Grundgedankens ist, wie schon hier bemerkt sei, die ganze bisher herrschende Lehre von der urchristlichen Verfassung, auch — wie ich hinzufügen darf — die ganze bisher von Harnack vertretene Lehre aufgegeben. An diesem Satz scheitert alles, was man von alten Zeiten her über urchristliche „Gemeindeorganisation”, was Harnack über „doppelte Organisation” geschrieben hat. Gibt es in der Urzeit nur einen Kirchenbegriff, den religiösen — das wird jetzt eingeräumt —, so ist auch in der Urzeit nur eine kirchliche Organisation möglich, nämlich eine Organisation religiöser Art: wie die Kirche so die Kirchenordnung.

Harnack hat nicht bloß den Grundgedanken, sondern auch die wichtigsten aus ihm sich ergebenden Folgesätze als zutreffend anerkannt.

Der eine Folgesatz lautet: Die älteste Christenheit wandte den religiösen Kirchenbegriff (einen anderen hatte sie nicht) auch auf die äußerlich sichtbare Christenheit an; gleich dem alttestamentlichen Israel erschien auch das neutestamentliche Gottesvolk als eine sichtbare Größe.1) Es ist sichtbar in jeder Christenversammlung. Alle Christenversammlungen sind „Kirche” im religiösen Sinn des Wortes. Die örtliche Ekklesia ist nicht Gemeinde in unserem Sinn, sondern, wie ihr Name sagt, Ekklesia, die Kirche Gottes in sichtbarer Gestalt. Die örtliche Ekklesia ist Abbild, Erscheinung der Gesamtekklesia, des Volkes Gottes auf Erden. Diesen Satz


1) Ebenso Harnack S. 161. 163: Dazu eine wertvolle Ausführung bei Scheel, S. 409-416.

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hat Harnack bereits in den dritten Auflage seiner Dogmengeschichte angenommen (vgl. unten S. 37 Anm. 30). Er wiederholt ihn in seiner jüngsten, oben angeführten Arbeit (S. 35. 36. 65), allerdings, wie wir schon sehen werden, nicht ohne Sätze entgegengesetzten Inhalts damit zu verbinden.

Aus den entwickelten Sätzen ergibt sich dann der abschließende Folgesatz: Wenn für das religiöse Gemeinleben der Urchristenheit Kirchenrecht aufkommt, kann es nur göttliches d.h. katholisches Kirchenrecht sein. In der Gleichsetzung der sichtbaren Christenheit mit der Kirche Christi (dem Volke Gottes), in der Tatsache, daß auch für die Gestaltung des Gemeinlebens der Christenheit nur der religiöse Kirchenbegriff da war, lag die innere Notwendigkeit begründet, die aus dem Urchristentum, sobald es zur Rechtsordnung überging, den Katholizismus hervorbrachte: die Kirche im religiösen Sinn kann nur religiös begründetes, von Gott abgeleitetes Kirchenrecht haben; sobald Kirchenrecht entsteht, muß das Kirchenrecht Recht für die Kirche Christi, für das Leben der Christenheit mit God werden, d.h. aus dem Urchristentum muß Katholizismus hervorgehen. Auch dieser Schlußfolgerung hat Harnack (S. VII. 143ff. 177. 183) zugestimmt. Er sagt, daß ich in dem, was ich behaupte, „wesentlich recht” habe, unrecht nur in dem, was ich ausschließe. Er verlangt also nur eine Ergänzung, nicht aber eine Berichtigung meiner Darstellung. Gewiß, jener große geschichtliche Vorgang beruht auf dem Zusammenwirken verschiedener Kräfte. Trotzdem ist es Erfordernis für das wissenschaftliche Verständnis, die eine Kraft zu erkennen, welche den Ausschlag gegeben hat. Davon habe ich gehandelt, und die Tatsache, daß auch nog andere Kräfte mitgewirkt haben, das Wesen des Katholizismus zu erzeugen und zu bestimmen, bedeutet keinen Beweisgrund gegen mich, sondern vielmehr die Voraussetzung, von welcher meine Arbeit ausgeht. Harnack (S. 184. 185) will neben die Gleichsetzung der empirischen rechtlich sich verfassenden Kirche

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mit der Kirche Christi die Umschmelzung des christlichen Glaubens in eine „apostolische”, autoritär überlieferte philosophisch-hellenische Lehre als das Wesen des Katholizismus erzeugend setzen. Aber er selbst (S. 184) muß zugeben, daß auch „jede gnostische Schulsekte” diese „Hellenisierung” des christlichen Glaubens aufwies, daß das Unterscheidende, was den geschichtlich zum Siege gelangten Katholizismus kennzeichnet, allein in der Umbildung der Kirche Christi zu einem rechtlich verfaßten Gemeinwesen gegeben ist. Das göttliche Kirchenrecht kennzeichnet und beherrscht die ganze eigentümlich katholische Entwicklung.

Aber, sagt Harnack, das göttliche Kirchenrecht war sofort gegeben, war nicht (wie ich annehme) das Erzeugnis einer späteren erst mit dem Ende des ersten Jahrhunderts einsetzende Entwickelung; göttliches Kirchenrecht war nach Harnack „immer da”. Dies (und in Zusammenhang damit die Frage nach einer rechtlichen Ortsgemeindeverfassung) ist der Punkt, in welchem Harnack (S. 158ff) mir widerspricht. Für die äußere Ordnung urchristlichen Gemeinlebens soll von vornherein göttliches Kirchenrecht in Geltung gewesen sein. Hätte Harnack mit dieser seiner Behauptung recht, so wäre allerdings, wie Leder in der Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Bd. 32, Kanonistische Abteilung, 1911, S. 290ff. folgerichtig schließend ausführt, das Urchristentum von vornherein katholisch gewesen. Harnack selber sagt (S. 182 Anm. 1): „Der Katholizismus ist also, wenn man seine embryonale Form einbegreift, so alt wie die Kirche, kaum ein oder das andere seiner Elemente hat gefehlt.”2) Auf S. 160 heißt es entsprechend:


2) Die in dieser Richtung gehenden schon in seinen früheren Schriften für die religiöse Art des Urchristentums vertretenen Gedanken Harnacks hat bereits Battifol, L’église naissante et le catholicisme, 4. Aufl. Paris 1909, ins Deutsche übersetzt von Seppelt, Urkirche und Katholizismus, 1910, zugunsten des Katholizismus verwertet. Jetzt kann Harnack auch für das uranfängliche göttliche Kirchenrecht als Kronzeuge zitiert werden.

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„Das göttliche Kirchenrecht ist so alt wie die Kirche selbst.” Harnack fügt zwar (S. 182) einschränkend hinzu: „Die katholischen Elemente konstituieren nicht das Wesen des Urchristentums; es wäre daher irreführend, das Urchristentum katholisch zu nennen; auch für das nachapostolische Zeitalter vermeidet man diese Bezeichnung besser noch.” Wird aber das göttliche Kirchenrecht mit Harnack in die ersten Anfänge des Christentums gesetzt, so wäre im Wesen des Urchristentums bereits das Wesen des Katholizismus gesetzt gewesen. Daher die Bedeutung der Frage: welche Gründe hat Harnack für das von ihm behauptete urchristliche göttliche Kirchenrecht?

Es sind zwei Gründe, die im folgenden geprüft werden sollen.

Den einen Grund findet Harnack (S. 101. 163) darin, daß die Urchristenheit sich als das neutestamentliche Volk Gottes, als das neutestamentliche Israel, also als „die Nachfolgerin einer in Rechtsformen verfaßten heiligen Gemeinschaft” setzte: „als das Volk Gottes war die Christenheit Theokratie” (S. 101), „die Theokratie umschließt aber stets den Gedanken des Rechts und der Herrschaft Gottes, also war göttliches Kirchenrecht stets vorhanden” (S. 163). Gewiß, das Volk Gottes (die Ekklesia) steht unter der Herrschaft Gottes. Das Christentum aber hat den Begriff des Volkes Gottes und damit auch den der Theokratie ins Geistliche gewandt. Das Volk Gottes im alten Testament war ein natürliches Volk, körperlich gegeben: die Söhne Abrahams, ein Volk nach Recht und Gesetz regiert gleich allen andern Völkern, wenn auch in den Formen einer „Theokratie”. Das Volk Gottes im neuen Testament aber ist ein geistliches Volk: Kinder Gottes, nicht Kinder Abrahams. Der Geist Gottes macht zum Kinde Gottes. Darin beruht das Wesen des Christentums. Der Geist Gottes regiert das Volk Gottes. Aber der Geist Gottes ist in jedem Christen. Darum ist kein Christ dem andern geistlich untertan. Lediglich kraft des

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Geistes, der in ihm selber ist, ordnet der Christ der von ihm erkannten Gabe des anderen Christen sich unter. Der Geist Gottes regiert das Volk Gottes durch die Verteilung der verschiedenen Gnadengaben (charismatische Organisation). Im neutestamentlichen Israel äußert die Theokratie sich darum nach dem treffenden Ausdruck Scheels (S. 455) ausschließlich als „Pneumatokratie”, nicht in der Form von Recht und Gesetz. Die Erzeugung einer in Rechtsformen sich bewegenden Theokratie war das Werk erst des Katholizismus.3) Harnack (S. 117) spricht von einem „formgebenden Zusammenhang mit der Organisation des Judentums”. Wo aber ist im Urchristentum auch nur eine Spur von hohepriesterlichem oder irgendwie ähnlichem Regiment? Keine einzige Tatsache, in welcher gesetzlich-theokratische Art sich ausspricht, kann von Harnack angeführt werden. Nach Harnack (S. 163) selber war die Theokratie (im jüdischen Sinne) im Christentum nur „latent” vorhanden. Noch mehr. In der Verfassungsentwickelung zu Jerusalem sieht Harnack (S. 133 Anm. 1) ein besonders wertvolles Zeugnis für den Zusammenhang des Urchristentums mit jüdischem Wesen. Aber was gilt nach Harnack selber von der jerusalemischen Christenheit? „Das, was sich hier gebildet hatte, war keine Theokratie und doch eine Theokratie”: der Gedanke „politischer Herrschaft” (Theokratie im jüdischen Sinn) „lag so fern wie möglich”, und doch ward alles was die Ekklesia betraf „als Gottes Geist, Herrschaft und Anordnung betrachtet” (S. 15). Mit anderen Worten: es gab auch in Jerusalem keine Theokratie im jüdischen (gesetzlichen) Sinn, sondern nur eine Theokratie im christlichen pneumatischen Sinn. Der Zusammenhang mit der jüdischen Organisation war selbst in Jerusalem nicht bloß „fast”, sondern gänzlich aufgehoben durch das Pneumatische. Es gab nicht, wie Harnack (S. 117) meint, eine neben der pneumatischen


3) Vgl. die treffende Ausführung von Scheel S. 450-455.

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herlaufende „theokratische Linie”; die pneumatische Line fiel vielmehr im Urchristentum „mit der theokratischen zusammen” (Scheel S. 455). Wo bleibt die Schlußfolgerung: weil jüdisch-theokratische Art fortlebte, „war göttliches Kirchenrecht stets vorhanden”? Es ergibt sich vielmehr das Gegenteil: weil alle jüdisch-theokratische Art „so fern wie möglich lag”, war göttliches Kirchenrecht im Urchristentum ausgeschlossen.4)

Den anderen Grund für das sofortige Einsetzen von göttlichem Kirchenrecht findet Harnack in dem nach seiner Ansicht zweifellosen Dasein einer körperschaftlichen (also rechtlichen) Ortsgemeindeverfassung im Urchristentum. Daß die örtliche Einzelgemeinde als solche eine längere Zeit hindurch nichts bedeutete, und daß es „lokale Ämter” ursprünglich nicht gegeben habe, „ist unrichtig” (S. 166). Allerdings: „Der Beweis gegen Sohm ist schwer zu liefern”, nach Harnacks Ansicht (S. 166), weil „Sohm hartnäckig behaupten kann”, daß „das Lokale nur als Erscheinung des Universal-Einen gedacht” sei; in Wahrheit (das hat Schee S. 418ff. jetzt unwiderleglich klag gestellt), weil die Quellen der apostolischen Zeit „hartnäckig” nur von dem „Universal-Einen”, von der Ekklesia und ihrer Ordnung sprechen: für die Ordnung der


4) Auf den Gedanken Harnacks (S. 164), daß auch das Charisma „aber zugleich eine rechtliche Kompetenz” bedeute, braucht nicht näher eingegangen zu werden. Harnack selbst will in dieser Hinsicht lieber von bloßen „Rechtsansätzen” sprechen. Entscheidend ist, daß das Charisma niemals kraft einer vergangenen Tatsache wirkt (darum sind auch keine „Rechtsansätze” da). Es wirkt nur als gegenwärtig vorhandenes und anerkanntes. Auch die „Wahl” bedeutet nur Anerkennung des Charismas als eines gegenwärtigen, und zwar Anerkennung aus dem Geist heraus, der gegenwärtig in der Christenheit wirkt. Keine Tatsache der Vergangenheit, keine Wahl, kein Beschluß irgendeiner Versammlung kann die Gegenwart binden, wenn heute der Geist Gottes etwas anderes offenbart. Die charismatisch-pneumatische Organisation ist das Gegenteil jeder rechtlichen Verfassung. Die beste Erläuterung dazu gibt Scheel S. 447ff.

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Einzelekklesia als einer örtlichen rechtlich verfaßten Größe in Harnacks Sinn gibt es kein einziges Quellenzeugnis. Die von mir vertretene Auffassung hat man geglaubt als „Theorie” eines „konstruierenden” Juristen ablehnen zu können. Wenn „Konstruktion” ein Vorwurf sein soll, so kann nur falsche, in die Luft bauende, bodenlose Konstruktion gemeint sein. Denn rechte Konstruktion, Aufbau der Quellenzeugnisse zu einem geordneten, den Grundgedanken der geschichtlichen Einzelheiten aussprechenden Ganzen, ist mit wissenschaftlicher Behandlung gleichbedeutend. Wer konstruiert nicht? Etwa Harnack oder die herrschende Lehre? Bei wem aber ist die bodenlose Konstruktion? Die überlieferte Lehre baut auf dem Boden des Gedankens: wie es heute ist, so war es immer! Das nenne ich: in die Luft bauen. Die Schwierigkeit, die „mit uns geborenen” Gedanken von heute aufzugeben und einen aus ganz anderen Gedanken heraus gewordenen Aufbau zu verstehen, ist der einzige Grund für die Zähigkeit, mit welcher die überlieferte Lehre trotz aller Quellenzeugnisse sich behauptet.5) Nun hat ja


5) Die katholischen Schriftsteller stehen natürlich noch viel entschlossener auf dem Boden des Satzes: es kann früher nicht anders gewesen sein als jetzt. Ein Beispiel gibt Battifol, Urkirche, deutsch von Seppelt S. 363 Anm. 3. Er spricht von dem aus dem 2. Jahrhundert stammenden, noch im 3. Jahrhundert verkündeten Satz: unum episcopum in catholica esse debere. Der Wortlaut ist so bestimmt wie möglich. Aber, sagt Battifol: „sicher” hat das Wort „nicht sagen wollen, daß es nur einen Bischof in der katholischen Kirche geben dürfe.” Also „sicher” ist das nicht gesagt, was auf das ausdrücklichste gesagt ist. Gegen den Satz „wie es heute ist, so war es immer”, hilft kein Quellenzeugnis. Battifol will das Wort natürlich nur dahin verstehen: in jeder Einzelgemeinde darf nur ein Bischof sein, und bemerkt, daß zu catholica das Wort ecclesia zu ergänzen ist; „diese Beobachtung ist sehr wichtig”. Sie ist allerdings sehr wichtig, aber weil sie beweist, daß nicht von der Einzelgemeinde, sondern von der Ekklesia, von der Kirche die Rede ist. Battifol S. 367 hat dementsprechend auch für den Cyprianischen Satz: episcopatus unus est, überhaupt kein Verständnis. Das hängt natürlich alles mit seinem katholischen Standpunkt zusammen.

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zweifellos Harnack, was bei der Tiefe seiner Forschung und der Originalität seiner Auffassung selbstverständlich ist, in sehr erheblichem Maße von der Macht des Heutigen und damit von der überlieferten Lehre sich befreit. Aber auch bei ihm spielt die Berufung auf die „notwendig” (d.h. nach Maßgabe heutiger Anschauungen notwendig) „sich einstellende Organisation der Einzelgemeinde” (S. 161), auf die (S. 168) „unbefangene” (d.h. durch unsere Anschauungen bestimmte) Lektüre des neuen Testaments, auf die „einfachere und natürliche” (d.h. uns natürlich dünkende) „Auslegung” (S. 168 Anm. 1) eine Rolle. Doch sind das bei ihm nur Untertöne. Das Hauptgewicht legt er auf Gründe geschichtlicher Art. Es sind deren zwei. Einerseits die Art der späteren (katholischen) Entwickelung, andererseits das Zeugnis in Matth. 18, 15ff.

Die spätere katholische Entwickelung6) beruht auf der Ordnung der Einzelekklesien mit Bischöfen, Presbytern, Diakonen. Nach Harnack (S. 168) sind diese Häupter der Ekklesia, wie wir „aufs sicherste erkennen”, jedenfalls „von den Ignatiusbriefen an lediglich Beamte der Einzelgemeinde gewesen”. Noch sicherer aber erkennen wir, daß der Bischof der Ignatiusbriefe trotz Harnack ein Bischof der Ekklesia, der Christenheit ist. Der Gedankengang der Igantiusbriefe ist: wo der Bischof ist, da ist Christus (Philad. 3, 2: „die Gottes und Jesu Christi sind, die sind mit dem Bischof”); darum „wo der Bischof ist, dorst sei die Menge, sowie wo Jesus Christus, dort ist die katholische Ekklesia” (Smyrn. 8, 2). Wo der Bischof, dort ist Christus und damit „die allgemeine Christenheit”. Der Bischof macht nicht die Seinen zur Ortsgemeinde, er macht (in Gemeinschaft mit Presbyterium und Diakonen) sie vielmehr zur Ekklesia, zum Volke Gottes (Trall. 3, 1:


6) Ich gehe auf diesen Punkt näher ein, weil auch Scheel S. 440. 456 der Ansicht ist, daß in der nachapostolischen Zeit eine Entwickelung zu örtlich gerichteter Verfassung eingetreten sei.

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χωρὶς τούτων ἐκκλησία οὐ καλεῖται). Genau das gleiche lesen wir bei Irenäus (character corporis Christi secundum successiones episcoporum) und bei Cyprian (episcopum in ecclesia esse et ecclesiam in episcopo.7) Wo der Bischof ist, dort ist die katholische Kirche: der Bischof ist ein Bischof der katholischen Kirche, der Christenheit auf Erden, nicht der Ortskirche als solcher. Gerade darauf beruht noch im dritten Jahrhundert Cyprians ganze Lehre von der Einheit der Kirche: episcopatus unus est, es gibt nur einen Episkopat in der ganzen Christenheit, den Episkopat, den Petrus (mit der Binde- und Lösegewalt) empfangen hat, der in jeder Einzelekklesia sich wiederholt: weil überall derselbe eine Bischof (der Nachfolger Petri), darum nur nur darum ist überall dieselbe eine Kirche.8) Noch im dritten Jahrhundert ist die Ortsekklesia als solche nichts; sie ist, was sie ist, nur als Darstellung der einen allgemeinen Christenheit auf Erden. Sie hat Kirchenverfassung (die eine Verfassung der Kirche Christi) und sie muß Kirchenverfassung haben: die Verfassung der Christenheit (nur einen Bischof darf es in der Christenheit geben: unum episcopum in catholica esse debere) muß sich in jeder Ortsekklesia wiederholen, damit sie die katholische Kirche sei, die von dem einen Bischof (Petri Nachfolger) regiert wird. Gewiß, jedem einzelnen Bischof ist eine portio gregis adscripta: sein Dienst bezieht sich zunächst auf die karthagische, römische Christenheit usf. Aber nicht als ob er ein Bischof nur dieser Ortschristenheit wäre. Er kann das gar nicht sein, er wäre sonst kein rechter Bischof der Ekklesia, er könnte seine Gemeinde nicht zur Christenheit machen. Sein Dienst bezieht sich im Grundsatz auf die ganze Christenheit: unum gregem pascimus (wir Bischöfe), a singulis in solidum pars (episcopatus) tenetur, „wir haben einen Anteil an dem Episkopat, so daß jeder


7) Vgl. zu dem Obigen Kirchenrecht Bd. I S. 196ff.
8) Vgl. Kirchenr. Bd. I S. 251 Anm. 5.

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das Ganze innehat”, den Episkopat über die ganze Kirche.9) Die Cyprianische Lehre ist die gemeine Kirchenlehre seiner Zeit. Auch der römische Bischof Cornelius vertritt bekanntlich den Satz: unum episcopum in catholica esse debere (Euseb. VI, 43, 11; Cypr. ep. 49, 2). Auch das römische Presbyterium schreibt (Cypr. ep. 36, 4): omnes nos (wir Bischöfe alle mit Einschluß des römischen Presbyteriums, welches zur Zeit den Bischof vertritt) decet pro corpore totius ecclesiae excubare. Die Autonomie eines jeden Bischofs (Cyprian sagt: „nur dem Herrn sind wir Rechenschaft schuldig”) beruht darin, daß jeder Bischof als Nachfolger Petri die höchste Spitze der ganzen Kirche darstellt. Der römische Bischof hat einen Vorrang, weil sein Sitz die principalis cathedra, den ursprünglichen Stuhl Petri, darstellt, dem alle andern nachgebildet sind, aber keine rechtlich wirkende Obergewalt, denn auch die andern Bischöfe sind Nachfolger Petri, Inhaber der obersten Regierungsgewalt über die ganze Christenheit (der Schlüsselgewalt: in der Schlüsselgewalt besteht nach Cyprian die Gewalt Petri und ebenso die Gewalt eines jeden Bischofs). Das ist alles ganz anders, als es heute ist! Darum kann die herrschende Lehre Das unmöglich für Recht des dritten Jahrhunderts halten.10) Die


9) Die Zitate sind aus Cyprian, vgl. Kirchenr. Bd. I S. 251ff. 345ff., wo noch eine Reihe von weiteren Belegen.
10) Meine Ausführungen über die von Cyprian und seinen Zeitgenossen bezeugte Kirchenverfassung des 3. Jahrhunderts sind, obgleich ich wiedergebe, was wörtlich in den Quellen steht, von der herrschenden Lehre als unbeachtlich bei Seite gelassen worden (ebenso wie lange Zeit hindurch meine Ausführungen über das Urchristentum). Harnack ist auch hier einer der Wenigen gewesen, die meinen Ideen Gehör gegeben haben. In der dritten Auflage seiner Dogmengeschichte Bd. I (1894) S. 381 Anm. 1 (ebenso 4. Aufl. S. 417 Anm. 2) hat er (am Schlusse der Anmerkung) Cyprian betreffend zwei Sätze hinzugefügt, die meinen Ausführungen entsprechen: er weist darauf hin, daß jede Einzelgemeinde als Darstellung der einen Kirche, ihr Bischof als Repräsentant Gottes (Christi) galt. Daneben aber hat er im übrigen seinen Text von der „einheitlich organisierten ➝

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Bischöfe mußten bloße Ortsbischöfe gewesen sein; nicht jeder einzelne Bischof als solcher, sondern die „Konföderation” der Bischöfe (von der nirgends ein Wort zu lesen ist) stand im dritten Jahrhundert an der Spitze der gesamten Christenheit! Ich frage: Wo ist die „Theorie”? Wo ist die „Konstruktion”?

Was von dem Bischof, das gilt genau ebenso von Presbytern und Diakonen (sowie den ordines minores). Harnack


➝ Konföderation” (also das Gegenteil) unverändert stehen lassen. — Sehr interessant ist die Zusammenstellung von Quellenzeugnissen, die Ernst in seinem Aufsatz über Cyprian und das Papsttum, Katholik 1911, Heft 10 S. 269 aus den spätern Jahrhunderten gegeben hat. Hier sieht man, wie die im 3. Jahrhundert von Cyprian und dessen Zeitgenossen bezeugten Ideen noch bis in das 9. Jahrhundert (Papst Nikolaus I) Bischöfen und Päpsten gleich geläufig sind. Petrus hat zuerst (vor den übrigen Aposteln) die Schlüsselgewalt empfangen, ihm ist damit als Erstem der Episkopat gegeben worden (die übrigen Apostel empfingen sodann die gleiche Gewalt): die Verleihung der Schlüsselgewalt an Petrus war die Begründung des Amtes und der Gewalt (Schlüsselgewalt), die jedem Bischof gegeben ist: jeder Bischof hat den an Petrus verliehenen Episkopat, — das ist der auch in den Äußerungen der Päpste Siricius, Innocenz I, Pelagius I, Nikolaus I wiederkehrende Inhalt. Zwar meint Ernst a.a.O., diese Zeugnisse sagten, „zugleich mit dem Primat sei auch der Episkopat gestiftet”. Aber derartiges steht nicht da. Siricius sagt (ep. 5, 1): per quem et apostolatus et episcopatus in Christo coepit exordium (das wiederholt Nikolaus I ep. 40). Nicht von primatus et episcopatus, sondern von apostolatus et episcopatus ist die Rede. Apostolatus ist die apostolische, auf die Bischöfe als auf die Nachfolger der Apostel übergegangene Gewalt. Apostolatus ist nicht etwas anderes als episcopatus, sondern mit episcopatus gleichbedeutend. Dementsprechend heißt es bei Papst Innocenz I (ep. 29, 1) lediglich: a quo (Petro) ipse episcopatus et tota auctoritas nominis huius emersit. Pelagius I (bei Ernst a.a.O. Anm. 5): Idcirco uni primum quod daturus erat omnibus dedit, ut secundum beati Cypriani martyris id ipsum exponentis sententiam una esse monstretur ecclesia. Petrus hat zuerst die Schlüsselgewalt empfangen, um zu zeigen, daß dieselbe Gewalt, die Gewalt Petri, in allen Aposteln und allen Bischöfen wiederkehre: darauf allein, auf der Einheit des Episkopats, beruht die Einheit der Kirche, — genau die Cyprianische Idee.

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(S. 171) sagt zwar: „Die Presbyter entsprechen sicher keinem Element der Organisation der allgemeinen Kirche.” Aber das Wort „sicher” ist der einzige Beleg. Die Quellen sagen das Gegenteil. Nach der Apokalypse 4, 1ff. wird in der himmlischen Versammlung der Thron Gottes umgeben von den 24 Thronen der himmlischen Presbyter. Die himmlische Ekklesia hat Presbyter. Ist sie etwa Darstellung einer rechtlich verfaßten Ortsgemeinde?! Sie ist das Volk Gottes im Himmel und auf Erden. Die Ortsekklesia hat Presbyter, die zu bischöflich leitendem Tun berufen sind bzw. bestellt werden können (vgl. Ap.Gesch. 14, 23; Tit. 1, 5-7; Jak. 5, 14), nicht als rechtlich verfaßte Ortsgemeinde, sondern für die eucharistische Feier: als Volk Gottes, Kirche, Ekklesia.11) Ganz von selber, insbesondere in den Zeiten der sich erst ausbreitenden Kirche, gliedert sich das Volk Gottes in Neubekehrte („Jüngere”) und in solche, die als Christen älter sind. Die „Ältesten” der ganzen Christenheit sind die Apostel; sie sind das „Presbyterium der Kirche” (Ignatius ad Philad. 5, 1); die Presbyter in den einzelnen Ortsekklesien sind die Widerspiegelung der Apostel als der „Ältesten” der


11) Die Grundschrift A der apostolischen Kirchenordnung (etwa vom Ende des 2. Jahrhunderts) lehrt dementsprechend (c. 2, Harnack, Texte, Bd. 2 Heft 5, S. 10. 11), unter Berufung auf die Apokalypse, daß in der Ekklesia mindestens zwei Presbyter sein müssen, zu jeder Seite des Bischofs einer (auf die Zahl 24 kommt es nicht an, sondern auf die gerade Zahl, Harnack a.a.O. in der Anm.): das Sitzen zur Rechten und Linken des Bischofs (der Gott, Christum vertritt) gehört zur Abbildung der himmlischen Ekklesia. Die Tätigkeit, die den Presbytern in der zitierten alten Quelle a.a.O. zugeschrieben wird, bezieht sich auf die eucharistische Feier. Die Presbyter sind aus religiösen Gründen (darum wird die Apokalypse zitiert) notwendig, damit die Versammlung eine richtige eucharistische Versammlung sei. Sie müssen mit dem Bischof sitzen wie einst die 12 Apostel mit Christus. Also ganz der gleiche Gedanke wie bei Ignatius: ὡς ἀπόστολοι καὶ ὡς σύμβουλαι τοῦ ἐπισκόπου καὶ τῆς ἐκκλησίας στέφανος. Vgl. Kirchenr. Bd. I, S. 138, 139, 145.

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Christenheit.12) Sie sollten ohne Charisma sein? Ihre Gabe ist die Gabe christlicher Lebensführung. Sie wissen und haben gezeigt, was Christentum ist. Diese Gabe haben sie bewährt. Ihre Gabe ist das Ergreifen des Inhalts des Christentums, damit die Kenntnis der christlichen Überlieferung. Sie sind die gegebenen Mittler zwischen der Gegenwart und der (für die Gegenwart maßgebenden) Vergangenheit, zwischen der Ekklesia von heute und den Aposteln, sie sind die Träger und Zeugen der Tradition.13) Als solche gehören sie zu den


12) Ignatius vergleicht häufig wie den Bischof mit Christus (Gott), so die Presbyter mit den Aposteln (Kirchenr. Bd. I, S. 139). Harnack, S. 171 bemerkt dagegen: „Ignatius steht mit seiner Symbolik allein”. Das würde, auch wenn es zutreffend wäre, nicht viel sagen, denn für die in den Ignatiusbriefen erscheinende Entwickelungsstufe (erste Anfänge des monarchischen Episkopats, Kirchenr. Bd. I, S. 193ff.) sind die Ignatiusbriefe (Anfang des 2. Jahrh.) das einzige Zeugnis. Um die Mitte des 2. Jahrhunderts ist bereits die Idee apostolischer Nachfolge des Bischofs da. Aber die Ignatiusbriefe stehen keineswegs allein. Die Grundschrift der apostolischen Konstitutionen (Ende des 3. Jahrh.) hat den Vergleich der Presbyter mit den Aposteln von den Ignatiusbriefen übernommen (Syrische Didaskalia c. 9, Achelis S. 45. 46). Die pseudoklementinischen Homilien (XI c. 36) schreiben die Zwölfzahl der Presbyter vor. Die Grundschrift A der apostol. KO führt auf einen gleichen Gedankengang (vgl. Anm. 11). Vor allem: im ersten Petrusbrief (5, 1) wird der Apostel Petrus als συμπρεσβύτερος bezeichnet. Die gleiche Idee wie in den Ignatiusbriefen kann gar nicht deutlicher ausgedrückt sein. Wie stark die Gründe sind, die für die Entwicklung des Bischofsamtes und ebenso der Presbyter- und Diakonenstellung, nicht aus der Synagoge oder einem ähnlichen Rechtsverband, sondern aus der eucharistischen Feier sprechen, mag jeder sehen, der es der Mühe wert hält, meine Darstellung im Kirchenr. Bd. I, S. 81ff. zu lesen. Die herrschende Anschauung von „administrativer und exekutiver” Organisation geht von unseren heutigen Ideen aus und ist außerstande, irgendeine von Quellenzeugnissen getragene Anschauung der ältesten Zustände und ihrer Umbildung zum Katholizismus zu gewähren.
13) Den klassischen Beleg gibt der 1. Clemensbrief c. 63. 65: drei Männer, Älteste der römischen Ekklesia (vgl. Kirchenr. Bd. I, S. 97) werden nach Korinth gesandt, οἵτινες μάρτυρες ἔσονται μεταξὺ ὑμῶν καὶ ἡμῶν. Die Männer sind „Greise” und haben bereits „von Jugend ➝

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führenden, entscheidenden Persönlichkeiten der Ekklesia, der Christenheit. Als solche sind sie die geborenen Lehrer der Jüngeren in der Christenheit.14) Als solche sind sie der Beirat des Bischofs der Christenheit, seine Beisitzer und Gehilfen in der Eucharistie.15) Nicht als Vertreter einer


➝ an” der römischen (ἐν ἡμῖν) Christenheit angehört. Ihre Jugendzeit fällt in die Tage der Apostel. Als Zeugen (darum die Dreizahl) sollen sie entscheiden. Was können und sollen sie bezeugen? Die aus der Zeit der Apostel (Petrus und Paulus) stammende Übung der (römischen) Ekklesia, daß die eucharistische Feier durch zu Bischöfen bestellte Älteste zu leiten ist. Sie sind die Zeugen der „apostolischen”, d.h. an die Zeit der Apostel anknüpfenden Überlieferung. Das aus der apostolischen Zeit Stammende ist das Christliche, göttlich Vorgeschriebene, die Gegenwart religiös Bindende (vgl. Harnack, Dogmengesch. Bd. I, 4. Aufl., S. 180ff.). Der 1. Clemensbrief ist das älteste Zeugnis für das katholische Traditionsprinzip (1 Clem. 7, 2: τῆς παραδόσεως ἡμῶν κανόνα) und zugleich für die Geltendmachung der römischen Tradition. Die Zeugen der Tradition sind die Presbyter. Sind sie das nur für die römische Ekklesia? Nein, sie sind maßgebende Zeugen, Presbyter, für die Christenheit überhaupt. Gerade darum werden sie nach Korinth geschickt. Auch in Korinth sind sie die Alten, deren Stimme für die Christenheit entscheidend ist, πρεσβυτεροι τῆς ἐκκλησίας (andere kommen in den Quellen überhaupt nicht vor). — Zu vergleichen ist 1 Petri 5, 1: πρεσβυτέρους τοὺς ἐν ὑμῖν παρακαλῶ ὁ συμπρεσβύτερος καὶ μάρτυς τῶν τοῦ Χριστοῦ παθημάτων. Als Zeuge der Leiden (und des Lebens) Christi ist und heißt Petrus ein „Mitältester” der Christenheit. Die Ältesten sind die Zeugen der für die Gegenwart maßgebenden Vergangenheit. — Der Grundsatz, welcher die Stellung der Ältesten bestimmt hat, ist schon in der apostolischen Zeit in Geltung, vgl. 1 Kor. 16, 15. 16: Das Haus des Stephanas ist die ἀπαρχὴ τῆς Ἀχαίας καὶ εἰς διακονίαν τοῖς ἁγίοις ἔταξαν ἑαυτούς. ἵνα καὶ ὑμεῖς ὑποτάσσησθε τοῖς τοιούτοις καὶ παντὶ τῷ συνεργοῦντι καὶ κοπιῶντι. Die „Erstlinge” der Mission sind die „Ältesten” der sich bildenden Christenheit, sie können Gehorsam verlangen als die Träger der auf die Apostel zurückgehenden Lehre. Durch den Sitz am Altar (in der Eucharistie) ist dann die Stellung der Ältesten in Rechtsform gebracht worden.
14) Von den Pastoralbriefen an gibt es zahlreiche Zeugnisse für presbyteri doctores, Kirchenr. Bd. I S. 47 Amn. 31, S. 149 Anm. 28.
15) Ignat. ad. Magn. 6, 1: Die Presbyter gleichen dem συνέδριου ἀποστόλων; Trall. 3, 1: τοὺς δὲ πρεσβυτέρους ὡς συνέδριον θεοῦ. Hermas ➝

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rechtlichen Ortsgemeindeverfassung, sondern als das „Ratskollegium Gottes”, als die „Ratgeber der Kirche”, als Geistliche (Geistesträger), d.h. Charismatiker.16) In ihnen lebt und spricht der Geist der Vergangenheit, dem die Herrschaft über die Gegenwart gebührt. Wie die Presbyter Älteste „der Kirche”, so sind die Diakonen Diener „der Kirche Gottes”.17) Mit den Bischöfen leisten die Diakonen „den Dienst der Propheten und Lehrer”18) also einen Dienst, der (auch nach Harnack) der Kirche, nicht einer Ortsgemeinde gilt. Wie die Bischöfe, so sind auch Presbyter und Diakonen von Gott erwählt19), und muß man ihnen daher gehorchen „wie Gott20)”. Sollte Gott Administrativ- und Exekutivbeamte einer körperschaftlichen Ortsgemeinde einsetzen? „Gott setzte der Kirche (dem Volke Gottes) zum ersten Apostel, zum zweiten Propheten”, schreibt der Apostel Paulus (1 Kor. 12, 28). In die Reihe dieser Geistlichen, der Geistesträger, welche der Kirche geschenkt sind, gehören auch Bischöfe, Presbyter, Diakonen. Gerade das wird durch die Zeugnisse wie der apostolischen, so der


➝ Vis. II, 4, 3: τῶν πρεσβυτέρων τῶν προισταμένων τῆς ἐκκλησίας. Syrische Didaskalia c. 9 (Achelis S. 46): Die Presbyter „sind zu ehren wie die Apostel und als die Berater des Bischofs und die Krone der Kirche, denn sie sind die Ordner und Ratgeber der Kirche”.
16) Man braucht sich nur daran zu erinnern, daß aus dem Presbyter der Urzeit der katholische Priester geworden ist. Vgl. im übrigen Kirchenr. Bd. I S. 109.
17) Ignatius ad Trall. 2, 3: διάκονοι — ἐκκλησσίας θεοῦ ὑπηρέται.
18) Διδ. XV, 1: (Bischöfe und Diakonen) λειτουργοῦσι καὶ αὐτοὶ τὴν λειτουργίαν τῶν προφητῶν καὶ διδασκάλων. Der Dienst in der Eucharistie ist der Dienst, den Bischöfe und Diakonen an Stelle von Propheten und Lehrern leisten (vgl. Διδ. X, 7). Was hat die Eucharistie mit einer körperschaftlich verfaßten Ortsgemeinde zu tun? Bischöfe und Diakonen müssen „des Herrn würdig sein” (Διδ. XV, 1): ihr Dienst ist Gottesdienst.
19) Kirchenr. Bd. I S. 31 Anm. 8. S. 125 Anm. 18.
20) Polycarp. ad. Philipp.: 5, 3: ὑποτασσομένους τοῖς πρεσβυτέροις καὶ διακόνοις ὡς θεῷ καὶ Χριστῷ.

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nachapostolischen Zeit ausgesprochen.21) Bischöfe, Älteste, Diakonen, auch die Träger der später sich entwickelnden ordines minores stehen mit Aposteln und Propheten in einer Linie. Auch sie hat „Gott gesetzt” als Ausstattung seiner Kirche.22) Auch ihr Dienst ist Gottesdienst23) und damit Kirchendienst, nicht irgendwelche „Administration” in Sachen eines körperschaftlichen örtlichen Verbandes24). Alle Tätigkeit in der Ekklesia bedeutet einen Dienst, welcher an diesem wie an jenem Orte derselben Größe, nämlich der „Heerde Gottes”, dem Volke Gottes, der Kirche Gottes geleistet wird: der Kirche Gottes „an diesem Ort” (ἐν ὑμῖν)25),


21) Vgl. Röm. 12, 1-8; 1 Kor. 12, 28ff. Eph. 4, 11. Hermas Vis. III, 5, 1 und dazu Scheel, S. 431ff.
22) Für die ordines minores vgl. Constit. apost. VIII, 25: ἐπορκιστὴς οὐ χειροτονεῖται — ὁ γὰρ λαβὼν χάρισμα ἰαμάτων δι᾽ ἀποκαλύψεως ὑπὸ θεοῦ ἀναδείκνυται (vgl. 1 Kor. 12, 28): hat der Exorzista das χάρισμα ἰαμάτων etwa nur für eine Ortsgemeinde?
23) Cypr. ep. 55, 8: (Cornelius, Bischof von Rom) per omnia ecclesiastica officia promotus et in divinis administrationibus dominum saepe promeritus ad sacerdotii sublime fastigium cunctis religionis gradibus ascendit. Alle Kirchenämter bedeuten Gottesdienst.
24) Aus den ἐπίσκοποι καὶ διάκονοι des Philipperbriefes macht Harnack S. 44 „Administrativbeamte”. Gewiß, es ist wahrscheinlich, daß Bischöfe und Diakonen mit Rücksicht auf die dem Apostel von den Philippern zugesandte Spende genannt sind: sie werden an der Aufbringung und Übersendung der Gabe besonders beteiligt gewesen sein. Aber als „Administrativbeamte”? Das wäre die Auffassung von heute! Die Gabe an den Lehrer des Evangeliums (Paulus) aber ist eine Gabe an Gott (Kirchenr. Bd. I S. 78), das in Philippi für Paulus gesammelte ist Kirchengut, „Gut des Herrn”, Gottesgut (a.a.O. S. 72). Die Verwaltung von Gottesgut ist keine „Administration”, keine Ausübung körperschaftlicher Gewalt der Ortsgemeinde (die würde über Gottesgut gar keine Macht haben!), sondern Gottesdienst. Sie gebührt dem geistlich Begabten, dem es gegeben ist, das Gottesgut im Dienste Gottes zu verwenden (a.a.O. S. 69ff.). Sie bedeutet Handeln im Dienst der Christenheit, der Kirche Gottes, als „Gottes Hausverwalter” (a.a.O. S. 74), nicht als Verwalter einer Körperschaft.
25) 1 Petri 5, 1: ποιμάνατε τὸ ἐν ὑμῖν ποίμνιον τοῦ θεοῦ.

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der ortsanwesenden Kirche (Christenheit). Alle Tätigkeiten, „Dienste” verlangen darum geistlich Begabte. Sind sie geistlich begabt nur für diese Ortskirche? Unmöglich! Sie sind Träger des Geistes in dieser Ortsekklesia26), nicht lediglich für sie: sie sind Bischöfe, Presbyter, Diakonen in Rom, Korinth usw., in dem Volke Gottes zu Rom, zu Korinth (Adresse des 1. Clemensbriefs), nicht von Rom, von Korinth, nicht für das Volk Gottes nur an diesem Ort. Nicht die Ortsekklesia bedarf ihrer, sondern die Ekklesia, die Christenheit als Kirche, als Volk Gottes.27) Noch heute ist


26) 1 Petri 5, 1: πρεσβυτέρους τοὺς ἐν ὑμῖν παρακαλῶ. Der Gedanke ist der gleiche wie in der Wendung: τὸ ἐν ὑμῖν ποίμνιον τοῦ θεοῦ (Anm. 25): die Christenheit, die „bei euch” erscheint, ist die Christenheit der Welt, die Ältesten „bei euch” sind Älteste der Christenheit auf Erden: sie sind die „abstrakten”, d.h. nicht begrifflich zu einer bestimmten Ortsekklesia gehörigen Presbyter, deren Dasein Harnack S. 166 bestreitet.
27) Darum sind und heißen alle Bischöfe, Presbyter, Diakonen immer ἐπίσκοποι, πρεσβύτεροι, διάκονοι τῆς ἐκλλησίας, d.h. sie sind (gegen Harnack S. 166) gemeinkirchliche Bischöfe usw. Andere als Bischöfe, Presbyter, Diakonen der Kirche Gottes begegnen in den Quellen überhaupt nicht. Was ich behaupte, steht buchstäblich in den geschichtlichen Zeugnissen. Die herrschende Lehre ist „Konstruktion”! Von Bischöfen, Presbytern usw. gilt das gleiche wie von Aposteln, Propheten, Lehrern. Harnack S. 168 verlangt von mir den Nachweis, daß man ebensogut schreiben konnte: wählt euch Apostel, Propheten, Lehrer, wie die Didache schreibt: „Wählt euch Bischöfe und Diakonen, würdig des Herrn.” Hier ist der Nachweis: Grundschrift A der Apostol. KO (Ende des 2. Jahrhunderts) c. 5, Harnack, Texte und Untersuchungen Bd. 2, Heft 5, S. 22: χῆραι καθιστανέσθωσαν τρεῖς, αἱ δύο προσμένουσαι τῇ προσευχῇ περὶ πάντων τῶν ἐν πείρᾳ καὶ πρὸς τὰς ἀποκαλύψεις περὶ οὗ ἄν δέῃ —. Es sollen in jeder Ortsekklesia zwei Witwen zum Empfang von Offenbarungen, d.h. als Prophetinnen, bestellt werden. Die Ekklesia will in allen ihren Entschlüssen (z.B. Stellenbesetzung) vom Geist Gottes regiert sein. So bedarf sie der Geistesoffenbarungen, d.h. der Prophetie: für die Prophetien, „deren man bedarf”, sollen dauernd zwei Witwen (weibliche Presbyter: auch hier erscheinen die Ältesten als Geistesträger) bestellt sein. Daß in der Regel nur von zu bestellenden Bischöfen (Presbytern) und Diakonen die Rede ist (so auch in der Didache), hängt ➝

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in der katholischen Kirche die Stufenfolge der ordines (episcopi, presbyteri, diaconi usw.) eine (ins Rechtliche übersetzte) Stufenfolge der Gnadengaben (charismatische Organisation). Dementsprechend ist jeder Bischof, Priester (Presbyter), Diakon usw. noch heute überall in der katholischen Kirche ein Bischof, Priester, Diakon und überall fähig, seinen ordo auszuüben; er ist seinem ordo nach ein Bischof (Nachfolger der Apostel, auch Petri), Priester, Diakon der Kirche, nicht irgendeiner Ortsgemeinde (das letztere kann er gar nicht sein). Die katholische hierarchia ordinis aber ist eine Versteinerung der altkatholischen Kirchenverfassung (des 3. Jahrhunderts).28) Die ganze altkatholische Zeit kennt nur ein Kirchenamt, kein Gemeindeamt.

Damit dürfte der Beweisgrund, den Harnack S. 166ff. für urchristliche ortsgemeindliche Organisation in der altkatholischen Entwickelung („aufs sicherste von den Ignatiusbriefen an”, S. 168) finden will, beseitigt sein. Es bleibt nur die Frage, ob nicht trotzdem die unmittelbar auf das Urchristentum bezüglichen Zeugnisse zu einem anderen Ergebnis führen.

Schon der erste Blick auf die hierher gehörige Ausführung Harnacks (S. 167ff.) macht klar, daß die Zahl der Stellen, die von alters her für das Dasein von körperschaftlich geschlossenen urchristlichen Ortsgemeinden angeführt zu werden pflegten, infolge der Kritik, die ich zu üben unternommen habe, stark zusammengeschmolzen ist. Von der ganzen stattlichen Reihe steht nur noch eine einzige Säule aufrecht: Matth. 18, 15ff. Diese Stelle ist außer der „unbefangenen” und


➝ damit zusammen, daß die Eucharistie (das Sakrament) schon seit dem Ende des 1. Jahrhunderts in den Mittelpunkt des kirchlichen Gemeinlebens trat.
28) Nur die hierarchia iurisdictionis (die Stufenfolge der Regierungsgewalt) kennt Diözesen, Ortssprengel. Die katholische hierarchia iurisdictionis aber ist (was von der gesamten Kanonistik bis auf den heutigen Tag gänzlich übersehen wird) als selbständiges Prinzip der Kirchenverfassung um vieles jünger als die hierarchia ordinis. Davon hoffe ich bald anderweitig handeln zu können.

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„natürlichen” Betrachtung (vgl. oben S. XI) der einzige Quellenbeleg, den Harnack gegen mich anführt, aber es genügt, sagt er (S. 169 Anm.), „eine einzige Stelle, um Sohm zu widerlegen.”29) Matth. 18, 15ff. handelt bekanntlich von dem Verfahren gegen einen Sünder: ermahne ihn vor zwei oder drei Zeugen, dann „sage es der Ekklesia”; wenn er auch „die Ekklesia nicht hört, sei er dir wie ein Heide und Zöllner”. Diese Stelle macht es, sagt Harnack, „höchst wahrscheinlich, daß es sich um eine Ortsgemeinde handelt, jedenfalls um eine empirische korporative Größe”. Warum? Weil man zu der Ekklesia „sprechen kann”, und weil die Ekklesia „Ermahnungen gibt”; ja, auch „die anderen Brüder kündigen dem Ungehorsamen die Gemeinschaft: also über die Ekklesia als Ortsgemeinde bzw. als Korporation Strafgewalt, also ist Kirchenrecht da”.30) Nehmen wir ein Beispiel aus der Gegenwart. Die Bergarbeiter sind unzufrieden. Einige berufen eine Versammlung aller (nicht bloß der „organisierten”) Bergleute des Bergbaubezirkes ein. Man kann zu dieser Versammlung „sprechen”, diese Versammlung kann „Ermahnungen geben” (die etwa an die Bergwerksbesitzer gerichtet sind). Also ist diese Versammlung eine „korporative Größe”! Ja, diese Versammlung kann durch eine „Resolution” den Streik und die gesellschaftliche Ächtung aller „Arbeitswilligen” beschließen. Also über die Versammlung als Korporation Strafgewalt,


29) Von einer weiteren Verhandlung über 1 Tim. 4, 14 (Handauflegung des Presbyteriums), — eine Stelle, die Harnack a.a.O. gleichfalls gegen mich anzieht —, glaube ich absehen zu dürfen. Der Ausdruck „Presbyterium” sagt nichts Körperschaftliches aus (so wenig wie etwa der Ausdruck Ekklesia). Ob es sich um ein „örtliches Kollegium” handelt, ist ja gerade die Frage. Entscheidend ist, daß eine Körperschaft als solche kein Charisma hat noch haben kann, folglich auch außerstande ist, ein Charisma zu geben (das ist es, wovon in der Timotheusstelle die Rede ist).
30) Diese Logik Harnacks gilt als zwingend, vgl. die jüngst erschienene zweite Auflage von Holtzmann, Neutestamentliche Theologie, Bd. I, S. 270.

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also ist Körperschaftsrecht in Geltung! Es braucht wohl kaum gesagt zu werden, daß hier Versammlung und Verein (Körperschaft) miteinander verwechselt sind. Wenn ich an einer Volksversammlung teilnehme, bedeutet das Eintritt in einen Verein? Daß die Ekklesia in Matth. 18, 17 eine Versammlung darstellt, braucht nicht weiter bewiesen zu werden. Ob sie aber einen Verein, eine rechtlich verfaßte Körperschaft bedeutet, das ist die Frage, und darüber sagt die Stelle kein Wort. Noch mehr. Es ist, wie ich bereits (vgl. unten S. 42, Anm. 38) hervorgehoben habe, in der Stelle von einem Exkommunikationsbeschluß der Versammlung als solcher überhaupt gar keine Rede: um so weniger übt die Ekklesia als Korporation Strafgewalt! Harnack selber sagt: Die Stelle setzt voraus, daß „auch die anderen Brüder” die Gemeinschaft kündigen, also die einzelnen. Wie soll daraus folgen, daß die Ekklesia „als Korporation” Strafgewalt übt?! Der einzelne Christ soll Stellung nehmen zu dem Übeltäter: „Du sollst ihn für einen Heiden und Zöllner achten.” Was ich behaupte (daß der einzelne handelt), steht wörtlich in der Quelle; die Korporation ist „konstruiert”.

Harnack steht hier immer noch auf dem Boden der bisher herrschenden Lehre, welche die Ideen der Aufklärung in die Urzeit überträgt. Die urchristliche Ekklesia wird als Religionsgesellschaft (Kultverein) „konstruiert”: so hat sie das „jeder Gemeinschaft von selbst gegebene” Recht der Ausschließung und übt damit eine „gesellschaftliche” Strafgewalt (Exkommunikation). Aus dieser „gesellschaftlichen” Strafe der Ausschließung aus einem Verein wäre dann im zweiten Jahrhundert ein geistliches Todesurteil geworden: Ausschließung von der Gemeinschaft mit Gott!31) Allerdings eine


31) Das liest man bei unseren besten Schriftstellern, vgl. z.B. E. Loening, Geschichte des Kirchenrechts, Bd. I (1878), S. 252-254. Hinschius, Kirchenrecht, Bd. 4 (1888), S. 691. 692. 752. 754. Lea, A history of auricular confession and indulgences in the latin church, vol. 1 (1896) p. 9. 10. 32. Tröltsch, die Soziallehren der christlichen Kirchen, Archiv f. Sozialwiss., ➝

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höchst seltsame, gänzlich unerklärliche „Entwickelung”. Auch Harnack hält an diesem Gedanken einer körperschaftlichen (d.h. weltlichen, für einen Rechtsverband wirkenden) Strafgewalt fest, also an einem Gedanken, welcher jedes Verständnis der Geschichte des Kirchenbanns ausschließt. In Wahrheit sind Exkommunikation und Absolution von vornherein Handlungen religiösen Inhalts und darum während der ersten zwei Jahrhunderte ohne feste rechtliche Ordnung gewesen. Dem einzelnen Christen („Dir”) lag es ob, den halsstarrigen (Matth. 18, 15ff.), „mutwilligen” (Hebr. 10, 26) Sünder als einen zu meiden, der durch seine Sünde als solche (ipso iure) zum Unchristen („Heiden und Zöllner”) geworden ist. Daß eine Versammlung durch ihren Beschluß den Christen zum Unchristen oder umgekehrt (durch Wiederaufnahme) den Unchristen zum Christen hätte machen können, war undenkbar. Darum ist denn auch Matth. 18, 15ff. wohl von einer Rüge, aber mit keinem Wort von einem Beschluß der Versammelten die Rede. Das richtige Verhalten gegen den Sünder ist eine Sache aller einzelnen (der „Galater”, der „Korinther” usf., Gal. 1, 6; 1 Kor. 5, 1-5; 2 Kor. 1, 23 bis 2, 12; 7, 12). Die Christen zu Thyatira verhalten sich verschieden zu der falschen Prophetin Jezabel und empfangen deshalb eine verschiedene Beurteilung (Off. Joh. 2, 20ff.). Jeder einzelne Christ kann (ja er muß, wenn der Fall gegeben


➝ Bd. 27, Heft 1 (1908), S. 10, Anm. 86. Der einzige, der von den richtigen Gesichtspunkten ausgeht, ist Karl Müller in seiner Abhandlung über die Bußinstitution in Karthago unter Cyprian, Briegers Zeitschr. f. Kirchengesch., Bd. 16 (1896), S. 27. 28. 188ff. — Der Satz: extra ecclesiam nulla salus, den Loening und Hinschius a.a.O. anziehen, um die Umwandlung der Ausschließung aus einer Religionsgesellschaft in den katholischen Bann zu erklären, ist selbstverständlich der Sache nach nicht katholisch, sondern urchristlich (Müller a.a.O., S. 200): „außerhalb der Christenheit ist kein Heil durch Christum.” Der Katholizismus hat nur den Sinn dieses Satzes verändert. Ihm fällt die Christenheit mit der katholisch (bischöflich) verfaßten Christenheit zusammen. Damit war die bischöfliche Gewalt über Exkommunikation und Absolution gegeben.

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ist) dem anderen als einem Unchristen seine Gemeinschaft versagen oder auch ihm als einem, dem Gott vergeben hat, die Gemeinschaft wieder gewähren: eine Machtbefugnis, die noch um die Mitte des 3. Jahrhunderts von einzelnen Christen als solchen selbst gegen den Bischof (z.B. Cyprian) geübt wurde, Cypr. ep. 41 und 66. Cyprian antwortete beide Male mit der gleichen Maßregel: accipiat sententiam quam prior dixit, ut abstentum se a nobis sciat. Jeder Christ hatte Kraft und nach Maßgabe des in ihm wohnenden Gottesgeistes Macht, „zu lösen und zu binden”, Sünden zu vergeben und zu behalten (Matth. 18, 18; Joh. 20, 22ff.). Ob das für die Ekklesia gültig wurde, entschied sich auf lediglich tatsächlichem Wege. Es kam darauf an, ob sein Urteil, etwa als das Urteil eines Propheten oder eines Märtyrers oder eines Bischofs oder eines sonst Geistbegabten, durch Zustimmung eines weiteren Kreises als Urteil der Christenheit und damit als Urteil Gottes sich durchsetzte.32) Der einzelne Christ gewährte bzw. versagte seine Gemeinschaft (Cypr.: abstentum se a nobis sciat) und damit, wenn sein Urteil als maßgebend erschien, auch die Gemeinschaft mit der Ekklesia. Immer vollzog sich im Lösen und Binden (Zusagen und Versagen der Eigenschaft als Christ, der Zugehörigkeit zum Volke Gottes) eine religiöse Handling im Namen Gottes (nicht irgendeiner Körperschaft). Diese geistliche Gewalt eines jeden Christen ist dann in die Hand des monarchischen Bischofs gekommen. Der Bischof hatte mit der Gewalt über die Eucharistie zugleich Gewalt über den Ausschluß von der eucharistischen Feier, d.h. von dem Hauptstück des Lebens der Christenheit (Kirche) mit Gott. Erst nach der Mitte des 3. Jahrhunderts, als die bischöfliche Absolutionsgewalt auf alle Todsünden erstreckt war, ist der Bischof in den alleinigen Besitz der Exkommunikations- und Absolutionsgewalt


32) Vgl. Kirchenr. Bd. I, S. 32ff., 51ff., wo zahlreiche Einzelfälle aufgeführt sind.

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getreten. Wo ist in all den zahlreichen Zeugnissen, welche die geschilderte Entwicklung bekunden (Anm. 32), auch nur eine Spur von Übung körperschaftlicher Gewalt? Die Matthäusstelle (18, 18) selber bekundet auf das unzweideutigste, daß es sich um Übung nicht der Körperschaftsgewalt einer Ortsgemeinde (!), sondern der Schlüsselgewalt handelt, die jedem gläubigen Christen gegeben ist.

Wo bleibt die angeblich in Matth. 18, 15ff. erscheinende „korporative Größe”? Es gibt kein einziges Quellenzeugnis, aus welchem für das Urchristentum das Dasein von körperschaftlich verfaßten Ortsgemeinden nachgewiesen werden könnte.33)

Ja, Harnack selber hat sich bereits zu dem Grundsatz bekannt, welcher für die Urzeit alle körperschaftliche Ortsgemeindeverfassung ausschließt. Er hat, wie schon oben (S. IV, V) hervorgehoben wurde, den Satz als richtig zugestanden, daß in der Urzeit jede Ortsekklesia als Darstellung des Volkes Gottes, der Kirche Gottes, als Erscheinung nicht einer örtlichen, sondern einer ökumenischen Größe gedacht wird. Die Kirche Gottes aber ist auch nach Harnack (vgl. oben S. VIII) nicht rechtlich, sondern pneumatisch, charismatisch verfaßt (trotz der angeblichen jüdisch-gesetzlichen Theokratie). Wenn die Ortsekklesia als Kirche Gottes gedacht wird, hat sie also keine rechtliche, keine körperschaftliche, sondern die pneumatisch-charismatische Verfassung. Nun soll sie doch körperschaftliche Rechtsverfassung haben! Sie soll zugleich Kirche Gottes und nicht Kirche Gottes, sondern bloße Ortsgemeinde, sie soll charismatisch und doch nicht charismatisch sondern körperschaftsrechtlich organisiert sein. Die „doppelte Organisation” (Kirche Gottes und Ortsgemeinde), die Harnack von früher her festhält, ist jetzt zu einer doppelten Organisation derselben


33) Vgl. Scheel, S. 422ff., der schon die Schlußfolgerungen Harnacks aus Matth. 18, 15ff. als unzutreffend nachgewiesen hat.

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Größe, nämlich der Ortsekklesia geworden. Das ist das Unmögliche. Die Ortsekklesia kann nicht zugleich körperschaftlich (als Ortsgemeinde) und nichtkörperschaftlich (als Kirche) verfaßt gewesen sein. Es hat nur eine Organisation, die kirchliche (pneumatisch-charismatische) für jede Christenversammlung (Ekklesia) gegeben.34)

Aber, sagt Harnack (S. 167): „es kommt zunächst auf die Tatsachen an, dann erst auf die Betrachtung; die Tatsache ist vorhanden: die Vielzahl der durch eine einheitliche Organisation je in sich geschlossenen und selbständigen Christengemeinden.”35) Ja, ob diese Tatsache vorhanden ist? Das Gegenteil hat sich bereits herausgestellt. Der Beweis für diese „Tatsache” kann nicht erbracht werden. Im Gegenteil, es besteht eine Tatsache, die, wie auch Harnack anerkennt, zweifellos vorhanden ist, eine Tatsache, durch welche alles, was von „einheitlichen”, „in sich geschlossenen” Ortsgemeinden konstruiert ist, in sich zusammenfällt. Das ist die Tatsache der Hausekklesien (unten S. 32).

Der „unbefangene” Leser des neuen Testaments findet allerdings nach Harnack die „rechtlich einheitliche Ortsgemeinde”; das „einzige, das ihm auffallen wird, sind die Hausgemeinden innerhalb der Ortsgemeinden” (Harnack, S. 168. 169). Über das Verhältnis zu den Ortsgemeinden „wissen wir nichts”. Aber es „ist unmöglich”, daß sie (die Hausgemeinden)


34) Vgl. Scheel, S. 418ff., wo der bei Harnack begegnende Selbstwiderspruch bereits schlagend dargetan ist. Das Ergebnis auf S. 422 lautet: „Die Unterscheidung des Lokalkirchlichen und Universalkirchlichen wird darum hinfällig.” Darüber, daß (gegen Harnack, S. 166) die einzelnen Ekklesien ihre Selbständigkeit als Kirchen haben, nicht als Ortsgemeinden, vgl. Scheel, S. 428ff.
35) Harnack meint S. 168, Anm. 1: „Es hat etwas Seltsames, anzunehmen, die Ortsgemeinde habe sich durch eine „Betrachtung” faktisch selbst in die Luft gesprengt.” Darin liegt natürlich eine petitio principii. Es fragt sich ja, ob die Ortsgemeinden als solche bestanden. Wenn sie als solche überhaupt nicht bestanden, so hatten sie auch nicht nötig, „sich faktisch in die Luft zu sprengen”.

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„die Tatsache und den Begriff der Ortsgemeinden aufgelöst haben”; sie bestanden „neben und in ihnen” (also doch auch „neben”); jedenfalls haben sie „schnellen Untergang” gefunden, „der Endpunkt liegt bereits in den Ignatiusbriefen vor” (S. 170). Man sieht, daß die Hausekklesien Harnack schwierigkeiten bereiten. Er selbst muß zugeben (S. 170), daß also doch der Begriff der Ortsgemeinde „ursprünglich rechtlich nicht so exklusiv gewesen ist wie wenige Jahrzehnte später”. Mit anderen Worten: die Ortsekklesia war gar nicht „exklusiv”: wenn sie andere Ekklesien neben sich zuließ (und zwar nach den Quellen als etwas Selbstverständliches, keineswegs Auffallendes oder Ausnahmsweises), so ist quellenmäßig bezeugt, und selbst Harnack kann es nicht leugnen, daß die „Tatsache” einer „einheitlichen Organisation” der Ortschristenheit nicht vorhanden war.

Es gab — das ist der quellenmäßig vorliegende Tatbestand — am gleichen Ort verschiedene Versammlungen der Christenheit (Ekklesien) nebeneinander36), und zwar alle Versammlungen grundsätzlich von flüssigem Bestand. Niemand gehörte von rechtswegen einer bestimmten Versammlung an. Wie jeder Christ ein Christ war nicht bloß an diesem Ort, sondern eben so an jedem anderen Ort auch bei nur vorübergehendem Aufenthalt, und folgeweise auch am fremden Ort der dortigen Ekklesia (Christenheit) als Christ zugehörte37), so war er auch am Orte seines dauernden Aufenthalts als Christ zugehörig nicht bloß zu dieser, sondern auch zu jeder anderen Versammlung (Ekklesia) der dortigen Christenheit. Er konnte heute an dieser, morgen an jener Versammlung sich beteiligen. Eine Versammlung pflegte als die Hauptversammlung der Christenheit des Ortes


36) Die Belege s. Kirchenr. Bd. I, S. 67, Anm. 1.
37) Die von Rom nach Korinth entsandten Ältesten (1. Clemensbrief) waren auch in Korinth Mitglieder, und zwar als autoritäre Älteste (oben S. XVII Amn.) der dortigen Ekklesia. Scheel, S. 429: „Ortsfremde gehören also zur Ortsekklesia.”

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zu gelten, als die Versammlung, zu welcher wenigstens am Sonntag grundsätzlich, soweit es möglich war, die ganze Christenheit des Ortes zusammenkam (Kirchenr. Bd. I, S. 68, Anm. 2). Aber es gab andere Versammlungen daneben, und nichts stand im Wege, daß auch diese anderen Versammlungen tatsächlich einen dauernden Bestand hatten, daß auch die Feier des Herrentags in diesen anderen Versammlungen begangen wurde. In jeder Versammlung konnte (wie nog die Ignatiusbriefe bezeugen) „alles” geschehen, was „an die Ekklesia gehört”: Taufe, eucharistische Feier usf. (Kirchenr. Bd. I, S. 193, Anm. 5). Jede Versammlung war Ekklesia, Christenversammlung, Kirchenversammlung, geistlich gleich mächtig wie jede andere. Religiös hatte keine Versammlung einen Vorrang vor der anderen. Es gab Christenversammlungen (Ekklesien) hin und her im Recht, ebenso hin und her an demselben Ort. Jeder war Mitglied in jeder Versammlung, Niemand von rechtswegen einer bestimmten Versammlung zugehörig. Es gab Versammlungen, aber keinen Verein, keinen körperschaftlichen Verband, der die ortsangehörigen Christen oder einen bestimmten Teil derselben rechtlich zusammengeschlossen hätte. Sowenig die gesamte Ekklesia (Christenheit) des Reichs, so wenig bildete die Ekklesia (Christenheit) eines Ortes eine rechtliche einheitliche Größe. Wie die Reichsangehörigkeit, so war die Ortsangehörigkeit religiös und folgeweise für die Ordnung des Volkes Gottes gleichgültig. Darum: wie im Reich, so an demselben Orte viele Ekklesien nebeneinander.38)

Diesem Zustand trat der erste Clemensbrief entgegen.39) Vor allem Ignatius. Der Hauptinhalt seiner Briefe geht,


38) Scheel, S. 430: „Das Nebeneinander von Orts- und Hausekklesien bereitet nicht größere Schwierigkeiten als das Nebeneinander von Ortsekklesien. Ist das eine möglich, dann auch das andere. Kirche Gottes ist vorhanden, wo ein Aufgebot Gottes sich zusammenfindet.”
39) Der erste Clemensbrief lehrt nicht bloß die Lebenslänglichkeit des Bischofsamts und das göttlich angeordnete Recht der bestellten Bischöfe ➝

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soweit er die Verfassung betrifft, auf die Beseitigung der „privaten” Ekklesien (der Hausekklesien), auf die Vernichtung ihres religiösen Wertes als Versammlungen der Kirche Christi (Kirchenr. Bd. I, S. 193ff.) Aber auch in den Ignatiusbriefen (die doch übrigens erst dem Anfang des 2. Jahrhunderts angehören) liegt noch nicht „der Endpunkt” vor. Harnack hat vielmehr anderweitig selbst den Beweis geführt, daß es noch bis zum Ende des zweiten Jahrhunderts verschiedene Ekklesien am gleichen Ort gegeben hat (unten S. 32, Anm. 23). Einer fast zweihundertjährigen Entwickelung hat es bedurft, um den katholischen Grundsatz der rechtlich geschlossenen Ortskirche (unter dem einen Bischof) in Widerspruch mit den urchristlichen Glaubensüberzeugung durchzusetzen.

Denn es handelt sich bei der Frage nach der rechtlich geschlossenen Ortsekklesia für das Urchristentum nicht etwa (wie man heute vom Standpunkte der Aufklärung denken möchte) um ein Adiaphoron, sondern um einen Grundgedanken des religiösen Lebens. Hat doch das Urchristentum (wie Harnack selber bestätigt, vgl. oben S. IV) nur den religiösen Kirchenbegriff gehabt. Die Frage nach der rechtlich geschlossenen Ortsekklesia ist für das Urchristentum mit der Frage nach der religiösen Notwendigkeit einer äußeren Vereinigung aller Christen desselben Ortes gleichbedeutend. Diese Frage ist es, die vom Katholizismus bejaht, vom Urchristentum aber verneint wird. Es gilt das Wort des Herrn: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen”; oder, wie es in nachapostolischer Zeit heißt (Didache IV, 1): „Wo das


➝ auf die Eucharistie (die notwendige Folge war der monarchische Episkopat), sondern (was untrennbar damit zusammenhängt) zugleich, daß nur an einem bestimmten Ort, nämlich nur in der Hauptversammlung, die Gott wohlgefällige eucharistische Feier möglich sei (Kirchenr. Bd. I, S. 191). Wie man den katholischen Charakter dieser Sätze des Clemensbriefes früher hat verkennen können, erscheint schwer begreiflich.

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Wort des Herrn ist, da ist der Herr.” Wo Christus ist, wo das Wort Gottes ist, da ist das Volk Gottes, die Ekklesia, die Kirche Christi mit aller ihrer Macht. Die Zahl der Versammelten, der Ort der Versammlung ist religiös gleichgültig: ubi tres, ibi ecclesia. Das Leben des Volkes Gottes mit Gott kann an keine bestimmte Versammlung, an nichts Äußerliches, nichts Rechtliches geknüpft werden. Es ist unmöglich, kirchliche Rechtsordnung und Kirche Christi in Beziehung zueinander zu setzen. Das Leben des Volkes Gottes schließt alles Körperschaftliche aus.

Zwar will Harnack mich durch mich selber widerlegen, indem er (S. 158, vgl. S. 150) meinen Satz geltend macht, daß das Gemeinleben einer sichtbaren Menschengemeinschaft rechtlicher Formen bedarf, daß also nach meiner eigenen Ansicht „die erscheinende Kirche als irdische Größe notwendig korporativ” sein müsse. Der Sinn meines Satzes geht aber nur dahin, daß zur Erhaltung einer bestimmten Menschengemeinschaft rechtliche Ordnung unentbehrlich ist. Gewiß, die Kirche Christi kann ohne religiöses Gemeinleben der Christenheit nicht sein. Noch mehr, das religiöse Gemeinleben der Christenheit kann ohne Versammlungen nicht bestehen. Aber Gemeinleben fällt nicht mit „korporativem” Gemeinleben (man denke an das geistige Gemeinleben unserer Zeit) und Versammlungen nicht mit Verein, Körperschaft zusammen. Was die Kirche Christi als solche fordert, sind Versammlungen, nicht körperschaftliche Bildungen rechtlicher Art. Die Kirche Christi, der Geist Christi, die Macht Christi lebt in Versammlungen der Gläubigen, nicht in irgendwelcher körperschaftlichen Verfassung. Körperschaftliche Vereinigung der Christen hat nichts zu tun mit der Kirche Christi. Das ist der Standpunkt des Urchristentums. Es gibt für das Urchristentum nur den religiösen Kirchenbegriff. Daher hat die Kirche des Urchristentums, die sichtbare Christenheit (sie ist die Kirche Christi) mit körperschaftlicher Verfassung nichts zu tun. Ja,

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körperschaftliche Verfassung ist vom Standpunkt des Urchristentums unmöglich. Sie ist, da es sich um die Kirche im religiösen Sinne handeln würde, wider das Wesen des Christentums. Körperschaftliche, rechtliche Verfassung für die Kirche Christi auf Erden würde das Christentum, den Geist Christi binden an bestimmte Formen, an einen bestimmten Ort, an eine bestimmte Menschengemeinschaft. Das kann nicht sein, das darf nicht sein. Das Christentum, die Kirche Christi ist von allen äußerlichen Dingen frei, auch von der geordneten Erhaltung irgendeiner bestimmten Menschengemeinschaft (etwa der Gemeinschaft aller Christen dieses oder jenes Ortes, Landes, Reiches). Darum nur Versammlungen, keine „korporativen” Gemeinschaften, denn jede Körperschaft würde (da die Rechtsform auf die Kirche in religiösen Sinne bezogen werden müßte) eine Bindung der Kirche Christi an diese bestimmte Gemeinschaft darstellen. Das Christentum beschritt den Weg rechtlicher Körperschaftsbildung erst, als seit dem Ende des ersten Jahrhunderts der Hauptversammlung ein religiöser Wert vor den anderen Christenversammlungen beigelegt wurde, als es sich folgeweise darum handelte, diese bestimmte Versammlung als die Kirche Christi zu ordnen und damit zu erhalten. Damit hielt das Kirchenrecht und mit ihm der Katholizismus seinen Einzug. Es kam das göttliche Kirchenrecht, Recht, welches die geistliche Macht der Kirche Christi von der rechtlichen Verfassung einer bestimmten Gemeinschaft abhängig macht.

Das Urchristentum aber hat von den Aposteln Jesu Christi einen anderen Geist als den des katholischen Kirchenrechts empfangen. Als oberster Grundsatz des christlichen Gemeinlebens gilt die religiöse Gleichwertigkeit aller Christenversammlungen: wenn nur der Geist Christi da ist! Jede Christenversammlung im Namen Christi ist die souveräne, geistlich keiner anderen Macht unterworfene Kirche Christi. Die Kirche Christi ist frei vom Kirchenrecht. Rechtsordnung,

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die in irdendwelchem Sinne der Kirche Christi gilt, die in irgendwelchem Sinne den Anspruch erhebt, die Kirche Christi an etwas Äußeres zu binden, ist wider das Christentum!

Die Tatsache aber, daß das Urchristentum jede Christenversammlung als Kirchenversammlung im religiösen Sinn (Ekklesia) beurteilte, ist die allergewisseste Tatsache der ganzen Kirchengeschichte. So ist es auch die allergewisseste Tatsache der ganzen Kirchengeschichte, daß das Urchristentum nicht katholisch gewesen ist.

 

Leipzig, 7. Mai 1912.

Rudolph Sohm.

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Inhalt.

 

 

 

Seite

Vorwort

III-XXXIII

I.

Der Stand der Forschung

1-8

II.

Das Wesen des Katholizismus

8-24

III.

Der Ursprung des Katholizismus

24-26

 

1.

Kirche und Gemeinde

26-50

 

2.

Die charismatische Organisation

50-56

 

3.

Das Kirchenrecht

56-68