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Seit 1892 haben wir — von den kleineren Restgruppen abgesehen1) — zwei Kirchenverbände desselben Bekenntnisses in den Niederlanden vor uns: Den grösseren der “Vaderlandschen Kerk” (Nederl. Herv. Kerk), die in ihrer reglementarisch-konsistorialen Ordnung trotz aller Reorganisationsanträge gelassen verharrte, und den kleineren, der ihrem Elan nach jungen und lebendigen, ihrer Erscheinungsform nach entsprechend dem klassischen Vorbild restituierten “Gereformeerde Kerken”. Den letzteren gelang es, auf der Synode zu Utrecht 1905 die schwelenden Gegensätzlichkeiten auf dem Gebiet der Lehre zu einem — mindestens vorläufigen und scheinbaren — Einklang zu bringen durch die Lehrentscheidungen über die Erwählung, Rechtfertigung, Wiedergeburt, Taufe und Allgemeine Gnade2), nachdem schon vorher diese Kirchen die “Zending” (äussere Mission) aus der Hand freier Gesellschaften in die kirchliche, und zwar überwiegend
1) Darunter rechnen wir: Die Christelijke
Gereformeerde Kerken (Restgruppe der “Afscheiding”) und die
Gereformeerde Gemeenten.
2) Acta Gen. Syn. Geref. Kerken 1905, Art. 158. Vgl.
ferner in denselben Acta den zugehörigen Rapport auf S. 273 ff.
Wenn wir den Einklang einen “scheinbaren” nennen, so deswegen,
weil dieselben Lehrfragen dreissig Jahre später wieder auf dem
Agendum der Gen. Syn. auftauchen (Amsterdam 1936) und in der
Folge dann zu der Kirchenspaltung führen, deren Repräsentant
Prof. Klaas Schilder ist.
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gesamtkirchlichen Verantwortung übernommen hatten.1) Die weitere Entwicklung, soweit sie die Synodalakten spiegeln, ist eine solche ruhigen Aufbaus und Ausbaus.
Es hat in den ersten Jahren keine eigentlich an den Bestand des Kirchenverbandes rührenden Auseinandersetzungen zwischen diesem und und einzelnen Gemeinden gegeben. Wie auf dem synodalen Convent Kuypers Entwürfe fast ohne ernsthafte Gegenstimmen akzeptiert wurden, und wie immer wieder auf den Synoden und z.B. auch auf dem “Regeer-Ouderlingen-Congres” vom 12./13.12.1888 Rutgers’ Wort als das entscheidende galt, so war der zielstrebige Schwung der jungen Bewegung und in ihre die Autorität ihre Führer viel zu stark, als dass Zersplitterungstendenzen hätten wirksam werden können.2) Jedoch hat zwischen den Kirchen der Kuyperschen Doleanz und den aus der “Afscheiding” hervorgegangenen stets ein gewisse Spannungsverhältnis bestanden. Nicht nur, weil diese sich als Stamm glaubten und die “Doleerenden” als Nachkömmlinge betrachteten, sondern auch in einer Reihe von dogmatischen Fragen. Sie wurden schon vor der Utrechter Synode von 1905 sichtbar in einem von der Synode 1896 als gegenstandslos von der Tagesordnung abgesetzten Beschwerdeschreiben der A-Kirche von Bedum
1) Vgl. dazu insbesondere die Acta der “Vierde
voorl. Synode der Nederd. Geref. Kerken”, 1892 Amsterdam.
2) Die Namen von Kuyper, Rutgers und
Van den Berg seien hier besonders hervorgehoben. Die in
zwei Bänden gesammelten “Kerkelijke adviezen” von
Rutgers, laufend an Gemeinden und Classen erteilt,
lassen den überragenden Einfluss erkennen, den dieser bis in die
Entscheidungen der Presbyterien hinein ausgeübt hat.
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gegen Kuypers Lehrtätigkeit an der Vrijen Universiteit.1) Dies Schreiben berührt dieselben Punkte, derentwegen Schilder fünfzig Jahre später zu einer neuen Separation aufrief: die sogenannte “veronderstelde wedergeboorte” in seiner Tauflehre und die durch Kuypers Kirchenbegriff drohende Aufhebung der persönlichen Verantwortlichkeit des Gläubigen und Verweltlichung der Kirche.
Aber auch in der Hervormden Kerk, die immer noch die Mehrheit der Reformierten umfasste, verstummten die Stimmen derer nicht, die zur Beseitigung des “Besturen”-Systems und zur Erneuerung insbesondere auch der classicalen und synodalen Versammlungen riefen; dafür legen die “Handelingen” der jährlichen Synoden beredtes Zeugnis
1) Acta van de Generale Synode der
Gereformeerde Kerken 1896, S. 140 ff. (A-Kirchen wurden die aus
der Afscheiding hervorgegangenen genannt, während die
Doleanz-Gemeinden als “B-Kerken” bezeichnet wurden).
Kuyper wird vorgeworfen, dass seine These, die Kirche
taufe “in de onderstelling, dat de doopeling vooraf wedergeboren
is” (so A. Kuyper, Separatie en Doleantie, S. 14), die
feste Basis der Taufe in der Verheissung und dem Befehl Gottes
erschüttere und die Taufe von einer menschlichen Qualität
abhängig mache. — Der Kuypersche Kirchenbegriff hebe die
“persoonlijke verantwoordelijkheid” auf, indem Christus zum
“generalen subject” der Menschheit werde un in ihr sich selbst
denke und bewusst werde. Kuyper mache Christus und die
Kirche durch seine Gnadenlehre (sie ist von ihm ausführlich
dargestellt in seinem dreibändigen Werk “De gemeene gratie”) zu
einem Teile des Organismus alles Bestehenden und hebe dadurch
seins und der Kirche besondere Natur gegenüber der Welt auf.
Gegenstand der Kritik ist besonders seine Unterscheidung von
“particulierer genade” und “gemeener gratie”. Dadurch, dass er
die sichtbare Kirche (als Institution) als eine
Offenbarung der Wesenskirche neben und auf eine Linie mit anderen
Offenbarungsformen stelle, etwa auf gesellschaftlichem oder
wissenschaftlichem Gebiet, würden entweder Gesellschaft und
Wissenschaft “vergoddelijkt of de kerk verwereldlijkt”. (Ganz
ähnlich urteilt übrigens auch Ten Hoor, a.a.O., S. 41).
Im übrigen wird in dem Beschwerdeschreiben auch darauf
hingewiesen, dass Kuyper die Schrift meist nur nebenher
heranziehe und hauptsächlich von seinen “gereformeerde
beginselen” aus “doorredeneert”, deren Begründung in der Schrift
oder den Bekenntnisschriften vielfach gar nicht nachzuweisen
sei.
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ab. Jedoch prallen alle Aufforderungen und konkreten Vorschläge zur Änderung der rein administrativen Ordnung an der Synode ab wie Schüsse an einer Panzerplatte. Wie wenig diese Kirchenregierung die Notwendigkeit einer Neuordnung erkannte, und wie sehr ihr der Mut zum Handeln fehlte, erhellt aus einem Satz, mit dem die Synode 1889 eine Reihe von Zuschriften abwies, die auf die Erneuerung der Ordnung hinzielten: “De Kerk heeft voor alle dingen behoefte aan rust en vrede. Och, werd zij niet langer noodeloos beroerd!”1)
Nach dieser Devise verfuhr man weiter. 1901 wurde ein Reorganisationsvorschlag von Gunning, Hoedemaker und Kromsigt, den Repräsentanten der “Confessioneelen vereeniging” und der irenisch-konfessionellen Gruppe abgewiesen, ehe es überhaupt zur Verhandlung darüber kam. 1902 verwarf man auf gleiche Weise einen Antrag von Amsterdam und Utrecht mit dem Ziel, die Vollmachten der “class. vergaderingen” zu erweitern. Im folgenden Jahre blieb ein Appell von sechsundzwanzig “classicalen vergaderingen” fruchtlos. Die Synode entledigte sich der lästigen Anläufe und bewies mit ihren Verhalten, dass sie nicht gesonnen war, die rein administrative Ordnung abzulösen.
In den Anträgen und Entwürfen der Erneuerungsgewilligen ist gelegentlich von einer Rückkehr zum Geist, wenn auch nicht zur Form der alten Dordrechter KO die Rede. Ihr Ziel ist die Ablösung der “besture” von unter her durch echt synodale Versammlungen mit wirklich kirchenleitender, nicht nur beratender Funktion. Die Classis, der kleinste synodale Verband, tritt dabei wieder entscheidend hervor, wie sie dies schon in den frühen Niederländischen Kirchen und ebenso in der Bewegung der Doleanz war.
Bis zum Jahre 1928 änderte sich an diesem Zustand der Kirche kaum etwas. Alle neuen Versuche und Ansätze
1) Handelingen van de vergadering der Alg. Syn. van de N.H.K., ten jare 1889. Hier zitiert nach Bronkhorst, Op weg . . ., S. 40.
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verfingen sich im Netz der auf Geruhsamkeit, “Frieden” und darum das Niederhalten jeder erneuernden frischen Windes bedachten Synode.1) 1928 zum ersten Male ernannte die Synode auf Initiative der “Confessioneelen vereeniging” — einer Gründung aus dem Jahre 1864 — eine offizielle Reorganisationskommission, um allerdings auch ihre Vorschläge ein Jahr später zu verwerfen.
Bis zum Jahre 1928 entstammten die Ansätze zu einer Umformung den “gereformeerden” Kreisen in der Hervormden Kerk, im wesentlichen der “Confessioneelen vereeniging” und dem 1909 gegründeten “Gereformeerden Bond”. Diese beiden Gruppen umfassten aber schon rein zahlenmässig einen zu geringen Teil der Kirche und waren auch territorial zu sehr auf Gebiete wie Friesland, Amsterdam und Utrecht beschränkt, als dass sie nach Lage der Dinge ohne wesentliche Verbreiterung ihrer Ausgangsbasis im Rahmen des geltenden Reglementes, d.h. durch die Schleuss der administrativen Synode zum Zuge kommen konnten. Weil die Kirche als Ganze zu einer Verwaltungsgrösse geworden war und keine geistlichen Regierungsorgane mehr besass, mussten alle formellen Anträge am Übergewicht des administrativen, in der Mehrzahl liberalen Teils und der eigenen Schwerkraft der “besturen” scheitern.
Erst mit dem Auftreten und der zielbewussten Arbeit des “Nederlandsch Hervormd Verbond tot Kerkherstel” (seit 1930) und der “Vereeniging Kerkopbouw” (seit 1931) begann eine neue Phase in der Geschichte der Hervormden Kerk, die ihren krönenden Abschluss in der Einführung der neuen Kirchenordnung der Herv. Kerk durch ihre Generalsynode am 7. Dezember 1950 fand. Aber so sehr erst der neue Ansatz der Theologie nach dem ersten Weltkriege, die Strahlungskraft der ökumenischen Bewegung und
1) Fast jedes Jahr wies die Synode ihr vorgelegte Reorganisationsanträge ab.
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die Rückwirkung der intensiveren Missionsarbeit auf den heimatlichen Kirchenraum den entscheidenden Anstoss zu der heutigen Erneuerung gegeben haben, so wird man doch das Wirken einiger Männer nicht übersehen dürfen, die mit grosser Geduld und Ausdauer den Kampf um die Erneuerung der Hervormden Kerk weiterführten. Sie haben gegenüber den Extremen der Doleanz ausgleichend und korrigierend, für Kirchenbewusstsein und Kirchenbegriff in der heutigen Hervormden Kerk fundierend gewirkt. Den Erfolg dieses Wirkens haben sie nicht mehr erlebt, aber ihr Geist ist heute lebendig. Wir meinen J.H. Gunning, Ph.J. Hoedemaker und P.J. Kromsigt. Und mit ihnen zusammen sei hier ein Vierter genannt, der Kampener Gereformeerde Systematiker Bavinck, dem die niederländische reformierte Theologie ihre letzte grosse Dogmatik verdankt.
Philippus Jacobus Hoedemaker1) stand in der Ablehnung des königlichen “besturen-stelsels” und im Kampf um eine Neuordnung der Kirche nach dem Maßstabe der Schrift zunächst in einer Front mit Kuyper und war seit 1880 auch für einige Jahre Professor an der “Vrijen Universiteit”. Er brach diese Bande ab, als die Gereformeerden die Separation anstrebten.
Wohl vertritt auch er die Selbständigkeit der Ortsgemeinde als Quelle aller Kirchenregierung; aber für ihn ist diese Gemeinde eingebettet in ihre Geschichte, die sie mit den übrigen Kirchen des Landes verbindet. Hoedemaker bestreitet darum den den konföderativen Charakter des Kirchenverbandes, denn die niederländischen Kirchen bilden ein organisches, unauflösbares Ganzes, eine kollektive Einheit, “die niet kan worden herleid tot het
1) George Philippus Scheers hat in seiner 1939 in Utrecht vorgelegten Dissertation “Philippus Jacobus Hoedemaker” eine übersichtliche und zusammenfassende Arbeit über sein Leben und seine Theologie geliefert. Dort findet sich auch seine vollständige Biographie.
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goedvinden van hen, die haar constitueeren, maar tot den geopenbaarden wil van God”.1) Diese Kirche, deren Grenzen Gott selbst durch seinen Bund gezogen hat, ist für Hoedemaker die feststehende Grösse, nicht das Bekenntnis, nicht die Ordnung, erst recht nicht der Wille und die Tat des einzelnen. Dies alles kann erst von der Kirche her und sofern es aus ihr wächst und [in] ihr lebt, seinen Wert beigemessen bekommen.
Schon in seiner Schrift “Waarom ik geen deel neem aan het Gereformeerd kerkelijk Congres” hat er 1886 die Trennung von den Gereformeerden Kuyperscher Prägung vollzogen und die Gründe dafür dargelegt. Die Kritik Hoedemakers bezieht sich vor allem auf zwei Tendenzen, die in diesem Zusammenhang wichtig sind: 1. Die Verselbständigung des Bekenntnisses, das man “als iets zelfstandigs gaat beschouwen” und unabhängig macht vom Wort und der Kirche, aus der es geboren wurde, von der es getragen wird und von der es “volstrekt onafscheidelijk is”.2) 2. Den Anspruch einer Gruppe einzelner Christen, das ganze Wesen der Kirche in sich zu konzentrieren, dem verbleibenden Rest einzig durch ihren Auszug den Charakter als Kirche Christi zu nehmen, und ihre angemaßte Befugnis, die Vollmacht der bisherigen Amtsträger kurzweg für verfallen zu erklären “krachtens een gefingeerd ambt, waarvan, zoo als het hier wordt opgevat, de Schrift niet weet”.3) Darin sieht er eine Anwendung anarchistisch-nihilistischer Grundsätze.4)
Von einem organisch-historischen Denken herkommend hat Hoedemaker mit klarem Blick die Gefahr erkannt, die sich anbahnte: die Revolution des Individualismus verbunden mit dem Rückgriff auf eine jahrhundertealte Bekenntnisformel. Ihr Nährboden lag in der Verlegung des
1) Ph.J. Hoedemaker, Op het Fundament
der apostelen en profeten, S. 145. Zit. nach Scheers,
a.a.O., S. 202.
2) Hoedemaker, De Roeping der Gereformeerden
in de Hervormde Kerk, S. 21.
3) Hoedemaker, De Roeping der Gereformeerden
. . ., S. 22.
4) Vgl. Hoedemaker, De Roeping der
Gereformeerden . . ., S. 31; ders., Eene Belijdenis, S.
10.
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Wesens der Kirche in die Herzen ihrer Glieder, der der Kirche vorgeordneten “Belijders des Heeren”, und deren “kerkformeerende kracht”.
Hoedemakers Urteil über die Doleanz lässt sich auf die Formel “Afscheiding in optima forma”1) bringen. Kuypers Reformationsprogramm nennt er “een krijgskundig stelsel van kerkherstel”.2) Zwar hat auch er den Eingriff der oberen “besture” in Amsterdam und die Absetzung der fünfundsiebzig Presbyter und Pastoren schärfstens verurteilt.3) Aber er setzt die Sonde an einer anderen Stelle an als die Doleerenden: Die Kirchenräte selbst sind schuldig an der entstandenen Situation, denn sie hätten niemandem anders an ihrer Statt die Regierung der Gemeinden überlassen dürfen. Ihrer Verantwortlichkeit kann aber nun nicht durch Auszug und Separation Genüge getan werden, sondern nur durch Ausharren und Kampf um die Neuordnung der ganzen Kirche, beginnend mit einer neuen Ausrichtung und Lebendigmachung der Verkündigung des Wortes.4) Die Gebrechen der Kirche mögen noch so gross sein, sie können doch nicht ihr Verlassen rechtfertigen.5)
So hat Hoedemaker selbst auf legalem Wege von den Kirchenräten und den Classen her die Neuordnung der Kirche angestrebt.6) Er wirft den Doleerenden vor, dass sie die Hervormde Kerk ihrem Schicksal überlassen und durch ihr Vorgehen exkommunizieren, was zwar krank, aber doch keineswegs unheilbar sei. Über dem Parteienstreit mit dem Ziel, die Modernisten zu entfernen, hätten sie
1) Hoedemaker, De Congresbeweging, S.
57.
2) Ders., Waarom ik geen deel neem, S. 21.
3) Vgl. dazu ders., Machtsvertoon of wettig gezag?
4) “Beter, verreweg beter ware het u geweest, als
doleerende leden te blijven bidden en arbeiden, buiten het ambt,
totdat het oogenblik van handelen en misschien van lijden daar
was”. Machtsvertoon of wettig gezag, S. 27.
5) Vgl. “Hoe oordeelt de Heilige Schrift en hoe
oordeelen de geref. vaderen over scheiding en doleantie?”
6) Ders., Ontwerp tot reorganisatie der Hervormde
Kerk, Amsterd. 1901. — Ders., Advies inzake de reorganisatie van
het kerkbestuur, Amsterdam 1903.
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die Einheit der Kirche und die Verantwortung für das Ganze vergessen. Es musste so kommen, denn “alle partijschap in de kerk van Christus is uit den boze”.1) Nach Hoedemakers Meinung ist also die Entscheidung Kuypers zu vordergründig und greift in nicht statthafter Weise dem Urteil dessen vor, der allein die Herzen erforscht.
Man kann sagen, dass Hoedemaker viel stärker mit der ecclesia mixta rechnete, dass er das eine Fundament Christus in den Vordergrund stellte gegenüber der Akzentuirung des fixierten Bekenntnisses auf der anderen Seite. Er hat stets am Gedanken der Volkskirche festgehalten. Das konnte ihn nicht von dem Eintreten für die Reinheit der kirchlichen Lehre und der Stellungnahme gegen den Modernismus zurückhalten, den auch er auf die Dauer nicht glaubte dulden zu können. Er wollte die bekenntnisgebundene, aber zugleich in actu bekennende Volkskirche.2)
So sehr Hoedemaker Wesen und Macht der Kirche den örtlichen Gemeinden zuerkennt, so wiegt doch die Idee der landeskirchlichen Einheit, begründet in der gemeinsamen historischen und geistlichen Entwicklung, im Effekt schwerer.3) Weil es immer und überall Jesus Christus ist, der seine Kirche versammelt, müssen “niet alleen de afzonderlijke kerken, maar ook ieder eigenaardig geheel van kerken in een district of in een . . . land als de openbaring van zijn lichaam” betrachtet werden. Diese Kirchen haben nicht nur ein gemeinsames Bekenntnis, sondern auch eine “gemeenschappelijke kerkregeering”, die nicht nur “van onderen op door afstand van macht” zustande kommt. Die “bestuurskringen” unterscheiden sich
1) Hoedemaker, Op het fundament, S. 57
f.
2) Vgl. dazu seine Schriften: “Heel de kerk en heel
het volk!” und “De Kerk en het moderne staatsrecht”.
3) “In afkomst, belijdenis en geschiedenis zijn deze
kerken zoo één, dat zij zonder elkander niet kunnen worden
gedacht”. Hoedemaker, Op het fundament, S. 71.
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zwar nicht durch “hogere en lagere”, wohl aber durch “minder of meer uitgebreide macht”.1) Die Vollmacht der Synoden leitet sich im gleichen Maße von Christus her wie die des örtlichen Presbyteriums. Das Gewicht ihrer Entscheidungen steigt durch den grösseren Bereich, für den sie gelten.
Es liegt auf der Hand, dass eine solche Sicht der Kirchen des Landes als einer “collektieven eenheid”2) den Absolutheitsanspruch der Ortsgemeinde relativiert, ohne diese deshalb doch zu einer blossen Parochie zu machen. Sie ist jedenfalls für Hoedemaker verbunden mit dem Gedanken, dass es nicht um das Heil von ein paar Gemeinden gehen kann und diese sich kurzerhand aus dem Verbande lösen könnten, sondern dass Ziel aller Bemühungen die Befreiung und Neuordnung aller Kirchen des Landes sein müsse. Bisweilen tritt das Einheitsdenken so stark in den Vordergrund, dass man befürchten muss, die Wahrheitsfrage werde von ihm zurückgedrängt.
Vom Standpunkt der historischen Entwicklung aus kritisiert Hoedemaker auch den Rückgriff auf die alte, zunächst unveränderte, erst 1905 um einige auf die Obrigkeit bezügliche Sätze gekürzte Dordrechter Kirchenordnung von 1619. Er bezweifelt, dass die Kirche mit dieser Ordnung aus dem Anfang des 17. Jahrhunderts unter den völlig veränderten Verhältnissen am Ausgang des 19. Jahrhunderts ihrem Auftrag noch gerecht zu werden vermag. Seine eigenen Reorganisationsvorschläge übernehmen zwar auch die bewährten Dordrechter Prinzipien, knüpfen aber um der historischen Entwicklung willen stärker an die Ordnung von 1852 an. Das Schwergewicht soll allerdings nicht bei permanenten Leitungsgremien, sondern bei einer wirklich “geestelijken synode” liegen, welche auch über die Lehre wachen und beschliessen kann.
Hoedemakers Schüler, Dr. P.J. Kromsigt, hat vornehmlich in den ersten Jahren unseres Jahrhunderts den Versuch
1) Hoedemaker, Op het fundament . . .,
S. 145.
2) Ebenda.
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unternommen, die bei seinem Meister oft nur angedeuteten Linien auszuziehen und weiter zu entwickeln.
Drei Momente seines Denkens trennen ihn von A. Kuyper und den Doleanzkirchen: 1. Kromsigt will — nahezu um jeden Preis — die Volkskirche und lehnt die Idee der freien, “reineren” Kirche mit dem Konföderationstheorie ab. 2. Er wendet sich gegen die Kuypersche Überbetonung der Erwählung und dessen Verkürzung der Bundeslehre. 3. Er sieht — kirchlich — in der Doleanz den Einbruch der Revolution mit einer Devaluierung des Amtes und der Aufgabe der Einheit der nationalen Kirche.
Volkskirche ist für Kromsigt so wenig wie für Kuyper und Hoedemaker “massa-kerk”, die dann praktisch Raum für jede Auffassung haben müsste, die im Volke lebendig sei.1) Ihm schwebt vielmehr eine “belijdende volkskerk” vor, die einerseits Kirche bleiben muss, also “haar positive belijdende grondslag geen oogenblik verlaten” darf, andererseits aber auch das Ideal nicht preisgeben darf, “ook zooveel mogelijk heel het volk te omvatten”.2) Diesem Gedanken liegt die Auffassung eines von Gott nicht nur mit einzelnen oder Geschlechtern geschlossenen, sondern sich auf ganze Völker erstreckenden Bundes zugrunde.3) Mit Abraham wurde ganz Israel Bundesvolk Gottes im Alten Testament. Wie aber jeder Israelite einst im “verbond” Jahwes stand kraft seiner Geburt und Existenz in diesem Volk, so gibt es unter der “Nieuwen bedeeling”, im Neuen Testament, “gekerstende naties”, die in ihrer Gesamtheit — eben als “voor het Christendom gewonnen
1) Tweeërlei volkskerk, S. 19 ff.
2) A.a.O., S. 23, S. 31 heisst es: “Het ging er om, om
het volk als volk bij het Christelijk geloof te bewaren, doch om
tevens de geestelijke grondslagen van het genadeverbond niet los
te laten”.
3) “Hij (God) sluit Zijn verbond niet slechts met
personen, maar ook met geslachten, ja, ook met volken. De genade
sluit zich aan in zekere zin aan het natuurlijke leven”. a.a.O.,
S. 27 und auf S. 26: “God rekent dus met het geheel van het volk
in zijn historisch bestaan”. Langman zitiert diese Sätze
und führt dann fort: “Zo zegt Kromsigt von Israël, maar in de
formulering van zijn gedachten heeft hij eigenlijk reeds het
volk van Nederland op het oog” (Kuyper en de Volkskerk, S.
206).
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volk” — “deel hebben aan de geestelijke zegeningen van Abraham”.1) Kromsigts Aussagen laufen auf den Schluss hinaus: Wie einst Israel als Gesamtnation geheiligtes Volk des Bundes war, so heute die “christelijke natiën”, d.h. auch das ganze niederländische Volk.
Wie für Israel die Beschneidung, ist für die “christliche Nation” die Taufe kraft Abstammung für jedes Glied des Volkes obligatorisch; andererseits hat jedes Glied ein Recht auf sie.2) Sie darf selbst dann nicht verweigert werden, wenn die direkten Vorfahren nicht mehr in der Glaubensbeziehung zur Gemeinde gestanden haben. Der Bund ist weiter als die Erwählung, von der aus bei Kuyper auch die Bundesvorstellung bestimmt ist. Die Kirche hat viel stärker mit dem Bund zu rechnen, sie darf sich aber kein Urteil über die Erwählung zumessen; dies steht allein in Gottes Hand.3) Die Rechtfertigung, welche die Kirche lehrt, muss justificatio impii, nicht justificatio electi sein. Die Konsequenz ist die Ablehnung jeden Versuches zur Herstellung der “zuiveren kerk”; es kann nur eine “ware kerk” im Sinne Augustins und gegen die Donatisten geben.4) Und es kann nur eine “ware kerk” geben, weil die Wahrheit, weil Christus ungeteilt und unteilbar ist; Kromsigt verwirft die auf der Evolutionstheorie
1) Vgl. Tweeërlei volkskerk, S. 27. Deshalb
hätten auch die Reformatoren nicht nur individualistisch einzelne
aus der Römischen Kirche gewinnen, sondern “heel de kerk in een
bepaald land reformeren” wollen (Langman, S. 207). Darum
griffen sie zurück “tot het verbond Gods met de volken in hun
organisatorische eenheid als Christenvolken en namen daarin
hun uitgangspunt voor de reformatie van de kerk”. Tweeërlei
volkskerk, S. 29.
2) Vgl. Tweeërlei volkskerk, S. 30; K. beruft sich
dabei auf Calvin, CR, Op. Calv. vol. XVII, S. 666 f.
3) Tweeërlei volkskerk, S. 25 f.
4) Vgl. Tweeërlei volkskerk, S. 31, wo er gegenüber
Kuyper als den wahren Erben der Reformation
Kohlbrügge nennt. Vgl. auch Tweeërlei volkskerk, S. 22
f. und Langman, a.a.O., S. 211.
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basierte Pluriformitätslehre Kuypers als schriftwidrig.1) Es gibt für ihn keine Pluriformität im (geistlichen) Sinne der Glaubensüberzeugung, sondern allenfalls im Sinne der durch die Nationalcharaktere bedingten Formverschiedenheit.
So geschlossen dieser Versuch einer theologischen Fundierung der Nationalkirche erschienen mag, müssen wir ihn doch schon in ihrem Ansatz ablehnen. Er trägt der Einmaligkeit des Volkes Israel als Nationalverband nicht Rechnung. Er ignoriert auch die prinzipielle Andersartigkeit des Neuen Bundes. Im Grunde ist er die versuchte Behauptung der an sich schon hinreichend umstrittenen Reichskirchen-Idee der konstantinisch-mittelalterlichen Ära in einer jener Idee ihre Grundlagen entziehenden säkularisierten Zeit.2) Gottes Bundesvolk heisst Israel. Was durch Jesus Christus geschah, ist die Erfüllung der prophetischen Weissagungen, dass Israel sich durch die Erlösten aus den Völkern erweitern soll.3) Der Neue Bund ist die Erfüllung des Alten, nicht
1) Grondslag en wezen der kerk, S. 98 f., 101;
ferner: Tweeërlei volkskerk, S. 32: “hoe meer de waarheid
relatief wordt gemaakt, hoe meer ook het kerkbegrip wordt
verzwakt en verbasterd . . . de gedachte van de “pluriformiteit
(veelvoudigheid) der kerk” . . . beantwoordt aan de
pluriformiteit der waarheid . . . Aan de ééne waarheid
beantwoordt echter slechts één kerk onder een bepaald volk,
dus de volkskerk”.
2) Mit Recht fragt Langman, a.a.O., S. 210:
“En hoe moet het nu als, zoals in onze tijd, het verschijnsel van
de ontkerstening van ons volk hand over hand toeneemt? Behoren
dan nog al de kinderen van ons volk gedoopt te wezen? Hoewel
Kromsigt van enige aarzeling blijkt geeft, kan het antwoord, dat
hij moet geven niet anders zijn dan ja. Maar is het gevolg
daarvan niet een geweldige verwereldlijking, een devaluatie
van de doop en betekent dit niet vermenging van kerk en
wereld? Het komt mij voor, dat dit inderdaad zo is”. — Wir
haben dem nichts hinzuzufügen.
3) Röm. 11, 25; Joh. 10, 16; vgl. Jes. 11, 10; Sach.
2, 14 ff. Vgl. hierzu auch den Aufsatz von H.W. Wolff,
Volksgemeinde und Glaubensgemeinde . . . in Evang. Theol. 9. Jg.,
S. 65 ff. bes. S. 81.
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aber seine Beiseitesetzung. Wo die Kirche das Wissen darum dass “die aus den Heiden” nichts anderes als die eingepropften Zweige an den Stamme Israels sind1) und darum Anteil am Bunde Gottes haben, durch eine Lehre spezifisch christlicher Nationen ersetzt, hat sie sich selbst ihres Im-Bunde-Seins mit dem Gott Israels und damit ihres eigentlichen Fundamentes begeben. Damit steht in Zusammenhang die in jüngster Zeit heftig diskutierte Frage, inwiefern die Taufe wirklich nur die anderer Gestalt, im Prinzip aber gleich der Beschneidung ist und für ihre Anwendung gleiche Gesetze gelten wie für das Zeichen des Alten Bundes.2) Und hinter diesem Problem verbirgt sich dann letztlich und entscheidend die Frage nach dem Verhältnis des organischen Lebens und der Generationenfolge zur geistlich bestimmten Existenz der Kirche des Neuen Testaments, deren Beantwortung ebenfalls noch nicht zu hinreichender Klarheit durchgedrungen ist.
Dass Kromsigt Gegner der Doleanz als Spaltung der nationalkirchlichen Einheit werden musste, liegt auf der Hand.3) Er wirft Kuyper besonders die Devaluierung des Amtes in der Kirche durch seine Theorie von “Ambt aller geloovigen” vor, welche als Vorbereitung der “kerkelijken revolutie van 1886” gewertet werden müsse.4) Nach dem N.T. bestehe eine scharfe Grenzlinie zwischen den Amtsträgern und den anderen Gliedern der Gemeinde.5) Nicht die Gemeinde sei eigentlich Inhaberin
1) Röm. 11, 16 ff. und die Parallelen.
2) Im niederländischen Raum ist sie jüngst, im
Anschluss an Barths Schrift “Die kirchliche Lehre von
der Taufe” behandelt worden durch G.C. Berkouwer, “Karl
Barth en de Kinderdoop”.
3) In der Doleanz habe man sich, bei Licht betrachtet,
“met loslating van de historische, door God geplante Kerk, rondom
de belijdenis als een dood stuk papier vergaderd. Men noemde dit
ook letterlijk, alsof het een notarisacte was, een “accoord van
kerkelijke gemeenschap” . . . “Is de oude kerkinrichting de eenig
schriftuurlijke?” S. 110.
4) De zichtbare Kerk en de ambten, S. 210 ff.,
besonders 211 in der Fussnote.
5) De zichtbare Kerk en de ambten, S. 210. Das
Auslöschen dieser Linie, die auch in Acta 15 zum Ausdruck komme,
sei die “Proklamation der Revolution auf kirchlichem
Gebiet”.
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der Amtsgewalt und übertrage sie dann zur Ausübung an die von ihr gewählten Amtsträger, wenn sie diese auch wählen oder mindestens bestätigen dürfe. Denn das “gezag zelf” komme den Amtsträgern “regelrecht van Christus” zu.1) Die von Kuyper vertretene Theorie eines “wisselenden gezags” zwischen der Gemeinde und dem besonderen Amt, in welcher je nach der persönlichen Würdigkeit und Treue zum Wort das “gezag” der einen dasjenige der anderen übertreffe, sei “feitelijk de liberale theorie der volkssouvereiniteit, die geen overheid kent, overgebracht op kerkelijk gebied”. Sie sei nichts anderes als “de inkleeding van deze alle kerkrecht omverwerpende en dus kerkontbindende stelling: ‘op kerkrechtelijk gebied is ieder, die zich op het Woord beroept, eigen rechter’. Het is het beruchte quatenus . . . toegepast niet op de belijdenis, maar op het ambt”.2)
Kromsigt wittert hinter der Theologie der Doleanz, und zwar speziell hinter der sogenannten Konföderationstheorie, mit der das Zustandekommen sowohl des Verbandes der Kirchen als im Grund auch der einzelnen Gemeinden erklärt wird, den ganzen remonstrantischen Untergrund der independentistischen Kirchenrechtsauffassung, die an Stelle der Fügung Gottes dem freien Willen des Menschen Raum gebe.3) Dem stellt er in der “Volkskerk” die Kirche gegenüber, in die man hineingeboren, zu der man versammelt wird, die vorgegebene Kirche.
1) De zichtbare kerk en de ambten, S. 212. In
einer Fussnote bemerkt er dann, dass “Dr. Kuyper . . . met
geringe wijzigingen aan de zijde der Independenten . . .” stehe
mit seiner Behauptung, dass “het (kirchliche) gezag uitgeoefend
wordt . . . wezenlijk of essentieel door het ambt aller
geloovigen, en wat de bewerktuiging aangaat, of organisch, door
de aangestelde dienaren” (Kuyper, Tractaat, S. 43). Vgl.
auch “Is de oude kerkinrichting . . .”, S. 18.
2) De zichtbare kerk en de ambten, S. 208, in der
Fussnote; S. 201 meint er, diese Geringschätzung des Amtes sei
typisch für die Perfektionisten und die nach der reinen Kirche
strebenden Labadistischen Gruppen.
3) Is de oude kerkinrichting . . ., S. 126 in der
Fussnote. Grondslag en Wezen der kerk, S. 98 f. Vgl. weiter
Langman, Kuyper en de Volkskerk, S. 208 in seiner
Behandlung der Kritik Kromsigts an Kuypers
Kirchenbegriff.
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Kromsigt hält die Einrichtung und Regierung der Kirche nach dem presbyterial-synodalen System für göttliches Recht.1) Zum Nachweis dieses jus divinum geht er vom Negativen aus und schliesst auf das Positive. Die Schrift (er zitiert Mk. 10, 42-45) verlange unter Christus als dem einzigen Haupt der Gemeinde die ausschliesslich dienende Stellung aller Amtsträger der Gemeinde, die jede Regierung durch einzelne ausschliesse; die Gemeinde wie die Gesamtheit der Gemeinden könne deswegen “alleen door vergaderingen” regiert werden, denn so wenig wie einer über den anderen, dürfe eine Gemeinde über die andere herrschen.2) Von diesen Grundsätzen her lasse sich aber keine andere als die presbyteriale “kerkinrichting” aufbauen, “waar mede dus hare schriftuurlijkheid in strikten zin bewezen is”.3)
Nichtsdestoweniger gehört auch für Kromsigt die Einrichtung der Kirche nur zu ihrem “welwezen”, nicht zu ihrem Wesen. Wahre Kirche kann deshalb durchaus auch da sein, wo sie nicht — oder noch nicht — presbyterial-synodal eingerichtet ist.4) Es unterliegt keinem Zweifel,
1) Is de oude kerkinrichting . . ., S. 119. “De
presbyteriale kerkinrichting heeft een goddelijk (niet
bloot-menschelijk) recht (jus divinum)”. Sie ist eine “door Gods
Woord geëischte kerkinrichting”. Für das jus divinum der Synoden
beruft er sich (a.a.O., S. 122 f.) auf Acta 15, wo die
“eigenlijke beraadslaging . . . blijkbaar gevoerd (wordt) door de
apostelen en de ouderlingen”.
2) Is de oude kerkinrichting . . ., S. 119 f. Diese
dienende Bestimmung des Amtes sei im Episkopat und selbst in
seiner schwächsten Form der Superintendentur nicht mehr gegeben,
während die Stellung des Papstes geradezu eine Verleugnung des
lebendigen Heilandes und seiner Herrschaft über die Kirche
darstelle, bemerkt K. in einer Fussnote.
3) Vgl. a.a.O., S. 125.
4) Vgl. a.a.O., S. 112, 119, Fussnote. — Diese Weite
zeigt sich ja übrigens historisch sowohl bei Calvin (man
vergleiche etwa seine Briefe nach Polen und England) als auch bei
den Einladungen zur niederländischen Generalsynode nach Dordrecht
1618, auf der auch Kirchen mit landesherrlichem oder episkopalem
Regiment vertreten waren und voll in die Gemeinschaft aufgenommen
wurden.
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dass damit der Begriff des jus divinum relativiert ist. Aber Kromsigt hat hier offenbar trotz seiner sonst so kompromisslosen Linien etwas von dem bemerkt, worauf neuerdings vor allem Bronkhorst in den Niederlanden hingewiesen hat, dass nämlich die Schrift zwar gewisse Grundsätze kirchlicher Ordnung erkennen lässt, aber in ihrer Ausformung Raum für verschiedene Gestaltungen bleibt.1) Unter ihnen gebührt dem presbyterial-synodalen System der Vorzug. Denn die Synodalordnung stelle für die Gesamtkirche2) die beste Verbindung von “gezag en vrijheid” dar, in der dem Amt die ihm zukommende Macht geschenkt, aber zugleich eine Zentralisierung von “gezag” vermieden und die Mündigkeit der Gemeinde garantiert werde.3)
Fragt man nach der Aufgabe der Synode, so lässt sich vor allem aus dem Schluss der Schrift “De zichtbare Kerk en de ambten” erkennen, dass sie Appellationshof für die Gemeindeglieder und Einzelgemeinden sein soll, ihr aber vornehmlich die Funktion zufällt, das Bekenntnis der Kirche zu formulieren und auszusprechen. Durch die Entscheidung über das Bekenntnis regieren die Amtsträger in der Synode die Kirche.4) Für ihr “gezag” schliesslich beruft auch Kromsigt sich wie Hoedemaker auf die Kumulationstheorie.5) Das Verhältnis dieser Synode zu den
1) Vgl. a.a.O., S. 119. Kromsigt
beruft sich S. 113, Fussnote, auf Sillevis-Smitts (De
Organisatie van de christelijke kerk in den apostolischen tijd,
S. 197) Regel: “gebonden in het principieele, vrij in wat, mits
met het principe niet in strijd, de uitwerking en inrichting
betreft”. — Vgl. die neuere Dissertation von A.J.
Bronkhorst, Schrift en Kerkorde, der zu einem ähnlichen
Ergebnis kommt.
2) Diese Gesamtkirche kann nur in ihrem nationalen
Ausschnitt noch gemeinsam regiert werden. Wenn auch das soma
Xristou sich eigentlich über die ganze Erde erstrecke, müsse
man doch mit dem Zerfall des menschlichen Geschlechts in
verschiedene Sprachen und Völker rechnen. Vgl. “Is de oude
kerkinrichting . . .”, S. 126.
3) Vgl. a.a.O., S. 116, S. 119 und S. 121 f.
4) Vgl. a.a.O., S. 116.
5) Vgl. a.a.O., S. 122.
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örtlichen Gemeinden scheint ihm nicht problematisch gewesen zu sein; eine Kompetenzabgrenzung hat er gar nicht erwogen.
Wir haben unter den Schülern Hoedemakers P.J. Kromsigt bewusst herausgegriffen, weil er jene Linien seines Lehrers aufgenommen hat, welche sich direkt auf die interne Ordnung der Kirche, also auch auf das Verhältnis von Synode und Gemeinde beziehen. Kromsigt darf als Zwischenglied zwischen Hoedemaker und dem “Nederlandsch Hervormd verbond tot kerkherstel” gelten, in dem dann Haitjema in den dreissiger Jahren die führende Rolle spielte. Gerade in jüngster Zeit aber hat ein anderer wesentliche Ideen Hoedemakers aufgenommen und ihnen in der entscheidenden Periode der Arbeit an der neuen KO der Hervormden Kerk Gehör zu verschaffen gewusst: der Utrechter Professor A.A. van Ruler. Er stimmt in den internen Linien der kirchlichen Ordnung durchaus mit Kromsigt überein, aber er verschiebt den Blickwinkel. Van Rulers Verdienst ist es, die Kirche auf ihren apostolischen Auftrag hingewiesen und damit ihren Blick, wenn man so will, primär nach aussen gerichtet zu haben. Sein Augenmerk richtet sich dabei — Erkenntnisse Hoedemakers und Kuypers vereinigend — auf das Reich; denn die Kirche ist nur Organ im Dienste des und auf das Reich hin. Und wenn Van Ruler von ihrem Apostolat spricht, so versteht er — unter Berufung auf Hoedemaker — diesen nicht als Amt in der Kirche zu ihrer Regierung, sondern als Amt im Reich zu dessen Ausbreitung.1) So ist Hoedemaker indirekt als geistiger Vater der finalen Ausrichtung der neuen KO anzusprechen, durch welche auch die “Volkskirche” eine ganz andere Sinnbestimmung erfährt.
1) Vgl. hierzu besonders A.A. van Rulers Schrift “Het Apostolaat der kerk en het ontwerp-kerkorde”. — Erst durch diese Schrift wurde ich auf den Apostolatsgedanken Hoedemakers aufmerksam, ohne ihn mangels möglichen Einblicks in die Quellen direkt belegen zu können. Er ist jedoch im Rahmen unseres Themas auch nur von sekundärer Bedeutung und würde vielmehr in eine Erörterung der Grundsätze kirchlicher Ordnung überhaupt gehören.
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Auch Johannes Hermanus Gunning Jr., Professor der Theologie an der (städtischen) Universität Amsterdam, später in Leiden, Führer der sogenannten “irenisch-konfessionellen” Gruppe in der Hervormden Kerk, stand in der Ablehnung der konsistorialen Regierungsform der Hervormden Kerk und der Zurückweisung der rückhaltlosen Schriftkritik des Modernismus eine Zeit lang neben Kuyper und Hoedemaker. Seine theologische Konfession hat er in seiner 1883 erschienenen Schrift “Irenisch” vorgelegt1), aus welcher auch schon die Ursache für seinen Bruch mit Kuyper deutlich wird: Für Kuyper lag der Schwerpunkt seines kirchlichen Denkens in der Lehre und dem Bekenntnis, für Gunning hingegen in der persönliche Glaube an den “Christus der Schriften” weit über alle lehrmässigen Anschauungen und Äusserungen erhaben und fällt das Gewicht auf das sittlich-ethische Motiv der persönlichen Nachfolge Christi, durch welche die sittliche Persönlichkeit des Menschen wiederhergestellt wird.
Gunning hat in die kirchliche Auseinandersetzung hauptsächlich mit drei kleineren Schriften eingegriffen, von denen die erste bereits einige Jahre vor dem Auftreten Kuypers erschien2), die beiden anderen in die Jahre vor der Doleanz fallen.3) Zwar erkennt auch er die Notwendigkeit einer Ablösung der “bestuurs-organisatie” an; aber weil sie tatsächlich Ausdruck des geistlichen Zustandes eines guten Teils der Kirche sei, kann der Schaden nur an seiner Wurzel behoben werden.4)
Hinsichtlich der organisatorischen Veränderung des status der Kirche ist er skeptisch, wenn dieser nicht
1) J.H. Gunning, Irenisch, een woord
aan de gemeente over de proponentsformule, Amsterdam, 1883.
2) J.H. Gunning, De vrijheid der gemeente,
bezwaren tegen de ordening der Nederl. Herv. Kerk in onze dagen,
Utrecht 1861. War mir leider nicht zugänglich.
3) J.H. Gunning, Een woord over onzen
kerkelijken toestand, ’s-Gravenhage, 1880.
4) Vgl. Gunning, Een woord . . ., S.
17.
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eine breite geistige Erneuerung vorausgeht; und auf diese richtet er sein Augenmerk. Es sei nicht die Zeit “voor veruitziende plannen van reorganisatie of hervorming der kerk”, schreibt er mit einer unverkennbaren Spitze gegen Kuyper, weil darin nur zu leicht der Mensch, mit seinem Tun dem offenkundig sich ereignenden Handeln des Herrn vorgreifen wolle.1) “Laat ons voor al niet te spoedig iets willen doen”, heisst es an anderer Stelle.2) “Het Kerkgenootschap van 1816 zal op Gods tijd vallen”, wie alles, was der Entwicklung und dem Wachstum des Lebens im Wege stehe. Jetzt sei es Pflicht, sich “toe te bereiden, om dien ommekeer te kunnen dragen”.3) Nicht eigene Pläne und Prinzipien könnten helfen, sondern das “meest practische” sei, sich “persoonlijk voor de onderwijzing des Heiligen Geestes ontvankelijk te stellen”, um für Wiedergeburt und Heiligung offen zu sein und nicht in tödlichen Konservatismus und Restauration zu verfallen.4) “De kerk wordt wel geleid; bijzondere maatregelen te beramen is niet noodig. Slechts ons ontvankelijk te stellen, om Gods maatregelen, Gods werk te zien en op dat spoor te treden”.5) Man vergleiche nur die Kette dieser Aussagen, die sich in ähnlicher Form auch in der erwähnten ersten Schrift von 1861 finden, mit dem ersten Kriegsruf Kuypers von 18676), und die Kluft zwischen den Antworten bricht selbst für den flüchtigen Blick auf. Dort Hammer und Meissel — hier wartende Offenheit für Wort und Geist; dort die Ordnung und Recht der Kirche — hier der persönliche Glaube.
Nichts fürchtet Gunning so sehr, als dass die juridische Durchsetzung des Bekenntnisses der geistigen
1) Gunning, Zelfstandigheid der
Gemeenten, s. 24.
2) Ders., Een woord . . ., S. 18.
3) Ders., a.a.O., S. 19.
4) Ders., a.a.O., S. 21.
5) Ders., a.a.O., S. 22.
6) A. Kuyper, Wat moeten wij doen?
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Erneuerung vorauseilt und diese dadurch hemmen und abschneiden könnte.1) Er sucht zu verhindern, was er schon sich anbahnen sieht, dass nämlich auf dem von Kuyper eingeschlagenen Wege zwar die Lehre hochgehalten wird, aber beim Obsiegen seiner Auffassung am Ende die Isolation stehen und der Einfluss der Kirche auf “maatschappelijke zedelijkheid en beschaving” nur noch durch die Stimme einer politischen Partei geltend gemacht werden kann.2) Gunning glaubt, dass dieser Einfluss am besten durch Beibehaltung der Volkskirche gewahrt werden könne, in die die neuen Glieder hineingenommen werden, um ihnen durch weitere Schriftstudien den Weg zum Glauben zu erschliessen, ohne dass ihre volle Zustimmung zur Bekenntnisformel der Gemeinde dafür Voraussetzung ist. Das bedeutet, kurz formuliert: Evangelisierung und Mission im kirchlichen Raum, nicht ausserhalb desselben.3) Die phänomenologisch und rechtlich erfassbare “Kirche” ist also mehr Rahmen als geschlossener Körper.
Die Eigenart seines Kirchenbegriffes zeigt sich am deutlichsten in der Auseinandersetzung mit dem Modernismus. Der Modernismus als “Richting” in seiner konfessionellen Form — und Gunning unterliegt es keinem Zweifel, dass er mit der Leugnung des “Christus der Schriften” ebenso gut eine Konfession ist wie die Orthodoxie4) —, dieser Modernismus steht ausserhalb der Kirche Jesu Christi, weil er das Fundament verlassen hat, auf dem diese Kirche erbaut ist.5) Die Anerkennung seiner kirchlichen Daseinsberechtigung neben anderen Auffassungen
1) Gunning, Een woord . . ., S. 10:
“Het juridisch-confessioneel standpunt is mijns inziens waar,
doch alleen wanneer het geheel aan het zeedelijk-geestelijke
aanwenden van den toetssteen der Schrift ondergeschikt gesteld .
. . wordt”.
2) Gunning, a.a.O., S. 14 f.
3) Vgl. Gunning, Een woord . . ., S. 10
f.
4) Gunning, Zelfstandigheid der Gemeenten, S.
15.
5) “Wij kunnen nooit in de gemeente het recht erkennen
van eenige beschouwing, die ‘het fundament dat gelegd is’
ontkent”. a.a.O., S. 23.
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oder Auslegungen auch nur zu erwägen, fällt für Gunning unter die Dinge, durch welche eine “christelijke vergadering zich onteert”.1) Aber der auf die Person Jesu Christi sich konzentrierende Glaube is “een geheel en al persoonlijke zaak”, und man muss — nach Gunning — streng unterscheiden zwischen dem “belijdenis en de personen, die ze vertegenwoordigen”; also zwischen dem lehrmässigen Modernismus und den seiner Aussageform sich bedienenden, ihr anhängenden Menschen.2) Dies führt dazu, dass Gunning es subjektiv guten Gewissens ablehnen kann, die Modernen als Personen aus der Gemeinschaft der Kirche auszuschliessen.3) Er kann ja, da er die Kirche als den Raum zur Bekehrung, Wiedergeburt und Heiligung versteht, sich in Geduld an die Hoffnung halten, dass sie über kurz oder lang doch durch die Verkündigung der Wahrheit ihres Unglaubens und Irrtums überführt werden und zur wahren Gemeinde hinzustossen.
Diese wahre Gemeinde aber ist juristisch nicht fest zu umreissen. Sie bildet sich und tritt in Erscheinung vielmehr da, wo die Gläubigen im Bekenntnis zu Jesus Christus — was nicht heisst: auf der Basis einer Bekenntnisformel — zusammentreten.4) Diese wahre Gemeinde ist “belijdende gemeente”.5) Sie ist die neue Gestalt
1) A.a.O., S. 15, vgl. auch S. 34 f.
2) “Wij kunnen derhalve iemands geloof, d.i. iemands
persoonlijkheid zelve, niet naar zijn belijdenis afmeten. De
belijdenis van den modernen staat buiten het
christendom. Hij zelf alleen dan, wanneer hij welbewust
met zijn overtuiging vereenzelvigd is”. Zelfstandigheid der
Gemeenten, S. 56, 57. Vgl. auch S. 16: “. . . ik weiger
uitdrukkelijk in de verwarde gisting onzer dagen . . . met de
orthodox-confessioneelen in het algemeen te zeggen: ‘orthodoxen =
geloovigen, modernen = ongeloovigen’.”
3) Gunning, a.a.O., vgl. S. 23; Een woord . .
., S. 7 ff.
4) Vgl. Gunning, Zelfstandigheid, S. 37
f.
5) Gunning, Zelfstandigheid der gemeenten, S.
27; auch S. 50. Die gelegentlich vorgebrachte Auffassung, als sei
der Begriff der “bekennenden Kirche” bzw. “bekennenden Gemeinde”
erst im deutschen Kirchenkampf geprägt worden, beruht also auf
einer Unkenntnis der niederländischen Entwicklung des 19.
Jahrhunderts.
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der Kirche an Stelle der alten “Belijdeniskerk”, die ihre Wurzeln in der ganze Völker erfassenden Bekehrung Europas, in der territorialen Bestimmung des Bekenntnisstandes in der Reformationszeit und in dem Gedanken der christlichen Nationen hatte; denn für diese “belijdeniskerk” hat durch die Trennung von Staat und Kirche die Todesstunde geschlagen. Dieser Kern, diese eigentliche Gemeinde wird zwar die Anhänger des Modernismus nach Lage der Dinge eventuell neben sich dulden müssen, kann sie aber dann nur ignorieren.1) Sie kann keine Schritte gegen sie unternehmen, weil es ihr selbst an der “zedelijken bevoegdheid” fehlt, “om de rechterlijke macht der belijdenis te doen gelden”.2)
Der hinter diesen Aussagen stehende Gemeindebegriff zeigt gewiss in seiner Tendenz zur Dynamik und zur Person wertvolle Ansätze, aber er ist doch im letzten nicht durchgeklärt. Die Verlegenheit zeigt sich schon darin, dass seine Behauptung praktisch von einer eigenen Mehrheit oder mindestens einer modernen Minderheit in der Kirche abhängig ist. Denn da Gunning sich, seinem Ansatz in der Person folgend, zur Gemeindekirche bekennt, so muss er der Möglichkeit ins Auge sehen, dass die Modernen die Herrschaft erlangen, das Bekenntnis für fakultativ erklären und damit die Gemeinde “zonder den gemeenschappelijk vaststaanden grondslag Jezus Christus” ist; dann aber würde es “de tijd zijn om uit te treden”.3) Das ist der Rückzug von der Gemeinde als corpus4) auf die Person.
1) Gunning, Zelfstandigheid der
gemeenten, S. 23: “Bij alle officieele handelingen en uitspraken
moeten wij hen, die op dat fundament (des Glaubens der Kirche)
niet bouwen, ignoreeren”. Und vielleicht noch deutlicher S. 37
f.: “die in Jezus als den Christus naar de Heilige Schriften
gelooven, mogen hen die niet alzoo gelooven, niet erkennen als
nuance, als een ‘andere richting’, kortom als tegenover hen
oorlogvoerende partij. Zij moeten zeggen: ‘Wij, de gemeente’, —
en, dit zeggende, elkander aanzien, en hen die dat geloof
ontkennen, bij de kwestie omtrent de kerk in geen aanmerking
nemen”.
2) Gunning, Een woord . . ., S. 10.
3) A.a.O., S. 23.
4) Die Gemeinde ist “door haren kerkeraad
vertegenwoordigde persoonlijkheid”, Zelfstandigheid . . ., S.
20.
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Es mag hier daran erinnert sein, dass Kuyper gerade in diesem Punkt auf die Erhaltung der Gemeinde-Kontinuität grössten Wert legte und die Lösung in einer anderen Richtung versuchte. Gunnings Konzeption krankt daran, dass sie die Möglichkeit zur handelnden Konsequenz aus dem “Wij, de gemeente” von ethisch-sittlichen Momenten abhängig und dadurch schon im Ansatz unmöglich macht.1) Die Ausübung der Schlüsselgewalt zeigt sich gewiss nicht unbedingt in dem Mut zur Exkommunikation, sie scheint uns aber geschwächt, wenn nicht gar im Prinzip aufgegeben zu sein, wo die Kirche auf das von der Schrift her und in ihrer Auslegung und Anwendung2) gesprochene Urteil überhaupt verzichtet.
Wenn Gunning für das wichtigste Moment zur Erneuerung der Kirche den persönlichen Glauben hielt, so geschah dies zunächst in der richtigen Erkenntnis, dass eine solche Erneuerung von innen her beginnen müsse.3) Die Gestalt einer neuen Ordnung zu prägen, ist die Gemeinde noch nicht reif; was Gunning einzig glaubte fordern zu müssen, war “losheid van beweging”, was für ihn identisch ist mit Dezentralisierung in allen Fragen geistlicher Art.4) Von diesem Gesichtspunkt her kommt er zu seinem Plädoyer für die “Zelfstandigheid der gemeenten” mit dem Inhalt: “autonomie der gemeenten in alles wat leer en geestelijke belangen betreft. En voor de handhaving van de noodzakelijke eenheid een synode met uitsluitend administratieven band”.5)
1) Es ist übrigens bezeichnend, dass G. eine
Lehrzucht zunächst überhaupt ablehnt und die Durchführung der
kirchlichen Zucht auf Leben und Wandel beschränkt sehen will;
denn hinsichtlich des Lebens haben Gottes Gebote auch im
Gewissen der Ungläubigen noch ihren Zeugen. So: a.a.O., S.
36.
2) Das niederländische Wort dafür (toepassing)
bezeichnet noch treffender, was wir meinen.
3) “Staat de gemeente niet bij de ontbinding harer
instellingen in kernachtige persoonlijke vroomheid . . .
zoo kan zij de noodzakelijke hervormingen ook thans niet uit haar
boezem opwerpen”. Een woord . . ., S. 17.
4) Gunning, Zelfstandigheid . . ., S. 26.
5) Een woord . . ., S. 15, vgl. auch ähnlich
Zelfstandigheid . . ., S. 22.
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Gunnings Vorstellung von der geistlichen Ordnung der Kirche ist auf die Ortsgemeinde als örtliche Offenbarung der “belijdenden Gemeente” beschränkt. Deren Gestalt wird durch den Glauben “von innen heraus” gesetzt.1) Indem die Reformation gegenüber dem kultisch-jurisdiktionell-institutionellen Kirchenverständnis Roms ihren Ausgangspunkt in der Person und in deren Rechtfertigung und Erwählung bezog und damit auch das Sittliche wieder stärker hervorhob, kann dem Glauben dieser reformierten Kirche nur die presbyteriale Kirchenform entsprechen, die “in het nauwst verband staat met het persoonlijk geloof”.2) “De Kerk als instelling wordt de Gemeente der geloovigen . . .” Der presbyteriale Charakter der Kirche bestehe vor allem in der Anerkennung des Ältestenamtes als wesentlich geistliches Amt.3) Die Ältesten verkörpern gleichsam das sittlich-ethische Moment neben dem religiös-kultischen. So ist die Ortsgemeinde niemals “voorwerp van herderlijke zorg”, sondern Subjekt, Quelle und Keimzelle aller Lebensäusserungen, “persoon, die het kerkelijke leven en het kerkelijke recht draagt”.4)
Diese “Person”, die die volle Freiheit in Christus geniesst, duldet keinen fremden Eingriff in diese Freiheit, sondern hat in allen Fragen selbst ihre Regel und ihr Bekenntnis zu bestimmen, wobei sie natürlich sittlich an das Wort der Schrift gebunden ist.5) Dies ist der Grund, warum Gunning die Möglichkeit einer synodalen Entscheidung in geistlichen Fragen bestreitet: In Fragen ihres Glaubensstandes ist die Gemeinde absolut souverän. Was über die Ortsgemeinde als konkrete Offenbarung der “belijdenden Gemeente” hinausgeht, lässt sich nur administrativ erfassen und bedarf auch lediglich administrativer Ordnung.6)
1) Zelfstandigheid . . ., S. 18.
2) Zelfstandigheid . . ., S. 18.
3) A.a.O., S. 19 f.
4) A.a.O., S. 20.
5) Vgl. a.a.O., S. 43.
6) “De Synode blijft bestaan, als een achtbaar,
administratief lichaam, de stoffelijke belangen der Hervormde
gemeenten besturende . . . Zij onderhandelt met den staat, gelijk
tot nog toe, en is voorts financiële commissie”. Zelfstandigheid
. . ., S. 49 f.
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Gunning machte als erster den Versuch, die starren Fronten der kirchlichen Gruppen mit einer neuen Dynamik des Glaubens zu durchbrechen. Es weigerte sich, sein Denken von Formeln bestimmen zu lassen. Er hat auch als erster der Kirche den Weg von der “Belijdenis-Kerk” des christlich-bürgerlichen Zeitalters zur “belijdenden Gemeente” der säkularisierten Moderne gewiesen. Darin, kaum hingegen in den eigentlichen Ordnungsfragen — am wenigsten denen der Synode —, liegt seine Bedeutung auch für die kirchliche Entwicklung des 20. Jahrhunderts.
Herman Bavinck, selbst aus den Kreisen der “Afscheiding” stammend, bis 1892 Glied der “Christelijk Gereformeerden Kerk”, durch lange Jahre Inhaber des systematischen Lehrstuhls an der theologischen Hochschule in Kampen, stand viel weniger als Gunning, Hoedemaker und Kuyper in der Brandung der Doleanz. Er war überhaupt nicht wie sie Kirchen- oder Gruppenführer, und seine Schriften zeichnen sich darum auch weniger durch Leidenschaft und situationsgebundene Aktualität aus, als vielmehr durch die Gründlichkeit der Quellensammlung, die Breite des Materials und die abwägende Nüchternheit des Urteils. Es ist sein unbestreitbares Verdienst, der reformierten Kirche der Niederlande das umfassende dogmatische Werk geschenkt zu haben, das zwar nun bereits ein gutes halbes Jahrhundert alt, aber in der holländischen Literatur immer noch nicht durch ein gleich umfassendes Lehrbuch ersetzt ist.1)
1) H. Bavinck, Gereformeerde Dogmatiek, 4 Bde., 4. Aufl., 1922, wonach wir hier zitieren. Was seitdem erschien, sind im Grunde nur Studien und Monographien, kurz: Teilwerke, ob man nun an Th.L. Haitjema, G.C. van Niftrik, K.H. Miskotte, G.C. Berkouwer, K. Schilder oder A.A. van Ruler denkt, um nur einige Namen zu nennen.
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Wenngleich Bavinck hinsichtlich seines Kirchenbegriffes und der theologisch-systematischen Erfassung und Einordnung der Dienste (“Ambten”) in der Kirche oft bereits zu neuen Ansätzen kommt, gehört er doch ohne Zweifel der alten orthodoxen Schule an. Dies zeigt sich nicht nur darin, dass er wohl das Wesen der Kirche zur Überschrift eines Paragraphen erkor, ihren Auftrag aber im Rahmen dieses Wesens behandelt und damit symptomatisch das Werden und Wachsen dem Sein unterordnet, sondern auch in der traditionell-formalen, im Grunde von einem administrativen Denken herkommenden Beschreibung der Regierung der Kirche und ihrer Dienste under dem Gesichtspunkt der Macht (potestas).
Bavinck sieht das Wesen der Kirche darin, dass sie das Volk Gottes, coetus fidelium, oder auch — mit Calvin — coetus electorum ist, entstanden aus Gottes Erwählung1), nicht zu begründen durch menschlichen Zusammenschluss.2) Allein in Rat und Verheissung Gottes und seiner unverbrüchlichen Bundeszusage kann dann auch so etwas wie eine “Garantie für ihren Bestand” gesehen werden.3)
Die Kirche ist aber nicht nur coetus fidelium, womit ihr Inhalt und Wesen bestimmt wäre, sie ist auch “mater fidelium”, sofern es um ihren Auftrag, um ihre Mittlerstellung geht. Sie ist “doel en middel tegelijk”.4) Auch Kuyper hatte von der “mater fidelium” gesprochen, sich
1) Vgl. Geref. Dogm. IV, S. 264, 270, 283, 288
f., 352. Auf diese Bestimmung der Kirche legt B. deshalb grossen
Wert, weil es eben “de geloovigen” sind, “die er het essentieele
bestanddeel van vormen en er het wezen aan geven”. S. 288.
2) Die Kirche ist “juist geen genootschap, want zij
ontstaat niet door vrijwillige toetreding van volwassen personen,
maar uit de wedergeboorte door den Heiligen Geest”. A.a.O., S.
281. “Het instituut der kerk is volstrekt niet . . . een product
der gemeente, maar eene instelling van Christus”. A.a.O., S. 312.
Dieser Satz geht eindeutig gegen die Auffassung Kuypers,
die wir weiter oben darstellten.
3) Vgl. a.a.O., S. 285.
4) A.a.O., S. 288, vgl. S. 311: Die Kirche als
“vergadering der geloovigen” wird von Christus als “instrument”
gebraucht, “om anderen tot zijne gemeente toe te brengen”.
“Door de kerk vergadert Christus zijne kerk . . . . De
geloovigen saam zijn tegelijk producent en product”. S.
313.
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nach ihr gesehnt; aber er meinte damit mehr die Betreuerin, den Hort der Gläubigen, die sich zur Kirche zusammenschliessen oder dank ihrer Vorfahren in sie hineingeboren werden. Für Bavinck, der dem Konföderationsgedanken abhold ist, bezeichnet der Begriff ein Doppeltes: Die Gläubigen danken ihre Glaubensexistenz der in der Kirche (als Institut) sich ereignenden Verkündigung, und sie sind zugleich aus dem Schoße der Gemeinde geboren, weil ja ihre schon gläubigen Eltern selbst diese Gemeinde wesenhaft ausmachen.1)
Wenn das Wesen der Kirche darin liegt, das Volk Gottes, die Gemeinschaft der Gläubigen zu sein, so ergibt sich daraus die Konsequenz, dass die Nicht-Glaubenden nicht zu dieser Kirche gehören und ihr Wesen nicht mitbestimmen können; sie sind zwar nach dem äusseren Anschein in der Kirche (de corpore), aber nicht die Kirche (de anima).2) Jedoch ist es der Kirche untersagt, sich durch Ausstoßung der Ungläubigen selbst schon jetzt zu reinigen.3) Bavinck nähert sich hier, jedenfalls in der Praxis, Gunning. Er hält damit an einem Typus der Kirche fest, der vielleicht demjenigen verwandt ist, den man später in der niederländischen Theologie als “belijdende volkskerk” bezeichnete.
Die Kirche auf Erden ist immer ecclesia mixta, d.h. in ihre leben ausser den wahren Gläubigen stets auch solche, die zwar nach dem kirchlichen Recht (z.B. durch ihr abgelegtes Bekenntnis, durch ihren Beitritt, durch ihre Taufe) Glieder der Gemeinde, dennoch aber nicht dem
1) Vgl. a.a.O., S. 313: Der “individueele
geloovige wordt uit den schoot der gemeente geboren . . .”.
2) Geref. Dogm., S. 283: “Zij, die het oprechte geloof
niet deelachtig zijn . . . maken . . . haar wezen, haar forma
niet uit, zij zijn in, maar niet de ecclesia”. Vgl. auch S. 285,
290.
3) “. . . elke poging, om de geloovigen en de
ongeloovigen te scheiden, en eene ecclesiola in ecclesia op te
richten, is . . . met des Heeren gebod in strijd”. a.a.O., S.
291.
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“coetus electorum et vocatorum” zugehörig sind.1) Darum ist im Blick auf die Menschen eine absolute Prädikation von “wahrer” und “falscher” Kirche überhaupt unmöglich.2) Man muss den Irrweg der donatistischen Heiligkeitsauffassung vermeiden und kann nur nach der am meisten “zuiveren” Kirche streben, wobei die Einheit des Glaubens durch das Festhalten der “Fundamentalartikel” besteht.3) Darum muss die Kirche der Reformation jedem Gläubigen die Freiheit einräumen, nach seiner Erkenntnis und in Verantwortung vor dem Herrn den Lehr- und Glaubensstand seiner Kirche zu beurteilen. So sehr Bavinck vor einer “Afscheiding” warnt und es zur Pflicht macht, “in de eigen Kerk te blijven” trotz “onzuiverheid” in Lehre und Leben, will er sie doch als äusserste Möglichkeit offen gehalten wissen, selbst auf die Gefahr des Missbraches hin.4)
Aber es kommt in Bavincks Kirchenbegriff zum Ausdruck, dass er seinen Ansatz im Wort nimmt. Obgleich auch er von gottgewollter Pluriformität spricht, unterscheidet er sich von Kuyper besonders durch seine Ablehnung des Konföderationsprinzips, welches dem anthropologisch bestimmten Kirchenbegriff zugehörte. Damit verwirft er
1) Vgl. a.a.O., S. 289.
2) Mit Rückgriff auf die Erkenntnisse der Reformation
heisst es a.a.O., S. 300: “Aan de eene zijde moest men toegeven,
dat eene ware kerk in absoluten zin hier op aarde onmogelijk is .
. . En aan den anderen kant werd het duidelijk, dat er ook eene
valsche kerk in absoluten zin niet bestaan kan, wijl zij dan geen
kerk meer ware . . . Ere was dus onderscheid tusschen
vera en pura ecclesia”. Vgl. auch S. 303.
3) Vgl. a.a.O., S. 300; vgl. Calvin, Inst.
IV, 1, 12-20.
4) “Het is volkomen waar, dat, indien het woord
kenteeken der kerk is en allen menschen in handen gegeven wordt,
ieder daarmede het recht ontvangt, om over de kerk te oordeelen
en, indien hij het goedvindt, van haar te scheiden. Maar deze
vrijheid is volkomen te eerbiedigen en door geen staat of kerk te
belemmeren. Zelfs het schrikkelijk misbruik, dat er van gemaakt
kan worden en gemaakt is, mag geen oogenblik tot afschaffing van
het gebruik verleiden”. a.a.O., S. 302 f. Vgl. ferner S. 299, 303
f.
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den Gedanken des atomistischen Zusammentretens der Gemeinde aus einzelnen Bekennern oder Wiedergeborenen1), ebenso auch die ausschliessliche Erklärung der Gesamtkirche durch Konföderation von unten nach oben.2) Dadurch, dass Bavinck nicht die Kuypersche Scheidung von Organismus und Institution vollzieht, kommt bei ihm die Einheit der Kirche stärker zum Tragen; sie ist begründet in der Erwählung Gottes, in der Fürbitte des einen Herrn, in der Wirksamkeit des einen Geistes, in der einigen Hauptschaft Jesu Christi.3) Darum ist das Ganze den Teilen vorgeordnet, sind die einzelnen örtlichen Gemeinden von der Gesamtkirche her und nicht umgekehrt. Denn sie haben von ihr, von schon bestehenden Gemeinden — zu allererst von Jerusalem — die Verkündigung empfangen, die konstituierendes Element der Kirche ist.4) Und darum sind sie zwar örtlich ecclesia completa, jedoch immer als Glied des Ganzen, nicht autonom.5) In demselben Sinne wie die Gläubigen haben auch die Einzelgemeinden
1) “De kerk is geene associatie van personen,
die eerst buiten haar om tot het geloof zijn gekomen en daarna
zich hebben vereenigd”. a.a.O., S. 264. Vgl. a.a.O., S. 281,
312.
2) “De kerk in haar geheel komt niet tot stand door de
atomistische saamvoeging van verschillende deelen. Maar de
ecclesia catholica is er eerst . . .” (a.a.O., S. 356; vgl. auch
S. 357). Sie ist der “ecclesia particularis” und den
“afzonderlijke fideles” vorgeordnet. Vgl. a.a.O., S. 313.
3) Vgl. a.a.O., S. 285, 301, 305, 356.
4) Vgl. a.a.O., S. 264, 286, 313, 356, 411 und öfter:
“De kerk van Christus is een organisme, waarin het geheel gaat
voor de deelen”. a.a.O., S. 286.
5) “Elke plaatselijke kerk” ist . . . mit den anderen
“geestelijk één”, “krachtens haar historischen oorsprong” mit
ihnen “in onlosmakelijk verband” und “tot het onderhouden der
gemeenschap met allen, die hetzelfde geloof deelachtig zijn, van
’s Heeren wege verplicht”. Sie ist “tegelijkertijd eene
zelfstandige openbaring van het lichaam van Christus en een deel
van een grooter geheel”. a.a.O., S. 355 ff., vgl.
Rieker, S. 80 und besonders S. 81.
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ihre Existenz vom Ganzen her.1) Dieser immer wieder betonte Grundsatz findet seine Anwendung auf die Ordnung der Kirche.
Die Regierung der Kirche bedarf, wie die jeder anderen menschlichen Versammlung, der Ausübung von Autorität, “gezag”. Die Regierung einer Theokratie, wie die Kirche sie darstellt, kann nicht nach rein demokratischen Prinzipien erfolgen.2) So entscheidet sich Bavinck — mit Kuyper —, der gereformeerden Tradition folgend, für die aristokratisch-presbyteriale Form der Kirchenregierung.3) Zwar ist die Vollheit des kirchlichen Auftrages sowohl hinsichtlich der Verkündigung wie bezüglich der Ausübung der gegenseitigen Ermahnung und Zucht der ganzen Gemeinde gegeben4); aber der Herr hat doch besondere Ämter (Prediger, Älteste, Diakonen) eingesetzt, durch die jene Funktionen ausgeübt werden sollen. Wiewohl
1) Vgl. a.a.O., S. 357, auch S. 264, 313.
2) “De gemeente is geene democratie, waarin het volk
zichzelf regeert. Christus regeert in haar . . .”. a.a.O., S.
363; vgl. S. 310.
3) Vgl. a.a.O., S. 371: “Het zijn de ἀρίστοι, de
besten, niet in geld en goed, doch in geestelijke gaven, die Hij
(Christus) zelf bekwaamt en door de gemeente voor zijnen dienst
aanwijzen laat”. Der Grundsatz drückt sich auch in dem Aufsatz
“Synodale Kerkinrichting” aus, wenn es etwa heisst: “De Synode is
dus aristocratisch, niet democratisch gevormd; de kundigsten, de
vroomsten der kerk zijn daar aanwezig”. S. 75. Bavinck
richtet sich damit gegen die teilweise vom Liberalismus
vertretene Auffassung, als handelten die Amtsträger der Kirch
ausschliesslich im Auftrag der Gemeinde, als seien sie
“volksvertegenwoordigers”. Vgl. Geref. Dogm., S. 415.
4) Das “ambt der geloovigen” ist bei Bavinck
im breitesten Sinne des der ganzen Gemeinde gegebenen
Verkündigungsauftrages aufgefasst; in dieser Hinsicht bestand
eine offene Kontroverse zwischen ihm und Kuyper, der es
ausschliesslich kirchenrechtlich-administrativ, statisch und nach
innen gerichtet, d.h. im wesentlichen als Kontrolle der
Amtsträger verstand. Die “. . . profetische, priesterlijke en
koninklijke werkzaamheid van de geloovigen mag de uitoefening van
een ambt heeten”, welches dem “specialen ambt van opziener en
armverzorger . . . vooraf . . . gaat”. a.a.O., S. 359.
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wesensmässig zum Dienst bestellt, stehen die Amtsträger doch “als opzieners en verzorgers ook boven de gemeente”.1) Die Gemeinde ist an der Wahl dieser Amtsträger direkt beteiligt. Gott gibt die geistlichen Gaben, er ist es auch, der das Amt geschaffen hat und ihm Auftrag und Vollmacht gib. Die Gemeinde aber muss die vorhandenen Gaben anerkennen und die Männer zum Dienst im Amte berufen.2) Sie soll das in der Regel nicht aus sich selbst heraus, sondern unter Leitung des Amtes tun3), sei es des bereits vorhandenen eigenen, sei es des Amtes anderer Gemeinden: der Gesamtkirche.4) Das Amt gehört zur Ordnung der Gemeinde; amtliches “gezag” ist unabdingbarer Bestandteil der Kirche.
Obwohl Bavinck den Dienst-Charakter des Amtes hervorhebt, ist dieser durch die Verwendung des Begriffes “potestas” noch stark vom jurisdiktionell-administrativen Verständnis überdeckt. Das zeigt sich beispielsweise auch bei der Sinnbestimmung der Kirchenordnung: Mit Rutgers sagt Bavinck: “De belijdenis is de hoofdzaak, maar de kerkenorde is het middel, om de belijdenis te handhaven”.5) Dem wäre wohl zuzustimmen, sofern der Satz auf das Leben und die Verkündigung, auf das dynamische, aktuelle Element gerichtet wäre. Er wird aber verfänglich, wenn man bedenkt, in welchem Sinne Rutgers und Kuyper “belijdenis” verstanden oder mindestens verstehen konnten;
1) Vgl. a.a.O., S. 324, 341, 361 f., 389.
2) Die “inwendige, subjectieve roeping moet haar
waarmerk en zegel ontvangen in de uitwendige roeping door de
gemeente”, a.a.O., S. 363. “De keuze der gemeente heeft geene
andere beteekenis dan dat zij de gaven opmerkt en de personen
aanwijst, welke Christus voor het ambt heeft bestemd”. S. 363;
vgl. auch S. 327, 353.
3) “Keuze door de gemeente en leiding
door den kerkeraad behooren dus samen te gaan bij de roeping
tot een ambt in de gemeente van Christus, hetzij de kerkeraad
zich bij de beroeping binde aan eene nominatie der gemeente of
aan eene keuze der gemeente uit eene nominatie van den
kerkeraad”. Geref. Dogm. S. 364; vgl. S. 350.
4) Vgl. a.a.O., S. 363, S. 359 f.
5) a.a.O., S. 353.
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nämlich statisch, als Statut, als “accoord van kerkelijke gemeenschap”. Dann hätte die Kirche ihre Ordnung mehr um ihrer selbst willen.1) Immerhin, Bavinck spricht an anderer Stelle klar aus, dass die eigentliche Schlüsselmacht “de bediening van Gods Woord” ist.2)
Im Hinblick auf die synodale Ordnung geht Bavinck von der grundsätzlichen Pflicht zur Gemeinschaft aus; aber er bemerkt, dass das Neue Testament nur völlig eigenständige Kirchen gekannt habe, über denen kein anderes “gezag” als das der Apostel stand. Nirgends fänden sich Anzeichen für einen festen classicalen oder synodalen Verband, für eine Verpflichtung zur synodalen Ordnung. Die Bindung der Gemeinden aneinander ist eine ausschliesslich geistliche.3)
Bavinck würdigt deshalb die Bedenken der Independenten, sofern sie sich gegen die Machtausübung einer der örtlichen Gemeinde übergeordneten Instanz richten.4) Allerdings, wie in der Gemeinde die einzelne Glieder nicht unverbunden als Individuen nebeneinander stehen, so bilden auch die einzelnen Gemeinden eine nach Ausdruck verlangende Einheit.5) Sind Synoden nicht notwendig, so sind sie doch “geoorloofd en ad bene esse
1) So ist in “Synodale Kerkinrichting” S. 74
von einen Eigentumsrecht aller Gemeinden am Bekenntnis
die Rede.
2) Geref. Dogm. IV, S. 388, auch S. 374 ff.
3) Vgl. zur Stellung der Apostel a.a.O., S. 319 ff.,
zur Selbständigkeit der Gemeinde S. 411, 414: “Immers zijn de
plaatselijke kerken in het Nieuwe Testament alle volkomen
zelfstandig ten opzichte van elkander; van een wettelijk, bindend
classicaal of synodaal verband is er met geen woord sprake”.
4) Syn. Kerkinrichting, S. 71/72; Geref. Dogm. IV, S.
414.
5) Er lehnt die independentische Auffassung
entschieden ab als eine individualistische Verkürzung des reichen
Gedankens der organischen Gemeinschaft, in der jedes Glied seinen
festen Platz habe, die in der Konsequenz “tot kerkontbinding”
führen müsse. Syn. Kerkinrichting, S. 73. Vgl. Geref. Dogm. IV,
S. 411: “Ook de plaatselijke kerken alle tezamen vormen eene
eenheid. Zij dragen ook alle saam den enkelvoudigen naam van
ἐκκλησία”.
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ecclesiae noodzakelijk”.1) Ihre Bedeutung liegt nicht nur darin, dass sie “de Kerk naar buiten eene eerbied afdwingende, zedelijke macht” geben. Sie haben auch im Blick auf die Einzelgemeinde eine Funktion, indem sie diese vor “afwijking en overheersching, voor sektarische neigingen en eenzijdige ontwikkeling” bewahren.2) Die Synode steht nicht “boven de gemeenten, maar is het geheel der gemeenten; het lichaam der Kerk in haar vroedste en vroomste openbaring”.3)
Die ersten “Synoden” seien im Grunde nichts weiter als erweiterte Gemeindeversammlungen gewesen. Gleichwohl hätten sie nicht nur “advisiert”, sonder verbindliche Beschlüsse gefasst4), selbst für die durch Abgesandte nicht direkt beteiligten Gemeinden. Bavinck sieht den Grund dafür in der Einheit des Organismus, an dem alle Gemeinden Glieder sind, in dem darum jede von der Schrift her legitimierte Entscheidung auch volle Verbindlichkeit für sich beanspruchen darf. Er zieht daraus die Konsequenz, dass den verschiedenen “vergaderingen” — Synode und Presbyterium — nicht ein essentiell verschiedenes “gezag” eigne.5)
Diese “vergaderingen” sind, ob nun örtlich oder überörtlich — “Repräsentativkirche”, d.h. sie treten an Stelle und mit der Vollmacht der Gemeinden auf.6) Die
1) Geref. Dogm. IV, S. 415.
2) Syn. Kerkinrichting, S. 75; ähnlich Geref. Dogm.
IV, S. 415.
3) Syn. Kerkinrichting, S. 75.
4) “Raadgeving, zooals de Independenten willen, is
niet genoeg. Er moet recht gesproken, de een in het gelijk de
ander in het ongelijk gesteld worden”. Syn. Kerkinrichting, S.
74, Geref. Dogm. IV, S. 412. Vgl. S. 411.
5) “De macht en het gezag der Synode is in wezen geene
andere dan die der enkele gemeente, alleen versterkt door die der
andere, partikuliere gemeenten”. Syn. Kerkinrichting, S. 75. “De
kerkelijke vergaderingen (plaatselijke, classicale, provinciale,
generale, oecumenische) zijn niet wezenlijk van elkander
verschillen”. Geref. Dogm., S. 415.
6) Vgl. Syn. Kerkinrichting, S. 74. “Het gezag van
alle kerkelijke vergaderingen is geen ander dan van de kerken
zelve”. Geref. Dogm. IV, S. 416.
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grössere Autorität von Synoden gegenüber einzelnen Gemeinden gründet sich auch für Bavinck nicht in einer qualitativ höheren Macht, sondern sie ergibt sich aus der Kumulation von grundsätzlich den Gemeinden eigener Macht. Auch Bavinck anerkennt kein origine “synodales gezag”.1)
Hier liegt ein unaufgelöster Widerspruch vor. Das Neue Testament gebraucht — und Bavinck erwähnt dies ausdrücklich — auch für eine “Summe” von Gemeinden dieselbe Vokabel ekklesia wie für die Einzelgemeinde. Das bedeutet, dass zwischen der kleinsten Ortsgemeinde und etwa einer provinzialen Kirche kein essentieller, qualitativer Unterschied besteht (den phänomenologischen, soziologischen wird niemand bestreiten). Was aber für die Gemeinde gilt, trifft — auch nach Bavinck — ebenso für ihre Regierung zu. Wird man dann aber noch von einer Macht-Kumulation sprechen dürfen? Gewiss, die Gemeinden ordnen ab; ob aber die Autorität der gemeinsamen Beschlüsse in dem den Abgeordneten erteilten Auftrag wurzelt, ist eine ganz andere Frage.
Bavinck hat sich gerade im Zusammenhang mit der “Macht der kerk” gegen das materielle Gnadenverständnis der Römischen Kirche ausgesprochen und stattdessen ein — mehr ethisch als supranatural bestimmtes — Verständnis der Gnade als “vernieuwende, herscheppende kracht” gefordert.2) Vergleicht man damit die Definition und Anwendung der Macht, so macht die Verwendung des Begriffes Kumulation deutlich, dass Bavinck nun die Macht letzten Endes materiell versteht; denn sie ist verteilt,
1) Syn. Kerkinrichting, S. 75. Dort heisst es
weiter: “De Synode zelve heeft geene macht, afgescheiden en
onderscheiden van die der gemeenten”. Denn ihr — ihnen von
Christus gegebenes — “gezag” legen die einzelnen Gemeinden “op
classis en Synode niet af”, sondern üben es dort gerade aus in
Gemeinschaft mit anderen Gemeinden. Die Synoden zeichnen sich aus
“niet door andersoortige of hoogere, maar alleen door meerdere
macht, die er samengebracht wordt”. Geref. Dogm. IV, S. 416.
2) Geref. Dogm., S. 416 ff.
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gleichsam “gequantelt” — wie man mit einem der Naturwissenschaft entlehnten terminus sagen könnte — und wird in der Synode wieder zusammengebracht.
Für die Praxis der kirchlichen Ordnung gilt der alte Grundsatz: “De autonomie der plaatselijke kerk moet zoo veel mogelijk gehandhaafd worden . . .”. Der Synode Ehre und Ruhm liegen nicht darin, “veel zaken in korten tijd af te doen”, sondern in einer Zeit der “centraliseering en codificeering . . ., de zelfverloochening te oefenen, om veel, zoo veel mogelijk aan de lagere Kerkbesturen over te laten”. Abgesehen von Lehrfragen, in denen Festigkeit notwendig sei, soll nicht alles “minutieus worden bepaald en vastgesteld” und solle vor allem in Fragen der Ordnung Beweglichkeit und Freiheit herrschen.1)
Obgleich die Gemeinsamkeit der Bavinckschen Konzeption mit der Kuypers gross ist, tritt doch ein Unterschied hervor: Die Kirche als blosse Gesinnungsgemeinschaft ist ihm fremd, und er hat sie auch in ihrer verfassten Form transcendent gehalten als Einrichtung Christi und für das Wirken des verbindenden Geistes. Darum ist auch sein Synodalbegriff zwar an die traditionell reformierten Aussagen darüber gebunden, aber doch fliessender und mehr vom Dienstcharakter bestimmt. Könnte man Kuyper als den Herold einer neuen Institution aus dem Gesinnungsbewusstsein bezeichnen, so erscheint Bavinck mehr als der Lehrer der charismatisch-diakonalen Kirche nicht nur “in eigen kring”, sondern weit darüber hinaus.
1) Vgl. Syn. Kerkinrichting, S. 76 f.