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Das Verhältnis der einzelnen Ortsgemeinden zu den synodalen Organen der gesamt- bzw. landeskirchlichen Gemeinschaft, oder mit anderen Worten: — und dies ist die in den Niederlanden gebräuchliche Bezeichnung des Problems — die Frage nach dem “gezag der Synode”, nach der “bevoegdheid der meerderen vergadering” in ihrer Beziehung zu den Gemeinden ist in ekklesiologischer und kirchenrechtlicher Hinsicht eines der Hauptthemen der letzten Jahrzehnte in den uns benachbarten niederländischen reformierten Kirchen gewesen. Ohne sich der Gefahr der Überspitzung auszusetzen, wird man sagen dürfen, dass die Auseinandersetzung um dieses Verhältnis, letztlich also um die Frage, wie weit die Selbständigkeit der Ortsgemeinde gehe und gehen dürfe, und wie weit sich die kirchenleitenden oder -regierenden Funktionen der Synode erstrecken dürfen, als Begleiterscheinung jeder dogmatischen Differenz auf anderen Gebieten erhoben hat. Mit jener Auseinandersetzung wurde zugleich die Frage nach dem Charakter synodaler Zusammenkünfte überhaupt aufgeworfen und von verschiedenen Gruppen die Autonomie der Ortsgemeinde gegenüber allen gesamtkirchlichen Organen gefordert und durchzusetzen getrachtet.
Es geht also hierbei eigentlich um das grundsätzliche Problem des Verhältnisses der örtlichen Gemeinden zur überörtlichen Gemeinschaft der Kirche, d.h. zur Gesamtgemeinde bzw. ihrem durch politische und geographische Gegebenheiten bestimmten Ausschnitt überhaupt. Dass sich das Problem des Rechtes und des Charakters der Synoden gerade in den Niederlanden in besonderer Schärfe stellte, und zwar schon lange bevor auch die deutsche Theologie sich der ekklesiologischen Problematik mit grösserer Intensität zuwandte und die Umkehr
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der Blickrichtung von den Gebilden der Landeskirchen zu den örtlichen Gemeinden hin forderte, dürfte seine Ursache in der historischen Entwicklung der niederländischen Kirchen haben, einer Entwicklung, welche sie eng mit den anderen reformierten Kirchen Westeuropas und also auch denen im Westen Deutschlands verbindet.
Es ist das Kennzeichen jener Kirchen, so mannigfaltig ihre Wurzeln im einzelnen auch sein mögen, und so sehr sie in Einzelheiten ihres Kirchenbegriffes voneinander abweichen mögen, dass sie in ihrem historischen und theologischen Ansatz Gemeindekirche sind. Gemeindekirche, das heisst: in ihren örtlichen Grenzen geordnete und verantwortlich geleitete Gemeinschaft der Gläubigen. Und wie immer im einzelnen auf verschiedenen Wegen, so hat sich doch überall die Instituierung dessen, was man dann als Gesamtkirche, Landeskirche oder Kirchenverband findet, von solchen einzelnen Gemeinden her vollzogen, die zich bzw. deren Vertreter oder Amtsträger sich dazu in synodalen Versammlungen zusammenfanden. Aus den Gemeinden heraus entstanden die synodalen Organe, damit diese Gemeinden gemeinsam ihre Stimme nach “aussen” hin erheben könnten, damit sie ihre brennenden Fragen der Verkündigung und des Lebens in der kirchlichen Gemeinschaft gemeinsam beraten, damit sie sich in der Ausrichtung ihres gottgegebenen Auftrages unterstützen können und schliesslich — vielleicht zu Unrecht hier an letzter Stelle genannt —, damit durch diese Zusammenkünfte die Einheit der Gemeinden in und unter ihrem einen Herrn umso besseren Ausdruck fände und, soweit dies überhaupt menschliche Aufgabe und menschliche Möglichkeit ist, bewahrt werden könnte. Wenn es in diesen Kirchen eine über das örtliche Presbyterium hinausgehende Kirchenleitung gab, dann waren es diese Synoden. Diese Synodaleinrichtung sollte die Freiheit der Gemeinden bewahren und entstand aus der Absage an alle Hierarchie und jeden Episkopalismus.
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Dass indessen auch die Synode keine absolute Garantie bietet, dass auch sie Herrscherin statt Dienerin werden kann, indem sie sich als Oberhaupt der Gemeinden betrachtet, daraus entstand letztlich unser Problem der rechten Bestimmung ihrer Stellung den Gemeinden gegenüber. Denn auch die synodal geordnete Kirche steht stets in der Gefahr, die rechte Wechselbeziehung zwischen Synode und Gemeinde zugunsten einer landeskirchlichen Machtzentralisierung oder einer independentischen Autonomie der Ortsgemeinden aufzugeben und damit ihren relativen Vorzug vor anderen Formen der Kirchenleitung einzubüssen.
II.
Etwa zur gleichen Zeit, als in Deutschland die Unionskirchen entstanden, erhielt auch die niederländische Kirche durch die Verfügung eines Monarchen eine neue Form der Ordnung. Die Synoden, deren Bedeutung im 17. und 18. Jahrhundert bereits stark abgenommen hatte, wurden durch eine gemischte konsistorial-synodale Verwaltung ersetzt, die in geistlichen Fragen nahezu gänzlich indifferent war und auf Grund des königlichen Reglementes auch sein musste.
Gegen den Geist dieses Reglementes, gegen die Herrschaft dieser “besturen” und gegen den immer mehr um sich greifenden Liberalismus erhob sich im letzte Drittel des 19. Jahrhunderts der heftige Widerstand der orthodox-reformierten Gruppen, welche die Rückkehr zum Bekenntnis und der Form der Kirchenordnung aus der Zeit der Väter forderten. Zu ihrem theologischen und kirchlichen Führer wurde Abraham Kuyper. Wieviel auch immer er von den Ideen des deutschen Idealismus und den verschiedenen theologischen Richtungen seiner Zeit in sich aufgenommen hatte, entwickelte Kuyper doch eine durchaus eigenständige Konzeption mit dem Ziel, den Grundgedanken Calvins zum Siege in der modernen Welt zu verhelfen. Seine Wirksamkeit, die sich an die Erweckungsbewegung
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der Jahrhundertmitte anschliessen konnte, führte schliesslich zur sogenannten Doleanz und damit zur Aufspaltung der Hervormde Kerk und zur Instituierung einer reformierten Freikirche auf der Grundlage der Dordrechter Kirchenordnung von 1618.
In jener Separation entstand zum ersten Male in der Auseinandersetzung mit den in der Hervormde Kerk verbleibenden Reformierten die Diskussion um Charakter und Vollmacht der Synode einerseits und um Stellung und Recht der Ortsgemeinde andererseits. Zwar wurde von keiner Seite die Verpflichtung zur überörtlichen Gemeinschaft der Kirchen geleugnet, jedoch hatte die Kuypersche Gruppe, um die Ablösung der reglementären Kirchenordnung durch die Dordrechter Ordnung zu erreichen, zunächst den örtlichen Gemeinden bzw. ihren Presbyterien nicht nur in Hinsicht auf ihre Besitztümer, sondern auch in geistlicher Hinsicht die grundsätzliche Souveränität eingeräumt und damit den Weg eines taktischen Independentismus beschritten. Von den in der Hervormden Kerk Verbleibenden wurden die Unverbrüchlichkeit der Gemeinschaft der niederländischen Kirchen und die wesensmässige Einbettung der einzelnen Ortsgemeinden in der grossen Gemeinschaft betont.
In der Praxis aber war jene Auseinandersetzung bereits durch die Spaltung der Kirche entschieden. Dass die offensichtliche Inklination der Doleerenden zum Independentismus taktischer Art war, beweisen die rasche Errichtungen eines festen Synodalverbandes nach der Separation und die zunehmende Stärkung der Position der Classen und Synoden. Gerade angesichts dieser Stärkung aber flammte die Debatte der Doleanz-Zeit denn einige Jahrzehnte später innerhalb dieser Kirchen erneut auf und spitzte sich in den beiden durch die Namen Geelkerken und Schilder gekennzeichneten Konflikten zu ungewöhnlicher Schärfe zu.
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III.
Es ist das Ziel der vorliegenden Arbeit, einen zusammenfassenden Überblick über diese Streitigkeiten zu bieten und dabei die Krisenpunkte in der Beziehung zwischen Synode und Gemeinde aufzuzeigen. Man würde zu diesem Zwecke natürlich normalerweise seinen Ausgangspunkt bei der zum Thema erschienenen Literatur wählen. Allein, einmal ist es in unserem Falle nicht möglich, sich auf die theologisch-wissenschaftliche Literatur zum Thema zu beschränken, weil gerade hier theologische Arbeit und kirchliche Praxis ausserordentlich stark ineinanderfliessen und sich gegenseitig bedingen. Die theologische und kirchenrechtliche Diskussion — sie können in den Niederlanden nicht voneinander getrennt werden — wird darum nur verständlich auf dem Hintergrunde und in ihrem Wechselspiel mit den Ereignissen in den Kirchen. Zum anderen haben die Ausdehnung und das kirchliche Gewicht dieser Diskussion es mit sich gebracht, dass auch die im Hinblick auf das Verhältnis Ortsgemeinde-Synode unternommenen historischen Untersuchungen, die mancherlei wertvolles Material zutage förderten, von vornherein als Parteischriften zu betrachten sind, welche dazu dienen sollten, kirchliches Handelns zu rechtfertigen oder aber — als wissenschaftliche Erhärtung einer vorgefassten Konzeption — in einer bestimmten Richtung zu beeinflussen. Keine dieser Schriften kann also als Ausgangspunkt für unsere Darstellung dienen, sondern sie alle müssen in dieselbe einbezogen werden, damit jene Wechselwirkung zwischen theologischer Arbeit und kirchlicher Praxis zureichend deutlich wird, und weil sie alle erst im Handeln der Kirche ihr eigentliches Profil gewinnen. Dies ist umso mehr geboten, als eine zusammenfassende Darstellung jener Ereignisse auch in den Niederlanden — von kompendienhaften Aufrissen abgesehen — bisher nicht vorliegt.
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Innerhalb dieser Darstellung wird dann jeweils an gegebener Stelle zu den vorgetragenen und praktizierten Auffassungen kritisch Stellung zu nehmen sein. Weil jenes niederländische Material, auf dem unsere Darstellung fusst, in Deutschland nahezu gänzlich unbekannt und unzugänglich ist, wird es oftmals notwendig sein, umfangreiche Stücke aus den in Frage kommenden Schriften und Dokumenten im Wortlaut darzubieten, wenn wir uns auch bemüht haben, den fremdsprachlichen Text tunlichst zu beschränken. Soweit Unterstreichungen oder Sperrungen vorgenommen wurden und es nicht ausdrücklich anders vermerkt ist, wurden sie lediglich zur Verdeutlichung angebracht.
IV.
Dass sich der überwiegende Teil der Arbeit mit der Auseinandersetzung innerhalb der Gereformeerde Kerken, also der aus der Doleanz hervorgegangenen Freikirche, beschäftigt, mag symptomatisch sein. Denn die echte Wechselbeziehung zwischen Ortsgemeinde und Synode kann sich naturgemäss nur in einer Kirche entwickeln, welche ihren Ausgangspunkt nicht von einer zentralen Kirchenleitung, sondern von den Gemeinden als den Trägern der Verkündigung und dem Ort des geistlichen Lebens nimmt, und in der das Wort einen unbedingten Vorrang vor jedem Reglement oder Gesetz hat.
Steht es aber so, dann kann es nicht Wunder nehmen, dass sich auch die Hervormde Kerk mit diesem Problem zu beschäftigen hatte, als die unlängst die über ein Jahrhundert alten Bande des Reglementes abschüttelte und die Leitung der Kirche wieder wirklichen Synoden anvertraute. Der Hervormde Lösungsversuch des Problems wird uns am Schluss der Arbeit zu beschäftigen haben. Mit der Behandlung dieses neuen Ansatzes kirchliche Ordnung, welcher die jüngsten Ergebnisse theologischer Arbeit bereits in Rechnung stellen konnte und zugleich
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bestrebt war, den Anschluss an die historische Form der niederländischen reformierten Ordnung zu wahren, ist dann gleichsam von selbst schon der Übergang zu einer zusammenfassenden Stellungnahme im Schlusskapitel gegeben, welche nach einigen kurzen historischen und neutestamentlichen Vergleichen in wenigen grundsätzlichen Erwägungen die Richtung anzudeuten versucht, in welcher eine Lösung des Problems nach unserem Dafürhalten zu suchen ist.
V.
Man wird die Frage aufwerfen, inwiefern überhaupt die Darstellung jener niederländischen Ereignisse für unsere deutschen Kirchen von Bedeutung sein könne. Die Antwort liegt schon darin, dass einander benachbarte Kirchen in dem Bewusstsein, dass sie demselben Herrn zugehören, aufeinander hören und voneinander lernen sollten, nicht zuletzt auch im Blick auf ihre Ordnung. Und hier hat es auch bei den in den letzten Jahren unternommenen Neuordnungsversuchen doch vielfach an dem Mut gefehlt, die theologischen Erkenntnisse gerade von der Stellung und Bedeutung der Ortsgemeinde in die Praxis umzusetzen, während andererseits unsere Synoden sich weithin noch keineswegs von der parlamentarischen Auffassung ihrer Aufgabe als kirchlicher Gesetzgeber freigemacht haben.
Vor allem aber wird man ein Symptom für die Gemeinsamkeit der Problematik hüben und drüben nicht übersehen dürfen: Als die Hervormde Kerk in den Beratungen für ihre neue KO sich auch um die rechte Gestaltung des Verhältnisses Ortsgemeinde-Synode bemühte, griff der deutsche Pfarrer Hermann Diem mit einer Artikelreihe über “Die Ortsgemeinde in der KO” in die niederländische Diskussion ein und warnte vor einer allzu starken und mächtigen Stellung der Synoden gegenüber den Gemeinden, durch welche diese ihre Mündigkeit und
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Eigenverantwortlichkeit beraubt werden würden.1) Derselbe Hermann Diem aber hat von der gleichen Position her seine Stimme erhoben, als die Synode der rheinischen Kirche ihre neue KO und besonders das Recht der Pfarrstellenbesetzung beriet, und dabei erneut betont, dass es Aufgaben und Rechte gebe, in deren Ausübung die Ortsgemeinde zwar die Hilfe der synodalen Organe in aller Regel in Anspruch nehmen und sich gefallen lassen soll, in denen sie aber die letzte Entscheidung selbständig und in voller Verantwortlichkeit muss treffen können.2)
Weil das Problem Ortsgemeinde-Synode nur eine Ausdrucksform des Problems Gesamtkirche und Ortskirche oder Gesamtgemeinde und Ortsgemeinde ist, darum tragen alle Entscheidungen, welche hier irgendwo in der Kirche Jesu Christi fallen, eine über ihren territorialen Rahmen hinausgehende Bedeutung, so sehr sie auch im einzelnen von lokalen Gegebenheiten und historischen Bindungen bestimmt sein mögen. Wenn wir keine einfache Lösung dieses Problems werden bieten können, sondern nur hoffen dürfen, einiges Material zu seiner Diskussion beizutragen, so dürfte der Grund hierfür in der Erkenntnis liegen, die A.A. van Ruler, einer der geistigen Väter der Hervormden KO, einmal dahingehend formuliert hat3), dass im letzten Grunde “de verhouding van algemene en plaatselijke kerk iets onuitsprekelijks” besitze und “logisch onoplosbare problemen” in sich schliesse.
1) In de Waagschaal, 3. Jg., 1948, Nr. 28-30;
Deutsch: Ev. Theol., 7. Jg. 1947/48, S. 324 ff.
2) Die Grenzen kirchlicher Gesetzgebung, ZevKR 1952,
1. Bd., S. 227 ff.
3) Het Apostolaat der Kerk en het Ontwerp-kerkorde, S.
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