Müller-Schwefe, H.-R.

Gedanken zur Rechtfertigungslehre

1960

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Gedanken zur Rechtfertigungslehre

 

Das Verhältnis von Kirche und Welt steht in unserer Zeit in einer neuen und für beide Größen verheißungsvollen Konstellation. Lange waren sie auseinandergefahren. Nun haben sie sich einander genähert und sind aufeinander zugelaufen.

Das bedeutet inhaltlich: Das profane Denken führt in der konsequenten Verfolgung seiner Denkbewegung zu einem tieferen und offenen Wirklichkeitsverständnis. Die Theologie ihrerseits beginnt überall die Fesseln des gegenständlichen oder sentimentalen Redens zu überwinden. Dadurch kommen beide Bewegungen in große Nähe zueinander.

Diese Nähe ist eine einzigartige Chance für den Menschen unserer Tage. Er wird sie aber nur dann richtig nutzen, wenn er sie nicht als Abhängigkeit noch als Zufall versteht, sondern als Konstellation. Alles ist verspielt, wenn die Nähe mit Abhängigkeit verwechselt wird, wenn die Theologie die Welt auf ihre Abhängigkeit anspricht oder umgekehrt sich der Welt und ihres vertieften Denkens als eines Vorspanns für die Kirche, für Gott bedient. Umgekehrt darf auch die Welt die Theologie nicht einfach von der Welt her deuten, weder in dem Sinne, daß sie die Kirche auf das gegenständliche oder subjektive Sein festlegt, noch in dem umgekehrten Sinne, daß die Dimension Gottes eben der Bereich der ursprünglichen Wirklichkeit sei, die jeweils so oder so vom Menschen angesprochen und damit gedeutet wird.

Die Annäherung kann nur dann zur fruchtbaren Begegnung werden, wenn von der Seite der Welt her respektiert wird, daß unser Denken durch die Begegnung mit dem christlichen Glauben zu sich selbst gekommen ist, und wenn umgekehrt die Kirche respektiert, daß das Denken der Welt mündig geworden ist und nicht auf seine Herkunft, sondern auf seine Selbständigkeit angesprochen werden will.

Begegnung, so könnten wir auch sagen, ist nur dann ernsthaft und fruchtbar, wenn jeder Partner in dem anderen die Freiheit

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ehrt. Dabei ist es vielleicht die Rolle der Kirche, eben die Welt durch eine rechte Anrede zum vernünftigen Gebrauch ihrer Freiheit zu erwecken, und die Aufgabe der Welt, der Kirche zu wehren, daß sie sich als eine Über-Welt vorkommt.

Man kann diese Gabe und Aufgabe der Konstellation gut an einem Generalthema exemplifizieren: an der Rechtfertigung. Hier muß sich die Theologie einüben, das Auftauchen der Rede von der Rechtfertigung in der Welt in unseren Tagen nicht gleich in der hergebrachten Weise der Theologie zu verstehen und damit mißzuverstehen; umgekehrt muß die Welt unbefangen hören, wie heute die Theologie dieses Thema entfaltet und was sie darunter versteht.

 

I.

Wir können, ganz allgemein gesprochen, in der Anthropologie der Gegenwart beobachten, wie das Wesen des Menschen nicht mehr in herkömmlicher Weise gegenständlich oder psychologisch beschrieben wird, sondern in seiner gegenständlich nicht zu erfassenden Besonderheit. Schon das Wesen von Pflanze und Tier wird tiefer, als das gegenständliche Denken es erlaubt, erfaßt; vollends aber vom Menschen redet die Anthropologie so, daß sein Geheimnis nur umschrieben, aber nicht mehr erklärt wird. Dieses wird in Unterscheidung vom Tier darin gesehen, daß der Mensch der Umwelt nicht einfach eingepaßt und angepaßt ist, sondern selbst sich einpassen und anpassen muß, ja selbst sich kraft seiner Freiheit erst zu dem machen muß, der er ist. In diesem Sinne prägte Ortega y Gasset die ausgezeichnete Formel: „Das Leben ist ein Gerundivum und nicht ein Partizipium, ein faciendum und nicht ein factum” 1). Man müsse erkennen, daß der Mensch „das Seiende ist, das sich selbst macht” 2).

Dieses Charakteristikum des Menschen ist nun aber nicht einfach ein Naturdatum, das der Materie entspringt, wie der ältere Materialismus meinte, sondern eine Art Bestimmung des Menschen, die er auch verfehlen kann. Wo auch immer


1) Ortega y Gasset: Geschichte als System. 1943, S. 50.
2) ebenda S. 5, auch in: Betrachtungen über die Technik, 1949, S. 58.

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die Herkunft dieser „Selbstherstellung” oder Selbstvollendung zu suchen ist, diese selbst ist das Rätsel seiner Freiheit: Er kann als Mangelwesen nicht ohne das Ausfüllen seiner Mängel leben; die Freiheit ist also gewissermaßen einkalkuliert. Aber sie selbst ist die Betätigung einer Distance vom Leben und damit Herrschaft über dasselbe, die jeder Erklärung spottet. Vor hier aus stellt sich dem nachdenkenden Menschen sogar die Frage, ob das Leben auch der Pflanzen und Tiere von der Freiheit und Bestimmung des Menschen her und auf sie hin verstanden werden müsse.

Dieser Wesenszug des Menschen: Freiheit, sich zu machen, ist ein Factum brutum, nicht zu erklären, sondern nur zu vollziehen. Aber — wie vollzieht es der Mensch?

Wenn wir diesen Vollzug geschichtlich beschreiben, dann geraten wir an merkwürdige Kategorien, in denen diese Unvollkommenheit des Menschen gesehen wird. Der Mensch wird als das Wesen verstanden, das in seiner Unfertigkeit, in seinem Ausstand (Ek-sistenz) auf Vollkommenheit bezogen ist. Seine Freiheit wird also von ihm selbst geschichtlich gedeutet.

Aber wie ist dieses Bezogensein auf Vollkommenheit zu verstehen? Merkwürdig genug taucht an dieser Stelle bei vielen modernen Denkern der Begriff der Rechtfertigung auf.

Er wird zunächst polemisch gebraucht: Der Mensch kann sein Leben nicht rechtfertigen, d.h. so begründen und vollenden, daß der Ausstand seines Wesens ausgefüllt ist. Das hieße ja den Menschen selbst zu Ende zu bringen. Sein Wesen besteht gerade in der Offenheit, im Ausstand. Darum polemisiert z.B. Karl Jaspers in seiner Darstellung von Bultmanns Theologie gegen die Rechtfertigung „diesen für unser Philosophieren fremdesten Gedanken” 3). Der Mensch bedarf keiner Rechtfertigung seines Daseins, weil eben die Offenheit — das Scheitern — seine Rechtfertigung ist.

Jean Paul Sartre hat diese Ablehnung jeder Möglichkeit für den Menschen, sich zu rechtfertigen, anschaulich dargestellt und auf die Spitze getrieben. Er beschreibt in dem Stück


3) Karl Jaspers: Wahrheit und Unheil der Bultmannschen Entmythologisierung. Merkur VII S. 1015.

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„Tote ohne Begräbnis” junge Resistance-Kämpfer, die gefangen sind, verhört werden und der Exekution entgegensehen. Henry, einer von ihnen, möchte nicht mit einem Schuldbewußtsein sterben. Aber er kann nicht zur Ruhe kommen: Weder daß er auf Befehl gehandelt hat, noch daß sein Einsatz Nutzen brachte, noch daß die Sache der Freiheit in sich selbst ihren Sinn hat, kann das Tun und nun das Ende des Lebens rechtfertigen. Das Resümee ist: „Wir haben versucht, unser Dasein zu rechtfertigen, und es ist uns nicht gelungen.” 4) Auch in dem Teil seines Hauptwerkes „L’Etre et le Néant”, in dem er sich mit der Psychoanalyse auseinandersetzt, bekennt sich Sartre zu der Unmöglichkeit, das Leben zu rechtfertigen. Aber eben darin liegt paradoxerweise die Möglichkeit, das Leben als Entwurf in Freiheit zu gestalten.

Merkwürdig paradox ist das: Weil das Leben nicht zu rechtfertigen ist, ist es zu verfertigen vom Menschen. Rilke hat dieser Situation eine positive Deutung gegeben. Er meint, das eben sei die Rechtfertigung des Menschen, daß er der Welt und ihrem Ohne-Sinn Ausdruck verleiht, „Überzähliges Dasein entspringt mir im Herzen”.

Aber wie ist das zu reimen? Ist es eine „List der Natur”, daß der Mensch von dem Drang zur Rechtfertigung seines Daseins besessen ist, damit er gespannt ist und im künstlichen, nie zu Ende, zur Vollendung kommenden Entwurf sich verwirklicht? Ist also die Bezogenheit auf Vollkommenheit nur eine „natürliche Unruhe”, ein Ersatz für den fehlenden Instinkt? Hier scheiden sich die Geister. Die einen verstehen die Bezogenheit des Menschen auf die Vollkommenheit als eine Spannung seiner Natur (— aber was heißt hier Natur? Kann Freiheit von der Natur her verstanden werden? —). Die anderen verstehen den Ausstand des Menschen als sein menschliches Wesen, das nur im Akt der Freiheit selbst zu vollziehen ist. Die dritten schließlich beziehen diese Freiheit des Menschen auf seine Bestimmung; er soll wirklich sein Wesen erfüllen.

Wiederum fragen wir: Was kann das heißen? Offenbar kann doch der Mensch hinter diese Herausforderung nicht zurück;


4) Jean Paul Sartre: Tote ohne Begräbnis. In: Dramen 1948, S. 12.

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aber er kann auch nicht über sie hinaus. Denn er ist doch nur im Ausstand, im Gespanntsein Mensch?

Thomas Mann hat an dieser Stelle die Verbindung zur Rechtfertigung im Sinne des Christentums gesucht. Er stellt in seiner Rede, die er sich selbst zum 70. Geburtstag in Stockholm gehalten hat, fest, daß sein Lebenswerk von dem Bestreben nach Rechtfertigung hervorgetrieben ist. „Selten wohl ist die Hervorbringung eines Lebens — auch wenn sie spielerisch, skeptisch, artistisch und humoristisch schien — so ganz und gar, vom Anfang bis zum sich nähernden Ende, eben diesem bangen Bedürfnis nach Gutmachung, Reinigung und Rechtfertigung entsprungen, wie mein persönlicher und so wenig vorbildlicher Versuch, die Kunst zu üben . . . jedes neue Unternehmen ist der Versuch, für das vorige und alle vorigen aufzukommen, . . . und so wird es gehen bis zuletzt, wo es mit Prosperos Worten heißen wird: ,And my ending is dispair’, ,Verzweiflung ist mein Lebensend’. Da wird, wie für Shakespeares Magier, nur ein Trostgedanke bleiben: der an die Gnade, diese souveränste Macht, deren Nähe man im Leben schon manchmal staunend empfand, und bei der allein es steht, das Schuldiggebliebene als beglichen anzurechnen” 5).

Dieses Bekenntnis des großen Artisten und Dichters ist uns ehrwürdig und zudem vielleicht uns als Christen sehr sympathisch. Deuten wir es recht, so spricht aus ihm zunächst nur die Feststellung, daß das menschliche Leben, selbst oder gerade ein so exzeptionelles wie das des Dichters, sich nicht rechtfertigen kann, daß gerade die Unruhe der mangelnden Rechtfertigung das Lebenswerk hervorgetrieben hat und daß er, der Dichter, diese seine Freiheit in ihrer Bindung an die Vollkommenheit nicht naturalistisch deutet, sondern als Bezogenheit auf Gott. Er allein kann die Vollendung, die Rechtfertigung vollziehen.

Umgekehrt — und diese Stimme ist uns heilsam zu hören — verfährt Albert Camus. Auch er sieht den Menschen unter der Bestimmung der Vollkommenheit, der Rechtfertigung des Lebens. Die Tragik des Abendländers besteht darin, daß er in dem konsequenten Versuch, vollkommen zu werden, den


5) Th. Mann: Meine Zeit. Amsterdam (Fischer Verlag) 1950 1. 8/9.

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vollkommenen Menschen herzustellen, unmenschlich geworden ist. Seine Revolten, diese kennzeichnenden Eruptionen der neuzeitlichen Geschichte, sind aus dem Zwang, Vollkommenheit zu fabrizieren, hervorgetrieben worden. Er, der unvollkommene Mensch, macht um der Vollkommenheit willen entweder sich selbst oder den anderen leiden. Bei diesem Widerspruch muß er stehenbleiben. Er muß an sich selbst arbeiten; aber er muß auch wissen, daß die Unvollkommenheit das Siegel der Menschlichkeit ist.

Aber nun stehen diese Überlegungen bei Camus in einer tieferen Dimension. Wir fanden sie eben auch bei Thomas Mann, nur erfährt sie bei dem Franzosen eine andere Bewertung. Die Bestimmung, vollkommen zu sein, hat — so sagt Camus — der Abendländer von Jesus Christus empfangen. Solange er an ihn glaubte, war er menschlich. Denn Christus war seine Vollkommenheit, seine Gerechtigkeit. Erst mit der Neuzeit, als der Mensch entdeckte, daß Gott tot und er, der Mensch, allein auf der Welt ist, fühlte er den Trieb, selbst sich und die Welt vollkommen zu machen. Er bleibt angerufen von dem Ruf zur Rechtfertigung, obwohl er an den Rufer nicht mehr glaubt; er muß es lernen, nicht den anderen, sondern sich selbst mit diesem Maß zu messen. Dies ist eine exakte Beschreibung unserer Lage. Der Mensch ist geschichtlich auf Vollkommenheit angesprochen worden. Seine Bewegung, die er in der zweitausendjährigen Geschichte als Abendländer gemacht hat, ist durch diese Deutung hervorgerufen. Das Absurde unserer Lage besteht darin, daß wir auf die Bestimmung der Rechtfertigung bezogen bleiben, auch wenn wir uns ihr nicht mehr im Sinne des christlichen Glaubens unterwerfen.

Das bedeutet für das Problem der Rechtfertigung: Geschichtlich ist die besondere Art und Weise, in der wir unser Leben auf eine von Menschen zu leistende Perfektion ausrichten, nur von Christi Ruf her verständlich. Aber die Rechtfertigung wird nicht mehr von Christus als fremde angenommen, die dem Menschen begegnet, sondern als eigene gesucht, die die Unruhe der menschlichen Existenz sowohl erfüllt wie beendet.

Alle diese Stimmen, die zum Thema der Rechtfertigung in der Welt heute erklingen, scheinen bei Heidegger zusammengefaßt

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und ins Grundlegende vertieft. Er sagt: „Im Beginn der Neuzeit ist die Frage neu erwacht, wie der Mensch im ganzen des Seienden und d.h. vor dem seiendsten Grund alles Seienden (Gott) der Beständigkeit seiner selbst, d.h. seines Heiles gewiß werden und sein kann. Diese Frage der Heilsgewißheit ist die Frage der Rechtfertigung, d.h. der Gerechtigkeit (iustitia).” 6)

Der Mensch beantwortet diese Frage im Sinne der Subjektität, d.h. er fragt nach der Gewißheit, die er als Subjekt garantiert und aus sich heraussetzt (Descartes) oder zu gewinnen trachtet, indem er sich an Werte, an Objekte hält. Im Nihilismus aber geraten beide Antworten in die Krise. Gegenüber der unaufhaltsamen Relativierung des Seins und aller Gewißheit scheint nur der Weg Nietzsches übrigzubleiben: den Willen zur Macht als letzte Quelle der Rechtfertigung herauszustellen. Der Mensch produziert aus dem Willen heraus, sich zu rechtfertigen, eine neue Welt. Heidegger aber meint, auch diese Bewegung, aus sich die Welt zur Rechtfertigung herauszutreiben, zeuge noch von Seinsvergessenheit. Der Mensch müsse erst wieder die Dimension erfahren, in der das Sein zu vernehmen ist.

Nun ist an Heideggers Auslegung unserer Situation zunächst die Frage zu stellen, die Löwith am deutlichsten ausgesprochen hat 7), ob der Versuch des Philosophen, durch eine „Kehre” in die Haltung des reinen Empfangens gegenüber dem Sein zu gelangen, nicht ein Ausweichen, ein Zurückweichen vor dem „Ausgesetztsein” des Menschen in einen mythischen Bezirk bedeutet. Kann der Mensch dadurch zum Heil dringen, daß er das Dasein als Geschenk, als Anwesenheit des Seins versteht? Oder ist nicht eben in seiner Deutung des Daseins auf die Certitudo hin in sein Leben ein Ruf eingetreten, der es ihm unmöglich macht, im Empfangen des Daseins vom Sein zur Ruhe zu kommen. Muß nicht eben, so können wir mit Löwith, aber auch mit Camus fragen, der Mensch sein Bezogensein auf Vollkommenheit, auf Rechtfertigung, durchhalten, ohne sein Leben, auch sein Ausgesetztsein, rein als Entwurf des Seins verstehen zu können?


6) Heidegger, Holzwege 1950, S. 226.
7) Löwith: Denker in dürftiger Zeit. Frankfurt 1953.

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Aber dieser Heideggers Denken gegenüber entscheidende Einwand schließt nicht aus, daß der Philosoph Wesentliches gesehen hat, wenn er sauber unterscheidet: Der Rückgriff zur Seinsgeborgenheit, zur Hut des Seins ist nicht in eins zu setzen mit der Rückkehr zu Gott. Gott ist nicht das höchste Seiende, das summum ens; er ist aber auch nicht das Sein 8).

Und nun stellt Heidegger von hier aus entscheidende Fragen an die Theologie: ob nicht vielleicht im Abendland der härteste Schlag gegen Gott von den christlichen Theologen geführt wurde, indem sie Gott zum obersten Wert im Sinne der Metaphysik oder zum absoluten Subjekt im Sinne des deutschen Idealismus machten. Damit habe sich die Theologie „der Gotteslästerung schlechthin” schuldig gemacht. 9) Nicht erst der Unglaube, sondern die Verwandlung des christlichen Glaubens in eine Metaphysik sei das eigentliche Verderben der Kirche. — Lassen wir das als Frage stehen und fassen wir zusammen, was sich für unser Verständnis von Rechtfertigung ergeben hat:
1. Rechtfertigung meint in der Neuzeit den weltlichen Tatbestand, daß der Mensch in seinem Leben in Unruhe durch den Geist ist, so daß er dauernd sich kraft seines Wesens selbst übersteigen muß.
2. Rechtfertigung geht auf einen Zustand der Vollkommenheit, auf ein nicht nur jeweiliges, sondern grundsätzliches Überwinden der Mängel, des Ungenügens aus.
3. Dieses weltlich auf Perfektion Bezogensein ist geschichtlich ausgelöst durch den Anruf, den der Mensch im christlichen Glauben empfing.
4. Diesem Anruf zur Vollkommenheit sucht der Mensch der Neuzeit dadurch zu entsprechen, daß er kraft seines Denkens


8) Heidegger unterscheidet sauber die Erfahrung der Anwesenheit des Seins von der Erfahrung des Gottes der Offenbarung. Freilich benutzt er andererseits gerne die christlichen Vokabeln (Ankunft, Heil . . .), um sein Denken auszudrücken. Kommt da vielleicht heraus, daß auch das profane Denken eben geschichtlich vom christlichen Glauben her verwandelt wurde! Heidegger verneint strikte solchen Einfluß des Christentums auf die Philosophie.
9) Heidegger, Holzwege S. 240.

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eine perfekte, funktionierende Welt errichtet. Der Antrieb zur modernen Welt ist also das Bezogensein auf Vollkommenheit.
5. Die Begegnung von christlichem Anruf mit griechischem Denken hat nicht nur das philosophische Denken des Abendlandes verwandelt, sondern auch die Theologie entstehen lassen, in der die Rechtfertigung Gottes (und des Menschen) in den Formen der abendländischen Metaphysik eingefangen wurde.

Wir müssen uns nun klarmachen, was diese Formulierung der Rechtfertigung im theologischen Sinne bedeutet.

 

II.

Wir stehen also heute vor der Aufgabe, die geschichtliche Entwicklung des dogmatischen Denkens und speziell des Rechtfertigungsdenkens angemessen zu beschreiben, d.h. von unserer Erkenntnis der Krise des griechischen Geistes her. Diese ist von den Dogmengeschichtlern noch kaum angefaßt. Adolf v. Harnack hat zwar das theologische Denken der abendländischen Kirche als Frucht der Begegnung von christlichem Glauben und griechischem Geist umfassend beschrieben; er hat auch gemeint, das geschichtliche Recht dieser Verbindung bejahen zu können; aber er stand selbst noch so im Bann des griechischen Denkens, daß er nur seine Krise, nicht aber seine Überwindung in eine neue Phase des theologischen Denkens beschreiben konnte. Diese positive Aufgabe aber sind uns die Historiker bis jetzt schuldig geblieben. Dabei wären in bezug auf die Entwicklung des Rechtfertigungsdenkens folgende Gesichtspunkte wichtig:

1. Die Theologie hatte lange die Wahrheit im Gefolge von Platon ausgedrückt. Die wahre göttliche Wirklichkeit liegt hinter der vergänglichen Erscheinung dieser Welt. Sie offenbart sich dem anbetenden Menschen; er vermag die Herrlichkeit der wahren Welt zu schauen und die vergängliche Welt als Gleichnis zu nehmen. Mit der Wiederentdeckung des Aristoteles im 12. Jahrhundert aber ändert sich die Qualität der theologischen Aussagen.

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Der Glaube ist nun nicht mehr primär ein Empfangen oder Schauen von Bildern, sondern ein Urteilen. Drei Positionen bilden sich:

a) Augustinus hatte seine Aussagen in der Anbetung gemacht. Nun wird von seinen Nachfolgern Bonaventura und Hugo von St. Victor die Praedikatenlogik des Aristoteles verwandt, um diese Erfahrungen des Glaubens zu beschreiben. Nun beschreibt das religiöse Subjekt seine Erfahrungen in Raum und Zeit und in Brechung von Raum und Zeit. Ausgangspunkt ist aber nicht mehr die Anbetung, sondern die Aufgabe der Selbstvergewisserung des Subjekts.

b) Anders Albert der Große und Thomas von Aquino. Sie unterscheiden den Bereich der Vernunft und den der Offenbarung. Aber beide Gebiete müssen und können mit den Denkformen beschrieben werden, die Aristoteles bereitgestellt hat. So wird Gottes Wirklichkeit hier nicht mit den Ausdrücken der religiösen Erfahrung, sondern in den Formen des Urteils als Wesenheit, als Substanz beschrieben. Auch die Gnade Gottes wird mit den Kategorien von Materia und Forma, Substanz und Akzidenz gefaßt. Das bedeutet aber, daß Gottes Wirklichkeit und Wirksamkeit als Objekt erscheint.

c) Wiederum anders verfahren die Franziskaner der Zeit. Sie kommen von Averroes, dem arabischen Interpreten des Aristoteles, her und meinen, daß die Wirklichkeit nur in doppelter Buchführung beschrieben werden kann. Die himmlische Welt ist allein Gottes Willen unterworfen, die sublunare Welt aber erkennbaren Zusammenhängen. Hier wird festgehalten, daß Gottes Wesen und Offenbarung der griechischen Weisheit nicht unterworfen werden kann; aber zugleich diese Wahrheit verraten, indem man die Wirklichkeit allein dem Urteil der Vernunft unterstellt.

Diese drei Positionen gehören innerlich zusammen. Sie bewegen sich alle auf der gleichen neuen Ebene, auf der Ebene der „Subjektität”, um mit Heidegger zu sprechen. Erscheint die Offenbarung auch einmal als Erfahrung des Subjekts, dann wieder als Objekt, das mit den Kategorien des Seienden beschrieben werden kann, und verschwindet sie im dritten Standpunkt überhaupt dem Blick — alle drei Positionen

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setzen doch voraus, daß jede, auch die religiöse Wirklichkeit mit den Denkformen des urteilenden Geistes muß beschrieben werden können. Damit wird aber Gottes Wirklichkeit nach Analogie der Causa oder der Persona gedacht.

2. Seit der Begegnung der Theologie mit Aristoteles verstand die Theologie auch das rechtfertigende Handeln Gottes im Schema des Urteils.

Die Franziskaner beschreiben die Rechtfertigung als einen Prozeß zwischen Gott und dem Menschen und auch als einen Prozeß in der menschlichen Seele selbst. Die Gnade ist es, die den Willen des Menschen bereitmacht, wobei vorausgesetzt wird, daß der Mensch selbst tut, was an ihm ist (facere quod in se est). Gottes Urteil ist analytisch; es richtet sich nach dem, was es faktisch vorfindet: wenn der Mensch die Gnade empfangen hat, kann er gute Werke tun.

Umgekehrt setzt Thomas von Aquino an. Er scheint vorsichtiger; er ist in der Tat eben nicht: subjektiv. Bei ihm fällt aller Verdienst bei der Vorbereitung des Gnadenempfanges von Seiten des Menschen fort (meritum de congruo). Denn es geht ihm um die objektive Wirklichkeit und Wirksamkeit Gottes. Aber die Wirkung der Gnade wird dann ganz substanzhaft beschrieben. Der freie Wille wird von ihr entbunden; er kann sich auf Gott und gegen die Sünde richten und empfängt dann dafür die Vergebung. Auch hier wird also Gottes Rechtfertigung im Schema von Ursache und Wirkung gedacht, also im Rahmen der Begriffe des Aristoteles. Damit wird aber Gottes Wirken in Konkurrenz mit der Welt gesehen. Auf diese Weise wird Gottes Wesen welthaft. Man sieht dann entweder mehr auf das objektive Wirken Gottes in der Gnadenanstalt der Kirche, vor allem durch die Sakramente; oder man achtet mehr auf die religiöse Erfahrung des Subjekts. Vielleicht kann man sagen, daß in der katholischen Kirche der Akzent auf jener Lösung liegt, daß diese aber die Versuchung des Protestantismus ist. Karl Barth hat diese beiden Möglichkeiten im Auge, wenn er den Institutionalismus genauso wie den Subjektivismus bekämpft; er meint mit diesen beiden Formen eben den Abfall in die Subjektivität oder die Objektivität, die wir als Kennzeichen der nacharistotelischen Theologie erkannten.

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Man muß sehen, daß diese Alternative zwangsläufig ist, wenn einmal die Voraussetzung gemacht ist, daß Gottes Wirken und also auch die Rechtfertigung im Schema des aristotelischen Denkens gedacht werden könne. Denn so, wie wir Gott im Schema von Ursache und Wirkung und der Seinszusammenhänge (entsprechend der analogia entis im Verständnis von Karl Barth) denken, sind wir in der Alternative gefangen.

Nun dürfen wir freilich nicht übersehen, daß auf diesem Wege auch ein großer Fortschritt gemacht wurde. Er liegt darin beschlossen, daß durch die Entfaltung der Rechtfertigung als eines Urteils gewissermaßen neues Land, neue Wirklichkeit aus dem Meer auftauchte. Indem die menschliche Wirklichkeit als Materie beschrieben wird, die durch Gottes Wirklichkeit geformt wird, erscheint das menschliche Sein und Handeln nicht nur unter einem bisher nicht bekannten Aspekt; es mutiert gewissermaßen zu einem neuen Sein.

Mit der Rezeption des Aristoteles durch die Scholastik in der Rechtfertigungslehre wird es möglich, die Existenz des Menschen als einen Werkprozeß anzusehen. Gott wirkt am menschlichen Material.

So wird Gottes Handeln verweltlicht, aber des Menschen Wirklichkeit wird zugleich neu unter dem Aspekt des Werkens, des Formens gesehen. Wenn es erlaubt ist, so weit zu gehen: Hier deuten sich Idealismus und Materialismus an: Der Geist formt den Stoff oder: der Stoff setzt aus sich selbst heraus die Bewegung, die wir Arbeit nennen.

Es ist nur konsequent, wenn bei den von Averroes kommenden Links-Aristotelikern, den sogenannten Nominalisten, die Gott und Welt sauber schieden, Gottes Rechtfertigung als ein Willkürakt verstanden wurde, für den es keine Begründung gab, daß zugleich aber bei ihnen der menschliche Urteilsakt unter den Zwang trat, selbst urteilend, rechnend die Welt zu gestalten und zur Vollkommenheit zu treiben.

Es mag den wissenden Blick, den wir zurück tun, aufs höchste erstaunen, zu sehen, wie konsequent sich die englischen Franziskaner, Bradvardina und vor allem Roger Bacon dann, wenn Gottes rechtfertigendes Handeln im Himmel der Unerkennbarkeit verschwindet, selbst daran machen, mit menschlichem Urteil die Welt — zu verwandeln. Bacon zum

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Beispiel träumt den Traum von einer künstlichen, nach mathematischen Gesetzen vom Menschen konstruierten Welt, die Perfektion besitzt. Ganz exakt taucht hier die Utopie von der Vollendung der Rechtfertigung der Welt durch den Menschen auf. Der Horizont der Vollkommenheit bleibt als Herausforderung, auch wenn Gott als der Herausforderer und Vollender aus der Wirklichkeit verschwindet.

3. Martin Luther stand nicht umsonst in der Tradition des Nominalismus. Ihm war es darum unangemessen, Gottes Wirken und das des Menschen in Konkurrenz zu sehen und in der Form des logischen Urteils miteinander zu verbinden. Aber umgekehrt wie Bacon, dem diese Welt die eigentliche Wirklichkeit war, wurde ihm Gott zur eigentlichen Wirklichkeit. Er fordert die Rechtfertigung des Menschen; aber er allein kann sie auch geben.

Luther erfuhr also, daß der Mensch über Gott nicht in Form eines Urteils sprechen kann. Sein Kampf gegen Aristoteles wandte sich gegen die Voraussetzung, daß Gottes Wirklichkeit, Gottes Wirken als logischer Prozeß beschrieben werden kann. Er formulierte daher z.B. paradox: — gegen die Formeln des Aristoteles —, daß der Mensch als iustus zugleich im Status des non esse, fieri, esse sei; daß zugleich gelte: homo in peccatis, justificatio, iustitia, iuste agere und perfici. Gottes Rechtfertigung hat also nicht die Form eines analytischen oder synthetischen Urteils, sie ist nicht auf die Alternative forensisch oder faktisch festzulegen. Vielmehr ist Gottes Wesen Anruf, schöpferisches Tun, ist justitita activa, also eine Gerechtigkeit, die aktiv wird, sich mitteilen, wirken will.

Und dieses Handeln steht dem Menschen nicht wie ein Subjekt dem Objekt oder ein Subjekt dem anderen gegenüber; es ist nicht etwas, was an einem an sich schon vorhandenen Wesen des Menschen geschieht, gewissermaßen dazukommt, so daß der Mensch das Wirken Gottes in Form eines eigenen Urteils beschreiben könnte. Vielmehr kann er Gottes Handeln nur als Gläubiger oder Ungläubiger bekennen. Glaubt der Mensch, so gibt er Gott recht; glaubt er nicht, so versucht er selbst recht zu haben. Der Versuch der Scholastik, Rechtfertigung zu beschreiben, muß von hieraus als Verdecken und Verleugnen des rechtfertigenden Handelns Gottes beurteilt werden.

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Daß Melanchthon und die Schüler Luthers diesen Ansatz bei dem Reformator zur Überwindung des scholastischen Denkens nicht durchhielten, ist sattsam bekannt. Wichtiger ist zu sehen, daß bei Luther selbst eine Lücke bleibt. Das Wort Gottes schafft und verwandelt die Welt. Aber doch wird das Wort nicht konkret genug. Die Kirche wird zunehmend mit den Kategorien des aristotelischen und nominalistischen Denkens nur via negationis beschrieben. Und die weltlichen Ordnungen bleiben von der Verwandlung durch Christi Rechtfertigung unberührt. Luther deckte zwar die falsche Sakralisierung von Kirche und Staat auf; aber er verdeckte mit seinem Protest die faktische Verwandlung der Welt durch die Verkündigung der Rechtfertigung. So konnten in diese Lücke der Aristotelismus der Orthodoxie und der Subjektivismus der lutherischen Mystik eindringen.

Im beginnenden 19. Jahrhundert hat dann der verweltlichte Rechtfertigungsgedanke bei Hegel seine erste große Ausprägung erlebt. Die Geschichte wird als der große Prozeß verstanden, in dem der Weltgeist die Rechtfertigung verwirklicht: Aber es ist der Geist der Welt, der hier die Vollendung bewirkt; und es ist der Geist, dem das Konkrete nur Stufe des Durchgangs ist. Karl Marx hat versucht, diesen Prozeß als die Verwandlung der Materie durch die Arbeit zu deuten; so wurde die Rechtfertigung endgültig ein Prozeß der Welt, mit weltlichen Formeln zu beschreiben und vom Menschen als dem Exponenten dieses Prozesses zu vollziehen.

Dagegen gelang es der Theologie — verständlicherweise — nicht, dem Wirken Gottes in der Rechtfertigung Ausdruck zu verleihen. Schleiermacher scheiterte an der „Materie”, der „Sinnlichkeit”, die für ihn zum Widersacher wurde. Und die weitere Entwicklung im 19. Jahrhundert formalisierte im Versuch, sich dem Materialismus zu entwinden, die Rechtfertigungslehre immer mehr. Sie blieb so eine innerweltliche oder außerweltliche Wirklichkeit.

Das eigentliche Antriebselement wurde in diesem Jahrhundert der Versuch des Menschen, die Welt und das menschliche Leben durch die Produktion zu rechtfertigen.

Unsere Zeit ist also durch einen doppelten Tatbestand bestimmt.

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1. In der Welt wird das Machen stets von der Perfektion als von seinem Horizont bestimmt. Dieses Machen qualifiziert die Welt, in der der Mensch lebt; es verwandelt auch die Sprache des Menschen in den Ausdruck des Produzierens. Wir haben aber noch kaum begonnen zu begreifen, daß darum der dialektische Materialismus dem Wesen des Menschen entspricht, der sich und die Welt machen will. In der Auseinandersetzung mit ihm wird es vor allen Dingen darauf ankommen, die Geschichtlichkeit und Offenheit dieser Bestimmung des Menschen festzuhalten.

2. In der Theologie muß die Rechtfertigung von dem Sündenfall des theologischen Denkens in die Metaphysik befreit werden. Das bedingt zwei Aufgaben:
a) Die Situation der in der Welt sich produzierenden Menschen muß als Ruf in die Freiheit post Christum gedeutet werden. Bonhoeffer hat uns Ansätze dafür gegeben.
b) Die Rechtfertigung Gottes muß neu formuliert werden. Solange die Theologie in ihren scholastischen Formen befangen bleibt, kann sie von dem Menschen, der im Lebensgefühl modern ist, nicht angemessen verstanden werden. Dem Menschen, der aus der Subjektität ausgewandert ist, ist die herkömmliche Formulierung uninteressant, der Anspruch der Verkündigung ghettohaft und anmaßend.

Nun hat aber die evangelische Theologie mit Karl Barth und den Erfahrungen des Kirchenkampfes den rechten Grund der Rechtfertigungslehre wiederentdeckt; die Gefahr ist aber, daß von neuem die Gottvergessenheit über die Theologie kommt und sie die Stunde ihrer Heimsuchung versäumt. Worin besteht der Neue Ansatz zum Verstehen der Rechtfertigung in der neuen Theologie? Karl Barth vermag in seinem theologischen Denken auszudrücken, daß Gott und Mensch nicht zwei Figuren sind, die nachträglich durch das Rechtfertigungsurteil miteinander verknüpft werden, daß Gott vielmehr in seinem Wesen als der in Beziehung, in Gemeinschaft Lebende beschrieben werden muß. Dann ist das rechtfertigende Handeln Gottes nicht etwas, was zu seiner Existenz als Eigenschaft hinzutritt, sondern die Wirklichkeit Gottes. Darum kann auch das Wesen des Menschen nur von Gott her beschrieben

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werden. Das rechtfertigende Handeln Gottes ist also als das Wirken Gottes in und zur Gemeinschaft mit dem Menschen zu verstehen. Dann aber ist auch der Mensch nicht und nie von sich aus als sich rechtfertigender oder gar gerechtfertigter zu verstehen, sondern das Mitsein Gottes mit seinem Menschen in Jesus Christus ist seine Gerechtigkeit. Das aber kann nur als Bekenntnis der Kirche ausgesagt werden.

Im Kampf der Bekennenden Kirche kam das Verständnis für Gottes Rechtfertigung insofern wieder auf, als die Kirche der Verheißung Seiner Führung traute und erfuhr, daß nicht des Menschen Beständigkeit, nicht die Haltung der Confessoren, sondern allein Gottes Wirksamkeit die Kirche per passiones et crucem real machte.

Worin besteht aber die neue Gottvergessenheit, die neue Ungläubigkeit in Theologie und Kirche? Einmal darin, daß diese Theologie in der Existentialität, in dem Kerygma-Denken hängenbleibt, diesem Kennzeichen der nacharistotelischen Philosophie. So wird der Wahrheit nicht die Ehre gegeben, daß Gott der Herr mit seinem Wort der Schöpfer der Wirklichkeit ist. Das Wort bleibt formal und abstrakt. Ferner bleibt die Kirche hinter ihrer Reformation im Kirchenkampf zurück, wenn sie wieder in die Tradition ihres Subjektivismus zurückfällt oder in falschem Umschlag die Kirche als Anstalt in römischer Weise etabliert. Auf beiden Wegen wird aber die Erkenntnis und Erfahrung verleugnet, daß Gottes Wort „sich selbst imponiert”. Das 1. Gebot ist nicht in Geltung.

Auch in der katholischen Theologie finden sich Ansätze zu einem neuen Verstehen der Rechtfertigungslehre. Küng hat den Versuch gemacht, Karl Barths Verständnis der Rechtfertigung als in den entscheidenden Zügen dem Tridentinum entsprechend nachzuweisen. Daß er damit geschichtlich nicht im Recht ist, scheint mir sicher zu sein. Das Tridentinum ist eben durch ein typisch aristotelisch-metaphysisches Verständnis des Handelns Gottes ausgezeichnet. Aber es ist verheißungsvoll, daß der katholische Theologe selbst die Formel von Trient meint anders, nicht-aristotelisch interpretieren zu können. Nur ist zu fragen, ob sich Küng auch nur annähernd der Konsequenzen seiner Deutung bewußt ist. Hier steht die katholische Theologie vor Entscheidungen. Vielleicht hatte sie

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die Aufgabe, die Kontinuität der Deutungen zu bewahren, während der Protestantismus zur Neuformulierung — siehe Barth — berufen ist.

 

III.

Wird aber, im Sinne des Barthschen Neuansatzes, die Rechtfertigung als Gottes Handeln bekannt, dann müssen daraus auch Folgerungen gezogen werden. Wir deuten zum Schluß einige Richtungen an:

a) Das Rechtfertigen ist ein Handeln, ein Wirken Gottes, in dem er seine Gerechtigkeit, sich selbst durchsetzt, in dem er, Gott, sich dem Menschen selbst mitteilt. Das Alte Testament (Deuterojesaia) faßt darum ebenso wie Paulus die Gerechtigkeit Gottes als sein Wirken auf: Gott setzt in einem Prozeß sein Wesen durch. Es geht also nicht um ein bloßes Urteil Gottes (forensisch), das die Zukunft vorwegnimmt, auch nicht um ein Sein, das den Menschen mitgeteilt würde, sondern Gottes Wirken ist eben des Menschen Gerechtigkeit. Dieses ist aber ein Wirken in Stellvertretung, d.h., er macht uns gerecht, indem Christus unser Stellvertreter und göttlicher Partner wird.

Daß so Christus unsere Gerechtigkeit ist, das setzt unsere Zeitlichkeit neu. Es ist falsch zu sagen: Christus ist ein Faktum der Vergangenheit, das als Ursache unser Gerechtwerden bewirkt. Es ist ebenso unzureichend, nur von ihm als dem Kommenden zu reden. Angemessen nennen wir Christus unsere Zukunft. Dadurch, daß er uns anruft, daß er uns begegnet, für uns einsteht, also dadurch, daß er auf uns zukommt, wird unser Weg aus der Vergangenheit in die Zukunft qualifiziert. Wir haben Zukunft nicht aus unserer Veranlagung her, auch nicht aus einem mitgeteilten Sein, sondern dadurch, daß Christus auf uns zukommt und unseren Weg aus der Vergangenheit in die Zukunft qualifiziert.

Dieses Verständnis der Rechtfertigung als eines eschatologischen Geschehens hängt mit dem Wortcharakter der Botschaft zusammen. Der Anruf Gottes kommt auf uns zu. Er macht uns konkret. Er ruft uns von vorn her in unsere Zukunft hinein. Das rechtfertigende Urteil Gottes ist also nicht nur deklaratorisch, sondern konstitutiv. Es setzt Wirklichkeit, d.h. den

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ganzen Zusammenhang von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft neu.

Man kann diesen Sachverhalt an der Parallele des Eherechts gut studieren 10). Die Eheschließung ist in früher Zeit ein sog. gestrecktes Rechtsgeschäft, in dem die Verlobung als Ausgliederung der Partner und die Hochzeit als Vollzug der Gemeinschaft einander folgen. Entscheidend ist aber, daß beides nicht unter dem Schema von Ursache und Wirkung, auch nicht als Wirkung eines Wortes der Menschen, angesehen wird, sondern als Vollzug eines Rechtes, einer Wirklichkeit, die Geist und Leib, Willen und Sein umfaßt.

Diese umfassende Bedeutung des Rechtes wird dann im Mittelalter aufgelöst, ganz so, wie auch die Rechtfertigungslehre verwandelt wird. Einerseits redet man nun davon, daß der Consensus nupturientum die Ehe macht. Andererseits ist die Ehe ein Sakrament, d.h. ein Sein, das der Heilsordnung angehört; die Eheleute spenden es sich selbst. In diesen Kategorien ist die ursprüngliche Ganzheit zerstört. Das Wort wird eine Causa, die ihre Wirkung hat. Oder die Sache ist ein Factum, das Folgen hat. Das schaffende Wort ist nicht mehr das alles Umfassende und in Bewegung Setzende.

Im Verständnis der Taufe ist eine ähnliche Entwicklung zu beobachten. Sie ist ursprünglich eine Art von „gestrecktem Rechtsgeschäft”. In der Abrenuntiatio Diaboli wird, wie in der Verlobung, allen anderen Bindungen entsagt. Dann erst wird im Bekenntnis der Dreieinige Gott als der Herr bekannt. Im Taufakt selbst wird dann die Gemeinschaft von Ruf und Antwort her perfekt: Im leiblichen Geschehen drückt sich die Verbindlichkeit und Unverrückbarkeit des Anrufes durch Gott aus.

Die Einheit dieses Geschehens wird nun in der Entwicklung entweder ins Objektive hinein verderbt: Dann konstituiert die Handlung der aspersio die Taufe. Oder die Taufe wird subjektiv mißverstanden: Dann kommt es nur auf die Deklaratio an, die Gottes und die des Menschen.

Heute, am Ende dieser Entwicklung, fällt die Gemeinde in ihrer Auffassung von der Taufe in die beiden Lager auseinander:


10) cf. Hans Dombois in: Familienrechtsreform, Witten/Ruhr 1955, S. 132 ff.

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hie Sacramentalisten, dort Verbalisten. Und es geht darum, zu erkennen, daß Gottes Handeln mit dem Menschen in der Taufe eine Erstreckung hat, in der sich die Begegnung Gottes mit dem Menschen vollzieht, und aus dieser Erkenntnis für die Praxis der Taufe die rechten Folgerungen zu ziehen.

Genauso muß auch das Rechtfertigungsurteil Gottes von der subjektiven oder objektiven Verfälschung befreit werden. Es muß als Urteil Gottes, als gestrecktes Rechtsgeschäft angesehen werden. Nicht im Schema von Ursache und Wirkung kann die Rechtfertigung zu ihrem Recht kommen, sondern nur als ein Urteil Gottes, das auf den Menschen zukommt und ihn dadurch bestimmt, ihm den Weg ermöglicht, ja der Weg ist.

b) Der Ort, wo dieses Wort von dem rechtfertigenden Handeln Gottes geschieht, ist die Kirche. Indem Gott die Menschen so anredet, so mit ihnen handelt, ist Kirche. Christus existiert nicht ohne seine Gemeinde (Bonhoeffer). Der rechtfertigende Gott ist nicht ohne Gemeinde, die er gerechtgemacht hat. Im Wort der Kirche wird die Rechtfertigung ausgeteilt (nicht nur mitgeteilt, wie Karl Barth manchmal zu meinen scheint). Dabei ist das Wort, von dem und in dem die Kirche lebt, eben das Urteil Gottes, das den Weg der Gemeinde setzt und begleitet. Das Ausrufen wird so zum Anrufen Gottes durch den Menschen. Indem es proklamiert wird, schafft es Gemeinde. Man darf es nicht in Ruf und Antwort trennen. Eben das Ausrufen der Gottestat ist zugleich schon das Lob der gerechtfertigten Gemeinde.

Das Wort schafft die Gemeinde. Da ist keine Möglichkeit, etwa das Wort von der Rechtfertigung gegen die Sakramente und ihre heiligende Wirkung zu setzen. Im frühen Christentum waren die Sakramente auf die Einmaligkeit und Konkretheit gerichtet. Nicht das Sakrament schafft die Kontinuität im Sein der Kirche, sondern das Wort. Dieses Wort will als Sakrament den einzelnen integrieren in das Kontinuum der Gemeinde, des Leibes Christi.

c) Unter diesen Voraussetzungen können wir versuchen, das Leben der Gemeinde in dem Prozeß des rechtfertigenden Wortes Gottes zu beschreiben. Wo Gott mit seinem Wort, dem Wort der Rechtfertigung Glauben findet, da kommt es

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zu seinem Ziel, da wirkt es, was es soll. So muß man also den gerechtfertigten Menschen zuerst als den Glaubenden kennzeichnen. Er läßt Gott an sich, in sich, für sich wirken. Er traut Gott; so kann er Schritte tun.

Was ist hier des Menschen eigene Tat? Gottes Tat ist es eben, daß der Mensch seine Freiheit findet. Des Menschen Freiheit aber ist es, daß er aus Gott handelt. — Wir können nicht Gott und den Menschen als Konkurrenten auf eine Ebene auftragen. Gottes Handeln ist die Voraussetzung für das Handeln des Menschen. Kierkegaards Paradoxon trifft die Sache: Gott ist allmächtig, darum kann er dem Menschen die Freiheit geben. Es ist also nichts mit allen Versuchen, die Freiheit des Menschen gegenüber Gott zu behaupten (Pelagius) oder sie in Gott zu vernichten. Gott eben ist des Menschen Freiheit.

Haben wir die Rechtfertigung als einen eschatologischen Prozeß zu beschreiben, so ist von hier aus die Formel „simul justus et peccator” neu zu interpretieren. Es reicht nicht aus, wenn wir von zwei Sichtweisen sprechen. Auch die Paradoxie, beides zugleich sei wahr, ist ungenügend. Gewiß nicht in gleicher Weise, aber auch nicht einfach zugleich ist wahr, daß der Mensch gerecht und Sünder ist, sondern es ist unser Bekenntnis, daß Gott gegen uns Sünder recht hat, daß Seine Gerechtigkeit also uns Sünder meint. Das aber bedeutet doch: wir bekennen uns dazu, daß Gottes Recht siegt, daß der justus oben liegt, daß wir auf dem Wege sind, ein Gerechter zu werden, weil wir von Gott gerufen werden und den alten Menschen immer hinter uns, unter uns lassen.

3. Dieses eschatologische Gefälle der Rechtfertigung zeichnet sich uns so ab: Weil Gott dem Menschen näherkommt, entdeckt der Mensch in dem immer helleren Licht sich immer mehr als Sünder. Und: nach den großen Sünden entdeckt er nun die kleinen. Und: er kann das Leben immer weniger nur moralisch betrachten. Von der zweiten rückt das Licht auf die erste Tafel der Gebote. Mit dem Näherkommen Gottes steigert sich die Versuchlichkeit.

So wird der Weg des Menschen unter dem Rechtfertigungsprozeß ein Weg des Leidens sein. Seine Heiligung erweist sich im Leiden unter der Sünde als ein Kampf mit der Sünde, als

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ein Sterben des alten Menschen! Vielleicht ist dieses Leiden seine eigentliche Aktion.

4. Neu zu formulieren ist für uns endlich das Verhältnis von Rechtfertigung und guten Werken. Luther hatte ja bei deren Ablehnung im Auge, daß der Mensch niemals Subjekt von guten Taten sein kann. Gott allein tut gute Werke, und der, der auf Gott traut, der an ihn glaubt, d.h., der ihn wirken läßt. Dann aber kann es nicht nur darum gehen, daß der Mensch sich in die Ordnungen Gottes einordnet und sich als Vater und Mutter oder Kind, als Nachbar oder Herrscher bewährt. Ist Gottes Rechtfertigung ein Prozeß, der den neuen Menschen zum Ziel hat, dann muß diese Bewegung, wenn sie als Frucht der Rechtfertigung beschrieben wird, eben nicht nur die Heiligung der Schöpfung meinen, sondern ihre Vollendung. Wenn die Geschichte nicht einfach ein Kreislauf ist und Christi Werk die Wiederherstellung des Ursprünglichen, dann müssen wir die Bewegung der Rechtfertigung als Bewegung auf das Ziel des Neuen Menschen in der Neuen Welt sehen; dann müssen wir auch die Ordnungen Gottes in Bewegung auf dieses Ziel hin sehen, d.h. einfach auch erkennen und vollziehen, daß die Gemeinde auf ihrem Wege die Ordnungen in mancherlei Weise verwandelt. Die Bauernkriege zeigen ja die Schwäche Luthers, daß er aus berechtigter Abwehr der Schwärmer nicht wagte, mit der Umwandlung der Welt durch das Evangelium Ernst zu machen. Hier liegt ja bis heute die schwache Stelle unseres Luthertums.

Von solchem Verständnis der Rechtfertigung Gottes in seiner Kirche aus müßten nun Folgerungen für die Welt gezogen werden. Wenn wirklich der Mensch, sein Tun und Denken durch das Evangelium zur Vollkommenheit berufen ist, dann kommt alles darauf an, daß er die Arbeit an der Welt und an sich selbst nicht als Selbstschöpfung vollzieht, sondern als Aufgabe, die dadurch entbunden wurde, daß Gott selbst den Menschen rechtfertigt. So zeichnet sich von der Rechtfertigung des Menschen von Gott her ein neues Verständnis der modernen Arbeitswelt ab.