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Es war Sohms feste Meinung, daß die Urkirche kein Kirchenrecht besaß. In der Urkirche hätte vielmehr eine pneumatische Anarchie geherrscht. Nach Sohm gab es innerhalb der Urchristenheit keine Gemeinden mit irgendeiner die einzelnen bindenden, rechtlichen Organisation. Demgegenüber möchte ich nun nachweisen, daß die Urchristenheit sehr wohl ein Kirchenrecht besaß.1 Dies geschieht in drei Schritten. Zunächst geht es um das Entstehen des Kirchenrechts, dann um eine Zusammenfassung des Rechts im Neuen Testament und schließlich um das Amt im Neuen Testament.
Natürlich gibt es im Neuen Testament keine systematische und explizite Abhandlung zum Thema Recht und Gesetz. Dies bedeutet freilich nicht, daß es dort überhaupt kein Recht gäbe.2 Damit stellt sich sogleich die Frage, wie man an
1 Es ist gewiß ein Risiko, wenn ein Kirchenrechtler sich
auf den Boden der Exegese begibt. Dies um so mehr, als der Faden
zwischen der Exegese und der Kanonistik seit langem völlig
abgerissen ist. Normalerweise verstehen Exegeten nichts von
Kirchenrecht und Kanonisten nichts von Exegese. Auch für den
Schreiber dieser Zeilen ist die Exegese ein fremdes Fach, in dem
er sich nicht auskennt. Er möchte aber versuchen, manche
Ergebnisse der Exegese für die Kanonistik fruchtbar zu
machen.
2 Daß man sehr wohl zwischen impliziter und expliziter Kenntnis
und sprachlicher Wiedergabe unterscheiden muß, zeigt das
folgende, ganz kleine Beispiel. Die deutsche Sprache konnte sehr
lange Zeit ohne das Wort „Gesetz” auskommen. „Gesetz”
(abgeleitet von „setzen” bzw. „pflanzen”) ist erst eine
mittelhochdeutsche Wörtschöpfung und erstmals belegt im Jahre
➝
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das implizit vorhandene Recht herankommt. Es muß gleichsam erst die Quelle gegraben und gefaßt werden.
Ohne jeden Zweifel ist die Erfahrung von so etwas wie Recht eine Quelle für das Kirchenrecht im Neuen Testament. „Die Erforschung des Begriffes des Rechts der Kirche muß von der kirchlichen Rechtserfahrung ausgehen, d.h. davon, was in der Kirche als ihr Recht erfahren, begriffen und bezeichnet wird.”3 Ich möchte im folgenden drei christliche Rechtserfahrungen etwas näher erläutern. Zuvor sei aber auf einige andere (ganz wahllos herausgegriffene) Erfahrungen von Recht hingewiesen. Die junge Kirche mußte schon deshalb auf Recht stoßen, weil es dieses in ihrer jüdischen4, griechischen und römischen Umwelt gab. Auch wenn der Glaube an Jesus Christus zu Veränderungen auf rechtlichem Gebiet führte, so konnte doch das Recht der andern Völker nicht einfach übergangen werden. Daß die junge Kirche notwendig auf Recht stoßen mußte, hängt wohl auch mit ihrem Glauben an den Richtergott zusammen. „Es geht hierbei zunächst einmal um die Beziehung von Gerechtigkeit und Recht. Es liegt im Wesen des Rechts begründet, daß es nach Gerechtigkeit fragt und sich als Ausdruck derselben versteht. Umgekehrt kann man von Gerechtigkeit sinnvollerweise nur reden, wenn ihre Beziehung zum Recht nicht außer acht gelassen wird. Gerechtigkeit und insbesondere Gerechtigkeit Gottes sind aber für das neutestamentliche Zeugnis signifikative Begriffe. Und nun fragt sich: Gibt es eine Beziehung
➝ 1383 (vgl. I. Broer [Hg.], Jesus und das jüdische
Gesetz, Stuttgart 1992, 41).
3 R. Sobański, Bemerkungen zur epistemologischen Problematik des
Begriffes des Kirchenrechts, in: AfkKR 157 (1988) 430-441, hier:
434.
4 Vgl. N. Lohfink, Le radici del diritto canonico nell’Antico
Testamento, in: Quaderni di Niccolò Stenone 1 (1991) = Suppl. al
nr. 386 di STENSE-Notizie (März 1991) 5-19. Vgl. auch F.
Crüsemann, Die Tora. Theologie und Sozialgeschichte des
alttestamentlichen Gesetzes, München 1992.
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zwischen der Gottesgerechtigkeit und dem Recht?”5 Auch deshalb kam die junge Kirche auf Recht, weil es in der Gemeinde zu Auseinandersetzungen kam. Solche konnten gar nicht ausbleiben. Die Frage ist dann, wie man solche Konflikte regelt. „Ohne eine bestimmte Vorstellung vom Recht konnte dies unmöglich geschehen.”6 Auch dies konnte zu Recht führen, daß man nämlich die Rechtsordnung als Schutzordnung erfuhr.7 Recht ist Beziehungsverhältnis zu andern, ist Ordnung interpersonaler Beziehungen; ius est ad alios. Zur Welt des Rechtes gehören Beziehungen von Person zu Person, und zwar solche Beziehungen, die den Menschen als unverzichtbar personhaftes Einzelwesen in seinem Eigenstand und seiner Unterschiedenheit von allen andern schützen. Ferner: Ist das Recht nicht überhaupt eine Grundkategorie theologischer Anthropologie? Dies würde bedeuten, daß Recht stets zu eigentlichem Menschsein dazugehört. Der Mensch wird gleichsam in das Recht hinein geboren.8 Auch dies gilt es zu bedenken: Institutionen (und Recht gehört wesentlich zur Institution) haben nicht nur eine belastende, sondern auch eine entlastende Funktion. Recht gewährt dem Menschen einen Raum, innerhalb dessen er seine Freiheit verwirklichen kann.9
5 S. Meurer, Das Recht im Dienst der Versöhnung und des
Friedens, Zürich: Theologischer Verlag 1972, 29.
6 Ebd. 42.
7 Vgl. K. Demmer, Katholische Rechtstheologie — ein Desiderat,
in: H. Schambeck/R. Weiler (Hg.), Der Mensch ist der Weg der
Kirche (= FS Schasching), Berlin 1992, 139-150, hier:
140-142.
8 Vgl. K. Demmer, Katholische Rechtstheologie — eine Anfrage an
die Moraltheologie, in: Gregorianum 73 (1992) 269-289, hier:
279-281; P. Inhoffen, Recht als menschlicher Selbstausdruck in
sozial-sittlicher Verantwortung, in: Internationale katholische
Zeitschrift „Communio” zo (1991) 179-192; R. Pahud de Mortanges,
Die Archetypik der Gotteslästerung als Beispiel für das Wirken
archetypischer Vorstellungen im Rechtsdenken, Freiburg (Schweiz):
Universitätsverlag 1987.
9 Vgl. R. Potz, Die Geltung kirchenrechtlicher Normen, Wien:
Herder 1978, 31-36; R. Sebott/H.-J. Höhn, Einführung in das
Kirchenrecht, Würzburg: Theologie im Fernkurs 1987,
10-14.
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Nach diesem kurzen Überblick über mögliche Rechtserfahrungen sollen nun die folgenden drei christlichen Rechtserfahrungen im Neuen Testament näher erläutert werden.
In seinem Beitrag „Sätze heiligen Rechtes im Neuen Testament” hat E. Käsemann das von Sohm gestellte Problem des Rechtes in der hl. Schrift exegetisch untersucht.10 Käsemann geht davon aus, daß die Debatte seit den Thesen von Sohm im Jahre 189211 deshalb nicht vorangekommen sei, weil man moderne Fragestellungen fälschlicherweise an das Neue Testament herangetragen habe anstatt die Heilige Schrift selbst sprechen zu lassen. „Das Neue Testament selber bietet uns einen anderen Ausgangspunkt. Denn es enthält in seinen verschiedensten Teilen merkwürdig gebaute Aussagen, die ich vorläufig noch möglichst umfassend Sätze heiligen Rechtes nenne.”12
Käsemann beginnt seine Untersuchung mit den Worten von 1 Kor 3,17 („Wenn jemand den Tempel Gottes verdirbt, verderben wird ihn Gott”). „Die seltsame Struktur des Satzes
10 E. Käsemann, Sätze heiligen Rechtes im Neuen Testament,
in: New Testament Studies 1 (1954/55) 248-260. K. Berger hat die
These von Käsemann abgelehnt (K. Berger, Zu den sogenannten
Sätzen heiligen Rechts, in: New Testament Studies 17 [1970/71]
10-40; K. Berger, Die sog. „Sätze heiligen Rechts” im N.T., in:
Theologische Zeitschrift 28 [1972] 305-330), er muß aber zugeben,
daß eine Reihe von Forschern (so W. Grundmann, F. Hahn, H.
Conzelmann, G. Delling) Käsemann durchaus Recht gibt (Berger, Zu
den sogenannten Sätzen 12 f.). — Mit E. Fuchs, der der These von
der Apokalyptik als der Mutter der christlichen Theologie
ablehnend gegenübersteht, hat sich Käsemann eigens
auseinandergesetzt (vgl. E. Käsemann, Zum Thema der
urchristlichen Apokalyptik, in: Zeitschrift für Theologie und
Kirche 59 [1962] 257-284). Vgl. auch H.-J. Schmitz,
Frühkatholizismus bei Adolf Harnack, Rudolph Sohm und Ernst
Käsemann, Düsseldorf 1977, 145-201.
11 In diesem Jahr erschien Sohms KR I.
12 Käsemann, Sätze (A. 10) 248. Diese Sätze heiligen Rechts
drücken natürlich (worauf Käsemann nicht eigens reflektiert) eine
Erfahrung von Recht aus. Sie sind gleichsam geronnene
Erfahrung.
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ist genau wie die seiner alsbald zu nennenden Parallelen meines Wissens kaum je beachtet worden, obgleich sie in die Augen springen müßte. Das gleiche Verbum umschreibt in dem Chiasmus des Vorder- und Nachsatzes menschliche Schuld und göttliches Gericht, um auf diese Weise sowohl die präzise Entsprechung beider Sachverhalte wie ihre unzerreißbare und jähe Folge zu charakterisieren. Offensichtlich wird hier das ,jus talionis’ verkündigt: Den Verderber trifft das Verderben. Und gleichzeitig wird in unüberbietbarer Kürze und Deutlichkeit Gott als derjenige bezeichnet, der einem jeglichen nach seinen Werken vergilt.”13 Auch außerhalb des Neuen Testaments sind „Talion”14 und „Chiasmus”15 bisweilen gepaart worden. In Gen 9, 6 heißt es: „Wer Menschenblut vergießt, vergossen wird sein Blut durch Menschen.” Auch im folgenden Text (1 Kor 14, 38: „Wer nicht erkennt, verworfen [d.h. nicht erkannt] wird er von Gott”) haben wir wieder die Talion und den Chiasmus. „Wieder bezeugt Paulus als Charismatiker das Gesetz des letzten Richters vor seiner Gemeinde, die in Gefahr steht, die Ehre ihres Herrn zu verletzen und die geistbestimmte Ordnung des Gottesdienstes zu zerstören. Wieder liegt mehr als bloß eine Warnung vor.”16
Seit jeher wurde der Fall der Blutschande von 1 Kor 5, 3 ff.17 für die Begründung von Recht herangezogen. „Es
13 Ebd.
14 Das „ius talionis” ist das Recht der Wiedervergeltung wie es
z.B. in Mt 5, 38 („Auge um Auge, Zahn um Zahn”) beschrieben
wird.
15 Chiasmus meint eine Kreuzstellung von Satzgliedern
entsprechend dem griechischen Buchstaben X (= Chi). Beispiel:
„Der Einsatz war groß, gering war der Gewinn.”
16 Käsemann, Sätze (A. 10) 250. An zwei anderen Stellen (1 Kor
16, 22 [„Wer den Herrn nicht liebt, sei verflucht!”] und Gal 1, 9
[„Wer euch ein anderes Evangelium verkündigt, als ihr angenommen
habt, der sei verflucht”]) haben wir es mit der Talion zu tun,
die allerdings nicht im Chiasmus, sondern durch einen Fluch
ausgedrückt wird.
17 „Was mich angeht, so habe ich — leiblich zwar abwesend,
geistig aber anwesend — mein Urteil über den, der sich so
vergangen hat, schon jetzt ➝
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. . . kann nicht bestritten werden, daß es hier um einen Rechtsvorgang geht, den der Apostel zugleich anordnet und vorwegnimmt.”18 Das Forum (die Versammlung der Gemeinde), das Verfahren (man versammelt sich in der Kraft Jesu Christi) und die Strafe (Ausschluß aus der Gemeinde) werden genau festgelegt. Dennoch ist dieser Vorgang nicht einfachhin mit unserer Rechtsprechung identisch. Denn das Urteil geht ja nicht eigentlich von der Gemeinde aus, es geht auch letztlich nicht von Paulus aus. „Worauf alles ankommt, ist dieses, daß durch das Zusammenwirken des Apostels und der Gemeinde der Geist, und das heißt der anwesende Herr selber handelt. Dessen Urteile sind eindeutig und bedürfen weder der Diskussion noch der Überprüfung, so daß von da aus die persönliche Abwesenheit des Apostels irrelevant wird und der Gemeinde einzig die Akklamation übrigbleibt.”19
Fassen wir zusammen: Es war das Verdienst Sohms, gezeigt zu haben, daß es in der frühesten Christenheit kein Vereins-, kein Verwaltungs- oder Disziplinarrecht gab. Er zog daraus allerdings die falsche Folgerung, die Urchristenheit habe überhaupt kein Recht besessen. Will man indessen das im Neuen Testament vorkommende Recht näher bestimmen, so muß man an das Sakralrecht20 denken oder an das
➝ gefällt, als ob ich persönlich anwesend wäre: Im Namen
Jesu, unseres Herrn, wollen wir uns versammeln, ihr und mein
Geist, und zusammen mit der Kraft Jesu, unseres Herrn, diesen
Menschen dem Satan übergeben zum Verderben seines Fleisches,
damit sein Geist am Tag des Herrn gerettet wird.”
18 Käsemann, Sätze (A. 10) 251.
19 Ebd. 251 f.
20 In seinen Ursprüngen hat das Recht mit der Religion zu tun. Es
waren die Seher (vates), Propheten und Vogelschauer (augures),
die das Recht suchen mußten. Das zeigt sich noch in der Zeit des
altrömischen Privatrechts, als die Oberpriester (pontifices) auch
Richterwaren. „Deutlich prägt sich in der Gestalt des
altrömischen Privatrechts der Einfluß der pontifices
aus. Sie sind die sachverständigen Kenner des Rechts wie des
Sakralwesens, und trotz der äußeren Trennung der beiden
Aufgabengebiete hat doch die Arbeit im sakralen Bereich auf den
juristischen abgefärbt. Die Priester ➝
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Ordal (Gottesurteil)21. „Es geht um ein Gottesrecht, in welchem Gott selber der Handelnde bleibt, und das, sofern Gott es durch Charismatiker verkünden und vollziehen läßt, auch charismatisches Recht genannt werden mag.”22
Es ist nur natürlich, daß das Aufkommen von Kirchenrecht (und dessen Erfahrung) in der jungen Christengemeinde in Zusammenhang steht mit Jesu Umgang mit der Tora.23 Jesus, der auftrat und seine Botschaft vom hereinbrechenden Gottesreich verkündete, war ein schriftgelehrter Rabbi. Nur ist er viel gewaltiger als die Schriftgelehrten. Er stellt sich als derjenige dar, dem gegenüber sich das ewige Schicksal entscheidet. Oder er deutet den messianischen Psalm 110 so um, daß er auf Jesus selber angewandt wird. Vor allem geht Jesu frei mit der Tora um. Dadurch schafft er Recht ab, bewahrt aber doch auch (teilweise) das alte Recht; ja schafft
➝ haben wie die Rituale der Opfer und Gebete so auch die
Akte und Formen für den Rechtsverkehr und den Rechtsstreit
geschaffen. Sie beraten die Rechtsuchenden wie die des sakralen
Beistandes Bedürftigen, sie erteilen ihnen ihre Gutachten
(responsa), sprechen ihnen die förmlichen Worte vor (verbis
praeire) und weisen ihnen die vorzunehmenden Handlungen. Die
Formeln sind zunächst für den Einzelfall geschaffen und reifen
erst in fortgesetzter Praxis zu Musterformeln, Formularen, aus.
Die Priesterschaft bewahrt sie als ihr Sonderwissen in ihren
Archiven” (M. Käser, Das römische Privatrecht. Erster Abschnitt:
Das altrömische, das vorklassische und klassische Recht, München
1955, 23).
21 Die Gottesurteile (Feuerordal, Kaltwasserprobe, Zweikampf,
Losordal u.a.) kommen vor allem im europäischen Mittelalter vor.
Sie finden sich aber auch bei den meisten anderen Kulturen und
Kulturstufen. Dem Gottesurteil liegt folgender Gedanke zugrunde:
„Gott ist der Hüter des Rechts; er duldet es nicht, daß im
irdischen Rechtsstreit der Schuldige freigesprochen wird oder der
Unschuldige unterliegt . . . Droht diese Gefahr, so tut Gott
selbst — zumal auf Anruf — Schuld oder Unschuld des Angeklagten
durch ein himmlisches Zeichen kund” (A. Erler, Gottesurteil, in:
Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte I, Berlin 1971,
1769-1773, hier: 1769).
22 Käsemann, Sätze (A. 10) 253.
23 Vgl. I. Broer (Hg.), Jesus und das jüdische Gesetz, Stuttgart
1992.
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sogar neues! So zieht er etwa seine beiden Hauptgebote aus der Tora, läßt dann aber die anderen Gebote beiseite. Damit zerreißt aber Jesus die Einheit der Tora. „So identifiziert sich Jesus einerseits mit Sätzen der Tora, d.h. ihren Geboten der Liebe zu Gott und der Liebe zum Nächsten, die er nach rabbinischer Methode formal und inhaltlich verknüpft; andererseits aber verwirft er von ihnen aus . . . andere ethische Sätze der Tora.”24 Das führte in der Auseinandersetzung mit den Schriftgelehrten ganz natürlich zu der Frage, die Justin in seinem „Dialog mit dem Juden Tryphon” so formuliert hat: „Warum wählst du in deinen Erklärungen aus den Prophetenworten ganz nach Willkür aus?”25
Natürlich mußte eine solche Handhabung und Behandlung des alttestamentlichen Gesetzes durch Jesu seine Nachfolger vor die folgenden Probleme stellen: Braucht man nur das Liebesgebot zu beachten oder auch manche (alle?) Stellen des Alten Testamentes? Darf man auch in der Ablehnung der Tora noch weiter gehen als Jesus? „In solchen Fragen stießen die Anhänger der neuen Lehre immer wieder über Jesus auf das Alte Gesetz und die Frage nach dem Maß der Verbindlichkeit auch seiner Formen: Im Verständnis dieser Stellung Jesu zum Alten Gesetz in Lehre, Verhalten und Methode liegt der Schlüssel zum Wesen des entstehenden Kirchenrechts.”26
Recht ist Beziehungsverhältnis zu andern, ist Ordnung interpersonaler Beziehungen. Durch dieses Beziehungsverhältnis wird ein Raum von Freiheit abgegrenzt, in dem der einzelne sich selbst und seine Freiheit verwirklichen kann. Kirchenrecht
24 L. Buisson, Die Entstehung des Kirchenrechts, in:
Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Kan. Abt.
52 (1966) 1-175, hier: 34 f., im Original gesperrt gedruckt.
25 Vgl. ebd. 8, A. 15.
26 Ebd. 55.
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recht ist also eine christliche Freiheitsordnung.27 Wir erfahren unsere Freiheit als begrenzt und somit geordnet. H. Schürmann hat diese Freiheitsordnung in 6 Punkten entfaltet28:
1. Die neubundliche Ordnung hat einen übergeschichtlichen Ursprung. Schürmann zitiert den Satz von Kant: „Man kann zur Freiheit nicht reifen, wenn man nicht zuvor in Freiheit gesetzt worden ist.”29 Das bedeutet, daß wir durch Gott zunächst geschaffen und so in Freiheit gesetzt sind, in der wir uns selber bewähren müssen. Unsere Freiheit setzt also immer schon ein Handeln Gottes voraus. Und das gilt wohl auch von der Gemeinde; auch sie und ihre Freiheit ist von Gott gesetzt30.
2. Ordnung ist ein Phänomen des Zwischenzustandes. Es muß sie geben, weil das Eschaton schon da ist, aber eben doch auch noch kommt. Schürmann beruft sich für dieses „Schon” und „Doch-noch-nicht” auf Rom 8, 18-2131. „Die
27 Vgl. E.M. Maier, Kirchenrecht als christliche
Freiheitsordnung, in: ÖAKR35 (1985) 282-311.
28 H. Schürmann, Die neubundliche Begründung von Ordnung und
Recht in der Kirche, in: Theologische Quartalschrift 152 (1972)
303-316. Schürmann gibt zunächst eine Beschreibung von Recht, die
möglichst weit ausgreift und jede Begriffsverkürzung (der Fehler
Sohms!) vermeidet: „Als ,Recht’ möchten wir im folgenden
arbeitshypothetisch jede institutionell und verbindlich
geordnete, also nicht charismatisch frei oder willkürlich
gehandhabte Beziehung verstehen, so daß der Begriff des ,Rechts’
einerseits nahe an den der ,Ordnung’ herangerückt ist und
andererseits nicht nur ,horizontal’ — wie profanjuristisch üblich
— zwischenmenschliche Verhältnisse sondern auch ,vertikal’ — in
analogem Verständnis! — das neu-,bundliche' Gottesverhältnis als
,Gottesrecht’ (,Rechtfertigungsrecht’), ,Christusrecht’,
,Geistrecht’ im Blick behält” (ebd. 304 f.).
29 Vgl. ebd. 306.
30 Das Wort hat mit „setzen” und „pflanzen” zu tun. Das
„Gesetzte” ist also eine Festlegung, d. h. etwas Verbindliches
und Dauerhaftes, eben ein Gesetz.
31 „Ich bin überzeugt, daß die Leiden der gegenwärtigen Zeit
nichts bedeuten im Vergleich zu der Herrlichkeit, die an uns
offenbar werden soll. Denn die ganze Schöpfung wartet sehnsüchtig
auf das Offenbarwerden der Söhne Gottes. Die Schöpfung ist der
Vergänglichkeit unterworfen, nicht aus eigenem Willen, sondern
durch den, der sie unterworfen hat; aber zugleich ➝
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Verheißung des Neuen Bundes . . . ist erfüllt und doch auch noch nicht erfüllt.”32
Das neubundliche Ordnungsgefüge ist paradox. „Es entspricht der eschatologischen Zwischenzeit und dem Schon und Noch-nicht der Neuen Diatheke, daß es die Paradoxität von Ordnungen und Rechtsstrukturen gibt, welche die eschatologisch-pneumatische und geschichtlich-soziologische Komponente — paradoxerweise! — zusammenbinden.”33 Dabei sind offenbar vor allem drei Elemente zusammengebunden: die Schöpfung, die Sünde und die Gnade.
4. In der Gemeinde des Neuen Bundes gibt es (neben den veränderlichen) unabänderliche Elemente. Das Eschaton hat sich in irdische Strukturen und Formen historisiert. Es gibt Strukturen in der Kirche, die ein für allemal (ephhápax) und also konstitutiv sind. Es gibt in der Kirche das göttliche Recht, welches so definiert werden kann: „Ius divinum liegt dort vor, wo das einbrechende Eschaton im Wort der apostolischen Verkündigung und in den Sakramenten, ferner in der neubundlichen Gemeinde mit ihren Ordnungen und Diensten vom apostolischen Ursprung her sich in eine unaufgebbare Grundgestalt hinein inkarniert hat.”34
5. Dem neubundlichen Ordnungsgefüge wohnt ein kritisches Prinzip inne. „Rechtsstrukturen von Gnadenordnungen werden immer kritisch gewertet werden müssen, weil sie in dem ,Noch-nicht’ der zu überwindenden Zwischenzeit letztlich ihren Grund haben. Kirchliche Rechtsordnungen als paradoxe Rechtsordnungen haben eschatologische Sprengkraft und pneumatisch-dynamische ,Kritik’ in sich, sind also von ihrem Ursprung her auf ,Auflösung’
➝ gab er ihr Hoffnung: Auch die Schöpfung soll von der
Sklaverei und Verlorenheit befreit werden zur Freiheit und
Herrlichkeit der Kinder Gottes.”
32 Schürmann, Begründung (A. 28) 307.
33 Ebd. 308 f.
34 Ebd. 312.
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angelegt.”35 Im Himmel gibt es weder kirchliche noch staatliche Autorität und ebenso kein Recht mehr.
6. Das Kirchenrecht ist verbal, sakramental und ekklesiologisch verwurzelt. Es wäre nicht richtig, das Recht in der Kirche abzuleiten nach dem Grundsatz: Ubi societas, ibi ius! Zwar muß die Kirche auch innerweltliche Formen und Strukturen in Dienst nehmen, aber sie unterscheidet sich doch von dieser Welt. Insofern leitet man das Recht in der Kirche besser und richtiger von Wort, Sakrament und Grundgestalt der neutestamentlichen Gemeinde ab.36 — Zum Schluß faßt Schürmann seine Meinung über das Kirchenrecht (als einer christlichen Freiheitsordnung) folgendermaßen zusammen: „Freiheit und Ordnung sind im Neuen Bund eschatologische Gegebenheiten und als solche aufeinander bezogen. Das Eschaton ,historisiert’ und vergesellschaftet sich als angeordnete Freiheit und freiheitliche Ordnung in einem. Ordnung etabliert — besonders wo sie (als ius divinum) konstitutiv ist — Freiheit; Freiheit aber dynamisiert kritisch immer neu alle sich als ius ecclesiasticum etablierende Ordnung.”37
Nach den erkenntnistheoretischen Reflexionen zum Recht im Neuen Testament und der Entstehung des Rechts aus der christlichen Rechtserfahrung soll eine bibeltheologische
35 Ebd. 313.
36 Vgl. ebd. 314-316.
37 Ebd. 316.
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Zusammenfassung38 des Rechts39 im Neuen Testament versucht werden.
Überschaut man die vielfältigen Weisen, mit denen man sich so oder so mit Recht im Neuen Testament befaßte und auseinandersetzte, so kommt man zu drei Kategorien von Recht: „Als erstes sind da diejenigen Rechtsfälle zu nennen, die wir heute unter das Privat- und Zivilrecht subsumieren würden. Es handelt sich dabei um rechtswidriges Verhalten einer Person gegenüber einer anderen. Daneben kennt das NT aber auch solche Delikte, die gegen die Sitten- oder Gemeinschaftsordnung verstoßen. Wir würden heute diese Fälle als Strafdelikte, als solche öffentlich rechtlicher Natur bezeichnen. Und schließlich findet sich eine dritte Kategorie von Fällen, bei denen es um das Problem der rechten Lehre, um Orthodoxie und Häresie, geht.”40
38 Vgl. I. Broer (Hg.), Jesus und das jüdische Gesetz,
Stuttgart 1992; O. Heggelbacher, Geschichte des frühchristlichen
Kirchenrechts bis zum Konzil von Nizäa 325, Freiburg (Schweiz):
Universitätsverlag 1974; W. Kirchschläger, Die Anfänge der
Kirche. Eine biblische Rückbesinnung, Graz: Styria 1990; E.
Kohlmeyer, Charisma oder Recht? Vom Wesen des ältesten
Kirchenrechts, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für
Rechtsgeschichte, Kan. Abt. 38 (1952) 1-36; G. Lohfink, Wie hat
Jesus Gemeinde gewollt? Freiburg i. Br. 1982; S. Meurer, Das
Recht im Dienst der Versöhnung und des Friedens. Studie zur Frage
des Rechts nach dem Neuen Testament, Zürich: Theologischer Verlag
1972; P. Mikat, Zu Bedingungen des frühchristlichen
Kirchenrechts, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für
Rechtsgeschichte, Kan. Abt. 64 (1978) 309-320; A.M. Ritter, Recht
und Einheit der Kirche in den ersten Jahrhunderten, in:
Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht 36 (1991) 1-17; R.
Schnackenburg, Die Kirche im Neuen Testament, Freiburg i.Br.
1961; D. Stoodt, Wort und Recht, München 1962, 38-87; A.
Vögtle/L. Oberlinner, Anpassung oder Widerspruch. Von der
apostolischen zur nachapostolischen Kirche, Freiburg i.Br.
1992.
39 Es geht hier nicht um exegetische Zusammenfassungen als
solche, sondern um Zusammenfassungen, die unter dem
besonderen Aspekt des Rechts stehen. Es wird in dem
vorliegenden Paragraphen gleichsam mit den Augen des Kanonisten
auf das Neue Testament gesehen.
40 Meurer, Recht (A. 38) 42. Die Hl. Schrift berichtet einige
Fälle, in denen Gott unmittelbar eingreift und Recht
schafft. In diesen Fällen ➝
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1. Das Recht im Dienste der Wiederherstellung des Friedens
Wenn hier von Privat- bzw. Zivilrecht geredet wird, dann werden natürlich moderne Begriffe in das Neue Testament hineingetragen. Die Hl. Schrift kennt diese nicht, weil sie ja — wie bemerkt — keine systematische Abhandlung zum Thema Recht hat. Sie erzählt aber konkrete Einzelfälle auf, von denen ich hier einige41 wiedergeben möchte.
a) Mt 18, 1-5; 18, 6-9.12-14
In Mt 18,1-5 wird die Gemeinde ermahnt, von Prestige- und Rangdenken Abschied zu nehmen. „Wer also sich klein macht wie dieses Kind, der ist der Größte im Himmelreich” (Mt 18, 4). Solche Umkehr ist deshalb wichtig, weil jenes Prestige- und Leistungsdenken den inneren Frieden einer Gemeinschaft zersetzt.
In Mt 18, 6-9 gent es um eine Schutzmaßnahme zugunsten der Gemeinde.42 Wer die Kleinen, d.h. die Schwachen im Glauben (die sogenannten „rudes” der Scholastik) irre macht, der muß aus der Gemeinde entfernt werden. „Wer aber einem von diesen Kleinen, die an mich glauben, Anlaß zum Bösen gibt, für den wäre es das beste, es würde ihm ein Mühlenstein um den Hals gehängt, und er würde in die Tiefe des Meeres versenkt” (Mt 18, 6).
In Mt 18, 12-14 Wird betont, daß die Schutzmaßnahme
➝ übernimmt er also gleichsam selbst die Rechtsprechung
und überläßt sie nicht seiner Kirche. Hierher wird man die
folgenden Stellen zu rechnen haben: Apg 12, 19b-23 (der Tod des
Herodes Agrippa), Apg 13, 8-11 (der Zauberer Elymas), Apg 5, 1-11
(der Betrug des Hananias und der Saphira).
41 Es kann in unserem Zusammenhang nicht darum gehen,
alles Recht im Neuen Testament zusammenzufassen. Ein solches
Unterfangen ginge über den Sinn des Buches und über die Kompetenz
des Verfassers hinaus. Es werden also hier nur einige
exemplarische Fälle aufgezählt.
42 Vgl. C. Kahler, Kirchenleitung und Kirchenzucht nach Matthäus
18, in: K. Kertelge/T. Holtz/C.-P. März (Hg.), Christus bezeugen
(= FS Trilling), Freiburg i.Br. 1990, 136-145.
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zugunsten der Gemeinde sich verbinden lassen muß mit der Sorge für den Einzelnen. Der Hirte läßt die 99 Schafe zurück, um das eine zu suchen.
„Sieht man Mt 18, 6-9 und Mt 18, 12-14 im Zusammenhang, wozu man berechtigt ist, weil diese Verse in einer ,Gemeindeordnung’ stehen, so ergeben beide Abschnitte interessante Hinweise für die Rechtsvorstellung, die für das N.T. charakteristisch ist. Es ist zunächst der Schutzgedanke, der in der Jurisprudenz als ,défence social’ eine wichtige Rolle spielt. Die Gemeinde muß sich entscheiden, wenn durch einzelne das Heil der Gesamtgemeinde bedroht ist. Sie muß sich in solchen Fällen förmlich von derartigen Verführern trennen. Andererseits tritt neben diesen Schutzgedanken die Resozialisierung, die um das Individuum besorgt ist. Das Schicksal des ,Verirrten’ ist ihr verantwortlich aufgegeben. Das Bemühen muß sein, diesen wieder für die Gemeinschaft zu gewinnen, also zu resozialisieren und zu rehabilitieren.”43
b) Mt 18, 15-17
Mt 18, 15-1744 gibt uns einen Hinweis, wie sich Matthäus die Beilegung von Auseinandersetzungen zwischen Christen denkt. Fraglich ist, worin die Verfehlung des Bruders besteht. Aber auch dann, wenn man die Sünde nicht genauer bestimmen kann, bleibt die Perikope lehrreich. Sie zeigt nämlich erstens, daß Matthäus sich ihm bekannter gerichtlicher Formen bedient hat. Die Perikope zeigt aber auch, daß Matthäus die gerichtlichen Formen nur benutzt, um in geistlicher und seelsorglicher Weise — durch Ermahnung — den verirrten Bruder wieder zu gewinnen.
43 Meurer, Recht (A. 38) 48.
44 „Wenn dein Bruder sündigt, dann geh zu ihm und weise ihn unter
vier Augen zurecht. Hört er auf dich, so hast du deinen Bruder
zurückgewonnen. Hört er aber nicht auf dich, dann nimm einen oder
zwei Männer mit, denn jede Sache muß durch die Aussage von zwei
oder drei Zeugen entschieden werden. Hört er auch auf sie nicht,
dann sag es der Gemeinde. Hört er aber auch auf die Gemeinde
nicht, dann sei er für dich wie ein Heide oder ein
Zöllner.”
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2. Versöhnung, nicht Vergeltung
Bisher wurde festgestellt, daß Jesus am religiösen Recht durchaus nicht uninteressiert ist. Wie ist diese Schlußfolgerung nun aber zu vereinen mit Stellen wie den folgenden: Mt 7, 145, Mt 5, 25 f.46 und Mt 5, 38-4247? Man wird diese Objektionen entschärfen können, wenn man bedenkt, daß Matthäus (und durch seine Worte hindurch: Jesus) nicht jedwedes Recht bejaht, sondern nur ein ganz bestimmtes. Das Ziel des Rechtes muß sein, Ausgleich zu schaffen, Versöhnung zu bringen, Frieden zu erreichen. All das vermochte das weltliche Recht nicht. Deshalb wird es abgelehnt. Aus Mt 7, 1 u.ä. spricht eine Skepsis gegen das damalige Rechtsdenken. Der damalige Prozeß vertiefte Gegensätze. Das Gerichtsverfahren jener Zeit sprach den einen schuldig, den anderen unschuldig, statt zu versöhnen. Dadurch wurden Feindschaften vertieft, die doch aufgehoben werden sollten. „Jesus stellt dagegen ein anderes Recht, das ,Nächstenrecht’, dem es um die Erhaltung der Bruderschaft, um Versöhnung geht. Sein Ziel ist die Vermeidung der rechtlichen Auseinandersetzung.”48
45 „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet!”
46 „Schließ ohne Zögern Frieden mit deinem Gegner, solange du mit
ihm noch auf dem Weg zum Gericht bist. Sonst wird dich dein
Gegner vor den Richter bringen, und der Richter wird dich dem
Gerichtsdiener übergeben, und du wirst ins Gefängnis geworfen.
Amen, das sage ich dir: Du kommst von dort nicht heraus, bis du
den letzten Pfennig bezahlt hast.”
47 „Ihr habt gehört, daß gesagt worden ist: Auge für Auge und
Zahn für Zahn. Ich aber sage euch: Leistet dem, der euch etwas
Böses antut, keinen Widerstand, sondern wenn dich einer auf die
rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin. Und wenn
dich einer vor Gericht bringen will, um dir das Hemd wegzunehmen,
dann laß ihm auch den Mantel. Und wenn dich einer zwingen will,
eine Meile mit ihm zu gehen, dann geh zwei mit ihm. Wer dich
bittet, dem gib, und wer von dir borgen will, den weise nicht
ab.”
48 Meurer, Recht (A. 38) 69.
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Neben dem rechtswidrigen Verhalten einer Person gegenüber einer anderen kennt das Neue Testament auch Delikte gegen die Sitten- und Gemeinschaftsordnung, die wir heute Strafdelikte öffentlich rechtlicher Natur zu nennen pflegen.
1. Der Unzuchtsfall von 1 Kor 5
Es ist früher behauptet worden, daß bei besonders schweren Delikten die Kirche der Meinung war, Gott selbst müsse eingreifen.49 Auch Paulus wußte um diese Meinung. So glaubt er, die Krankheiten und Todesfälle in Korinth seien die göttliche Strafe für das Vergehen gegen das Sakrament (vgl. 1 Kor 11, 30 f.). „Obwohl Paulus darum weiß, hindert ihn das nicht, in bestimmten Fällen rechtliche Entscheidungen zu fällen und gegen schwere Vergehen vorzugehen.”50 Das zeigt etwa 1 Kor 5. Welches Vergehen lag dort vor? In Frage kommen verschiedene Delikte. Wie auch immer, das Vergehen scheint so schwer, daß Paulus in ihm keine Kleinigkeit sieht. Weil es sich um ein so schweres Vergehen handelt, deshalb soll die Gemeinde auch am Urteilsspruch beteiligt werden. Man wird sich das ganze so vorzustellen haben: „Er, der Apostel, nimmt die Rolle in der Gemeindeversammlung wahr, die dem Propheten als ,Künder des heiligen Rechts’ (Käsemann) zusteht, und fällt sein Urteil, das, weil es ein Urteil kraft des Pneumas ist, von der Gemeinde, die ja auch den Geist bei sich hat, per Akklamation bestätigt wird.”51 Dieses sogenannte heilige Recht ist durchaus nicht etwas Luftiges und Imaginäres; vielmehr ist es ganz konkret anwendbares Recht: „Den Bösen schaffet aus eurer Mitte!” (1 Kor 5, 13).
2. Strafen in christlicher Sicht (2 Kor 2, 5-11; 7, 8-12)
49 Vgl. Apg 12, 19b-23, Apg 13, 8-11, Apg 5, 1-11.
50 Meurer, Recht (A. 38) 117.
51 Ebd. 122.
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Hinter den Versen steht ein Streitfall, der zur Bestrafung eines Gemeindemitgliedes geführt hat. Nun genügt aber die Strafe. „Jetzt sollt ihr lieber verzeihen und trösten, damit der Mann nicht von allzu großer Traurigkeit überwältigt wird” (2 Kor 2, 7). Aus dieser Bestrafung und der anschließenden Versöhnung lassen sich einige Prinzipien christlichen Strafens ableiten:
a) Es gibt ein rechtswidriges Handeln einer Person gegenüber einer anderen, das der Gemeinschaft nicht gleichgültig sein kann. Offenbar hat der Schuldige in Korinth zunächst nur Paulus geschädigt. Paulus möchte aber, daß die Gemeinde als solche sich einschaltet. „Wenn aber einer Anlaß zur Betrübnis gab, so hat er nicht mich betrübt, sondern mehr oder weniger — um nicht zu übertreiben — euch alle” (2 Kor 2, 5).
b) Menschliche Strafe kann nie etwas Unwiderrufliches und Endgültiges sein. „Wer straft, muß dem Bestraften die Möglichkeit einräumen, Buße zu tun.”52
c) Rechtes Strafen setzt ein hohes Maß an Weisheit und Einsicht voraus. Vor allem muß der Strafende wissen, daß die Strafe den Bestraften zur Erkenntnis seiner Schuld führen soll. „Juristisch ausgedrückt, heißt das: Ziel der Strafe muß die volle Resozialisierung sein.”53
d) Wenn der Strafende sich in christlicher Weise um den zu Bestrafenden kümmert — gerade indem er ihn bestraft und so zur Buße und Einsicht führt — kettet er sich an den Bestraften und bleibt schicksalhaft mit ihm verbunden. „Das meint wohl auch das Wort des jüdischen Rechtsphilosophen Maimonides (1135-1204): ,Wenn du nun jemanden strafst, so machst du ihn zu deinem Bruder’.”54
52 Ebd. 135.
53 Ebd. 139.
54 Ebd. 138.
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Die letzte Kategorie, bei der es in der Hl. Schrift um Recht geht, ist das Problem der rechten Lehre, das Problem von Orthodoxie und Häresie.
Paulus und die übrige neutestamentliche Literatur (außer den Pastoral- und Johannesbriefen) verzichten im allgemeinen auf harte Strafmaßnahmen gegen Irrlehrer. „Paulus setzt sich mit den Ketzern auseinander, er warnt sie, verweist auf das Endgericht und empfiehlt der Gemeinde allenfalls, sie zu meiden.”55
Das wird anders in den Pastoralbriefen. Bei der Lektüre bestimmter Stellen hat man den Eindruck, daß Diskussionen, Dispute und Lehrstreitgespräche unterbleiben sollen (vgl. 1 Tim 1, 19; 2 Tim 3,8; 2 Tim 2, 18 u.a.). Neu ist nun auch, daß das Mittel der Abschreckung eingesetzt wird. Im krassen Gegensatz zu Mt 18, 15 ff. soll der Sünder sofort „coram publico” zurechtgewiesen werden. „Die sich vergehen, weise vor allen zurecht, damit auch die übrigen sich fürchten” (1 Tim 5, 20). „Neben das Ziel, die Gemeinde zu bewahren und den Sünder in die Gemeinschaft zurückzuführen, tritt nun die Abschreckung.”56
In diesem Paragraphen soll nur ein kurzer Überblick gegeben werden, in dem gezeigt wird, daß das Neue Testament Elemente einer Amtslehre enthält.57 Es gab im Neuen Testament
55 Ebd. 159.
56 Ebd. 163 f.
57 Vgl. K. Kertelge (Hg.), Das kirchliche Amt im Neuen Testament,
Darmstadt 1977; G. Lohfink, Weibliche Diakone im Neuen Testament,
in: G. Dautzenberg/H. Merklein/K. Müller (Hg.), Die Frau im
Urchristentum, Freiburg i.Br. 1983, 320-338; J. Mühlsteiger, Zum
Verfassungsrecht der Frühkirche, in: Zeitschrift für katholische
Theologie 99 (1977) 129-155, 257-285; J. Roloff,
Apostel/Apostolat/Apostolizität I, in: Theologische
Realenzyklopädie III, Berlin 1978, 430-445; A. Vögtle, Die
Dynamik des ➝
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also nicht, wie Sohm meinte, eine pneumatische Anarchie, in der alles dem Charisma überlassen war. Vielmehr gab es eine Grundstruktur der Gemeinde, die feste Institutionen enthielt.
Weil man zunächst glaubte, Christus werde bald wiederkommen, hatte man in der Urkirche wenig Interesse an Recht und Verfassung. Nun blieb aber die Parusie aus. „Das Kommen Christi wird im Bewußtsein der Christen immer mehr zu einem entfernteren Ereignis, mit der Konsequenz, daß auch das Gemeindeleben sich nach diesen Gegebenheiten einrichtete. Diese ,Zwischenzeit’ forderte die Ausbildung von Formen und Ordnungen, die eine Entwicklung bis hin zu einer Verfassung der kirchlichen Gemeinde auslöste”.58 Was die Verfassung betrifft, so bildete sich eine Trias heraus, die aus Aposteln, Propheten und Lehrern bestand.59
Ohne auf die Vollmacht dieser Amtsträger im einzelnen einzugehen, kann gesagt werden, daß hier wirkliche Amtsstrukturen vorlagen.
Es kann freilich nicht verschwiegen werden, daß unsere Kenntnisse über das, was z.B. mit dem Begriff des Apostels gemeint war, noch immer recht dürftig sind. „Entgegen einer noch weitverbreiteten und auch immer wieder geäußerten Meinung ist darauf hinzuweisen: Wenn wir im Blick auf das Neue Testament von ,Aposteln’ sprechen, dann befinden wir uns nur scheinbar auf sicherem historischen Boden.”60
Wenn unsere Kenntnisse der sogenannten apostolischen Zeit dürftig sind, dann hängt dies vor allem damit zusammen,
➝ Anfangs. Leben und Fragen der jungen Kirche, Freiburg
i.Br. 1988; A. Vögtle/L. Oberlinner, Anpassung oder Widerspruch.
Von der apostolischen zur nachapostolischen Kirche, Freiburg
i.Br. 1992.
58 Mühlsteiger, Verfassungsrecht (A. 57) 129.
59 Vgl. ebd. 257.
60 L. Oberlinner, Die Apostel und ihre Nachfolger, in:
Vögtle/Oberlinner, Anpassung (A. 57) 9-39, hier: 14.
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daß der Begriff der „apostolischen Zeit” bzw. der „apostolischen Kirche” häufig dazu dienen soll, den eigenen Ursprung und den eigenen Standort zu verdeutlichen. „Was den Apostel aus der nachapostolischen Zeit ausmacht, das hängt zwar ab von der Bedeutung, die ihm/ihnen für die Vergangenheit zugeschrieben wird; inhaltlich wird diese Bedeutung aber bestimmt vom Anliegen der späteren, der sogenannten nachapostolischen Zeit her. Man kann also formulieren: Nicht die Apostel wählen und bestimmen ihre Nachfolger, sondern die Christen der zweiten und dritten Generation wählen sich ihre Apostel als Vorgänger bzw. als Garanten ihres Glaubens, ihrer Gemeindeordnung und ihres Kirchenverständnisses.”61
Selbstverständlich zeigen die Pastoralbriefe62 (1 Tim, 2 Tim, Tit) eine spätere, schon ausgereiftere Ordnung in den Gemeinden. Bei dieser Ordnung nach den Pastoralbriefen wird unterschieden zwischen dem Dienst des Apostels, dem Dienst des Apostelschülers und den lokalen Ämtern.
Wenn man die Gewalt des Apostels nach den Pastoralbriefen zusammenfassen will, so kann man es in 4 Punkten tun:
1. „Er bildet und lehrt das normierende ,Urbild’ der Tradition, die apostolische ,Hinterlassenschaft’, die maßgebende Lehrsubstanz des Evangeliums, und übt die kritisch
61 Ebd. 38 f.
62 Vgl. N. Brox, Die Pastoralbriefe, Regensburg 51989;
G. Lohfink, Die Normativität der Amtsvorstellungen in den
Pastoralbriefen, in: Theologische Quartalschrift 157 (1977)
93-106; L. Oberlinner, Anpassung oder Widerspruch? Die
christliche Gemeinde am Beginn des 2. Jahrhunderts nach den
Pastoralbriefen, in: Vögtle/Oberlinner, Anpassung (A. 57) 92-114;
H. Schlier, Die Ordnung der Kirche nach den Pastoralbriefen, in:
ders., Die Zeit der Kirche, Freiburg i.Br. 1956, 129-147; J.
Schmid, Pastoralbriefe, in: LThK VIII (1963) 155-158; W. Werbeck,
Pastoralbriefe, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart V,
Tübingen 31961, 144-148.
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bewahrende Funktion des Wächters über diese urbildliche Lehre aus”.63
2. Der Apostel „ordnet prinzipiell und praktisch Angelegenheiten des Kultus und der Dienste in der Kirche und regelt das Leben und Wirken seiner Gehilfen”.64
3. Der Apostel „übt das Bußgericht an Gliedern der Gemeinde”.65 Dafür haben wir wenigstens den folgenden Fall (1 Tim 1, 19 f.): „Bewahre den Glauben und das gute Gewissen, das einige weggeworfen und dadurch Schiffbruch im Glauben gelitten haben, darunter Hymenäus und Alexander, die ich dem Satan überantwortet habe, damit sie durch solche Zucht sich gewöhnen, nicht mehr zu lästern.”
4. Der Apostel „vermittelt durch Handauflegung dem zu seinem Vertreter designierten Schüler die Amtsgnade, mit andern Worten: er ,ordiniert’.”66 Dafür haben wir gleich mehrere Stellen: 2 Tim 1, 6; 1 Tim 4, 14; 2 Tim 2, 2.
Auch die Apostelschüler haben Amt und Gewalt. Der Unterschied freilich zwischen ihnen und dem Apostel muß beachtet werden. Die Apostelschüler sind nicht unmittelbar von Christus berufen und eingesetzt worden, sondern mittelbar durch den Apostel. Außerdem treten an die Stelle der Apostel mehrere Nachfolger, die nicht mehr dem gesamten apostolischen Kirchengebiet vorstehen, sondern einzelnen Teilen. In ihrem Kirchengebiet allerdings sind Timotheus und Titus vom Apostel autorisierte und delegierte Vertreter, welche die apostolische Lehre und Anordnung zu bewahren und durchzuführen haben.
Neben dem Apostel und den Apostelschülern gibt es in den lokalen Gemeinden noch die Presbyter und Episkopen, ferner die Diakone und Witwen.67
63 Schlier, Ordnung (A. 62) 137.
64 Ebd.
65 Ebd.
66 Ebd.
67 Ebd. 144-146.
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Erstaunlich ist, daß in der kurzen Zeit zwischen der Abfassung der Paulusbriefe und den Pastoralbriefen die Gemeinde und die Charismatiker völlig in den Hintergrund getreten sind. „Weder Lehr-, noch Regierungs- noch Weihegewalt liegen in den Händen der Gesamtgemeinde und werden auch nicht von Gemeindemitgliedern als von erwählten Vertretern ausgeübt.”68 Die Gemeinde betet (1 Tim 2, 1; 2, 8), hört (1 Tim 4, 16) und übt karitative Tätigkeit aus (1 Tim 5, 10; 6, 17 ff.). Auch die Charismatiker der Gemeinde verlieren an Bedeutung. Von den Propheten findet sich eine Andeutung in 1 Tim 1, 18 und 4, 14. „Sie haben auf Timotheus als den geeigneten Empfänger des Bischofsamtes hingewiesen und damit nach altchristlicher Anschauung das iudicium dei ausgeübt, das von Paulus anerkannt wurde.”69 Damit scheint ihre Tätigkeit erschöpft.70
68 Ebd. 146 f.
69 Ebd. 147.
70 Insgesamt kann man die in den Pastoralbriefen entwickelte
Amtsstruktur folgendermaßen kennzeichnen: „Die in den
Pastoralbriefen entwickelte Gemeindestruktur ist darauf
ausgerichtet, die Sicherung der Lehre für die Zukunft zu
garantieren. Es schält sich das Bild einer Gemeinde heraus, die
sehr stark mit sich selbst beschäftigt ist, die zugleich
verunsichert ist und sich deshalb eher in einer Art
Verteidigungsstellung befindet” (Oberlinner, Anpassung [A. 62]
105).