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In dem Maße, in dem Sohms Arbeiten (auch von Katholiken) rezipiert werden und in dem Maße, da der zeitliche Abstand zu Sohm wächst, tritt die katholische Auseinandersetzung mit Sohm in eine neue und komplexere Phase. Dieser neue Abschnitt läßt sich kennzeichnen durch die Namen von Barion, Klein und Böckenförde.
Der katholische1 Professor für Kirchenrecht Hans Barion (1899-1973) hat sich zeitlebens mit Sohm beschäftigt.2 Barion verstand sich selber als getreuer Sachwalter Rudolph Sohms.3 „Carl Schmitt nannte ihn [scil. Barion] einen Juristen vom Range Rudolph Sohms, einen der großen universalen Forscher und Lehrer der Rechtswissenschaft, Sohms legitimen Nachfolger von der römisch-katholischen Seite her.”4
1 Vgl. W. Böckenförde, Der korrekte Kanonist. Einführung
in das kanonistische Denken Barions, in: Barion 1-23, hier: 1.
Barion hat selbstverständlich auch in die evangelische Kirche
hineingewirkt (vgl. A. Janssen, Hans Barions Werk als Anfrage an
das evangelische Kirchenrecht, in: Zeitschrift für evangelisches
Kirchenrecht 35 [1990] 357-382).
2 Ein Verzeichnis der Schriften Barions findet sich in: Barion
681-691.
3 Vgl. H. Barion, Aufgabe und Stellung der katholischen Theologie
in der Gegenwart, in: Barion 649-678, hier: 660.
4 Böckenförde, Der korrekte Kanonist (A. 1) 22.
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Für die Wirkung des Leipziger Juristen nennt Barion drei Gründe. Der „erste ist die streng logische Geschlossenheit seiner Gedanken. In den großen Bänden seines Kirchenrechts und seiner Forschungen über Gratian sowohl wie in den sie begleitenden Einzeluntersuchungen ist die Fülle der Tatsachen nicht formlos aufeinander gehäuft, sondern der spröde Stoff wird auf wenige Thesen zurückgeführt und von ihnen aus gemeistert, auf Thesen, die nicht in unbeholfener Weise vorangestellt oder am Ende zusammengefaßt sind, sondern die wie von selbst aus der Ausbreitung des Materials erwachsen.”5 Der zweite Grund für die Wirkung von Sohms Schriften liegt (nach Barion) in der Ergriffenheit seiner religiösen Überzeugung. Nur darf diese Tatsache nicht so verstanden werden — Stutz hat diese falsche Interpretation vertreten —, daß Sohms kirchenrechtliche „Ansichten nur die gelehrte Verkleidung, gleichsam der wissenschaftliche Überbau seiner religiösen seien. Von dieser Auffassung ist nur ein einziger Schritt zu der Bewertung des unstreitigen Erfolges der Forschungen Sohms als weniger wissenschaftlich denn gefühls- und stimmungsmäßig bedingt. Holstein betont gerade diesen Gedanken”.6 Das dritte Moment für Sohms großen Anklang liegt (nach Barion) in der Übereinstimmung mit der Zeitströmung. Freilich heißt das nicht, daß in seinen Thesen nur Gefühl und Stimmung Gestalt gewonnen hätten. „Der Widerspruch gegen seine Thesen kann nur mit den Mitteln einer wissenschaftlichen Diskussion begründet werden.”7
Ein Versuch, Sohm zu interpretieren, geht (nach Barion) sehr häufig von der juristischen Ebene aus. Sohm „sieht den
5 H. Barion, Rudolph Sohm und die Grundlegung des
Kirchenrechts, Tübingen 1931, 5.
6 Ebd. 6.
7 Ebd. 8.
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großen Mißgriff in der Anwendung der juristischen Methode auf das Kirchenrecht. Sie habe ihm den Begriff des einerlei Kirchenrechts gebracht, also eine Auffassung, nach der das Kirchenrecht immer gleich gewesen sei, von den Zeiten der Apostel bis auf den heutigen Tag, so daß es sich bei seiner Geschichte nur um materielle, nicht um formelle Unterschiede handele. Man könne nach der juristischen Methode dem katholischen und protestantischen Kirchenrecht einen gemeinsamen Teil, ein allgemeines oder christliches Kirchenrecht, ein Kirchenrecht in genere vorausschicken.”8 Sohm dagegen betont (so Barion) ein doppeltes Recht, ein geistliches und ein weltliches. Das Recht in der Kirche bis zum 12. Jahrhundert z.B. war geistliches Recht, das Recht in der protestantischen Kirche war weltliches Kirchenrecht, ja schließlich sogar staatliches Religionsgesellschaftsrecht.9 Barion möchte die Diskussion auf der juristischen Ebene zunächst nicht fortführen.10 Er schließt die Diskussion aber nicht, ohne vor einem Mißverständnis zu warnen. Wenn man Sohm „so verstehen wollte, als ob der Inhalt des Kirchenrechts dem Wesen der Kirche widerspreche, würde man sich den Weg zu ihm völlig verbauen. Kirche und Recht sind darum unversöhnlich, weil religiöse Wahrheiten rechtliche Strukturen nicht annehmen können, ohne ihr innerstes Wesen aufzugeben.”11 Bei der Interpretation Sohms möchte Barion vom Kirchenbegriff ausgehen. Nach Barion unterscheidet Sohm zwischen der sichtbaren und unsichtbaren Kirche.12 Das Urchristentum und die katholische Kirche identifizieren beide Kirchen.13 „Diese Lage fand Luther vor, und es war seine große Tat, die aber fast schon zu seinen
8 Ebd. 9.
9 Vgl. ebd. 10.
10 Er wird sie später wieder aufnehmen (vgl. H. Barion, Der
Rechtsbegriff Rudolph Sohms, in: Deutsche Rechtswissenschaft 7
[1942] 47—51).
11 Barion, Rudolph Sohm (A. 5) 12 f.
12 Vgl. ebd. 13.
13 Vgl. ebd. 14.
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Lebzeiten in Vergessenheit geriet, daß er diese glaubenswidrige Bindung des Gewissens durch das Recht beseitigte und die Freiheit des Christenmenschen wieder herstellte. Er entzog dem Recht in der Kirche überhaupt jeden Boden, indem er das proton pseudos, die Gleichsetzung von Kirche im Glaubenssinn und Kirche im Rechtssinn beseitigte.”14
Wie kann Sohm nun widerlegt werden?15 Nach Barion trifft man zunächst auf die Meinung, Sohm sehe die Kirche deshalb im Widerspruch mit dem Recht, „weil er die Erzwingbarkeit für das konstituierende Element des Rechtes halte”.16 Man versucht dann nachzuweisen, der Rechtszwang sei kein Wesensmerkmal des kirchlichen Rechts und glaubt so, Sohm überwunden zu haben. In Wirklichkeit „sagt Sohm an mehr als einer Stelle ganz deutlich, daß die Erzwingbarkeit nicht zum Wesen des Rechtes gehöre, und hält das jetzige Kirchenrecht des Katholizismus, dem sicherlich nicht die Erzwingbarkeit im eigentlichen Sinne eignet, für ebenso verwerflich wie irgendeine seiner früheren Formen”.17 Ein weiterer Versuch, Sohm zu widerlegen (man darf diese Kritik vielleicht die rechtslogische nennen), argumentiert damit, daß nach Sohm selbst das Kirchenrecht eine eiserne Notwendigkeit ist. Wenn es aber notwendig ist, wie kann es dann dem Wesen der Kirche widersprechen? „In
14 Ebd. 17.
15 Die Widerlegung Sohms kann stets nur in einem abgeschwächten
bzw. übertragenen Sinn verstanden werden. Die Gedanken Sohms sind
(trotz aller Kritik) so weitgehend in der evangelischen und
katholischen Kirche rezipiert worden, daß der bekannte Staats-
und Völkerrechtslehrer Carl Schmitt (Plettenberg) einmal den Vers
dichten konnte: „Im Kampf um Rom siegt Rudolph Sohm” (vgl.
Böckenförde, Der korrekte Kanonist [A. 1] 22). Auch dies gilt es
zu bedenken: Es ist ein Gebot intellektueller Redlichkeit, alles,
was in der Meinung des Gegners an Wahrheitsgehalt enthalten ist,
bis aufs Letzte anzuerkennen. Nur so kann es zu einem gemeinsamen
Gespräch zwischen Sohm und der katholischen Kirche kommen über
die gemeinsame Sache, eben die Grundlegung des Kirchenrechts.
16 Barion, Rudolph Sohm (A. 5) 18.
17 Ebd. 18 f.
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Wirklichkeit beruht nach Sohm die Notwendigkeit des Kirchenrechts auf dem falschen Ansatz; wenn man mit Luther Kirche im Glaubenssinn und Kirche im Rechtssinn unterscheidet, dann fällt diese Notwendigkeit.”18 Harnack, Troeltsch u.a. haben an Sohm eine rechtssoziologische Kritik geübt. Im Grunde genommen wollen sie den Kirchenbegriff von Sohm ad absurdum führen. Sein Kirchenbegriff sei ein nicht zu erreichendes Ideal und eine Utopie.19 Noch eine letzte Gruppe wird von Barion vorgeführt, die sich mit Sohm auseinandersetzt, ohne ihn wirklich zu überwinden. Jacobi, Mayer, auch Stutz und Holstein möchten Sohms Sätze für ein bestimmtes Gebiet der Kirchenverfassung annehmen, für ein anderes ablehnen. Jacobi und Mayer hatten das bei der Herausgabe des zweiten Bandes von Sohms Kirchenrecht so ausgedrückt: „Dabei mag sie [die anstehende Veröffentlichung] insbesondere auch dazu dienen, das Mißverständnis zu beseitigen, das Sohms bekanntem Satze widerfahren ist von dem Widerspruch des Kirchenrechts mit dem Wesen der Kirche. Dieses Wesen liegt ihm, wie hier klar erkennbar ist, in der unsichtbaren Kirche, der Kirche Christi, der sich versammelnden Christenheit, in der Christus wirksam gegenwärtig ist und der Geist Gottes. Was man gewöhnlich Kirche nennt, ist nur ihr Kleid. Daran mag sich menschliche Ordnungsweisheit versuchen, wenn sie nur jene Hauptsache nicht meistern will.”20 Die Frage ist nur, wie man die Grenzen zwischen „Körper” und „Kleid” bzw. zwischen Rechts- und Geistkirche finden kann. Und dann: „Der Schnitt zwischen Geistkirche und Rechtskirche bedeutet eine Abgrenzung der beiden Kirchen auf gleicher, nämlich christlicher Ebene, und setzt die Aufspaltung der Kirche in eine sichtbare und eine unsichtbare voraus. Für Sohm dagegen ist die Kirche im Rechtssinn eine Konstruktion des öffentlichen
18 Ebd. 19.
19 Vgl. ebd. 19 f.
20 KR II, S. V.
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Rechts, die auf alle möglichen Kirchen und auch auf die Kirche im Glaubenssinn paßt, sei sie rechtlich organisiert oder nicht. Die Kirche im Glaubenssinn ihrerseits kann und muß eine Ordnung annehmen, eine Ordnung, die nicht an einer bestimmten Stelle Halt macht und sich um die Geistkirche legt wie die feste Schale eines Planeten um den ungeformten, feuerflüssigen Kern, sondern die alle Lebensäußerungen der Kirche im Glaubenssinn erfaßt und diszipliniert. Diese Ordnung kann jeden Inhalt haben, könnte sogar das katholische Kirchenrecht mit allen seinen Sätzen übernehmen, sofern sie nur die Freiheit des Christenmenschen nicht antastet. Das aber tut sie, wenn sie unbedingt Geltung beansprucht und auch die aus persönlicher Gewissensüberzeugung hervorgehende Abweichung als dogmatisch unzulässig verwirft.”21 — Auf welcher Ebene also soll Sohm widerlegt werden? Eindeutig auf der theologischen. Sohms Kirchenrecht ist die Folgerung „aus den evangelischen Grundsätzen über die Freiheit eines Christenmenschen”.22 Der Glaube bestimmt den Kirchenbegriff; dieser das Kirchenrecht.23 Ein Beispiel: Für Sohm ist die identische Fortdauer der Kirche im Glaubenssinn gegeben (auch wenn im Laufe der Geschichte die verschiedensten Auffassungen des Glaubens vertreten werden), wenn in Glaubensüberzeugungen nicht der Verstand, sondern der Wille wesentlich ist. Wer Christ sein will, der ist es auch. Für Sohm „ist die fides, quae creditur, nichts, die fides, qua creditur, alles”.24 „Damit ist das Resultat unserer
21 Barion, Rudolph Sohm (A. 5) 23 f.
22 Ebd. 25.
23 Vgl. ebd. 26. „Das Problem der Grundlegung des Kirchenrechts
liegt nach Sohm nicht im Bereich der Rechtswissenschaft, sondern
in dem der Theologie, in ihrem Begriff von Kirche. Das
Kirchenrecht ist demnach eine Funktion des Kirchenbegriffs. Damit
ist auf die Ebene des Glaubens verwiesen: Der Glaube bestimmt den
Kirchenbegriff, der Kirchenbegriff das Kirchenrecht”
(Böckenförde, Der korrekte Kanonist [A. 1] 4 f.).
24 Barion, Rudolph Sohm (A. 5) 25.
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Erörterungen gegeben. Sie laufen aus in eine Selbstbescheidung des Juristen zugunsten des Theologen.”25
Obwohl die Diskussion mit Sohm (um eine Grundlegung des Kirchenrechts) letztlich nicht auf der juristischen, sondern auf der Ebene des Glaubens und der Kirche (das Kirchenrecht ist eine Funktion des Kirchenbegriffs!) geführt werden soll, mag es doch von Nutzen sein, kurz Sohms Rechtsbegriff zu erläutern. Von Anfang an ist es schwer gewesen, Sohms Rechtsbegriff unter irgendeinen Schulbegriff von Recht zu subsumieren. Mit seinem Rechtsbegriff gehört Sohm weder zum Positivismus des 19. Jahrhunderts noch zur sogenannten reinen Rechtslehre. Sohm versucht vielmehr, die Gesetze seines eigenen Systems aus der Geschichte abzulesen. Hinter Sohms kirchenrechtsgeschichtlichen Arbeiten steht sein eigenes kanonistisches System. Sohm teilt das Kirchenrecht ein in geistliches Kirchenrecht (dieses sichert die Ordnung in der Kirche, indem es sie an pneumatisch begründete Regeln bindet), weltliches Kirchenrecht (in diesem stammt die Rechtsordnung von der weltlichen Obrigkeit) und Religionsgesellschaftsrecht (bei diesem ist die Kirche nur mehr eine Religionsgesellschaft, ein Verein innerhalb des Staates). Dieses dreifache Kirchenrecht (Sohm spricht gern vom „dreierlei Kirchenrecht”) wird „durch eine gemeinsame religiöse Idee zu einer Einheit zusammengeschlossen, nämlich durch das Bestreben, die innere, unsichtbare, geistliche Kirche durch Bindung an die äußere, sichtbare, rechtliche Kirche gegen alle Veränderungen zu sichern, der Kirche im Glaubenssinn auf dem Umweg über die Rechtskirche die Kontinuität zu wahren, die sie religiös betrachtet haben muß. Damit hat Sohm diejenige Funktion des Kirchenrechts bezeichnet, die ihn allein interessiert und nach der er sein Wesen bestimmt:
25 Ebd. 27.
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Das Wesen des Kirchenrechts besteht für ihn in der zwangsmäßigen Bindung der gegenwärtigen kirchlichen Ordnung an die Ordnung der Vergangenheit.”26 Recht ist also für Sohm „traditionsbestimmte Ordnung”.27 Etwas gilt heute und wird morgen gelten, weil es gestern gegolten hat. Dieser traditionsbestimmten Ordnung setzt Sohm die geistliche Ordnung gegenüber. Etwas gilt nur deshalb, weil der Geist es eingibt. Solche Ordnung ist nach Sohm kein Recht.
Wie wendet Sohm seinen Rechtsbegriff an? „Solange er innerhalb der Grenzen der Jurisprudenz bleibt, sind seine Überlegungen der Wirklichkeit des Rechtslebens, die weder die Ordnung in fortgesetzte Entscheidungen auflösen noch auf Entscheidungen, obwohl sie die bestehende Ordnung durchbrechen, verzichten kann, geöffnet und gemäß. Sobald er den Schritt hinübertut zum Kirchenrecht, verneint er dieses Ineinander von Entscheidung und Ordnung, Pneuma und Tradition und schafft so zwei einander widersprechende Begriffe kirchlicher Ordnung, den vom Pneuma bestimmten und den traditionsgebundenen. Indem er jenen für den religiös allein berechtigten erklärt, macht er eine glaubensmäßige Aussage, mit der sich auseinanderzusetzen Sache der Theologen ist.”28 Mit dieser Auskunft entläßt uns Hans Barion. Das Problem ist gestellt29, aber freilich nicht gelöst.
26 H. Barion, Der Rechtsbegriff Rudolph Sohms, in:
Deutsche Rechtswissenschaft 7 (1942) 47-51, hier: 49.
27 Ebd.
28 Ebd. 51.
29 Barion versucht diese Problemstellung später noch einmal zu
präzisieren, wenn er darauf hinweist, daß (nach Sohm) die
Urkirche noch nicht reflex zwischen der sichtbaren und
der unsichtbaren Kirche unterscheiden konnte. Und weil die
Urkirche diese Möglichkeit der Unterscheidung noch nicht erfaßt
hatte, konnte sie eine solche auch noch nicht ablehnen. „Der
göttlich-rechtliche Satz von der Bindung der unsichtbaren Kirche
Christi an die sichtbare erlangte, von Sohm aus betrachtet, also
erst spät, nämlich zu dem Zeitpunkt, wo er auf bewußter
Verknüpfung zwischen sichtbarer und unsichtbarer Kirche Christi
aufbaute, seine übergeschichtliche Form; bis dahin war er nur der
Ausdruck der Nichtunterscheidung zwischen beiden, also die
Funktion einer (theologie-)geschichtlich kontingenten
Begriffslage” ➝
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Wir müssen es im systematischen (dritten) Teil dieses Buches bewältigen. Es gilt, die vom Pneuma geleitete, unsichtbare und geistliche Kirche mit der durch die Tradition bestimmte, sichtbare, institutionelle und deshalb rechtliche Kirche zusammenzubringen.30 Und zwar soll das in einer doppelten Überlegung geschehen: in einer bibeltheologischen, in der nachgewiesen wird, daß schon zu Beginn des Christentums die beiden Kirchen nicht getrennt waren, und in einer ekklesiologisch-sakramentalen Überlegung, in der nachgewiesen wird, daß im Christentum grundsätzlich beide Kirchen nicht getrennt werden können.
Der katholische31 Professor für Kirchenrecht Joseph Klein (1896-1976) ist wohl derjenige der katholischen Autoren32, der sich am meisten mit Sohm identifiziert hat. Vielleicht hat das letztlich dazu beigetragen, daß er später (1953) zum Protestantismus übergewechselt ist.33 Aus dieser Sympathie für
➝ (H. Barion, Die gegenwärtige Lage der Wissenschaft vom
katholischen Kirchenrecht, in: Zeitschrift für evangelisches
Kirchenrecht 8 (1961/62) 228-290, hier: 250).
30 Vgl. M. Kehl, Die Kirche. Eine katholische Ekklesiologie,
Würzburg 1992, 388-402.
31 Vgl. P. Krämer, Theologische Grundlegung des kirchlichen
Rechts. Die rechtstheologische Auseinandersetzung zwischen Hans
Barion und Joseph Klein im Licht des II. Vatikanischen Konzils,
Trier 1977, 18.
32 Ein Verzeichnis der Schriften Kleins findet sich in: Krämer,
Grundlegung (A. 31) XVI f.
33 Vgl. ebd. J. Klein hat sich wohl stets (vor und nach seinem
Übertritt zum Protestantismus im Jahr 1953) als Grenzgänger
verstanden, der beiden Konfessionen (dem Katholizismus und dem
Protestantismus) gerecht werden wollte. Dies soll ein Text
zeigen, der 1947 entstanden war, aber erst 1958 veröffentlicht
wurde. „Beide [evangelische Christen und Katholiken] können und
müssen einander in Ehrfurcht begegnen, um gemeinsam für Christus
Zeugnis abzulegen in selbstloser Verwirklichung seines Wortes vom
Tun der Wahrheit, die er selber ist. Mögen nur beide Konfessionen
das Verhältnis von Gebot und Gesetz zum Worte Gottes verschieden
sehen! In der Realisierung können sie voneinander lernen. Denn
beide tragen in sich ➝
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Sohm kommt es auch, daß Klein sich eigentlich nicht mit ihm auseinandersetzt, sondern seine Gedanken verwertet, um das verrechtlichte katholische System aufzulockern.34 Mit den Thesen Sohms — so meint Klein — müsse sich der katholische Kirchenrechtler so notwendig auseinandersetzen wie der Philosoph mit Kants Kritik aller Metaphysik.35
➝ die neue Wirklichkeit auf Grund eines Glaubens, der
Ursprung und Quell alles Christlichen ist, nenne es sich
evangelisch oder katholisch. In diesem Glauben ist die Caritas
als schöpferisches Prinzip des Handelns gefordert und mitgesetzt,
möge sie nun primär auf dem Wege über das Gesetzliche oder auf
Grund personaler Entscheidung verwirklicht werden. Je mehr sie in
jedem, der Christi Namen trägt, nach dem Zeugnis seines Gewissens
in innerer Wahrhaftigkeit Gestalt gewinnt, um so mehr ist die
eine heilige, den Erdkreis umspannende apostolische Kirche
verwirklicht. Ihrer reinen Form streben beide Konfessionen zu”
(J. Klein, Die Verwirklichung des Christlichen in katholischer
und protestantischer Sicht, in: derselbe, Skandalon, Tübingen
1958, 393-421, hier: 420f.).
34 Dies wird schon deutlich in Kleins Antrittsvorlesung am
17.5.1946 in der Katholisch-Theologischen Fakultät der
Universität Bonn. Dort heißt es: „Es ist eine arge Verkennung
fundamentaler Verhältnisse, wenn man dem Recht statt der
sakramentalen Ordnung in der Kirche den Primat zuerkennt.
Trotzdem ist das Recht in der Kirche wirkliches, aber geistliches
Recht. Als solches hat es ein ganz anderes Gesicht als das Recht
dieser Welt. In seiner Grundlegung ist auch seine Begrenzung
mitgesetzt” (J. Klein, Grundlegung und Grenzen des kanonischen
Rechts, Tübingen 1947, 8). W. Bertrams, der damals an der
Gregoriana in Rom lehrte und selber um eine Grundlegung des
Kirchenrechts bemüht war, schrieb zu Kleins Büchlein: „Mit diesen
Ausstellungen, die uns leider zwingen, die Schrift als Ganzes
abzulehnen, soll natürlich nicht geleugnet werden, daß die Gefahr
einer ,Verrechtlichung’ der Kirche besteht; diese Gefahr ist
immer dort gegeben, wo die innere Beziehung der dienenden
Unterordnung des ,Rechtslebens’ der Kirche unter das ,Geistleben’
nicht gesehen wird” (W. Bertrams, Grundlegung und Grenzen des
kanonischen Rechts, in: Gregorianum 29 [1948] 588-593, hier:
593). Am 2.10.1950 wurde Kleins „Grundlegung und Grenzen des
kanonischen Rechts” auf den Index der verbotenen Bücher gesetzt
(vgl. J. Klein, Skandalon, Tübingen 1958, 114).
35 Vgl. J. Klein, Kanonistische und moraltheologische Normierung
in der katholischen Theologie, Tübingen 1949, 4. An diesem Buch
hat O. v. Nell-Breuning herbe Kritik geübt. „Wie bereits von
seiner Bonner Antrittsvorlesung ,Grundlegung und Grenzen des
kanonischen Rechts’ (1947) her bekannt, steht Verf. völlig im
Banne von Sohm. Ein großer Teil seiner Ausführungen erschöpft
sich in vergeblichen Anstrengungen, sich von Sohm loszuringen.
Aber noch am Ende der Schrift ist Sohm sein unbestrittener
➝
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In unserem Zusammenhang (der Grundlegung des Kirchenrechts) möchte ich vor allem den Gedankengang Kleins hervorheben, der das Verhältnis der Ethik zum Kirchenrecht bestimmt. Das Verständnis des Ethischen in seinem Verhältnis zum Kirchenrecht erläutert Klein in vier Thesen, die im folgenden dargestellt werden sollen.
Mit der reformatorischen Lehre von der Unsichtbarkeit der Kirche im religiösen Sinn ist es (nach Klein) für Sohm ausgemacht, daß es keine Gemeinschaftsordnung und ganz gewiß keine Rechtsordnung geben kann. „Nur Gottes Wort bindet das Gewissen des Christen unmittelbar. Die personale Begegnung zwischen Gott und dem Menschen, die im Glauben sich ereignet, ist als solche ihrem Wesen nach unvereinbar mit Gesetz und Gesetzlichkeit. Jede Art Gesetz würde zwischen Gott und den Menschen treten und die dialogische Existenz unbedingter Gemeinschaft aufheben.”36
➝ Führer und Meister” (O. v. Nell-Breuning, Rez., J.
Klein, Kanonistische und moraltheologische Normierung in der
katholischen Theologie, in: Scholastik 25 [1950] 419-422, hier:
420). Und: „Daß das kanonische Recht nichts anderes ist, nichts
anderes sein kann noch sein will als die Lebensordnung eben jener
geistlichen Gemeinschaft, die wir die Kirche Jesu Christi nennen
und die Glaubenskirche, Liebeskirche und Rechtskirche in
einem ist, — zu dieser einfachen Lösung des vermeintlichen
Gegensatzes hat Verf. durch seine Bindung an Sohm sich den Zugang
verbaut” (ebd).
36 Klein, Kanonistische Normierung (A. 35) 27. Die
antijuridische Tendenz deutete sich bei J. Klein schon
früh an. So schreibt er als junger Seminarprofessor in Bensberg
in einem Aufsatz aus dem Jahr 1935: „In der Person stößt
das Recht auf ein letztes Überrechtliches, auf ein von allem
positiven Recht Gelöstes (Absolutes), an dem doch alles positive
Recht teilhat, weil es selber in ihm gründet: Eine letzte
Begründung aller Norm ist nur möglich, wenn diese verstanden wird
als Beziehung der Person des endlichen Menschen zur Person des
unendlichen Gottes” (J. Klein, Modernes Rechtsdenken und
kanonisches Recht, in: Scientia Sacra (= FS Schulte),
Köln/Düsseldorf 1935, 328-370, hier: 370). War diese Ablehnung
des Rechtes in seiner katholischen Zeit eher verdeckt, so kam sie
nach dem Übertritt zum Protestantismus (1953) bei Klein offen zum
Vorschein.
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Nach Klein leitet Sohm das Ethische aus dem Gegensatz zum Rechtlichen her. Im Recht ist die Entscheidung für den Einzelnen immer schon im voraus gefallen: durch das Gesetz, den Richter oder den Superior. Um das Ethische zu beschreiben wählt Sohm „die eigenartige und für ihn charakteristische, durch den Gegensatz zum Recht mit seiner formalen Bindung bestimmten Formulierung, daß das sittliche Gebot verbindlich ist ,durch seinen, die innerliche Zustimmung mit Naturgewalt fordernden Inhalt’. Dieser Inhalt bestimmt sich nach ihm ,immer ausschließlich nach der Gegenwart, d.h. nach der Lage dieses Einzelfalls’, und er sieht darin, daß jede sittliche Pflicht ,im Einzelfall durch eine stärkere sittliche Pflicht aufgehoben werden’ kann, ein ,Zeichen dessen, daß für das sittliche Gebiet kein allgemeines Gesetz, sondern immer allein die Lage des Einzelfalls entscheidet’.”37
Für den Katholizismus ergibt sich das Sittliche aus dem Satz, „daß die fides caritate formata den Menschen rechtfertigt”.38 Damit sind vom Christen bestimmte Werke gefordert. Freilich ist damit eine Gefahr gegeben und ein unheilvoller Prozeß in Gang gesetzt. Diesem Prozeß „der Vermenschlichung des Evangeliums war die Kirche vor allem in der nachtridentinischen Epoche durch die historisch bedingte Betonung des Prinzips der Tradition und der Autorität ausgesetzt. An die Stelle der religiös-ethischen trat die rechtliche Bindung, die man primär unter dem moralischen Gesichtspunkt der Sünde sah.”39
37 Klein, Kanonistische Normierung (A. 35) 28 f.
38 Ebd. 30.
39 Ebd. 31.
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„Das Gesetz wird in der protestantischen Ethik als etwas Äußerliches in die Sphäre des Rechts verwiesen, eine Tatsache, die bis in das Verständnis der Autonomie des Ethischen im Kantianismus ihre Wellen schlägt und sein methodisch-ethisches Grundmotiv erklärt.”40 Die neue Wirklichkeit der Gnade, in die der Erlöste durch die Taufe gekommen ist, kann durch kein Gesetz und noch weniger durch Recht gefaßt werden.
Die katholische Kirche hat dagegen „ein unverbrüchliches Naturgesetz und in seinem Gefolge ein Naturrecht, das in die von der Kirche verkündigte heilige Ordnung eingeht”.41 Natürlich kennt auch die katholische Moraltheologie eine Freiheit des Einzelnen in seinem Verhältnis zu Gott und Christus, „aber diese nicht gesetzlich normierte Freiheit des Christenmenschen sprengt nicht den Rahmen des natürlichen Sittengesetzes, setzt dieses und seine Erfüllung vielmehr voraus, und außerdem bleibt sie eingeengt auf Grund von Tradition und Autorität. Ja die Kirche möchte sogar auch die über die Verpflichtungen der vita christiana communis hinausliegende Verwirklichung des Christlichen in den evangelischen Räten möglichst weitgehend einer rechtsgesetzlichen Ordnung unterwerfen.”42
Wenn es eine religiös-ethische Ordnung im Katholizismus gibt, dann muß dieser darauf bedacht sein, seine Glieder auf diese Ordnung zu verpflichten. Allerdings läuft die Verpflichtung — zumindest im katholischen Kirchenrecht —
40 Ebd. 33.
41 Ebd. 34.
42 Ebd. 35.
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zumeist über die sakramentale und nicht die ethische Ordnung. Das ist „eine Konsequenz der sakramentalen Konstitution der Kirche, die als solche eine geistliche Rechtsordnung darstellt; es ist das aber auch der Ausdruck des ursprünglich religiösen Anliegens der Kirche und der Widerschein des katholischen Verständnisses der Gnade, bzw. der Gnadenvermittlung.”43
Aufs Ganze gesehen sind es vor allem drei Anliegen, die J. Klein von Sohm übernimmt und in die Diskussion um eine (katholische) Grundlegung des Kirchenrechts einbringt:
1. Klein ist ein betonter Vertreter einer „Kirche der freien Gefolgschaft”. Wer nicht (mehr) an Christus glaubt und die Sakramente nicht (mehr) empfängt, macht dadurch die kirchliche Autorität machtlos.44
2. Klein betont ganz energisch die Trennung von Ethik/Moral einerseits und Kirchenrecht andererseits. Ethik und Moral beschäftigen sich mit der Freiheit des einzelnen Menschen und seinem Verhältnis zu Gott. Der einzelne Mensch steht (nach Klein) in einem unmittelbaren Verhältnis zu Gott (gleichsam von Angesicht zu Angesicht). Es ist unmöglich, daß sich die Kirche (mit ihrem Recht) gleichsam zwischen den einzelnen Menschen und Gott schiebt.45
3. J. Klein betont den Vorrang des Sakramentalen vor dem Juridischen. „Es ist eine arge Verkennung fundamentaler
43 Ebd. 37.
44 Als Folgerung dürfte ein kirchliches Strafrecht praktisch
sinnlos werden (vgl. ebd. 80-110).
45 Sehr pointiert hat K. Rahner den Unterschied zwischen
Moralischem und Rechtlichem einmal so formuliert: Der Mensch
„will nicht gezwungen werden durch äußeren Zwang; je höher die
Wirklichkeit und je personaler die Hingabe ist, um so weniger
können sie mit Zwang erhalten werden. Die Bezahlung der
Schneiderrechnung kann erzwungen werden, und ist sie auch nur
erzwungen, so ist sie doch bezahlt. Glaube, Ehrfurcht, Liebe zu
Gott, Bekenntnis der Überzeugung des Herzens können nicht
erzwungen werden; würden sie das, wären sie nicht mehr, was sie
sind und sein müssen” (K. Rahner, Sendung und Gnade, Innsbruck
41966, 319).
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Verhältnisse, wenn man dem Recht statt der sakramentalen Ordnung in der Kirche den Primat zuerkennt.”46
Der (katholische) Ordinariatsrat und Abteilungsleiter für kirchliches Recht im Bistum Limburg Domkapitular Dr. Dr. Werner Böckenförde47 (* 1928) hat sich in seiner (theologischen) Dissertation mit Sohm beschäftigt48 und auch später, u.a. durch die Herausgabe der Aufsätze Hans Barions, Bedeutendes für die Grundlegung des Kirchenrechts geleistet.49
Böckenförde betont zunächst die Aktualität von Rudolph Sohm. Diese ist dadurch gegeben, daß das Zweite Vatikanische Konzil und die nachkonziliare Entwicklung „weder eine Änderung der Kirchenverfassung noch neue Rechtsprinzipien gebracht”50 haben. Auf der andern Seite hat das
46 Klein, Grundlegung und Grenzen (A. 34) 8.
47 Vgl. den Schematismus 1991/92 des Bistums Limburg, Limburg
a.d. L. 1991, 7 und 9. Böckenförde war zugleich Honorarprofessor
für katholisches Kirchenrecht und Staatskirchenrecht im
Fachbereich Katholische Theologie der
Johann-Wölfgang-Goethe-Universität in Frankfurt a.M. (vgl. ebd.
187). Aus Altersgründen schied Böckenförde mit dem Ende des SS
1992 aus dem Dienst der Universität Frankfurt aus und verzichtete
im Frühjahr 1993 auch auf seine kirchlichen Ämter (vgl. Der
Sonntag. Kirchenzeitung für das Bistum Limburg vom 28.3.1993,
12). Werner Böckenförde ist ein Bruder von Ernst-Wolfgang
Böckenförde, dem bekannten Richter am
Bundesverfassungsgericht.
48 W. Böckenförde, Das Rechtsverständnis der neueren Kanonistik
und die Kritik Rudolph Sohms. Eine ante-kanonistische Studie zum
Verhältnis von Kirche und Kirchenrecht, Münster i.W. 1969 (als
Manuskript gedruckt) = Böckenförde. Über dieses Buch ist gesagt
worden: „Es dürfte bezeichnend sein, daß der einzige Versuch, das
Anliegen R. Sohms in der Kanonistik zu diskutieren, ohne Echo
geblieben ist: W. Böckenförde, Das Rechtsverständnis der neueren
Kanonistik und die Kritik R. Sohms” (J. Neumann, Grundriß des
katholischen Kirchenrechts, Darmstadt 1981, 52, A. 64).
49 Vgl. H. Barion, Kirche und Kirchenrecht. Gesammelte Aufsätze.
Hg. von W. Böckenförde, Paderborn 1984 = Barion.
50 Böckenförde 172.
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Konzil starke Impulse in die Kirche eingebracht, „die selbst dann nicht ohne Wirkung bleiben werden, wenn kein einziger Kanon des kirchlichen Gesetzbuches geändert würde”.51 So kann Böckenförde feststellen: „Wenn die Untersuchung ergeben hat, daß die römische Kirche, die Sohm erlebt hat, auf der rechtlichen Ebene unverändert ist, — und wenn andererseits ,unter der Decke’ ein neuer Rezeptionsprozeß eingesetzt hat, dann könnte für die katholische Theologie gerade heute der Kairos sein für die bisher versäumte Auseinandersetzung mit Rudolph Sohm. Die Aktualität seiner Position ist noch nicht überholt.”52 Im einzelnen geht es dabei um drei Beziehungen: um das Verhältnis von kirchlichem und staatlichem Recht; um das Verhältnis von Moral und Recht; um das Verhältnis von göttlichem Gebot und menschlicher Normierung.
Nach Sohm kann es in der Kirche kein dem staatlichen gleichgeordnetes Recht geben, denn die Kirche ist (im Gegensatz zum Staat) keine Gemeinschaft, der der Einzelne notwendig angehören muß. Während der Staat ein hoheitliches Recht besitzt, gibt es in der Kirche nur eine Konventionalregel. Sie gilt nur für den, der sich ihr in Freiheit unterwirft. „Nur noch in der Form des Staates ist das Volk obrigkeitlich verfaßt, nur noch in der Form des Staates ist das Volk eine selbstherrliche Gemeinschaft, nur noch in der Form des Staates ist das Volk Rechtsquelle. So ist in der Gegenwart die weltliche Obrigkeit mit der staatlichen Obrigkeit und das weltliche Recht mit staatlichem Recht gleichbedeutend.”53
Diese Position Sohms wird weithin von Böckenförde übernommen. Zwar betont er zunächst: „In Bezug auf das Verhältnis des kirchlichen zum staatlichen Recht muß
51 Ebd. 173.
52 Ebd.
53 KR II, 57.
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unbestritten bleiben, daß Staat und Kirche bei der Regelung der je eigenen Angelegenheiten voneinander unabhängig sind. Die Freiheit der Kirche, ihre nur sie betreffenden Dinge selbständig zu regeln, wird nicht vom Staat gewährt, sondern ist als vorstaatliche Gegebenheit zu garantieren, denn die Staatszielbestimmung des neuzeitlichen, weltanschaulich neutralen Staates umfaßt nicht das geistliche Wohl der Bürger. Die der Kirche eigene Gewalt ist insoweit ursprünglich.”54
Die Freiheit der Kirche, ihre eigenen Angelegenheiten selbständig zu regeln bedeutet freilich (nach Böckenförde) nicht, daß die Kirche ein hoheitliches Recht hätte. „Die kirchliche Gewalt [kann] aber nicht (im üblichen Sinn) als hoheitliche (d.h. mit physischem Zwang durchsetzbare) Gewalt bezeichnet werden, und zwar weder aus sich heraus noch kraft einer allgemeinen staatlichen Verleihung. Hoheitliche Befugnisse (wie etwa das Besteuerungsrecht) müssen einer Körperschaft des öffentlichen Rechts eigens verliehen werden.”55
Der Unterschied zwischen staatlichem (hoheitlichem) und kirchlichem (nicht hoheitlichem) Recht wird besonders bedeutsam bei Verträgen bzw. Konkordaten zwischen Kirche und Staat. In der Meinung Böckenfördes steht die Kirche dem Staat dann nicht als ein gleichgeordnetes Rechtssubjekt gegenüber. „Das Verhältnis von Kirche und Staat ist also, wie bereits Sohm zutreffend sagte, ,kein völkerrechtliches, sondern ein staatsrechtliches’.”56
54 Böckenförde 176.
55 Ebd. 176 f. Es fällt vielen Christen, die sich immer noch nach
dem mittelalterlichen Glaubensstaat, der bis zur Säkularisation
und dem Reichsdeputationshauptschluß von 1803 dauerte,
zurücksehnen, schwer, die angemessene Haltung zum pluralistischen
Staat der Gegenwart zu finden. Der säkulare und freiheitliche
Staat gewährleistet zwar die Religionsfreiheit, betrachtet aber
die Religion nicht mehr als seine verbindliche Grundlage und die
Kirchen nicht mehr als gleichberechtigte Partner. Die Kirche kann
jetzt nur noch als Gemeinschaft der Gläubigen über die
Gesellschaft auf den Staat einwirken.
56 Ebd. 188. Vgl. R. Sohm, Das Verhältnis von Staat und Kirche
aus ➝
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Sohm lehnt ein Kirchenrecht ab, d.h. er wehrt sich gegen eine religiös notwendige Zwangsordnung. „Für ihn [Sohm] stellt sich die kirchliche Ordnung, soweit sie die äußeren Verhältnisse in der sichtbaren Christenheit betrifft, vom Staat her gesehen als Konventionalordnung dar, vom Evangelium her gesehen als eine für das religiöse Leben des Christen gleichgültige, auf menschlicher Übereinkunft und freiwilliger Unterwerfung beruhende Ordnung, damit Liebe und Friede in der Gemeinde sei. Diese Ordnung gehört in den Bereich der Moral, ohne daß freilich ihre Einhaltung als Bedingung für das Heil postuliert werden könnte.”57 Auch in diesem Punkt folgt Böckenförde dem Leipziger Juristen. Insbesondere unterstreicht Böckenförde die Unterscheidung von Moral und Recht. „Grundgelegt durch die Reformation, welche die religiös-gesellschaftliche Homogenität des Abendlandes zerbrach, löste sich das Recht in der Folge der konfessionellen Bürgerkriege aus seiner moralischen und religiösen Einbindung und beschränkte sich zunehmend auf seine eigentliche Aufgabe, das friedliche Zusammenleben der Menschen zu ermöglichen und ihnen einen Raum der Freiheit zu sichern. Die Aufklärung vollendete diese Veränderung und hob sie ins allgemeine Bewußtsein: das Recht will nicht mehr selbst Ordnung der Wahrheit und Sittlichkeit sein; es will lediglich die Voraussetzung dafür schaffen, daß jeder auf seine Weise in Freiheit gemäß der von ihm erkannten Wahrheit leben könne.”58 Nach Böckenförde hat das Zweite Vatikanische Konzil diese Unterscheidung von Recht und Moral übernommen. „Die Erklärung des Zweiten
➝ dem Begriff von Staat und Kirche entwickelt, Tübingen
1873, 52. Zu den Konkordaten vgl. R. Sebott, Schwierigkeiten mit
den Konkordaten, in: A. Arza u.a., Investigationes
theologico-canonicae (= FS Bertrams), Rom: Gregoriana 1978,
397-414.
57 Böckenförde 188.
58 Ebd. 196 f.
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Vatikanischen Konzils über die religiöse Freiheit hat nun auch kirchlicherseits den im Recht vieler Staaten bereits seit langem bestehenden Zustand anerkannt. Zum ersten Mal hat damit ein offizielles kirchliches Dokument die im weltlichen Bereich üblich gewordene Unterscheidung zwischen Recht und Moral aufgenommen und Eigenart wie spezifische Funktion des Rechts zum Ausdruck gebracht.”59 Der Staat und sein Recht sind also weltanschaulich neutral. Der Staat und sein Recht stellen nicht mehr die Wahrheitsfrage. Das Recht soll nur einen Raum schaffen, innerhalb dessen die einzelnen Bürger nach Wahrheit streben können. Damit sind Moral (die sich stets auf die Wahrheit ausrichtet) und Recht (das die Würde der Person schützt) verschieden und unterschieden (freilich nicht getrennt).
„Für Sohm ist die Bildung von (göttlichem) Kirchenrecht ein Zeichen des Glaubensschwundes und des Abfalls vom Ursprung, wenngleich geschichtliche Notwendigkeit. Es bildete sich, als die konkrete pneumatische Ordnung, etwa bei der eucharistischen Versammlung, nicht mehr selbstverständlich gewahrt wurde. Je mehr die Vorstellung von dem in der Gemeinde wirkenden Christus praesens verblaßte, umso stärker mußte das Verlangen werden, durch die Treue gegenüber der Tradition das Vermächtnis des Herrn zu bewahren; göttliches Recht sollte die Tradition sichern.”60
Böckenförde übernimmt weithin die Position Sohms, reflektiert freilich nicht nur das Aufkommen des göttlichen Kirchenrechts, sondern beschreibt vor allem dessen Problematik. Im CIC/1917 fanden sich neben der gebräuchlichen
59 Ebd. 197. Vgl. auch R. Sebott, Religionsfreiheit und
Verhältnis von Kirche und Staat, Rom: Gregoriana 1977.
60 Böckenförde 212.
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Bezeichnung „ius divinum” andere Ausdrücke wie „lex divina”, „ius naturae”, „ius naturale”, „lex naturalis”, „ordinatio divina”, „institutio divina”.61 Welcher Problematik unterliegen solche Begriffe? „Die Überlegungen zum Ursprung des göttlichen Rechts führen zu der Frage, ob die göttlichen Normen als solche schon Rechtscharakter besitzen oder erst durch nachfolgende Tradition zu Rechtssätzen werden. Es fragt sich, ob man überhaupt von göttlichem Recht an sich, d.h. unabhängig von einer rezipierenden Gemeinde, sprechen kann, mit anderen Worten: ob Offenbarung und Schöpfung als solche bereits unveränderliche Rechtssätze mit universalem Geltungsanspruch enthalten bzw. erkennen lassen. Ohne Zweifel ergeben sich aus dem Neuen Testament eine Fülle göttlicher Imperative (als Gebote oder Verbote), allein es fragt sich, ob die auf das äußere menschliche Zusammenleben bezogenen biblischen Weisungen Rechtscharakter beanspruchen.”62 Was wir in Gesetzessprache kleiden ist nur unser jeweiliges Verständnis des „ius divinum”, nicht aber das „ius divinum” schlechthin. Seinem formalen Charakter nach ist eine solche Kodifikation „ius stricte ecclesiasticum”. Ein von Menschenhand geschriebenes „göttliches Recht” ist ein Widerspruch in sich selbst, ist ein hölzernes Eisen. „Bei jedem transformierenden Akt ist die kirchliche Autorität moralisch an die Offenbarung gebunden. In vielen Fällen wird der kirchliche Gesetzgeber der Ansicht sein, eine Transformation sei so vollkommen gelungen, daß die kirchliche Norm die göttliche Weisung adaequat wiedergebe; dann wird er sich verpflichtet wissen, die kirchliche Norm als unveränderlich anzusehen und strikt daran festzuhalten. Diese Einstellung stünde jedoch immer
61 Vgl. ebd. 209, A. 1114. Ich habe an anderer Stelle zu
der Problematik des göttlichen Rechts im CIC/1983 Stellung
bezogen (vgl. R. Sebott/C. Marucci, II nuovo diritto matrimoniale
della chiesa, Neapel: Dehoniane 1985, 47-61).
62 Böckenförde 214 f.
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unter dem Vorbehalt einer tieferen Erkenntnis des geoffenbarten göttlichen Willens.”63
Überblickt man noch einmal das ganze, eben behandelte Kapitel, so stellt man fest, daß die drei Autoren (Barion, Klein, Böckenförde) u.a. auf 7 Tatsachen hinweisen64:
1. Sohm ist bisher unbewältigt und weiterhin aktuell. Seine Zugkraft bezieht er aus dem, was an wahrem Gehalt in seiner Lehre steckt. Erst wenn das, was an Wahrheitsgehalt in der Lehre Sohms vorhanden ist, herausdestilliert, anerkannt und in der katholischen Kirche fruchtbar gemacht wird, dürfte der Sohmsche Antijuridismus bewältigt werden können.
2. Nach Sohm war die Urkirche ohne Recht; in ihr herrschte (de facto) eine pneumatische Anarchie.
3. Nach Sohm (und gemäß seinem Kirchenbegriff) kann die Kirche grundsätzlich kein Recht haben. Das Kirchenrecht steht mit dem Wesen der Kirche in Widerspruch.
4. Nach Sohm ist die Sphäre des Ethischen (innerhalb derer der Einzelne sein Heil erwirkt) verschieden von der Sphäre des Rechtlichen (in der nur das äußere Zusammenleben der einzelnen Christen geregelt wird).
5. Nach Sohm muß in der Kirche der sakramentalen Ordnung (vor dem Juridischen) der Primat zuerkannt werden.
6. Nach Sohm besitzt nur der Staat ein hoheitliches Recht. In der Kirche dagegen gibt es nur eine Konventionalregel. Diese gilt nur für den, der sich ihr in Freiheit unterwirft.
63 Ebd. 221.
64 Natürlich kann im dritten Teil (systematische
Auseinandersetzung mit Sohm) nicht auf alle Probleme,
die Sohm aufgeworfen hat, en detail eingegangen werden. Es wird
vor allem nachgewiesen, daß es in der Urkirche Recht gab
(bibeltheologische Grundlegung des Kirchenrechts) und daß die
Kirche grundsätzlich Recht haben kann und muß
(ekklesiologisch/sakramentale Grundlegung des Kirchenrechts), ein
Recht freilich, das geistliches und sakramentales Recht
ist.
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7. Nach Sohm ist die Bildung von göttlichem Kirchenrecht ein Zeichen des Glaubensschwundes und des Abfalls vom Ursprung. Je mehr die Vorstellung von dem in der Gemeinde wirkenden „Christus praesens” verblaßte, umso stärker wurde das Verlangen nach göttlichen Recht, das in der Kirche die Tradition sichern soll.