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Erstes Kapitel
Erste und vorläufige Stellungnahmen

 

In diesem ersten Kapitel soll auf Besprechungen, Artikel und (kleinere) Bücher eingegangen werden, die von katholischen1 Autoren stammen und die sich2 mit Sohms kirchenrechtlichen Arbeiten befassen. Nicht behandeln möchte ich rein geschichtliche Auseinandersetzungen3 mit Sohm, weil auf diesem Feld die Wissenschaft wohl über ihn hinweggegangen ist.4 Es ist in diesem ersten Kapitel nicht im geringsten Ausführlichkeit angestrebt. Die (meist kurzen) Stellungnahmen


1 Die im zweiten Teil der Arbeit (die Reaktion der katholischen Theologen auf Sohm) behandelten Autoren sind ausnahmslos Katholiken. Dies wird stets im einzelnen vermerkt.
2 Ich berücksichtige nur Autoren, die vor dem Zweiten Weltkrieg über Sohm geschrieben haben. Danach tritt die katholische Beschäftigung mit Sohm in eine neue Phase, welche eine mehr systematische Auseinandersetzung einleitet.
3 Vgl. z.B. V. Fuchs, Der Ordinationstitel von seiner Entstehung bis auf Innozenz III. Eine Untersuchung zur kirchlichen Rechtsgeschichte mit besonderer Berücksichtigung der Anschauungen Rudolph Sohms, Bonn 1930; F. Gillmann, Einteilung und System des Gratianischen Dekrets nach den alten Dekretglossatoren bis Johannes Teutonikus einschließlich. Unter besonderer Rücksicht auf Rudolph Sohm: Das altkatholische Kirchenrecht und das Dekret Gratians, in: AfkKR 106 (1926) 472-574; E. Rößer, Göttliches und menschliches, unveränderliches und veränderliches Kirchenrecht von der Entstehung der Kirche bis zur Mitte des 9. Jahrhunderts. Untersuchungen zur Geschichte des Kirchenrechts mit besonderer Berücksichtigung der Anschauungen Rudolph Sohms, Paderborn 1934; A. Schebler, Die Reordinationen in der „altkatholischen” Kirche unter besonderer Berücksichtigung der Anschauungen Rudolph Sohms, Bonn 1936.
4 „Rudolf Sohm a été réfuté à peu près sur tous les articles de sa reconstruction historique: au point que les historiens du droit ou des institutions ne s’intéressent plus guere à lui” (Congar 263). Das kann freilich nicht heißen, man solle Sohm generell als erledigt betrachten. „II pose, peut-être de travers mais avec acuité, une question théologique qui nous oblige, et nous a de fait amené, à envisager de façon plus radicale le problème de la nature vraiment chrétienne et théologique du Droit de l’Église” (ebd.).

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der verschiedenen Autoren sollen nur den Dialog mit Sohm vorbereiten.

 

I. Johann Baptist Sägmüller

Der erste katholische Theologe, der den Reigen der Stellungnahmen zu Sohm eröffnet, ist der Tübinger Kirchenrechtler J.B. Sägmüller5. Im Archiv für katholisches Kirchenrecht bespricht er den ersten Band von Sohms Kirchenrecht.6 Nach einem Referat der Hauptthesen kommt Sägmüller zu einer Beurteilung der Sohmschen Arbeit. Im allgemeinen nennt er das Bild, welches Sohm vom Urchristentum zeichnet, „ein Wahn- und Jammergebilde”7. Und das aus folgenden Gründen:

1. Viele, auch gerade nichtkatholische Forscher, kommen in der Beurteilung der Urkirche zu ganz anderen Ergebnissen.8

2. „Ferner thut S[ohm] mitunter Belegstellen einfach Gewalt an, damit sie beweisen möchten, was sie sollen.”9 Das wird erläutert mit Hilfe der Stelle i Tim 4, 14.

3. Für total falsch hält Sägmüller den Kirchenbegriff von Sohm. Sägmüller versteht deshalb auch Mt 18, 20 („Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen”) in einem anderen Sinn als Sohm.10

4. „Was dann die Organisation der Urkirche betrifft, wie sie der Verf[asser] darstellt, so muß man schon sagen, hätte Christus nicht besser für seine Stiftung gesorgt, dann hätte er sie in einem über alle Maßen ungeordneten und elenden


5 Vgl. E. Haible, Sägmüller, in: LThK IX (1964) 212; Böckenförde 49-58.
6 Vgl. Rouco-Varela 25-28.
7 J.B. Sägmüller, Rez., Kirchenrecht von Rudolph Sohm. Erster Band. Die geschichtlichen Grundlagen, in: AfkKR 68 (1892) 445-461, hier: 449.
8 Vgl. ebd. 450.
9 Ebd.
10 Vgl. ebd. 451.

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Zustand zurück gelassen.”11 Demgegenüber will Sägmüller dartun, „daß . . . das Kirchenrecht so alt ist als die Kirche und gemäß der Stiftung und dem Wesen der Kirche als Gesellschaft so alt als sie selber sein muß”.12 Dies möchte Sägmüller mit einem Hinweis auf Klemens von Rom und seinen Brief an die Korinther und mit den Briefen des Ignatius von Antiochien beweisen. Erwartet hätte man an dieser Stelle freilich eine Auseinandersetzung mit Hilfe von Beweisen aus der Hl. Schrift, denn daß Klemens und Ignatius eine Kirchenverfassung (und vor allem die feste Stellung des Bischofs kennen), leugnet Sohm ja nicht.13

5. Wie Sägmüller Bischöfe für die frühe Zeit der Kirche zu kennen meint, so auch Synoden. Wäre dem nicht so und hätte Sohm Recht, so wäre die Kirche untergegangen.14

6. Verdankt nach Sohm der römische Bischof seinen Primat vor allem (nicht nur!) der Welthauptstadtstellung Roms, so antwortet Sägmüller darauf: „Wären diese Deductionen richtig, dann müßte man in irgend einem Sinn, für irgend eine Zeit auch von einem griechischen Papsttum Konstantinopels sprechen können. Das ist aber noch nie jemandem eingefallen.”15

7. Was Sohm in seinem Buch (Kirchenrecht I) über die Reformation zu sagen weiß, will Sägmüller nicht beurteilen, vermag aber nicht zu schließen, ohne einen Seitenhieb gegen Luther auszuteilen. „Sodann stammt Luthers Abneigung gegen das Kirchenrecht noch aus anderen Gründen. Er konnte die Decretalen und Canonen nicht leiden, weil sie wie ein erhobener Arm der Gerechtigkeit ihn stets bedrohten und wenn auch die Macht fehlte, welche dieselben gegen ihn


11 Ebd.
12 Ebd. 452.
13 Vgl. KR I, 157-179.
14 Vgl. Sägmüller, Rez., Sohm (A. 7) 456.
15 Ebd. 459. Diese Bemerkung ist nicht ganz richtig, denn Sohm versucht ja gerade die mächtige Stellung Konstantinopels dadurch zu erklären, weil es Residenzstadt des Kaisers war (vgl. KR I, 427).

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executirte, so erachteten doch die ,Schandjuristen seine eigene gegen das canonische Hinderniss der Priesterweihe geschlossene Ehe nicht für gültig’”.16

 

II. Alfred Halban Blumenstok

Ist die Besprechung von Sägmüller über den ersten Band von Sohms Kirchenrecht eher unfreundlich, so wird im Archiv für katholisches Kirchenrecht im folgenden Jahr noch eine weitere Rezension abgedruckt; diesmal von Alfred Halban Blumenstok.17 War Sägmüller mehr auf die theologische Seite von Sohms erstem Band des Kirchenrechts eingegangen, so versucht Blumenstok dasselbe Werk von der juristischen Seite zu beurteilen. Allerdings gewinnt man auch den Eindruck, als habe die Schriftleitung des Archivs nach der sehr negativen Besprechung von Sägmüller einer mehr positiven Stimme das Wort geben wollen. „Mit begreiflicher Neugierde, mit spannender Erwartung, nimmt der Rechtshistoriker jedes Buch von Sohm zur Hand. Genaue Kenntnis der Quellen, tiefes Eindringen in den behandelten Gegenstand, eine geradezu geniale Intuition zeichnen seine Schriften aus; wenn auch in vielen Fällen nicht ohne Widerspruch, haben doch die meisten seiner Gedanken befruchtend gewirkt und in sehr anzuerkennender Weise zum Ausbau und genaueren Verständnis der betreffenden Theile der Rechtsgeschichte beigetragen.”18 Daß Sohm in seinem ersten Band des Kirchenrechts jedwedes Kirchenrecht leugnen würde, dafür sieht Blumenstok schon Anzeichen in Sohms Schrift „Das Verhältnis von Staat und Kirche” (Tübingen 1873). Schon damals unterschied Sohm „eine Kirche im Lehrsinn,


16 Sägmüller, Rez., Sohm (A. 7) 460.
17 Bei dem Namen des Rezensenten wird vermerkt, er sei Privatdozent an der Universität zu Krakau. Rouco-Varela (28-33) führt Blumenstok unter den katholischen Autoren auf. Näheres über Blumenstok konnte ich nicht in Erfahrung bringen.
18 A.H. Blumenstok, Einige Bemerkungen über Sohms Kirchenrecht und den Mysticismus in der Canonistik, in: AfkKR 69 (1893) 253-268.

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und eine Kirche im Rechtssinn, dem Staate gegenüber”.19 Allerdings gestand Sohm damals der Kirche „die Nothwendigkeit einer Corporationsverfassung zu; denn ohne dieselbe wäre ja irgend eine Beziehung zwischen Staat und Kirche unmöglich”.20 „Eine weitere Etappe auf dem Wege, den Sohm in seinem Kirchenrechte nunmehr endgültig eingeschlagen hat, bildet seine ,Kirchengeschichte im Grundriss’.”21 Dort wird die Gemeindeverfassung fast nur mehr auf die Kraft des Geistes aufgebaut. In diesem Geist leiten die Männer die Gemeinde, aber sie haben keinerlei formalen und rechtlichen Auftrag. Konsequenter ist noch der erste Band des Kirchenrechts. „Hier zieht Sohm die schärfsten Schlussfolgerungen und erklärt geradezu, daß es kein Kirchenrecht geben dürfe, daß jedes Kirchenrecht eine Negation der Kirche bedeute.”22 Das hält Blumenstok für protestantisch gefärbten Mystizismus. Protestantisch ist vor allem die Verneinung des Primats und des Episkopats, „mystisch dagegen die uneingeschränkte, allen zustehende Möglichkeit zu lehren, wobei natürlich vorausgesetzt wird, daß die wahre Lehre die falsche sofort besiegt, und daß die Wirren, die das uneingeschränkte Lehren aller hervorbringen kann und muß, der guten Sache nicht schade, sondern nütze.”23

 

III. Paul Fournier

Der katholische24 französische Gelehrte Paul Fournier25 läßt vor allem die rechtshistorische Seite von Sohms erstem Band


19 Ebd. 254.
20 Ebd.
21 Ebd. 255.
22 Ebd. 258.
23 Ebd. 260 f.
24 Vgl. Rouco-Varela 33-35.
25 Vgl. E.H. Fischer, Fournier, in: LThK IV (1960) 229. Paul Fournier war von 1921 bis 1929 Inhaber des neuerrichteten Lehrstuhls für Geschichte des kanonischen Rechts an der Universität Paris.

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des Kirchenrechts in den Vordergrund treten.26 Er stellt zunächst fest: „Comme on pouvait s’y attendre, l’ouvrage se distingue par les qualités bien connues du brillant historien.”27 Nachdem Fournier die charismatische Ordnung der Kirche im Sinne Sohms dargestellt hat, bemerkt er: „Cette conception idéale de l’Église peut sans doute se recommander par d’eminentes qualités: mais le malheur veut (et M. Sohm est le premier à le reconnaître) qu’elle n’ait jamais pu être réalisée. A peine peut-on lui attribuer une existence éphémère au temps de la première génération chrétienne; mais dès la seconde moitié du premier siècle, elle ne suffit plus.”28 Ähnlich erging es dem zunächst im Protestantismus herrschenden Idealismus. „II y eut un droit ecclésiastique luthérien. A ne consulter que les principes, ce droit est un non-sens; mais les directeurs du mouvement luthérien ne purent tirer les conséquences logiques des principes, empêchés qu’ils en furent, comme les chrétiens des premiers âges, par les nécessités pratiques résultant des défaillances de la foi.”29 Auf Einzelheiten geht Fournier in seiner Besprechung weniger ein. Dort wo er es doch tut, negiert er meist die Ergebnisse Sohms. Sein Gesamturteil faßt er schließlich folgendermaßen zusammen: „Sans admettre les conclusions de M. Sohm, je me plais à reconnaître qu’il voit de haut; il ne se traîne pas dans les sentiers battus; il n'esquive pas les questions; il pose des principes et en déduit les conséquences avec une rare logique; il développe ses opinions avec autant de netteté que de vigueur. Aussi son oeuvre me paraît-elle s’imposer à l’attention de tous ceux qui s’occupent à un point de vue scientifique de l’histoire du droit ecclésiastique.”30


26 P. Fournier, Rez. Rudolph Sohm, Kirchenrecht. Erster Band. Die geschichtlichen Grundlagen, in: Nouvelle revue historique de droit français et étranger 18 (1894) 286-295.
27 Ebd. 286.
28 Ebd. 287.
29 Ebd. 288.
30 Ebd. 295.

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IV. Ludwig Bendix

Der katholische31 Mainzer Professor für Kirchenrecht am Priesterseminar32 geht in seiner Kritik moderner theologischer und juristischer Ansichten besonders auf Rudolph Sohm ein. Das zeigt schon die Anlage des Buches. So heißt es zu Beginn: „Was ist die Kirche? Und was ist das Recht? Ist in Wahrheit zwischen beiden ein Widerspruch? Die Beantwortung dieser drei Fragen soll im folgenden versucht werden.”33 Bendix geht in der Widerlegung Sohms sehr systematisch voran. Die geschichtlichen Ergebnisse interessieren ihn kaum.34 So untersucht er zunächst den Begriff der Kirche35, dann den Begriff von Gesellschaft und Recht36 und schließlich die rechtliche Natur der katholischen Kirche.37 Dabei variiert Bendix im ersten (der Begriff der Kirche) und dritten Abschnitt (die rechtliche Natur der katholischen Kirche) nur das Axiom, daß die (katholische) Kirche eine vollkommene Gesellschaft sei und deshalb Recht habe. Im zweiten Abschnitt wird der Begriff der vollkommenen Gesellschaft beschrieben.

1. Der Begriff der Kirche

Hatte Sohm die „Kirche im Rechtssinn” von der „Kirche im Lehrsinn” unterschieden, so lehnt Bendix diese Differenzierung ab; zum Teil deswegen, weil eine solche Unterscheidung von juristischen Deduktionen und Konstruktionen abhängt


31 Vgl. Rouco-Varela 35-47.
32 L. Link, Bendix, in: LThK II (1958) 169.
33 L. Bendix, Kirche und Kirchenrecht. Eine Kritik moderner theologischer und juristischer Ansichten, Mainz 1895, 26. Man wird erinnert an den Satz Sohms „Das Kirchenrecht steht mit dem Wesen der Kirche in Widerspruch”, mit welchem Satz Sohm (gleichsam programmatisch) den ersten Band seines Kirchenrechts beginnt und beschließt.
34 Vgl. L. Bendix, Kirche und Kirchenrecht, Mainz 1895, 23.
35 Vgl. ebd. 27-51.
36 Vgl. ebd. 51-94.
37 Vgl. ebd. 94-185.

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(die Bendix nicht akzeptiert)38, zum Teil deswegen, weil dann die Rechtssubjektivität der Kirche von der staatlichen Anerkennung abhängig wäre; was zu verneinen ist.39 In Wirklichkeit muß die Kirche selbst Aufschluß über ihr Wesen geben. Bendix befragt deshalb eine Reihe von Theologen und Kanonisten nach einer Beschreibung der Kirche und faßt das Ergebnis so zusammen: „Die Kirche ist eine Gemeinschaft, eine wahre Gesellschaft (societas), in welcher der Begriff der Gesellschaft allseitig und vollkommen verwirklicht ist, so daß ihr kein constituirendes Element fehlt (perfecta), die von Christus in dieser ihrer Eigenart gestiftet ist zu dem ihr allein eigenen Zwecke40, nämlich der Heiligung der Menschen. Ist die Kirche aber eine vollkommene Gesellschaft, dann folgt „aus diesem ihrem Wesen . . . ihr Recht, und zwar ihr Recht im objektiven wie im subjektiven Sinne.”41

2. Die Gesellschaft und ihr Recht

Was ist eine Gesellschaft? Bendix definiert sie als eine „ständige moralische Verbindung mehrerer freier vernünftiger Wesen zur Erreichung eines einheitlichen Zweckes mittels gemeinsamer Thätigkeit42 Diese Gesellschaft hat natürlich eine Autorität, welche beschrieben wird als „ein thätiges Princip der Hinlenkung auf den Zweck der Gesellschaft, welches jeder Gesellschaft als solcher als Wesensbestandtheil dauernd innewohnt, tüchtig, die freien Willenskräfte der Gesellschafter zu binden”,43 Eingeteilt werden die Gesellschaften in vollkommene und unvollkommene. „Unter der vollkommenen Gesellschaft verstehen wir diejenige, mit deren


38 Vgl. ebd.
39 Vgl. ebd.
40 Ebd. 42.
41 Ebd. 51.
42 Ebd. 59.
43 Ebd. 61.

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Wesen es nicht vereinbar ist, Teil einer anderen Gesellschaft zu sein, deren Zweck folgegemäß nicht dem Zwecke einer anderen Gesellschaft derselben Art untergeordnet ist, welche daher auch alle Mittel, die zu ihrer Erhaltung und zur Erreichung ihres eigenthümlichen Zweckes notwendig sind, in sich besitzt.”44 Zur Gesellschaft gehört Recht. Daß jede Gesellschaft ihr Recht hat, gilt insbesondere für die vollkommene Gesellschaft.45

3. Die rechtliche Natur der katholischen Kirche

Sohm hatte behauptet, das Kirchenrecht stehe im Widerspruch zu dem Wesen der Kirche. Demgegenüber behauptet nun Bendix: „Ist die Kirche in Wirklichkeit eine vollkommene Gesellschaft, so ist auch erwiesen, daß sie mit dem Recht nicht nur in keinem Widerspruch steht, sondern daß sie ihrem Wesen nach das Recht fordert, daß ihre Rechtsordnung ihr wesentlich ist.”46 Daß die Kirche eine „societas perfecta” ist, war schon vorher aus den Schriften der Theologen und Kanonisten dargetan worden. Es wird nun auch noch durch den Willen Jesu, der Apostel und der Urkirche belegt. „Wer einigermaßen weiter verfolgt, was Christus getan hat, um sein Reich zu gründen, der wird keinen Augenblick zweifeln, daß darin die Stiftung der Kirche in der Form einer ganz bestimmten gesellschaftlichen Organisation enthalten ist.”47 Dieser Gesellschaft gibt er auch eine Instanz, welche entscheidet48, genauer: Christus gibt der Kirche eine gesetzgebende, richterliche und exekutive Gewalt.49 Was Christus gewollt hat, läßt sich auch dem Urteil der Apostel50


44 Ebd. 70.
45 Vgl. ebd. 88-94.
46 Ebd. 95.
47 Ebd. 121.
48 Vgl. ebd. 123.
49 Vgl. ebd. 124.
50 Vgl. ebd. 137-154.

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und der Urkirche51 entnehmen. Nach Bendix hat Christus seine Kirche schließlich gewollt als eine „societas inaequalis”52, eben aus Klerikern und Laien bestehend, und sie geformt „zu einer klar disponierten Monarchie”.53

Wir kommen zum Schluß: Bendix hat mit unleugbarer Durchsichtigkeit und imponierender Geschlossenheit eine systematische Antwort auf Sohm zu geben versucht.54 Ob diese Antwort befriedigend ausgefallen ist, hängt vor allem davon ab, ob man die Kirche als eine „societas perfecta” betrachten kann.55

 

V. Joseph Hollweck

Der katholische56 Professor für Kirchenrecht am bischöflichen Lyzeum in Eichstätt57 setzt sich in seinem Buch „Die kirchlichen Strafgesetze” in der Einleitung mit dem ersten Band des Kirchenrechts von Rudolph Sohm auseinander.58 Von einem kirchlichen Strafrecht könne nur gesprochen werden — meint Hollweck —, wenn die Kirche eine vollkommene Gesellschaft sei. Andernfalls sei die Kirche nur ein Verein und in ihr herrsche (nur) Vereinsdisziplin. „Entweder ist die Kirche, wie der einfache Wortsinn der heiligen Schrift berichtet, von Christus selbst als Rechtsanstalt mit bestimmter Verfassung, unabhängig vom Staate, mit einem wesentlich verschiedenen Zweck gegründet worden, oder man muß sagen, der Herr hat überhaupt keine ,Kirche’ gegründet im Sinne einer Rechtsanstalt, eine solche überhaupt nicht


51 Vgl. ebd. 154-185.
52 Vgl. ebd. 124.
53 Vgl. ebd. 136.
54 Vgl. Rouco-Varela 45.
55 Vgl. R. Sebott, De ecclesia ut societate perfecta et de differentia inter ius civile et ius canonicum, in: PerRMCL 69 (1980) 107-126.
56 Vgl. Rouco-Varela 47-51.
57 Vgl. J. Lederer, Hollweck, in: LThK V (1960) 456.
58 Vgl. J. Hollweck, Die kirchlichen Strafgesetze, Mainz 1899, IX-XX.

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gewollt. Er hat nur die Wahrheit und die Gnade den Menschen hinterlassen und menschliche Organe gesetzt, sie zu verkündigen bzw. zu spenden.”59 Eben diese zweite Meinung nehme Sohm ein, wenn er behaupte, das Recht stehe mit dem Wesen der Kirche im Widerspruch. Dadurch allerdings mache Sohm unsern Herrn Jesus Christus zu einem „thörichten Idealisten”, der eine Kirche gründet, „welche so, wie er sie gewollt hat, unter den Menschen absolut nicht bestehen kann und auch nie so bestanden hat, es sei denn, man interpretire die älteste und ehrwürdigste Urkunde des Christenthums in geradezu beispielloser Vergewaltigung”.60 Hollweck versucht nun (gegen Sohm) „die von Christus gestiftete Rechtsgemeinschaft der Kirche”61 näherhin in 5 Punkten zu bestimmen:

1. „Die Kirche ist eine einzige (una et unica).”62 In dieser einen und einzigen Kirche (Kirchen im Plural gibt es nach Hollweck nicht) müssen alle ihr Heil suchen. „So wenig der Staat auf der freien Willkür der Menschen beruht, sondern eine Exigenz der menschlichen Natur ist, und damit eine Anordnung des Schöpfers selbst, ebenso wenig ist es dem Menschen freigestellt, innerhalb oder außerhalb der einen Kirche Christi zu leben; so sehr bindet hier der Wille des Herrn, daß eine Weigerung nicht bloß sein Gesetz verletzte, sondern auch das Mittel zurückwiese, das allein den Menschen retten kann.”63

2. „Diese Rechtsgemeinschaft der Kirche ist eine vollkommene, d.h. eine souveraine”.64 Denn „der absolut souveraine Wille des Herrn, der keiner irdischen Gewalt unterworfen ist, der sich im Vollbesitz aller Gewalt weiß zu der ihm


59 Ebd. IX f.
60 Ebd. X.
61 Ebd. XI.
62 Ebd. XI.
63 Ebd. XII.
64 Ebd.

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vom Vater gegebenen Mission, er hat die den Aposteln mitgetheilten Gewalten ebenfalls als voll souveraine gegeben.”65

3. Mt 16, 19 („Ich werde dir die Schlüssel des Himmelreiches geben; was du auf Erden binden wirst, das wird auch im Himmel gebunden sein, und was du auf Erden lösen wirst, das wird auch im Himmel gelöst sein”) und Mt 18, 18 („Amen, ich sage euch: Alles, was ihr auf Erden binden werdet, das wird auch im Himmel gebunden sein, und alles, was ihr auf Erden lösen werdet, das wird auch im Himmel gelöst sein”) bezeugen, daß der Herr der Kirche eine Leitungsgewalt gegeben hat.66

4. Die eben erwähnte Leitungsgewalt ist rechtlich. Sie erzeugt „nicht bloß eine rein ethische, sondern eine streng juridische, im Weigerungsfalle erzwingbare Pflicht. Die Organisation der Kirche ist darum keine charismatische, sondern sie besitzt eine wahre Rechtsordnung, und zwar ist dieselbe juris divini, weil die Gewalten, welche die Kirche nach dem Willen Christi schaffen, nicht bloß an sich, sondern auch in ihrer inneren Natur von Christus sind. Er aber hat sie als rechtliche im strengen Sinn gegeben.”67 Eine bloß ethische Ordnung hätte nicht genügt und das hat Christus erkannt. „Wie die Dinge praktisch liegen, muß die Kirche eine rechtliche, nicht bloß eine ethische Ordnung haben — auch Sohm betont das — also, so dürfen wir schließen, hat sie dieselbe wirklich.”68 Wollte jemand annehmen, der geistliche Zweck der Kirche lasse sich nicht mit einer äußeren Ordnung erreichen, so müßte er annehmen, „daß Geistiges und Sinnliches, Natürliches und Übernatürliches sich nicht zu einer Einheit verbinden lassen”.69 Ja, er müßte letztlich


65 Ebd.
66 Vgl. ebd.
67 Ebd. XIII.
68 Ebd. XIV.
69 Ebd. XV.

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die Einheit von Gottheit und Menschheit in der einen Person Christi leugnen.70 Hollweck spielt hier auf das inkarnatorische Element an.

5. Die Binde- und Lösegewalt, die Christus den Aposteln übertragen hat, meint nicht nur Lehrgewalt, „sondern regimentliche Gewalt und zwar eine wahrhaft juridische, d.h. eine solche, die rechtliche, eventuell erzwingbare Ordnung zu setzen vermag, ähnlich der staatlichen Gewalt”.71

Hollweck faßt schließlich seine Argumentation gegen Sohm folgendermaßen zusammen: „Wie also neben der weltlichen Rechtsordnung eine geistliche, neben dem staatlichen Recht das kirchliche in voller Unabhängigkeit besteht, so auch neben dem staatlichen Strafrecht ein kirchliches. Dieses ist nicht minder ausgebildet als jenes; in mancher Hinsicht herrscht bei beiden Übereinstimmung, in der Regel jedoch nur eine gewisse Analogie, mehrfach auch eine durch die Natur der Rechtsordnung, welche geschützt werden will, bedingte Gegensätzlichkeit, die nicht übersehen werden darf, wenn die Beurteilung eine richtige sein soll. Wie beide einander selbständig gegenüberstehen, sich geschichtlich unabhängig von einander, wenn auch in mehrfacher Wechselwirkung entwickelt haben, so hat auch jedes seinen Geist.”72

Auch Hollweck hält (wie Bendix) seine Auseinandersetzung mit Sohm in einem sehr systematischen Rahmen. Es sind vor allem zwei Elemente, welche nach ihm das Kirchenrecht (genauer: das Straf recht) fordern: Zum einen ist die Kirche (wie der Staat) eine societas perfecta; eine solche aber fordert Recht.73 Zum andern ist in der Inkarnation Christi Menschheit und Gottheit vereinigt worden. Dieses inkarnatorische


70 Vgl. ebd.
71 Ebd.
72 Ebd. XVIII f.
73 Vgl. dazu R. Sebott, De ecclesia ut societate perfecta et de differentia inter ius civile et ius canonicum, in: PerRMCL 69 (1980) 107-126.

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Prinzip fordert aber, daß sich in der Kirche der Geist Christi in das Recht hinein verleiblicht.74

 

VI. Stanislaus von Dunin-Borkowski S.J.

Der (katholische) polnische Jesuit Zbigniew, Stanislaus, Martin Graf von Dunin-Borkowski S.J.75 kommt in seinem Buch „Die neueren Forschungen über die Anfänge des Episkopats” auch auf die Anschauungen Sohms zu sprechen, die dieser in seinem ersten Band des Kirchenrechts dargelegt hat.76 Er führt die Meinung des Leipziger Juristen unter der Überschrift „Eine mystisch-spekulative Methode” vor.77 Von Dunin-Borkowski erkennt an, daß Sohm die Entwicklung der Ämter in der Urkirche wieder mehr vom religiösen Standpunkt aus betrachtet, nachdem Edwin Hatch (1835-1889) und seine Schule fast ausschließlich mit soziologischen Kategorien gearbeitet hatten.78 Nur verderbe Sohm diese religiöse Betrachtung, weil er den historischen Boden verlasse. Von Dunin-Borkowski kritisiert vor allem,


74 Yves Congar schreibt zu dieser Frage: „L’effort devrait porter jusqu’au niveau de la christologie, de la pneumatologie et du rapport entre les deux. Nous avons déjà noté que Sohm part toujours du Christ comme Dieu intervenant actuellement depuis sa gloire, non comme Verbe incarné, source d’une oeuvre inscrite publiquement dans l’histoire. Son idee d’un christianisme primitif purement charismatique et d’une Église ,au sens spirituel’ opposé ,au sens juridique’ tient à cela” (Congar 280).
75 Vgl. K. Erlinghagen, Dunin Borkowski, in: LThK III (1959) 601; vgl. auch den Artikel „Dunin Borkowski” in: L. Koch, Jesuiten-Lexikon, Paderborn 1934, 461 f. Dunin-Borkowski wird bisweilen mit bisweilen ohne Bindestrich geschrieben. Ich habe mich für die Schreibweise mit Bindestrich entschieden, weil der Autor in seinen eigenen Büchern und Artikeln mit Bindestrich firmiert.
76 St. von Dunin-Borkowski, Die neueren Forschungen über die Anfänge des Episkopats, Freiburg i.Br. 1900 (= Stimmen aus Maria-Laach, 20. Ergänzungsband, S. 1-187 = 77. Heft).
77 Ebd. 153-157; vgl. auch St. von Dunin-Borkowski, Die Interpretation der wichtigsten Texte zur Verfassungsgeschichte der alten Kirche, in: Zeitschrift für katholische Theologie 27 (1903) 62-86; 181-208, hier: 181-193.
78 Vgl. von Dunin-Borkowski, Die neueren Forschungen (A. 76) 153.

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daß Sohm die Einführung des Einzelepiskopats auf den Klemensbrief zurückführen will. „Schon der Schlußakt allein, diese vollständige Änderung des ganzen Wesens des Christentums auf einen Schlag, durch einen Brief, tritt aus jeder historischen Analogie vollständig heraus. So ein Staatsstreich, von den Überrumpelten gar nicht bemerkt, von den Gegnern selbst lammfromm geduldet, erscheint unglaublich, ja unmöglich.”79 Was Sohms Begriff der Ekklesia angehe, so sei dieser spekulativ abgeleitet. Sohm gehe von einer Idee aus, die er in das Neue Testament hineintrage. „Sieht man von diesem Zirkel ab, so sind von den 33 Stellen, aus denen Sohm seinen Kirchenbegriff abzuleiten sucht, einundzwanzig gegen ihn, eine einzige (Ignat., Ad Smyrn. 8, 2) scheint für ihn zu sprechen . . .; die übrigen Stellen sind für seine Theorie gleichgültig.”80 Ähnlich verhalte es sich mit der sogenannten charismatischen Organisation und Sohms Theorie über die Lehrgabe. „So kann man mühevoll eine Stelle um die andere mit den Schlüssen Sohms konfrontieren, kaum eine ist stichhaltig.”81 Insgesamt kann also das Urteil über Sohms Kirchenrecht nur negativ sein. „Sohms Auffassung hat keine Zukunft.”82

 

VII. Johannes Linneborn

Der bedeutende katholische Kirchenrechtler Johannes Linneborn83 rezensierte das altkatholische Kirchenrecht, welches Sohm für die Festschrift der Leipziger Juristenfakultät


79 Ebd. 155. Sohm wird auf diesen und ähnliche Einwände antworten: „Daß der Clemensbrief allein, das Schreiben als solches so bedeutende Wirkung geäußert hätte, ist natürlich auch meine Meinung nicht. Ich habe selber . . . ausdrücklich hervorgehoben, daß der Erfolg des Clemensbriefes nur möglich war, weil bereits auch in Korinth und anderswo eine den Römern gleichgesinnte ,Ordnungspartei’ bestand” (WU 35, A. 33).
80 Von Dunin-Borkowski, Die neueren Forschungen (A. 76) 156.
81 Ebd.
82 Ebd. 157. In von Dunin-Borkowski, Die Interpretation (A. 77) 193 heißt es: „Sohms Theorie darf als überwunden betrachtet werden.”
83 Vgl. J. Wenner, Linneborn, in: LThK VI (1961) 1067.

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für Adolf Wach geschrieben hatte.84 Es ist stets schwierig, ein großes Werk auf knappem Raum zu besprechen, aber m.E. macht es sich Linneborn gar zu einfach. Zunächst gibt er eine kurze Zusammenfassung der Auffassungen Sohms, wobei man einen Hinweis darauf vermißt, daß Sohm die große Wende des Kirchenrechts nun nicht mehr im 1., sondern im 12. Jahrhundert sieht. Dann folgt die Bewertung. „Das Buch ist reich an verblüffenden Behauptungen und von einem ungewöhnlichen Selbstbewußtsein durchzogen. S[ohm] allein hat bis jetzt das Wesen der Kirche, des Kirchenrechts, die Bedeutung der Sakramentenlehre und die eigentliche Verfassung der Kirche erkannt! Ihm ist es auch vorbehalten geblieben, das Dekretum Gratiani als Sakramentenlehre recht zu würdigen! . . . Was S[ohm] bietet, ist der Aufriß eines kühn konstruierenden Architekten, aber nicht ein solides Bauwerk, wozu die Bausteine noch einzeln in mühsamer Forschung von Kanonisten und Dogmenhistorikern herbeigebracht werden müssen.”85 Linneborn schließt86 mit einem Hinweis auf die (negative) Besprechung des Protestanten Ulrich Stutz87, die vielfach von Katholiken gegen Sohm herangezogen wurde.

 

VIII. Emil Göller

Der katholische Kirchen- und Rechtshistoriker Emil Göller88 geht in seiner Rezension89 des Altkatholischen Kirchenrechts von Sohm auf zwei Einzelheiten ein: auf den


84 J. Linneborn, Rez., R. Sohm, Das altkatholische Kirchenrecht und das Dekret Gratians, in: Theologie und Glaube n (1919) 266 f.
85 Ebd. 266 f.
86 Vgl. ebd. 267.
87 Vgl. U. Stutz, Rez., R.Sohm, Das altkatholische Kirchenrecht und das Dekret Gratians, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Kan. Abt. 8 (1918) 238-246. Zu Stutz vgl. K. Mörsdorf, Stutz, in: LThK IX (1964) 1128.
88 Vgl. R. Bäumer, Göller, in: LThK IV (1960) 1048.
89 E. Göller, Rez., R. Sohm, Das altkatholische Kirchenrecht und das Dekret Gratians, in: AfkKR 100 (1920) 172-175.

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Sakramentsbegriff und auf die systematische Anlage des Gratianischen Dekrets. „Sehen wir näher zu, so ergibt sich, daß der Schwerpunkt der Ausführungen Sohms in seinem Sakramentsbegriff und näherhin in seiner Auffassung vom Wesen der Ordination zu suchen ist. Damit aber spielt die ganze Darstellung auf das dogmengeschichtliche Gebiet hinüber, verbunden mit einem Komplex von Fragen, deren Lösung auf geschichtlichem Boden nicht im Handumdrehen erfolgen kann.”90 Diese Frage kann deshalb nicht nur der Kanonist klären, vielmehr wird vor allem der Dogmenhistoriker dazu etwas sagen müssen. Vom kirchenrechtlichen Standpunkt läßt sich aber doch das Folgende sagen: „Wer mit Sohm das Dekret ausschließlich als Sakramentsrecht charakterisieren will, der hatte zunächst den Nachweis zu liefern, welche Auffassung Gratian, zu dessen Zeit, wie Geyer gezeigt hat, die Diskussion über die Siebenzahl der damals so genannten principalia sacramenta einen gewissen Abschluß fand, vom Sakramentsbegriff hatte und welcher der einzelnen Schulmeinungen (u.a. Algerus von Lüttich) er sich anschloß.”91 Diesen Nachweis hat nun Sohm (so die Meinung Göllers) nicht mit hinreichender Klarheit geliefert. Was die systematische Anlage des Dekrets Gratians betrifft92, so führt Göller aus: „Das von Sohm aufgestellte Einteilungsprinzip des Dekrets konnte auf den ersten Blick für denjenigen, der nur seine Darstellung las, bestechend wirken. Tatsächlich aber hat seine Beweisführung, ganz abgesehen von den damit verknüpften allgemeinen Voraussetzungen und Folgerungen, ein großes Loch und ist falsch.”93


90 Ebd. 173.
91 Ebd.
92 Vgl. dazu F. Gillmann, Einteilung und System des Gratianischen Dekrets nach den alten Dekretglossatoren bis Johannes Teutonikus einschließlich. Unter besonderer Rücksicht auf Rudolph Sohm: Das altkatholische Kirchenrecht und das Dekret Gratians, in: AfkKR 106 (1926) 472-574.
93 Göller, Rez., Sohm (A. 89) 174.

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IX. Hermann Dieckmann S.J.

Der katholische Theologe94 und Jesuit95 H. Dieckmann, der am Ignatiuskolleg in Valkenburg (Niederlande) Fundamentaltheologie lehrte, kommt in seinen Arbeiten zweimal ausführlicher auf Rudolph Sohm zu sprechen. Das eine Mal bietet er eine Übersicht über die Urteile und Stellungnahmen der verschiedenen Forscher zur Theorie Sohms. Nachdem Dieckmann die verschiedenen Ansichten kurz gestreift hat, faßt er die Meinung der Autoren so zusammen: „So kommen selbst Sohms Verteidiger nicht daran vorbei, ausdrücklich oder stillschweigend zwei wesentliche Fehler seiner Theorie anzuerkennen. Der erste liegt auf dem Gebiete der Geschichte: Der Abfall von dem Begriff der Kirche knapp 60 Jahre nach dem Beginn der Kirche, der schließlich auf das Versagen der Charismen, d.h. Gottes selbst zurückgeführt wird — eine wahrhaft ungeheuerliche Annahme gerade vom Standpunkt Sohms aus; der zweite, begrifflicher Art, ist das Axiom Sohms: Recht und Kirche stehen in begrifflichem Widerspruch”.96

Bei einer zweiten Auseinandersetzung mit Sohms Thesen sucht Dieckmann eine Lösung auf die Frage, wie die Kirche zugleich Rechtsorganisation und (übernatürlicher) Leib Christi sein könne. Dieckmann meint, Rechtsverfassung und Gnadenleben97 könnten deshalb nicht im Widerspruch stehen, weil sie sich herleiten „von Christi ausdrücklichem Willen. So sagt es Paulus. Und er bringt Erklärung und Beweis eben aus der Tatsache, daß die Kirche der Leib Christi


94 Vgl. J.Beumer, Dieckmann, in: LThK III (1959) 375.
95 Vgl. Artikel „Dieckmann”, in: L. Koch, Jesuiten-Lexikon, Paderborn 1934, 423.
96 H. Dieckmann, Die Beurteilung der Theorie Sohms, in: Wissen und Glauben (Monatsschrift zur Begründung und Vertiefung der christlichen Weltanschauung) 24 (1927) 129-144, hier: 144.
97 Man fühlt sich unwillkürlich erinnert an das folgende spätere, berühmte Werk: H. Dombois, Das Recht der Gnade I-III, Witten/Bielefeld 1961-1983.

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sei.”98 Wie es nämlich im menschlichen Leib „Organe und Gewebe gibt, die seiner Festigkeit und dem Zusammenhalt des Ganzen dienen, ganz ebenso bedarf der Leib Christi des äußeren Zusammmenschlusses seiner Glieder als Vorbedingung der Gnadenverbindung mit dem gemeinsamen Haupte. Paulus nennt die ,Sehnen und Bänder’ dieses Leibes (Kol 2, 19; vgl. Eph 4, 16) als notwendige Stützglieder des Gotteswerkes.”99

 

X. Egon Schneider

In der Zeitschrift „Theologie und Glaube”100 schreibt der katholische101 Professor für Theologie E. Schneider eine Rezension über die beiden Kirchenrechtsbände von Sohm.102 Die Besprechung ist durchaus freundlich und zeichnet sich


98 H. Dieckmann, Die Verfassung der Urkirche. Dargestellt auf Grund der Paulusbriefe und der Apostelgeschichte, Berlin 1923, 124.
99 Ebd. In demselben Jahr (1923), als H. Dieckmann sein Buch über die Verfassung der Urkirche erscheinen ließ, veröffentlichte der katholische Kanonist R. Köstler (vgl. W.M. Plöchl, Köstler, in: LThK VI [1961] 577) eine Rezension über Sohms altkatholisches Kirchenrecht und das Dekret Gratians (vgl. R. Köstler, Rez., Das altkatholische Kirchenrecht und das Dekret Gratians, in: Mitteilungen des Österreichischen Instituts für Geschichtsforschung 39 [1923] 259-267). Das Ergebnis: „Was Sohms Buch bietet, ist ein mächtiges, erstaunlich kühnes Gedankengebäude, ein Ideenpalast, stilgerecht aufgebaut und bis ins einzelne kunstvoll ausgeführt. Von außen wirkt es prächtig. Die Darstellung ist einfach und gediegen, die Sprache wuchtig” (ebd. 261). Freilich: „Was sich so, von kleinen Schönheitsfehlern abgesehen, äußerlich als Prachtbau darstellt, ist es innerlich durchaus nicht. Es fehlt ihm nämlich eines, das Wichtigste: Die Feste des Unterbaues. Denn dieser besteht nur aus einzelnen Stützen. Und wenn’s noch Quadern wären! So aber sind es bloß Pfähle, zum Teil unterwaschen oder morsch. Das Ganze wäre einem mächtigen, aber schwanken Pfahlbau vergleichbar. So ist Sohms anscheinend monumentales Werk doch nur Stückwerk, ohne dauernden Wert, ohne grundlegende Bedeutung” (ebd. 261 f.).
100 Herausgegeben von den Professoren der Bischöflichen philosophisch-theologischen Akademie Paderborn. Das Impressum nennt E. Schneider als Mitherausgeber.
101 Vgl. Dieckmann, Beurteilung (A. 96) 133 f.
102 E. Schneider, Rez., R. Sohm, Kirchenrecht I: Die geschichtlichen Grundlagen; Kirchenrecht II: Katholisches Kirchenrecht, in: Theologie und Glaube 16 (1924) 95-99.

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vor allem dadurch aus, daß die Auffassung Sohms (vor allem dessen Ausführungen im zweiten Band des Kirchenrechts) zunächst einmal ausführlich dargestellt werden. In der Zusammenfassung hält sich Schneider an die Worte der beiden Herausgeber (E. Jacobi und O. Mayer) des zweiten Bandes von Sohms Kirchenrecht.103 Danach liegt für Sohm das Wesen des Christentums „in der unsichtbaren Kirche, der Kirche Christi, der sich versammelnden Christenheit, in der Christus und der Geist Gottes wirksam gegenwärtig ist. Was man gewöhnlich Kirche nennt, ist nur ihr Kleid. Daran mag sich menschliche Ordnungsweisheit versuchen, nur darf sie jene Hauptsache nicht meistern wollen. So hat Sohm das Christentum nicht bloß aus seinen urchristlichen Forschungen erkannt, sondern auch als lebendige Gegenwart selbst erlebt. Seine kirchenrechtlichen Anschauungen sind nur aus seiner Frömmigkeit heraus richtig zu verstehen.”104

Muß Schneider am Ende die Ergebnisse Sohms auch ablehnen, so spendet er doch zunächst dem Leipziger Juristen hohes Lob. „Auch dieser zweite Band weist die Vorzüge des ersten auf: Glänzende Sprache, Tiefe der Untersuchung, geistreiche Gedankengänge, hohe Auffassung vom Wesen und den Aufgaben der Kirche.”105 Dazu kommen „gründliche Quellenkunde” und „reiches Wissen”.106

 

XI. Wilhelm Hentrich S.J.

Katholische Autoren pflegen gern v. Dunin-Borkowskis Meinung über Sohm zu wiederholen: „Sohms Auffassung hat keine Zukunft.”107 Und dennoch beschäftigt man sich immer wieder mit Sohm. Diesmal tut es der katholische


103 Vgl. KR II, S. V.
104 Schneider, Rez., Sohm (A. 102) 96.
105 Ebd. 98.
106 Vgl. ebd.
107 Von Dunin-Borkowski, Die neueren Forschungen (A. 76) 157. In von Dunin-Borkowski, Die Interpretation (A. 77) 193 heißt es: „Sohms Theorie darf als überwunden betrachtet werden.”

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Professor für Philosophie und Jesuit, Wilhelm Hentrich.108 Hentrich versucht eine Gesamtschau der kirchenrechtlichen Arbeiten Sohms. Dabei stützt er sich vor allem auf die beiden Bände des Kirchenrechts und das Büchlein „Wesen und Ursprung des Katholizismus”. Weniger in Betracht kommt das altkatholische Kirchenrecht.109 Ich möchte versuchen, die Auffassungen Hentrichs in sechs Punkten zusammenzufassen:

1. Ganz mit Recht betont Hentrich im Zusammenhang mit der Idee der unsichtbaren Kirche: „Damit ist eine der Grundlagen zur Beurteilung seiner Ansicht gegeben: Sohm übernimmt einen Kirchenbegriff, der sich im wesentlichen auf die Autorität Luthers stützt. Die Hl. Schrift, die in der Frage der Organisation der Urkirche doch zunächst gehört werden sollte, kommt an zweiter Stelle und darf im Grund nur die Bestätigung liefern für die einmal festliegende Idee der Kirche.”110

2. Hentrich erkennt, daß die neuere protestantische Forschung in der Beurteilung der Urkirche zwei Wege gegangen ist: den realistischen und den idealistischen. Die erste Meinung sieht in den Urgemeinden rein weltliche Kirchenvereine mit Autonomie und Demokratie. Ganz anderer Meinung ist Sohm. „Seine” Gemeinden sind rein religiös und rein übernatürlich. Doch wird er mit dieser Auffassung den Quellen nicht gerecht.111

3. Wenn Sohm behauptet, das Kirchenrecht stehe mit dem Wesen der Kirche im Widerspruch, so liefere er dafür keine Beweise aus der Hl. Schrift. „Sohm stützt vielmehr seine Grundauffassung auf zwei Apriori: auf ein autoritatives und


108 Vgl. den Artikel „Hentrich”, in: L. Koch, Jesuiten-Lexikon, Paderborn 1934, 789.
109 W. Hentrich, Sohms Theorie einer „charismatischen” Organisation der Urkirche, in: Wissen und Glauben (Monatsschrift zur Begründung und Vertiefung der christlichen Weltanschauung) 24 (1927) 77-88.
110 Ebd. 77 f.
111 in Vgl. ebd. 79.

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ein persönliches”.112 Das erstere ist die Autorität Luthers und dessen Scheidung zwischen unsichtbarer und sichtbarer Kirche. Das zweite ist die persönliche Meinung Sohms, wonach der Glaube stets neu und frisch aus dem Innern der Seele sprudeln müsse.113

Die Idee der urchristlichen Ortsgemeinde, also die Ekklesia, sei wesentlich spekulativ abgeleitet und lasse sich aus den Quellen nicht beweisen.114

Die sogenannte „charismatische Organisation der Urkirche”, welche Sohm herausgearbeitet hat, findet Hentrich sympathisch. Denn darin drückt sich eine gewisse Theokratie, eine Herrschaft Gottes aus.115 Freilich sind (in der Meinung Hentrichs) Sohms Gründe für eine solche charismatische Organisation nicht stichhaltig. Weder sei die Urkirche von einer baldigen Wiederkunft Christi überzeugt gewesen (weshalb man dann auf eine rechtliche Organisation der Gemeinden hätte verzichten können), noch fehle es im Urchristentum an Kirchenrecht.116

Nach Sohm sei der Ursprung des Katholizismus (und das Aufkommen des Kirchenrechts) wesentlich als Abfall vom ursprünglichen Ideal zu verstehen. Ein solcher Abfall könne aber letztlich nur durch ein Versagen Gottes erklärt werden, der seiner Kirche nicht genügend Charismen schenkte. In der Meinung Hentrichs führt hier die Theorie Sohms zu absurden Folgerungen.117

 

XII. Gallus Maria Manser O.P.

Der katholische Professor für Philosophie an der Universität Fribourg und Dominikaner Gallus Maria (Taufnahme:


112 Ebd. 81.
113 Vgl. ebd.
114 Vgl. ebd. 82.
115 Vgl. ebd. 84.
116 Vgl. ebd. 85.
117 Vgl. ebd. 86.

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Joseph Anton) Manser118 kommt in seinem engagierten, temperamentvollen und eher systematisch-spekulativ angelegten Artikel über die „Rechtskirche und Liebeskirche” auch auf Sohm zu sprechen.119 Manser sieht Sohm im Zusammenhang mit Friedrich Heiler.120 „Sohm’s Idee griff Friedrich Heiler auf und gestaltete sie ganz im modernistischen Sinne aus.”121 „Kirchengeschichtlich stützen sich beide, Sohm und Heiler, auf Adolf Harnack. Bibelkritisch und religionspsychologisch steht die Richtung . . . eminent unter dem Einflüsse Alfred Loisy’s, George Tyrell’s, Friedrich von Hügel’s, Laberthonière’s, Söderblom’s, mit anderen Worten unter der Einwirkung des Modernismus, der übrigens, wie Harnack ganz richtig gesagt, protestantisches Geblüt aus dem XVI. Jahrhundert ist.”122 Die Voraussetzungen dieses Sohmschen Modernismus bestehen nach Manser darin, daß die Kirche nicht wirklich eine Gründung Christi bzw. nicht eine Gründung Gottes ist. „Das, was da gesagt wurde gegen die römische Rechtskirche, ist stark und furchtbar. Aber die Voraussetzungen ins Auge gefaßt, ist es nicht unlogisch. Wenn Christus-Gott die hierarchische Kirche mit ihrer Lehr-, Priester- und Hirtengewalt nicht selbst eingesetzt hat, dann läßt sich gegen das Gesagte nicht viel einwenden. Dann ist die katholische Rechtskirche, weil von Menschen, selbst bloßes Menschenwerk”.123 Manser freilich ist anderer Meinung als Sohm. „Reden wir genauer, und fragen wir: konnte Gott, in Abhängigkeit von ihm, Menschen Autorität, Machtbefugnisse, Rechte übertragen? Wer das bestreitet, spricht Gott ab, was der Mensch dem Menschen gegenüber vermag,


118 G. Gieraths, Manser, in: LThK VI (1961) 1365.
119 G.M. Manser, Rechtskirche und Liebeskirche, in: Divus Thomas (Freiburg i.Ü.) 3. Serie, 6. Jahrgang (1928) 3-13, 196-210.
120 Vgl. G. Lanczkowski, Heiler, in: Theologische Realenzyklopädie XIV, Berlin 1985, 638-641.
121 Manser, Rechtskirche (A. 119) 5.
122 Ebd. 6.
123 Ebd. 9.

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spricht Gott die Möglichkeit der Prophetensendung, überhaupt jeder Missio divina an die Menschen ab, die Sohm selber für möglich hält. Wenn Gott dagegen den Menschen Rechte und Autorität übertragen konnte, um selbst durch die Menschen als Mittel sie auszuüben, dann konnte er eine göttlich sichtbare Rechtskirche gründen, in der er selbst durch sichtbare Menschen seine Vollmachten, seine Wahrheit, seine Gnaden, seine Gesetze mitteilt und erhält. Dann haben wir die Möglichkeit einer göttlich-unsichtbaren-sichtbaren, innerlich und äußerlich verpflichtenden Kirche. Dann fällt Sohms ganze Theorie”.124

 

XIII. Norbert Lämmle

Als letzte Stellungnahme zu Sohm innerhalb des ersten Kapitels (erste und vorläufige Stellungnahmen) des zweiten Teils (die Reaktion der katholischen Theologen auf Sohm) möchte ich den Gedanken des katholischen Theologen Norbert Lämmle125 nachgehen.126 Hans Barion hat an Lämmle herbe Kritik geübt.127 Ein großer Aufwand an Zeit und Fleiß sei vertan worden.128 Die Auseinandersetzung mit Sohm müsse auf der historischen und theologischen Ebene geschehen. „Das historische Fundament des Sohmschen Kirchenrechts ist die Behauptung, daß im Urchristentum oder genauer in der Lehre Christi und der Apostel die kirchliche


124 Ebd. 200 f.
125 N. Lämmle war (katholischer) Pfarrer von Ochsenhausen in Württemberg (vgl. Lexikon für Theologie und Kirche IX, Freiburg i.Br. 1937, S. VII [Mitarbeiterverzeichnis]).
126 N. Lämmle, Beiträge zum Problem des Kirchenrechts, Rottenburg a.N. 1933. Ein Teil dieser Arbeit diente als Doktordissertation bei der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität in Tübingen (vgl. S. V); N. Lämmle, Sohm, in: Lexikon für Theologie und Kirche IX, Freiburg i.Br. 1937, 648 f.
127 Vgl. H. Barion, Rez., N. Lämmle, Beiträge zum Problem des Kirchenrechts, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Kan. Abt. 23 (1934) 467-469.
128 Vgl. ebd. 468.

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Verfassung pneumatischen Charakter trage, und nicht rechtlichen. Jeder Versuch nachzuweisen, daß für das Ende des 1. Jahrhunderts oder gar erst für spätere Jahrhunderte die pneumatische Komponente des Kirchenrechts von Sohm zuungunsten der rechtlichen überschätzt werde, ist für die Erschütterung dieser These belanglos”.129 Ähnliches gilt (nach Barion) von den theologischen Überlegungen, die Lämmle anstellt. „Es gibt nur eine theologische Frage, die auf den Kernpunkt der Sohmschen Theorie zielt; sie ist durch die angedeutete historische bestimmt und muß so gestellt werden: Ist die Verfassung der Urkirche, der Kirche Christi und der Apostel maßgebend für die Kirchenverfassung überhaupt? Daß diese Frage, die einmündet in die allgemeine Frage nach der geschichtlichen Verwurzelung der Offenbarung, letztlich für die Stellungnahme Sohms und zu Sohm entscheidend ist, hat schon Harnack gesehen”.130 Leider gehe das Buch von Lämmle (so meint Barion) an diesen beiden Zentralpunkten vorbei.131

Trotz dieser (m.E. zu negativen) Beurteilung sei es erlaubt, zwei der Hauptthesen von Lämmles Buch kurz zu diskutieren.132

1. Das erste Problem besteht (nach Lämmle) in dem Zusammenhang zwischen weltlichem und geistlichem Recht in der Kirche. Wenn man sich mit Sohm die Frage stellt, wie Kirche und (weltliches) Recht zueinander stehen, so gibt es darauf grundsätzlich drei Lösungen: „Entweder man spricht der Kirche ein weltliches Recht zu, oder man erkennt in ihr eine rein geistliche Ordnung, oder man hält an der inneren Verbindungsmöglichkeit von Göttlichem und Menschlichem


129 Ebd. 469.
130 Ebd.
131 Vgl. ebd.
132 Lämmle erkennt die Bedeutung Sohms, wenn er schreibt: „S[ohm] hat die Wissenschaft des KR befruchtet durch neuartige Fragestellung wie durch eindringl[iche] Betonung des inneren Zusammenhangs zwischen KR u[nd] Glaubenswelt” (Lämmle, Sohm [A. 126] 648).

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im Recht fest und vertritt ein geistlich-weltliches Kirchenrecht.”133 Es ist nicht schwer zu erkennen, daß Lämmle die dritte Lösung (geistlich-weltliches Kirchenrecht) vertritt. Dieses Kirchenrecht beschreibt er durch drei Merkmale:

a) Es gibt in der Kirche ein positiv göttliches Recht und dieses ist „in der Hl. Schrift und in der mündlichen Überlieferung enthalten”.134 Gegenüber dem Einwand, es lasse sich wenig Bestimmtes über das göttliche Kirchenrecht sagen, betont der Autor, es sei zwar richtig, „daß das göttliche Kirchenrecht juristisch noch wenig erfaßt ist; als richtungs-gebende theologische Tatsachen sind dagegen die göttlichen Kirchenrechtsnormen, vom katholischen Standpunkt aus gesehen, absolut eindeutig.”135

b) Das göttliche Recht muß noch in das praktische Leben hinein integriert werden. „Das erfordert ,Ausführungsbestimmungen’ der Kirche zum göttlichen Recht. Zu den Rechtsnormen dieser Art gehören z.B. die Gesetze über das kirchliche Lehramt, über die Ausspendung und den Empfang der Sakramente, über die Kirchenzucht. Diese Bestimmungen schließen sich unmittelbar an das positive göttliche Recht an und empfangen von ihm Richtlinien und Motive, wie sie auf der andern Seite das göttliche Recht verdeutlichen und im gewissen Sinne zu seiner Weiterentwicklung, d.h. zu seiner tieferen Erkenntnis beitragen.”136

c) „Eine dritte Schicht des katholischen Kirchenrechts verdankt seinen Urspung weder positiv göttlicher, noch unmittelbar religiöser Satzung, sondern unmittelbar weltlichen Zwecken. Dazu gehören vor allem die vermögensrechtlichen Normen der Kirche, sowie alle nur formalrechtlichen Bestimmungen, die sogenannten Rechtsgeltungsnormen.”137


133 Lämmle, Beiträge (A. 126) 133.
134 Ebd. 140.
135 Ebd. 140, A. 4.
136 Ebd. 142.
137 Ebd. 143.

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Lämmle sieht freilich bei all dem die Spannung, in welcher das Recht in der Kirche steht. Auf der einen Seite hat es wirklichen Rechtscharakter. „Seine Struktur ist im wesentlichen dieselbe wie die des staatlichen Rechts.”138 Auf der anderen Seite liegt über dem Kirchenrecht etwas Dunkles, „so daß wir wohl sagen können, was das Kirchenrecht nicht ist, nicht aber, was es seiner ganzen Wesenheit nach ist”.139

2. Das zweite Problem, auf das Lämmle hinweist, ist die Frage nach dem Zusammenhang von Rechtskirche und Liebeskirche. Das Schlagwort von der Liebeskirche, das gegen die Rechtskirche ausgespielt wird, hängt letztlich mit einem spiritualistischen Kirchenbegriff zusammen. „Die Gesamtauffassung S[ohm]s, von der protestant[ischen] Theologie im wesentlichen angenommen, steht u[nd] fällt mit dem Kirchenbegriff Luthers.”140 Sohm gibt dem Schlagwort von der Rechts- und Liebeskirche neue Nahrung, wenn er schreibt: „Die hierarchische Regierungsgewalt der katholischen Kirche (jurisdictio) vernichtet das geistliche Eigenleben aller Glieder der Christenheit, um einem Einzigen, dem Papst, die Freiheit eines Christenmenschen . . . zuzusprechen.”141 Demgegenüber meint Lämmle: „In Wirklichkeit aber ist die kirchliche Verfassung nicht Hemmnis für die christliche Freiheit und Liebe, sondern im Gegenteil Sicherung der freien christlichen Persönlichkeit”.142 Dennoch gibt Lämmle zu, daß im praktischen Leben der Kirche das Problem der sog. Rechts- und Liebeskirche und die damit zusammenhängenden Fragen nach Autorität und Freiheit, Gemeinschaft und Persönlichkeit, Frömmigkeit und Amt noch nicht gelöst sind.143


138 Ebd. 144.
139 Ebd. 147.
140 Lämmle, Sohm (A. 126) 648.
141 WU 20 f.
142 Lämmle, Beiträge (A. 126) 151.
143 Vgl. ebd. 158. Zum ganzen Problem vgl. R. Sebott, Religionsfreiheit und Verhältnis von Kirche und Staat, Rom: Gregoriana 1977, 216-237.

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Überblickt man noch einmal das ganze, eben behandelte Kapitel (erste und vorläufige Stellungnahmen), das den Dialog mit Sohm in Gang bringen soll, so ergeben sich eine Reihe von Bemerkungen, die man unter die folgenden drei Stichworte einordnen könnte: Anerkennung, Kritik, offene Fragen.

Anerkennung: 1. Man lobt bei Sohm die genaue Kenntnis der Quellen, ein tiefes Eindringen in den behandelten Gegenstand und eine geniale Intuition (Blumenstok, Fournier).
2. Die Autoren würdigen bei Sohm seine klassische Sprache, seine kunstvolle Darstellungskraft und sein Bekenntnis als gläubiger Christ (Köstler, Schneider).
3. Man würdigt die Bedeutung Sohms, die darin besteht, daß er die Wissenschaft des Kirchenrechts befruchtet hat durch neuartige Fragestellungen wie durch eindringliche Betonung des inneren Zusammenhangs zwischen Kirchenrecht und Glaubenswelt (Lämmle).
4. Es ist von Bedeutung, daß Sohm die Ämter in der Kirche aus echt religiösen Motiven und Gründen entwickelt und ganz auf eine soziologische Begründung verzichtet (von Dunin-Borkowski, Dieckmann, Hentrich).

Kritik: 1. Sohm tut den Belegstellen (vor allem dem Neuen Testament) Gewalt an. Sehr oft geht er spekulativ voran und konstruiert ein Ideengebäude, anstatt die Texte selbst sprechen zu lassen (Sägmüller, Hollweck, von Dunin-Borkowski, Linneborn, Hentrich).
2. Sohm vertritt einen protestantisch gefärbten Mystizismus (Blumenstok, Hentrich), der sich in der Praxis nicht verwirklichen läßt (Fournier). Protestantisch ist an dieser Theorie vor allem die Verneinung des Episkopats, mystisch die allen zustehende Möglichkeit zu lehren, wobei vorausgesetzt wird, daß die Wahrheit sich auf alle Fälle durchsetzen wird.
3. Nach Sohm hätte Gott für seine Kirche deshalb nicht genügend gesorgt, weil er seit dem Ende des 1. Jahrhunderts

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kaum mehr Charismen erweckte (Dieckmann, Fournier, Hentrich).
4. Sohm ist unfähig, die schon im Neuen Testament vorhandenen kirchenrechtlichen Elemente zu erkennen, weil er einen vorgefaßten Begriff von Recht hat (Sägmüller, Hollweck).

Offene Fragen: 1. Welches ist die Verfassung der Urkirche (Sägmüller, Barion)? Im besonderen: Ist die Kirche von Christus als wohlgeordnete Gesellschaft (societas perfecta) gegründet worden (Bendix, Hollweck)?
2. Welches ist Sohms Kirchenbegriff (Sägmüller)? Wie weit trägt das sogenannte inkarnatorische Element der Kirche (Hollweck, Dieckmann)?
3. Sohm trennt zwischen einer sichtbaren und unsichtbaren Kirche (Schneider, Blumenstok). Hält er diese Unterscheidung selber in allen seinen Werken durch? Inwieweit ist sie richtig?
4. Was heißt bei Sohm geschichtliche Verwurzelung der Offenbarung? Hebt Sohm eine solche nicht dadurch auf, daß er sich in der Frage des Rechtes und der Ämter mehr auf Luther als auf die Hl. Schrift stützt (Hentrich, Barion)?

Es ist Aufgabe der folgenden Kapitel, die aufgeworfenen offenen Fragen einer Lösung zuzuführen.