Die Kirche Christi ist unsichtbar. In diesem Satz haben wir die Eigenart des lutherischen Kirchenbegriffs, zugleich den Quellpunkt der lutherischen kirchenrechtlichen Entwicklung.
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Die Kirche im religiösen Sinn, die Kirche als das Volk Gottes auf Erden ist ein Gegenstand des Glaubens, und „was man glaubt, das sieht man nicht”, das kann mit den Augen des natürlichen Menschen nicht gesehen werden. Das Dasein des Volkes Gottes (der Ekklesia) bedeutet das Dasein eines neuen Lebens, eines überweltlichen Lebens inmitten dieser Welt, eines Lebens durch Christum mit und aus Gott. Daß es ein solches Leben gibt, kann dem Verstände nicht dargetan, noch von ihm begriffen werden. Die Kirche Christi ist darum für den Ungläubigen nicht da. Sie ist nur da für den, der selber an diesem Leben teilhat. Die Kirche Christi ist sichtbar für den Gläubigen. Er sieht sie an ihren Lebenszeichen (den notae ecclesiae), vor allem an dem Leben des göttlichen Wortes: nicht an einem geschriebenen toten Wort, sondern an der Wortverwaltung (zu deren Formen auch das Sakrament gehört), an der Verkündigung der frohen Botschaft, die von Person zu Person gehend, den einen unmittelbar entzündet durch den anderen. Der Gläubige sieht, erfährt die Gemeinschaft der Gläubigen, die ihn trägt und nährt. Er empfindet die Macht, welche aus dem Leben des Volkes Gottes, aus dem lebendigen Wort, in seine Seele strömt und ihn vergewissert, daß solches Wort aus göttlichem Geist geborenes an ihn gerichtetes Gotteswort bedeutet. Die Lebenszeichen der Kirche Christi (externae notae ecclesiae) werden in der äußerlich sichtbaren Christenheit offenbar — die Kirche Christi ist die Stadt auf dem Berge — aber sie entspringen und gehören nicht der sichtbaren äußerlichen Christenheit, sondern der unsichtbaren Kirche Christi. Die unsichtbare Kirche ist eine Gemeinschaft auch äußerlich erscheinender Dinge, der in der sichtbaren Christenheit sich vollziehenden rechten Wort- und Sakramentsverwaltung, deren Frucht Friede, Freude, Gerechtigkeit und Werke christlicher Liebe sind. Aber sie ist eine Gemeinschaft dieser äußerlich hervortretenden Dinge nicht kraft äußeren gemeinsamen Besitzes, sondern nur als die Gemeinschaft des unsichtbaren geistlichen Lebens,
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dem Wort und Werk entspringt1. Darum vermag denn auch diese Gemeinschaft, der Wort und Werk zugehören, niemand
1 Augsb. Konf. Art. VII (I.T. Müller, Die symbolischen Bücher der evangelisch-lutherischen Kirche, 5. Aufl., 1882, S. 40): Est autem ecclesia congregatio sanctorum, in qua evangelium recte docetur et recte administrantur sacramenta. Das Urteil: in qua recte docetur etc., fügt dem Begriff der congregatio sanctorum nichts hinzu, sondern drückt aus, was in ihm enthalten ist. Das Wesen der congregatio sanctorum (der Kirche Christi) besteht darin, daß sie die Gemeinschaft der rechten Wort- und Sakramentsverwaltung ist, daß in ihr und durch sie das Wort Gottes verkündigt wird, daß in ihr und durch sie (durch ihre Vermittlung) Christus, Gott mit seinem Wort auf Erden lebt. Nur dadurch ist sie der Leib Christi, der unsichtbare, aber doch inmitten dieser sichtbaren Christenheit wirkende Körper, in dem und durch den Christus, Gott über Menschenseelen mächtig ist. Wo das Wort des Herrn verkündigt wird, da ist der Herr. So das Urchristentum (vgl. die Apostellehre IV, 1: ὅθεν γὰρ ἡ κυριότης λαλεῖται, ἐκεῖ κύριός ἐστιν, mit den von Harnack in seiner Ausgabe angezogenen Parallelen); so auch die Augustana. Wo das Wort Gottes lebt, da ist das Volk Gottes. Die „Gemeinschaft der Heiligen”, die wahre Kirche ist die Gemeinschaft der externae notae ecclesiae, der wahren, d.h. der lebenskräftigen Lehre und Sakramentsverwaltung. Das bestätigt die Apologie der Augsburgischen Konfession Art. VII, VIII (Müller S. 152): ecclesia non est tantum societas externarum rerum et rituum sicut aliae politiae, sed principaliter est societas fidei et spiritus sancti in cordibus, quae tamen habet externas notas (das sind die externae res, die der societas fidei gemeinsam sind), ut agnosci possit, videlicet puram evangelii doctrinam et administrationem sacramentorum consentaneam evangelio Christi. Et haec ecclesia (welche die societas fidei ist und die externae notae hat) sola dicitur corpus Christi, quod Christus spiritu suo renovat, sanctificat et gubernat. Die Kirche Christi (communio sanctorum) ist ihrem Wesen nach (principaliter) eine societas fidei in cordibus. Aber sie hat externae notae und muß sie haben, ut agnosci possit, damit sie (für den Gläubigen) erkennbar und wirkungsfähig ist. So ist die societas fidei zugleich eine societas externarum rerum ac rituum: der reinen Lehre und Sakramentsverwaltung. Der unsichtbaren Kirche gehört das reine Gotteswort, ein Satz, der mit dem anderen gleichbedeutend ist, daß auch das reine Gotteswort (pura doctrina), obgleich in der Form der Wortverkündigung zu den äußerlich erscheinenden Dingen (externae res) zählend, dennoch als solches (als das reine Wort) unsichtbar, d.h. nur dem Gläubigen sichtbar ist. Nur der Gläubige erkennt das wahre Wort an seiner Gotteskraft. Das äußerlich sichtbare Wort und Sakrament, welches der äußerlich sichtbaren „leiblichen” Christenheit (der später sogenannten ecclesia visibilis) angehört, fällt als solches nicht mit dem wahren Wort und Sakrament zusammen. Diese äußerlich sichtbare ➝
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zu sehen, es sei denn der Gläubige. Nur der Gläubige sieht und weiß, daß dies Wort und dies Werk Gottes Wort und Gottes Werk ist. Der Ungläubige sieht und hört nur das äußerliche, d.h. das tote Wort. Allein der Gläubige sieht, hört, erkennt das lebendige Wort, das aus dem Leben Gottes mit seinem Volke quellende Wort.
Die Kirche im religiösen Sinn, das Volk Gottes auf Erden, ist, auch sofern sie Wort und Sakrament besitzt, keine äußerlich sichtbare Gemeinschaft. Sie kann darum kein objektives, anstaltliches, irgendwie auf den Besitz äußerlich wahrnehmbarer heiliger Dinge gegründetes Dasein haben. Die Kirche im Sinn der lutherischen Reformation ist keine heilige Anstalt, sondern ein heiliges Volk (Luther: ein christlich heilig Volk, das da glaubt an Christum): auch kein Volk, dem ein bestimmter (wenngleich äußerlich nicht wahrnehmbarer) Personenkreis fest angehörte, sondern ein Volk, dessen Glieder durch die Trägerschaft eines in Bewegung befindlichen, vom einen auf den anderen hinüberwirkenden geistlichen Lebensstromes bestimmt werden. Volk Gottes, Kirche Christi ist da, wo das neue Leben durch Christum mit und aus Gott sich verwirklicht, Leben von überirdischer Kraft, heute vielleicht in Dir mächtig, morgen in einem anderen. Das Volk Gottes ist keine irgendwie anstaltlich oder persönlich gebundene, faßbare Gemeinschaft. Das Volk Gottes ist unsichtbar2.
➝ Gemeinschaft kann überhaupt die notae ecclesiae
nicht als ihr Eigentum besitzen: sie ist ja
ohnedies sichtbar, bedarf keiner notae und hat darum keine notae,
ut agnosci possit. Die unsichtbare Kirche, welche in der
äußerlich sichtbaren Christenheit verborgen lebt, ist
allein die Kirche Gottes, welche die notae ecclesiae
hervorbringt, welche das wahre Gotteswort besitzt, —
nicht als ein äußerlich wahrnehmbares Besitztum (das ist für die
unsichtbare societas fidei in cordibus überhaupt unmöglich),
sondern so, daß in ihr und durch sie das wahre Gotteswort
gelehrt, d.h. zu dem lebendigen Wort gemacht wird, in
dem täglich aufs neue Christi Geist, Gottes Geist der
nach Gott dürstenden Menschheit sich offenbart.
2 Hier muß zu der von Tröltsch, Die
Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (Gesammelte
Schriften, Bd. 1 1912) entwickelten Auffassung Stellung genommen
werden. So geistvoll seine glänzenden ➝
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Luthers Kirchenbegriff unterscheidet sich von dem Kirchenbegriff des Urchristentums. Gewiß. In der Erkenntnis des
➝ Ausführungen über den lutherischen Kirchenbegriff und dessen Folgesätze sind (S. 439 ff., 513 ff.), so entschieden fordern sie dennoch, und zwar gerade in Bezug auf den Hauptpunkt, den Widerspruch heraus. Die in der lutherischen Reformation sich durchsetzende religiöse Idee entspricht nach Tröltsch (S. 448) dem „Kirchentypus”. Den „Kirchentypus” aber hat Tröltsch (S. 362 ff., 368, 369, 488-490) ausschließlich an der Hand des katholischen Kirchentums gebildet. Entscheidend für den „Kirchengedanken” ist ihm die Auffassung der Kirche Christi (also der Kirche im religiösen Sinn) als einer Heilsanstalt, die unabhängig von den subjektiven Leistungen der Personen eine objektive Heiligkeit durch die objektive Göttlichkeit des der Anstalt eignenden Gnadenschatzes besitzt (Folgesätze: massenbeherrschende Organisation, Unterwerfung der weltlichen Obrigkeit, Entwicklung eines göttlichen Kirchenrechts). Die lutherische Lehre überhaupt ist für Tröltsch (S. 447) nur eine „Reduktion des mittelalterlichen Dogmas” (so Tröltsch, obgleich die Hauptsache am mittelalterlichen Dogma, nämlich seine Unfehlbarkeit, verschwunden und damit das Dogma als „Dogma”, als religiös bindende Lehre für die lutherische Reformation aufgehoben ist!). Dementsprechend ist denn auch für Tröltsch (S. 447, 450) der lutherische Kirchenbegriff nur eine „Reduktion”, eine „Reform” des katholischen Kirchenbegriffs. Das eine ist so unzutreffend wie das andere, obgleich Tröltsch in bezug auf den Kirchenbegriff die herrschende Lehre (von der Kirche als eine göttlichen Anstalt) für sich hat. Auch nach lutherischem Begriff soll (lehrt Tröltsch) die Kirche im religiösen Sinn eine Heilsanstalt sein, deren objektive Heiligkeit durch die objektive Göttlichkeit zwar nicht mehr der Tradition, des Priestertums, des priesterlichen Sakraments (wie nach katholischer Anschauung), aber des „Worts” begründet wird. Unter „Wort” versteht Tröltsch hier die Bibel, das „durch die Bibel vermittelte Christusbild” (S. 440, 441), das „biblische Wort von Christus” (S. 450), das „Wort von der Sündenvergebung” (S. 490). Das „biblische Wort von Christus” ist „der aller Subjektivität entrückte, schlechthin gesicherte und mit supranaturaler Wirkungskraft ausgestattete soziologische Beziehungspunkt, von dem aus es gilt, die Kirche zu rekonstruieren”; es leistet dem Protestantismus, was Episkopat und Papsttum dem Katholizismus geleistet hatten (S. 450). Zwar muß die Kirche nicht bloß im Wort, sondern auch in der wiedergeborenen heiligen Gemeinde bestehen; aber diese Gemeinschaft wahrer Christen ist immer nur das Korrelat, Produkt des sie erzeugenden Wortes und des Predigtamts; wäre auch nur ein Gläubiger da, so „wäre die Kirche als Anstalt da”, denn sie ist „im Wort immer virtuell enthalten”; „die Kirche wäre da, auch wenn es nichts gäbe als das Wort” (S. 450). Luther will „die Objektivität der Anstalt und die Subjektivität der persönlichen Christlichkeit in seinem Begriff von Wort und und Glaube als den bildenden Grundkräften der Kirche vereinigen” (die Kirche Luthers würde also auch nach Tröltsch eigentlich beides sein sollen, zugleich Anstalt und Gemeinschaft, ebenso wie nach der herrschenden Lehre). In seiner ersten Zeit wollte Luther ➝
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Wesens des Christentums sind wir auch durch das Urchristentum nicht gebunden. Luther hat seinen Kirchenbegriff aus dem von
➝ darum einen „Mittelweg” zwischen Kirchenideal und Gemeindeideal, aber der Kirchengedanke behielt die Vorherrschaft und bestimmte ausschließlich die endgültige Ordnung (S. 467, 468 in der Anm.). Das Entscheidende für Luthers Kirchenbegriff ist nach Tröltsch die Gründung der Kirche auf den Besitz der wunderkräftigen Schrift. „Die Schrift als die Trägerin der reinen Lehre von der sündenvergebenden und erneuernden Gnade bewirkt alles rein durch sich selbst, durch ihre dem Glauben gewisse innere Wunderkraft”; „die Schrift oder der in und durch die Schrift wirksame Christus vollzieht das Werk der Predigt und der Sakramente”, der Geistliche ist „nur ihr Organ”; „die Schrift oder Christus durch sie flößt den Glauben, die Liebe und den Gehorsam ein”; „durch die Schrift regiert Christus die Kirche”; die Gemeinde ist „nur das Produkt der Schrift und der reinen Lehre” (S. 514, 515). Das geistliche Amt ist demnach „die geordnete Durchgangsstelle für die Selbstauswirkung der Schrift” (S. 515), ein „Schriftamt” (S. 519), und die Kirche im religiösen Sinn eine „auf das Wunder der Schrift erbaute Schriftkirche” (S. 515). So Tröltsch. Aber gerade das Gegenteil ist die Meinung der lutherischen Reformation. Man braucht nur die Augustana aufzuschlagen. Trotz des lutherischen „Schriftprinzips” (Ablehnung der Tradition) gehört die Schrift nicht zu den notae ecclesiae. Gerade weil sie etwas Objektives, geschichtlich Gegebenes, äußerlich Wahrnehmbares ist. Die Schrift kann überall sein. Sie ist auch bei den Ungläubigen. Was heute den Gläubigen das Dasein des Volkes Gottes gewiß macht (nota ecclesiae), ist nicht das in der Vergangenheit abgeschlossene Schriftwort als solches, sondern das in der Gegenwart lebendige Gotteswort, genährt an dem Heilsinhalt der Schrift, aber nicht gebunden an den Buchstaben der Schrift. Das redende Evangelium, in unserer Sprache sprechend, ewigen Inhalt in immer neuen Zungen verkündigend, ist, wenngleich in den vergänglichen Formen unseres Geisteslebens dargeboten, die Macht und das Kennzeichen des Volkes Gottes. Nicht das „biblische Christusbild”, sondern der in den Gläubigen lebende Christus selber ist der kostbare, überirdische und überschwängliche Besitz der Kirche Christi, sich offenbarend nicht in der Schrift, sondern in der Predigt des Evangeliums. Das sagt die Augustana mit den Worten: in qua recte docetur evangelium. Genau das Gleiche sagt auch Luther. Bei Tröltsch heißt es: wo das Wort (die Bibel) ist, da ist die Kirche als Anstalt; bei Luther aber: wo das Wort („Tauff und Evangelium”) ist, da sind Heilige. Tröltsch: die Schrift ist das Kennzeichen der Kirche. Luther: visibile signum ecclesiae omnium potissimum evangelium; non de evangelio scripto sed de vocali loquor. Tröltsch: Die Schrift „bewirkt alles durch sich selbst”; Luther: „Gott hat beschlossen, daß niemand soll und kann glauben, noch den heiligen Geist empfahen, ohne das Evangelium, so mündlich gepredigt wird”. Tröltsch: „Christus regiert die Kirche durch die Schrift”; Luther: Christus herrscht „allein durch das mündlich Wort oder Predigtamt”. ➝
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ihm neu erlebten Inhalt des Evangeliums geschöpft. Die altheidnische und altjüdische Vorstellung von einem national bestimmten Volke Gottes war schon vom Urchristentum überwunden. An die ganze Völkerwelt erging die Predigt des Evangeliums, die Berufung zur Bürgerschaft im Volke und Reiche Gottes. Aber der Gedanke eines sichtbaren Volkes Gottes behauptete sich als letzter Nachklang der uraltheidnischen Idee von der Zugehörigkeit der Volksgottheit zu diesem sichtbaren Volk: war doch die Christenheit das neutestamentliche Volk Israel. So war das Urchristentum zu der Unsichtbarkeit des Volkes Gottes noch nicht gelangt. Dadurch ist das Urchristentum katholisch
➝ Tröltsch: Die Kirche entsteht durch die Schrift; Luther: dadurch daß „Gottes Wort gesagt wird, darumb wirkt die Kirche”. Tröltsch: durch das Mittel des Predigtamts („Schriftamts”) wirkt die Schrift; Luther: „wenn Gottes Wort aus einem gläubigen Munde hergeht, so sind es lebendige Worte und können vom Tode erretten”. (Die im Vorigen benutzten Äußerungen Luthers sind bereits gesammelt in: Kirchenrecht, Bd. 1 S. 465, 466, 469, 492 in den Anmerkungen). Nach Tröltsch wäre lutherisch die Schrift der Leib Christi (das Organ des Lebens Christi auf Erden); für Luther und das lutherische Bekenntnis aber ist (ebenso wie für das Urchristentum) das Volk Gottes (congregatio sanctorum) der Leib Christi. Die Kirche Gottes ist lutherisch eine Volkskirche, eine „christlich heilig Volk”, keine „Schriftkirche”. Das lutherische Bekenntnis setzt die Kirche im religiösen Sinn nur als Gemeinschaft, nicht als Anstalt. Es gibt nichts Objektives, äußerlich Wahrnehmbares, worauf sie gegründet, woran sie gebunden, wodurch sie mit objektiv heiligem Besitz ausgerüstet wäre. Auch gibt es keinen, irgendwie in ihr ständig vereinigten Kreis von heiligen Personen (man darf die Kirche des lutherischen Bekenntnisses darum auch nicht als „Personenvereinigung” bezeichnen). Heilig ist in ihr und an ihr nur das Leben, welches, aus Gott stammend, in die Herzen der Gläubigen sich ergießt, ein Strom göttlichen Geistes von ungebundenem, unberechenbarem und unsichtbarem Lauf. Darum ist die Kirche Christi unsichtbar. Das ist die neue Erkenntnis gegenüber dem Urchristentum. Das ist zugleich die Überwindung des Katholizismus. Der katholische Kirchenbegriff ist durch die Reformation Luthers nicht bloß „reduziert” oder „reformiert”, sondern aufgehoben worden. Die Kirche Christi ist nicht die sichtbare Gemeinschaft objektiver Heiligtümer, sondern die notwendig unsichtbare Gemeinschaft, Teilhaberschaft unsichtbaren heiligen Lebens. Damit ist der „Kirchentypus” in dem von Tröltsch entwickelten Sinn für die lutherische Reformation ausgeschlossen. Der lutherische Kirchengedanke ist nicht eine Abart des katholischen, sondern die Macht, vor welcher alles katholische und katholisierende Kirchentum verschwindet.
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geworden3. Die Entdeckung Luthers aber, daß die Kirche unsichtbar sei, schloß die Aufhebung der Nachwirkungen uralten Heidentums und zugleich die Aufhebung des Katholizismus in sich.
Die Kirche Christi ist unsichtbar. Darum gibt es keine sichtbare Gemeinschaft, welche als solche die Kirche Christi wäre. Auch sofern sie Wort und Sakrament besitzt und verwaltet, ist die sichtbare, „leibliche” Christenheit nicht Kirche Christi. Sie besitzt Wort und Sakrament nur äußerlich, scheinbar. Gerade sofern es wahres Gotteswort ist, das in der sichtbaren Christenheit sich geltend macht, gehört es nicht der sichtbaren, sondern der verborgenen, unsichtbaren Christenheit. Die sichtbare Christenheit hat nicht den Geist Gottes, ist nicht das Volk Gottes, hat nicht das Wort Gottes. Die sichtbare Christenheit ist nicht mehr ein Doppeltes wie dereinst im Mittelalter. Sie ist nur noch die christliche Welt, nicht auch die christliche Kirche. Auch sofern sie Wort- und Sakramentsgemeinschaft hervorbringt, ist sie nur Welt, gar nicht Kirche. Es gibt keine sichtbare Kirche4.
3 Das ist der Inhalt meiner Abhandlung über
Wesen und Ursprung des Katholizismus (1912). — Vgl. auch oben S.
15, Anm. 8.
4 Kahl, Der Rechtsinhalt des Konkordienbuchs
(Berliner Festgabe für O. Gierke, 1910) S. 21, 22
behauptet, daß die lutherischen Bekenntnisschriften eine
„Zweiheit des Kirchenbegriffs” haben: die Kirche kraft „Einheit
des Glaubens” (die unsichtbare Kirche) und die Kirche kraft
„Einheit von Wort und Sakrament” (die sichtbare Kirche).
Kahl verkennt die Tatsache, daß die notae ecclesiae der
unsichtbaren Kirche zugehören (vgl. oben Anm. 1). Gerade
die unsichtbare, wahre, über alle sichtbaren
Kirchengemeinschaften ausgebreitete Kirche Christi hat die
„Einheit von Wort und Sakrament” (nämlich des wahren Worts und
des wahren Sakraments), wie auch die (sichtbaren) Bekenntnisse
der (sichtbaren) einzelnen Kirchengemeinschaften lauten mögen.
Kahl meint, daß nach den Bekenntnisschriften die
unsichtbare Kirche (die „Personenvereinigung im Geist”) „ohne
äußere Kennzeichen” sei. Aber gerade das Gegenteil ist der Inhalt
des lutherische Bekenntnisses. Das Richtige hat hier bereits
R. Seeberg, Studien zur Gesch. d. Begriffs der Kirche
(1885) S. 93-101. Luther, Von dem Papsttum zu Rom (1520)
spricht zwar von „zwo Kirchen”, der „geistlichen innerlichen” und
der „leiblichen äußerlichen” Christenheit. Aber nur die
geistliche (unsichtbare) Kirche ist ihm die „wesentliche und
wahrhaftige”, die leibliche (sichtbare) Kirche dagegen eine
„gemachte und äußerliche”. Es geschieht dem Wort „Kirche”
Gewalt, ja es dient zur „Verführung der Seelen”, wenn
solch „äußerlich Wesen” den Namen ➝
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So ist Wort und Bekenntnis der sichtbaren Christenheit als solches immer nur Wort und Bekenntnis der christlichen Welt,
➝ Kirche führt. Die Schrift kennt, sagt Luther, nur eine Kirche, die geistliche; lediglich von menschlicher Rechtsordnung („geistlichem Recht und Menschengesetz”) wird auch die leibliche Kirche (die Kirche im Rechtssinn) eine Kirche genannt (Luthers Werke, Weim. Ausg., Bd. 6 S. 296, 297; Erl. Ausg., Bd. 27 S. 101, 102). Dementsprechend erscheint, wie in der Augustana, so auch in der Apologie (vgl. oben Anm. 1) nur die unsichtbare Kirche, die congregatio sanctorum, die societas fidei als die Kirche, als die „eigentliche”, die „wahre” Kirche; nur sie ist das corpus Christi, das regnum Christi, die Trägerin der signa ecclesiae, die Wohnstätte des heiligen Geistes. Keine externa politia ist Kirche (Apol. Art. VII, VIII, Müller, S. 154: quid intererit inter populum legis et ecclesiam, si ecclesia est externa politia?); die äußerlich sichtbare Gemeinschaft, in welcher Böse und Gerechte durcheinander sind, ist nicht Kirche, sondern Welt, Apol. VII, VIII (S. 155): agrum (das Land, auf welches der Same des göttlichen Worts ausgestreut wird) dicit mundum esse, non ecclesiam. Die äußerlich sichtbare Gemeinschaft von Wort und Sakrament (die externa politia) ist nicht sichtbare Kirche, sondern keine Kirche. Diese Klarheit des reformatorischen Kirchenbegriffs ist erst in der dritten Ausgabe von Melanchthons Loci (von 1543) getrübt worden (vgl. Seeberg S. 111; Rieker, Rechtl. Stellung der ev. K. S. 48). Hier erscheint eine doppelte Kirche: neben der ecclesia invisibilis die ecclesia visibilis, die äußere Gemeinschaft von Wort und Sakrament. Das ist von der lutherischen Orthodoxie aufgenommen worden. Auch die externa societas signorum ac rituum ecclesiae, der coetus vocatorum (im Gegensatz zum coetus electorum) ist und heißt Kirche, ecclesia visibilis (vgl. Seeberg S. 141 ff.). So ward der Gedanke der Aufklärung möglich. Kirche, nämlich sichtbare Kirche ist die christliche Religionsgesellschaft (vgl. Seeberg S. 155. Rieker, S. 241, 242). Auch die rechtlich verfaßte Kirche, die Kirche im Rechtssinne empfing den Namen Kirche. Das ist der noch heute allgemein herrschende Sprachgebrauch, zugleich die Quelle vielfältiger Begriffsverwirrung. Das Wort Kirche ist noch „blinder” geworden, als es jemals war. Der lutherischen Reformation ist (ebenso wie dem Katholizismus und der ganzen alten Zeit) Kirche nur die Kirche im religiösen Sinn, also lutherisch (im Gegensatz zum Katholizismus) nur die unsichtbare Kirche. Erst das lutherische Epigonentum hat die sichtbare, verfaßte „Kirche”, zur „Verführung vieler Seelen”, gleichfalls unter den Kirchenbegriff gebracht und damit die heute herrschende Vorstellung erzeugt, als ob auch in der rechtlich verfaßten Kirche als solcher etwas Geistliches, etwas von Kirche im religiösen Sinn sein müßte. Durch die Idee von der äußerlich sichtbaren Kirche ward der heute gemeinverbreitete katholisierende, geistliche und leibliche Kirche vermengende Begriff von der Kirche als göttlicher Anstalt hervorgebracht. Gerade diesen unlutherischen Standpunkt verteidigt auch Tröltsch als den echtlutherischen (vgl. oben Anm. 2). Infolge dessen fehlt auch bei Tröltsch in der ➝
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niemals Wort und Bekenntnis der christlichen Kirche (der Kirche Christi). Das Wort der christlichen Welt ist selbstverständlich
➝ Darstellung der lutherischen Reformation die scharfe Scheidung zwischen der sichtbaren Wort- und Sakramentsgemeinschaft und der (unsichtbaren) Kirche. Von Tröltsch wird vielmehr das corpus Christianum, die christliche Gesellschaft, d.h. der christliche Staat, mit der Kirche Luthers (dem heiligen christlichen Volk!) gleichgesetzt. Es heißt z.B. S. 470: „Beide Ordnungen, die gesellschaftlich-staatliche und die kirchlich-geistliche Einheit, fallen ihm (Luther) wie dem Mittelalter zusammen”; S. 471: die Forderung der „christlichen Gesellschaftseinheit” bedeutete das „Ideal der Einheitskirche”; S. 451: durch Luther ist „die allgemeine Weltkirche nicht aufgehoben und damit der Katholizismus gewahrt”; „nicht die unsichtbare Kirche ist das richtige Kennwort für Luthers Kirchenbegriff, obwohl er selbst gelegentlich diesen verwirrenden Ausdruck gebraucht hat, sondern die an Wort und Sakrament sichtbare, in ihren rein geistigen Wirkungen dagegen unsichtbare und unmeßbare Kirche”. Ja, wenn das richtig wäre, wenn Luthers Ideal wirklich eine sichtbare, die ganze „christliche Gesellschaft” (das corpus Christianum) umspannende Weltkirche gewesen wäre, so wäre er katholisch geblieben. Es ist aber nichts gewisser als dieses, daß für Luther und die lutherischen Bekenntnisschriften die christliche Kirche (die „geistliche” Christenheit) etwas ganz anderes ist als die christliche Welt (die „leibliche” Christenheit, der „christliche Körper”). Die Kirche ist für Luther nicht bloß, wie Tröltsch behauptet, in ihren „rein geistigen Wirkungen” (das würde auch vom katholischen Standpunkt zutreffen), sondern in ihrem Dasein unsichtbar (das ist es, was den Katholizismus aufhebt). Der Anstaltsbegriff, von dem auch Tröltsch für die lutherische Lehre von der Kirche ausgeht, fordert etwas Äußerliches, Sichtbares, Organisatorisches, „Soziologisches”. Tröltsch findet diesen „soziologischen Beziehungspunkt” für die Kirche des lutherischen Bekenntnisses in der Schrift (oben Anm. 2). Wo die Schrift ist, da soll nach Tröltsch das „Wort” und damit die Kirche Luthers sein. Die Schrift ist sichtbar. Die „christliche Gesellschaft” hat die Schrift, das sichtbare Wort (sie ist die äußere Gemeinschaft von Wort und Sakrament). So wäre die christliche Gesellschaft zugleich die christliche Kirche (die Kirche Luthers), auch wenn wenige oder vielleicht gar keine wirklich Gläubige in ihrer Mitte sind (Tröltsch S. 450: im Wort ist die Kirche als Anstalt). Aber wiederum ist nichts gewisser als dieses, daß kein geschriebenes Wort, nicht die Schrift, auch kein aufgesetztes Bekenntnis, sondern nur das lebendige Wort für die lutherische Reformation das Kennzeichen der Kirche darstellt und daß das lebendige Wort als Wort Gottes nur dem Gläubigen sichtbar, d.h. unsichtbar ist. Gottes „Wort und Sakrament” ist ein Gegenstand des Glaubens, und „was man glaubt, das sieht man nicht”. Tröltsch setzt das Wort als sichtbar. Das entspricht der Art der lutherischen Orthodoxie (die hier unter dem Einfluß der humanistischen Auffassung des „Wortes” stand, vgl. Walter Sohm, Die Schule Johann Sturms und die Kirche Straßburgs, 1912, S. 217, 218). ➝
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religiös unverbindlich, ist fehlbares Menschenwort, nicht unfehlbares Gotteswort. Äußerlich sichtbares Bekenntnis (Wort) der unsichtbaren Kirche Christi aber ist überhaupt nicht vorstellbar. So gibt es keine unfehlbare Kirche.
Die Kirche Christi ist keine Bekenntniskirche. Hätte sie ein sichtbares Bekenntnis, so wäre sie nicht unsichtbar. Ihr Wesen ist nicht formulierte Lehre, sondern Teilhaberschaft an geistlichem, göttlichem, heiligem Leben, das mit den verschiedensten Arten und Stufen geistlicher Erkenntnis sich verbinden kann. Darum ist nach unstreitiger protestantischer Glaubenslehre die christliche Kirche (die wahre Kirche, die Kirche im religiösen Sinn) über alle Bekenntnisse ausgebreitet. Sie ist überkonfessionell. Sie kann nicht konfessionell sein. Sie hängt niemals an dem: was dünket euch von Christo? Das ist eine Frage an Schriftgelehrte und Pharisäer, deren Weisheit daran zuschanden wird. Sie hängt nur an dem: hast du Christum? Hast du durch Christum den gnädigen Gott gefunden, als den Herrn und als die Quelle deines Lebens? Das Wort des Evangeliums, der frohen Botschaft von dem Reiche Gottes in den Menschenherzen kann in kein Menschenwort eingefangen werden. Immer muß der christliche Glaube nach einem Ausdruck ringen, in welchem er den Inhalt seiner Zuversicht sich zum Bewußtsein bringt. Undogmatisches Christentum gibt es nicht. Immer muß Dogmatik sein, aber niemals Dogmen, mit deren Feststellung endgiltig „Beschluß” über das Wesen des Christentums gefaßt
➝ Aber es entspricht nicht der Art des lutherischen Bekenntnisses. Auf dem Gebiet des Staatslebens (der „christlichen Gesellschaft”) hat Luther dem Mittelalter reichlich seinen Tribut gezahlt. Das steht an dieser Stelle nicht in Frage. Auf dem Gebiet des kirchlichen Lebens (im religiösen Sinn), d.h. des geistlichen Lebens, hat Luther dennoch das Mittelalter und mit ihm den Katholizismus in allen seinen Stücken aus den Angeln gehoben und damit weitgehende Wirkung auch auf die weltliche Entwicklung geübt. Die Kraft aber, durch welche die lutherische Reformation zu solcher Großtat befähigt wurde, war der die ganze Folgezeit beherrschende, zu immer mächtigerer Wirkung aufsteigende Gedanke von der unsichtbaren Kirche und dem unsichtbaren Wort.
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wäre. Auch in der unvollkommensten Dogmatik kann der alleinseligmachende Inhalt des Evangeliums enthalten und wirksam sein. Aber ein alleinseligmachendes Dogma, eine alleinseligmachende Lehre gibt es nicht5. Der Protestantismus kennt überhaupt keinen Glauben an eine Kirchenlehre, auch keinen Glauben an die Schrift. Das wäre bloßes Fürwahrhalten. Glauben im protestantischen Sinn ist Welt und Tod überwindendes Vertrauen. Glauben kann man nur an eine lebendige Persönlichkeit: an Christum und durch Christum an Gott. Nicht irgendwelche Lehre, nur der Glaube macht selig, der in dem dargebotenen Wort des Hirten Stimme hört. Nicht irgendwelche sichtbare Lehrgemeinschaft, nur die unsichtbare Glaubensgemeinschaft der Kirche Christi kann die alleinseligmachende Gemeinschaft sein. Es gibt keine sichtbare alleinseligmachende Kirche.
5 Tröltsch a.a.O. S. 467, 472, 520 (in der Anm.) spricht von dem lutherischen „Gedanken der alleinseligmachenden Kirche” und von dem aus diesem Kirchengedanken folgenden „Ideal einer universalen Herrschaft der absoluten und alleinseligmachenden Wahrheit (S. 520: „der alleinseligmachenden objektiven Lehre”) über die Gesellschaft”, die der Staat dann mit seinen Zwangsmitteln verwirklichte. Aber die Zwangsherrschaft des landesherrlichen Kirchenregiments in den lutherischen Landen, die zum Teil grausame Verfolgung von Schwärmern und Täufern ist zweifellos nicht eine Folge des lutherischen Kirchenbegriffs, sondern eine Nachwirkung des vom Mittelalter übernommenen, von Luther noch nicht überwundenen katholischen Staatsbegriffs (der Idee des christlichen Staats). Daß es im Grundsatz vom lutherischen Standpunkt keine unfehlbare Kirche gab und gibt und folgeweise keine unfehlbare, d.h. keine alleinseligmachende Kirchenlehre, steht außer allem Zweifel. Die Idee einer sichtbaren, die reine Lehre besitzenden Kirche (ecclesia visibilis vera) stammt aus den späteren Jahren Melanchthons: sie ist lutherisch-orthodox (vgl. Seeberg, S. 110, 141, 148, 151), aber nicht lutherisch. Ja, man wird sagen müssen, der lutherische Begriff der unsichtbaren Kirche, von dem aus jede religiöse Verbindlichkeit der amtlichen Kirchenlehre verschwand, war die entscheidende große Wahrheit, welche dem Toleranzgedanken der Zukunft die Bahn brach. Gerade der Selbstwiderspruch, den die weltliche Zwangsherrschaft des landesherrlichen Kirchenregiments vom lutherischen Standpunkt in sich trug, bedeutete die innere Notwendigkeit, die dann im Lauf der Folgezeit zur Aufhebung jeder Gewalt des Staates über den Inhalt des religiösen Lebens sich durchsetzte. — Vgl. Th. Brieger, Die Reformation, 1914, S. 85, 86.
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Alles, was in katholischem Sinne Kirche heißt, ist verschwunden. In den weiten Landen der Christenheit ist keine Kirche Christi mehr zu sehen. Sie ist da, sie lebt, aber sie lebt nur als die unsichtbare „Seele” der sichtbaren „leiblichen” Christenheit.
Auch für die lutherische Reformation steht das Ganze des gesellschaftlichen Lebens noch unter religiösen Vorzeichen. Der Gedanke des christlichen Staates ist noch da. Darin ist die Art des Mittelalters geblieben. Die Größe, um welche es sich in der gesamten gesellschaftlichen Ordnung handelt, ist die Christenheit, und zwar die Christenheit als der sichtbare Leib der unsichtbaren Kirche Christi. Aber die Ordnung der sichtbaren Christenheit kann nur weltliche, kann nur staatliche Ordnung sein.
Immer noch erscheint die Christenheit als die sittlich notwendige äußere Gemeinschaft, der im Grundsatz die ganze Menschheit angehören muß. Die Idee des Weltreichs ist noch da. Die Idee des Weltrechts ist mit ihr verbunden. Gerade in den Tagen der Reformation vollzieht sich in Deutschland die Aufnahme des „kaiserlichen gemeinen” Rechts, des römischen Weltrechts.
Für alle Getauften erscheint die sichtbare Christenheit als die weltliche Zwangsgemeinschaft, deren Ordnungen und Obrigkeiten (Kaiser, Landesherren, Ortsobrigkeiten) sie kraft ihres Christenstandes ohne Rücksicht auf ihren Willen unterworfen sind. Auch sofern die sichtbare Christenheit für Wort- und Sakramentsverwaltung organisiert ist, bedeutet sie die Christenheit als weltliche Zwangsgemeinschaft, der jeder Christ als solcher zugehört und Gehorsam schuldet. Auch die um Wort und Sakrament versammelte sichtbare Christenheit ist Welt.
Hier wird der ungeheure Umschwung offenbar, der — trotz des Fortwirkens der Idee der Christenheit und trotz der andauernden Herrschaft religiöser Gedanken über die zwangsweise Handhabung der „christlichen” Staatsgewalt — die Welt der Reformation von der Welt des Mittelalters scheidet. Ein Erdbeben hat stattgefunden. Der eine von den beiden Hochgipfeln, in denen der gesellschaftliche Aufbau der Christenheit sich
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emportürmte, ist eingestürzt. Das Papsttum, die geistliche Obrigkeit, ist nicht mehr vorhanden. Auch die Gemeinschaft von Wort- und Sakramentsverwaltung ist als Stück der Welt der weltlichen Obrigkeit Untertan.
Es gibt keine geistliche, d.h. keine von Gottes Geist erfüllte und geleitete Zwangsgemeinschaft mehr, keine sichtbare Gemeinschaft, welcher der Christ angehören müßte, um an Gottes Geist, an Gottes Gnadenführung und Gnadengaben Anteil zu erlangen. Der Christ gehört notwendig zur Christenheit als Welt (Staat). Aber es gibt keine andere äußere Gemeinschaft, der er kraft seines Christenstaats anzugehören hätte. Die geistliche wahre Christenheit Luthers ist keine äußere Gemeinschaft. So kann sie keine Zwangsgemeinschaft sein. Die Kirche Christi des lutherischen Glaubensbekenntnisses ist darum keine Rechtsquelle. Die geistliche Kirche Luthers ist durch keine äußere Ordnung bedingt, kann durch keine äußere Ordnung begründet oder aufgehoben oder berührt werden6. Es gibt kein geistliches
6 Tröltsch, S. 518-520, will in Anschluß an die bisher herrschende Lehre den Satz festhalten, daß vom lutherischen Standpunkt „dogmatisch die Notwendigkeit eines geordneten Amtes gegeben war”. „Daß ein Amt überhaupt sei und daß es auf geordnete Weise übertragen werden müsse,” erscheint als „Gottesordnung”. „So bleibt also ein ius divinum auch im Protestantismus”, „ein Kirchenrecht iure divino, soweit es sich um das Dasein des Amts überhaupt und um dessen geordnete Besetzung handelt. Durch diese „indirekte Göttlichkeit des Grundelementes des Kirchenrechts” werde dann auch dem übrigen „vom Staat ausgeübten Kirchenrecht der Schimmer einer gewissen Göttlichkeit”, eine „gewisse Halbgöttlichkeit” mitgeteilt. Aber Art. XIV der Augustana (quod nemo debeat in ecclesia publice docere aut sacramenta administrare, nisi rite vocatus) handelt nur vom öffentlichen Predigtamt, d.h. von dem Predigtamt, welches nicht der Kirche im religiösen Sinne angehört. Der Kirche im religiösen Sinn entspringt nur das Predigtamt, welches „allen Christen gemein ist”, das im allgemeinen Priestertum enthaltene „Predigtamt” eines jeden gläubigen Christen. Dies allgemeine, aller rechtlichen Befugnisse entbehrende Predigtamt besteht „iure divino” (im protestantischen Sinn, vgl. unten), d.h. kraft des Wesens des Christentums. Das öffentliche, mit Rechten ausgerüstete Predigtamt aber beruht auf menschlichem Belieben, welches das, was allen (iure divino) zuständig wäre, um der Ordnung willen einem einzelnen als Amt überträgt. Es hat rechtliche Gemeindebildung (Pfarrsprengel, Bistum u. dergl.) zur Voraussetzung. Es gehört, ➝
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Recht. Wie keine äußere Ordnung, so ist auch keine äußerlich wirkende Befehlsgewalt denkbar, die um der Erhaltung der geistlichen Kirche willen notwendig wäre. Das geistliche Leben der Kirche Christi fordert keine Zwangsgewalt, kann durch keine Zwangsgewalt begründet oder aufgehoben oder berührt werden. Es gibt keine geistliche Obrigkeit. Die Kirche Christi kann keine irgendwelchem äußeren Gemeinleben selbstherrlich gebietende Macht sein. Als unsichtbare Größe ist sie unabhängig von jeder weltlichen Gewalt, aber auch ihrerseits jeder äußerlich wirkenden Gewalt unfähig. Es gibt keine selbstherrliche Kirche.
➝ was ja allem Zweifel entrückt ist, zu der äußeren Ordnung der sichtbaren Christenheit, der leiblichen „Kirche”, wenngleich es in seiner Tätigkeit der wahren Kirche (dem „Kirchenregiment” im religiösen Sinne) dient. Art. XIV beschäftigt die Augustana ebenso wie in den beiden nächstfolgenden Artikeln XV (de ritibus ecclesiasticis) und XVI (de rebus civilibus) sich mit der Ordnung der sichtbaren weltlichen Christenheit, also mit einer Ordnung, die zwar religiöse Beweggründe, aber keinen religiösen Inhalt hat, folglich kein geistlich wirkendes und darum kein geistlich notwendiges „göttliches Recht” zum Ausdruck bringt. Darum sagt denn auch Luther in seiner Schrift vom Papsttum a.a.O. (oben Anm. 4), daß die geistliche wahre Kirche auch „ohne den Leib”, d.h. auch ohne eine ihr dienende rechtliche Ordnung der leiblichen Christenheit (ohne „Pfar, Bistum, Erzbisthumb, Bapststum”) bestehen könne (es „lebet wohl die Seele im Leibe und auch wohl ahn den Leib"). Das öffentliche Predigtamt ist für Luther weltliches Predigtamt (gehört zu dem „äußerlichen Wesen”), ist iure divino (geistlich) entbehrlich: nichts „Göttliches” noch „Halbgöttliches” liegt darin. Die allgemein herrschende (auch z.B. von Kahl, Rechtsinhalt des Konkordienbuchs, S. 22, 23 vertretene) Lehre, daß in der Notwendigkeit von Wort- und Sakramentsverwaltung (Hervorbringung der externae notae ecclesiae) eine „Verbindungslinie” von der geistlichen Kirche „zur Verfassung” liege, ist unlutherisch. Die geistliche Kirche erzeugt mit Notwendigkeit Versammlungen (denen heute diese, morgen andere angehören können), aber keine Körperschaft (keine rechtlich verfaßte Gemeinde). Das ist der Standpunkt des Urchristentums (Wesen u. Urspr. d. Kath., S. XXIX) und ebenso der lutherischen Reformation. Religiös ist nicht bloß das „Wie” der Rechtsordnung für Predigtamt und Gemeinde, sondern auch das „Daß”, das Dasein von öffentlichem Predigtamt der rechtlich verfaßten Gemeinde gleichgültig (die wahre Kirche lebt auch „ahn den Leib”). Alles, was göttliches Recht im katholischem oder halbkatholischem Sinne heißen könnte, ist durch den lutherischen Kirchenbegriff ausgeschlossen.
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Alle diese Sätze gelten, obgleich die Kirche Christi eine Gewalt besitzt: die Schlüsselgewalt. In der katholischen Kirche ist aus der Schlüsselgewalt geistliche Gesetzgebungsgewalt, Regierungsgewalt, Zwangsgewalt geworden. In der lutherischen Kirche ist das undenkbar. Die Schlüsselgewalt ist die Gewalt, das Wort Gottes zu führen, mit der Kraft Gottes das Evangelium zu verkündigen, durch das göttliche Wort zu strafen und zu trösten, zu verurteilen und freizusprechen. Die Verkündigung des Evangeliums bedeutet Erschließung des Himmelreichs, Weihe des Volkes Gottes, Regierung des Volkes Gottes: die Schlüsselgewalt ist geistliche (aus dem Geist Gottes stammende) Regierungsgewalt. In der katholischen Kirche soll mit der Schlüsselgewalt ein sichtbares Volk regiert werden. So muß die Schlüsselgewalt sichtbare Zwangsgewalt sein. Lutherisch soll mit der Schlüsselgewalt ein unsichtbares Volk geleitet, gestraft, erquickt werden. So ist sichtbare Zwangsgewalt unmöglich. Nur durch das Wort, nicht durch den Zwang kann Schlüsselgewalt geübt, kann das Evangelium dargebracht, kann die Kirche Christi gebaut werden. Die Kirche Christi will keine Zwangsordnung, keine Rechtsordnung.
Gewiß, aus dem Leben der Kirche Christi entspringen notwendig Versammlungen, in denen das Wort verkündigt, das Sakrament verwaltet wird. Aus der Ordnung solcher Versammlungen geht geschichtlich, wo das Christentum von der Volksmenge angenommen ist, ein öffentliches Amt des Worts hervor, welches ordentliche Berufung zur Grundlage hat. Selbst eine Stufenfolge einander übergeordneter Ämter kann sein. Aber solche Ordnung kann niemals im Namen der Kirche Christi als notwendig gefordert und zwangsweise durchgeführt werden. Ordnung ist immer nur Ordnung der christlichen Welt. Für die unsichtbare Kirche gibt es keine äußere Ordnung, d.h. alle äußere Ordnung, wie sie auch sei, ist religiös gleichgiltig, ist nur weltlich erheblich und fällt daher unter die weltliche Obrigkeit. Aus den im Schöße der sichtbaren Christenheit lebendigen religiösen Kräften heraus kann nur eine auf freiwillige Unterwerfung
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gegründete „Politie” erzeugt werden, die weder religiöse, noch auch rechtliche Verbindlichkeit besitzt, deren Bestand ausschließlich auf den durch christliche Liebe bestimmten freien Willen angewiesen ist7. Wer das Amt der Schlüssel verwaltet, wird regelmäßig auch zu dem Urteil über die beste Art äußerer Ordnung berufen sein. Aber die etwa von ihm entworfene „Kirchenordnung” ist ohne Rechtsgeltung. Sie ist bloß „menschliche”, religiös gleichgültige Ordnung und darum ohne die Kraft geistlichen (göttlichen) Rechts. Sie ist nicht von der Obrigkeit erlassen und darum auch ohne die Kraft des weltlichen Rechts. Die sichtbare Christenheit als Wort- und Sakramentsgemeinschaft trägt nach den lutherischen Bekenntnisschriften keine ihr als solcher zukommende rechtserzeugende Kraft in sich. Sie ist keine „Genossenschaft”, die „kirchliches Recht” hervorzubringen vermöchte. Sie hat keine genossenschaftliche Verfassung, hat keine genossenschaftliche, ihr als solche zukommende Gewalt. Sie ist überhaupt nichts für sich, ist keine vom Staat sich unterscheidende selbständige Gemeinschaft religiösen Lebens, ist kein besonderes kirchliches „Gemeinwesen”. Sie ist vielmehr dieselbe weltliche Christenheit, der die weltliche Obrigkeit gesetzt ist. Sie ist durch die weltliche Obrigkeit verfaßt und wird durch die weltliche Obrigkeit regiert. Der Gedanke, daß das „christliche Volk” kraft der in ihm lebendigen Kirche Christi eine „Genossenschaft” sei und sich grundsätzlich genossenschaftlich ordne und verwalte8, mit anderen Worten das Kollegialsystem, stammt aus der Aufklärung und ist wider das lutherische Bekenntnis. Die „Kirchenordnung” der Reformationszeit kann rechtliche Kraft nicht durch die
7 Als solche Freiwilligkeitskirche wollten die
Reformatoren die ganze bestehende katholische Kirchenordnung
anerkennen. Vgl. Kirchenr., Bd. 1, S. 540, 541.
8 Das ist der Grundgedanke der Schrift von Th.
Kaftan, Vier Kapitel von der Landeskirche (2. Aufl. 1907),
der darin der allgemein herrschenden Lehre folgt, vgl. z.B.
Stutz, KR. in Kohlers RE., Bd. 2 (1904) S. 957 (2. Aufl.
1914, Bd. 5 S. 460; v. Gierke, Das deutsche
Genossenschaftsrecht, Bd. 3 (1881) S. 799 ff., Bd. 4 (1913) S.
66, 365.
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„Kirche” in irgendwelchem Sinn, sondern nur durch die weltliche Obrigkeit erlangen. Sie ist niemals „kirchliches”, sondern immer nur obrigkeitliches weltliches Recht.
Die herrschende Lehre erklärt auch das kanonische Recht der katholischen Kirche für „kirchliches” Recht. Gerade durch diese Idee wird es unserer Kirchenrechtswissenschaft unmöglich, den Wesensgegensatz zwischen katholischem und protestantischem Kirchenrecht wahrzunehmen. Das eine wie das andere erscheint als auf weltliche Art „genossenschaftlich” hervorgebrachtes Recht, das eine wie das andere als eine äußerliche Ordnung menschlichen Gemeinlebens. Warum sollte solches katholisches „kirchliches” Recht (das kanonische Recht) nicht vom Protestantismus übernommen werden? Von einigen „Mißbildungen” abgesehen, ist das katholische Kirchenrecht geradeso gut wie irgend ein anderes. Im kanonischen Recht als solchem liegt nichts Unchristliches, nichts Unprotestantisches. Luthers Widerstand gegen das kanonische Recht als etwas Widerchristliches erscheint als geradezu unbegreiflich. So kam denn auch (nach gemeinverbreiteter Meinung), was kommen mußte. Es dauerte nicht lange, so war „die erste Leidenschaft gegen das Corpus juris canonici überwunden”9. Das protestantische Kirchenrecht setzte sich selbst als eine geläuterte Fortentwicklung des katholischen. „Die Reformation war eine Erneuerung des Glaubens, nicht des Rechts”10. „Überwältigend tritt überall” (in den lutherischen Bekenntnisschriften) „der Gesichtspunkt hervor, daß es um eine Erneuerung der Rechtsordnung überhaupt nicht geht”; das kanonische Recht bleibt für die lutherische Kirche subsidiär in Geltung, soweit es nicht dem Evangelium widerspricht11.
So wird durch die Idee vom „kirchlichen” Recht (und dem damit gegebenen Gedanken vom einerlei Kirchenrecht) die ganze Geschichte des Kirchenrechts unverständlich.
9 Kahl, Rechtlicher Inhalt des
Konkordienbuchs, S. 4.
10 Kahl in Deutsch-Evangelisch, 1. Jahrg.,
1910, S. 21.
11 Kahl, Rechtlicher Inhalt des
Konkordienbuchs, S. 4.
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Als ob kanonisches Recht vom protestantischen Standpunkt überhaupt gedacht werden könnte! Als ob es möglich wäre, das protestantische Kirchenrecht als einen Abkömmling des kanonischen Kirchenrechts zu begreifen!
Sicher ist in den lutherischen Bekenntnisschriften oft genug von dem kanonischen Recht, ja von „göttlichem” und „menschlichem Recht” ganz nach katholischer Weise die Rede12. Namentlich Melanchthon liebt es, mit solchen katholisch klingenden Ausdrücken zu spielen. In dem Augsburgischen Glaubensbekenntnis und ebenso in der Apologie werden die canones der alten Kirche zur Verteidigung des lutherischen Standpunktes angerufen; ja es wird erklärt, daß man sich der ganzen „kanonischen Politie” als einer Ordnung „menschlichen Rechts” zu unterwerfen bereit sei, wenn nur die Predigt des Evangeliums frei bleibe13. Noch bei Abfassung der Schmalkaldischen Artikel gibt Melanchthon seine Unterschrift dahin ab, daß er gewillt sei, selbst die Papstgewalt über die Bischöfe als „nach menschlichem Recht” bestehend anzuerkennen14.
Aber durch alle solche Wandlungen soll nur der Eindruck verstärkt werden, daß die Protestanten keine Umsturzpartei sind, daß sie wie in ihrem Bekenntnis, so auch in der äußeren Ordnung des Kirchentums die alte wahre katholische Kirche gegen den entstellten falschen Katholizismus der Gegenwart
12 Das hat Kahl in seiner Schrift über
den rechtlichen Inhalt des Konkordienbuchs, S. 4 ff., 42 ff.,
trefflich und eindringlich dargestellt.
13 Vgl. namentlich Augsb. Konf., Art. XXVIII (Müller,
S. 69): Nunc non id agitur, ut dominatio eripiatur episcopis.
Apologie, Art. XIV (Müller, S. 205): nos summa voluntate cupere
conservare politiam ecclesiasticam et gradus in ecclesia
factos etiam humana auctoritate. S. 206: hic iterum volumus
testatum, nos libenter conservaturos esse ecclesiasticam
et canonicam politiam, si modo episcopi desinant in nostras
ecclesias saevire. Art. XV, S. 212: Verius servamus
canones quam adversarii.
14 Müller, S. 326: Ego Philippus Melanchthon supra
positos articulos approbo ut pios et christianos. De pontifice
autem statuo, si evangelium admitteret, posse ei propter
pacem et communem tranquillitatem christianorum, qui jam sub
ipso sunt et in posterum sub ipso erunt, superioritatem in
episcopos, quam alioqui habet, iure humano etiam a nobis
permitti.
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verteidigen, daß sie die Erhaltung des rechten Katholizismus, nicht seine Zerstörung auf ihre Fahne geschrieben haben. Noch war die Hoffnung nicht aufgegeben, daß die ganze Kirche den großen Fortschritt machen werde. Darum kommt man der Überlieferung entgegen, soweit es möglich ist. Der Sinn der Wendungen aber, in denen man mit dem Katholizismus sich begegnet, ist trotzdem ein durchaus unkatholischer. Wie das Glaubensbekenntnis, trotz Übernahme der alten Symbole, für den Protestantismus eine ganz andere Bedeutung hatte als für den Katholizismus, so auch das auf die äußere Ordnung bezügliche „göttliche” und „menschliche” Recht. Das „göttliche Recht” in den Zeugnissen der lutherischen Reformation ist gar kein Recht. Es ist „seinem Wesen nach etwas anderes als das ius divinum des kanonischen Rechts”15. Es ist lediglich religiöse Wahrheit, Evangelium16. Genau das Gleiche gilt von dem ius humanum der Bekenntnisschriften. Es ist seinem Wesen nach etwas anderes als das ius humanum des Katholizismus. Es ist kirchlich (menschlich) gewillkürte und darum vom lutherischen Standpunkt unverbindliche Ordnung des äußeren kirchlichen Lebens. Es ist, wie wir schon gesehen haben, kein „kirchliches Recht”, keine Rechtsordnung, die durch sich selber im Gewissen verpflichtete. Es beruht auf einer menschlichen Überlieferung (traditiones humanae), die man aus freien Stücken (libenter), soweit sie dem Evangelium nicht widerspricht, um der „Liebe und Einigkeit”, um des „Friedens und der gemeinen Ruhe willen” beobachten kann17. Es ist ohne jeglichen Rechtscharakter.
15 Kahl, Rechtlicher Inhalt des
Konkordienbuchs., S. 42 ff., 47.
16 Augsb. Konf. Art. XXVIII (Müller, S. 64): secundum
evangelium seu, ut loquuntur, de iure divino. Kahl, S.
44: „Ius divinum” (im Sinn der Bekenntnisschriften) „ist jede
Ordnung, welche sich unmittelbar auf das Evangelium gründet und
darin als unwandelbarer Wille Gottes sich bezeugt; es ist überall
nicht im technischen Sinne eines Rechtssatzes, sondern allgemein
als mandatum Dei zu verstehen”. Vgl. auch Kirchenrecht, Bd. 1 S.
473 Anm. 27, S. 475 Anm. 32.
17 Luther in den Schmalk. Art., Pars III Art. X
(Müller, S. 323): Si episcopi suo officio recte
fungerentur et curam ecclesiae et ➝
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Die canonica politia des katholischen Kirchenrechts hat vom lutherischen Standpunkt keine andere Art als die „Zeremonien”, äußeren Ordnungen, die ein lutherischer Pastor („Bischof”) für den sonntäglichen Gottesdienst in seiner Gemeinde einführte. Man fügt sich dem aus Liebespflicht „um der Liebe und des Friedens willen”. Aber Rechtsordnung, das kirchliche Leben formal bindende Ordnung ist das niemals (so lange nicht der Rechtsbefehl der weltlichen Obrigkeit hinzutritt). Geschweige denn, daß es kanonische Rechtsordnung wäre, Rechtsordnung, der man um des „Kanons der Wahrheit”, um des göttlichen Wortes willen gehorchen müßte18. Kanonisches Recht will kraft der Schlüsselgewalt
➝ evangelii gererent, posset illis nomine caritatis et
tranquillitatis, non ex necessitate, permitti, ut nos et
nostros concionatores ordinarent et confirmarent —. Melanchthon
will propter pacem et communem tranquillitatem selbst die
„Superiorität des Papstes” als iure humano bestehend, d.h.
obgleich sie rechtlich unverbindlich ist, anerkennen
(oben Anm. 14). Das ius humanum Melanchthons bedeutet gleichfalls
nur ein posse ei a nobis permitti. Darum wird die
Freiwilligkeit der Unterwerfung unter die „kanonische
Politie” betont, vgl. das libenter oben Anm. 13 und unten Anm.
19. Religiös ist nur die Schrift, das Evangelium (das
ius divinum im protestantischen Sinn) verbindlich, alle
menschliche Ordnung (ius humanum)
unverbindlich.
18 Augsb. Konf. Art. XXVIII (Müller, S. 67): liceat
episcopis seu pastoribus facere ordinationes, ut res
ordine gerantur in ecclesia, non ut per illas mereamur
gratiam aut satisfaciamus pro peccatis aut obligentur
conscientiae, ut iudicent esse necessarios cultus ac
sentiant se peccare, quum sine offensione aliorum violant. —
Tales ordinationes convenit ecclesias propter caritatem et
tranquillitatem servare eatenus, ne alias alium offendat, ut
ordine et sine tumultu omnia fiant in ecclesiis (1. Cor. 14, 40,
cf. Phil. 2, 14), verum ita, ne conscientiae onerentur,
ut ducant res esse necessarias ad salutem —. Hier wird die Gewalt
der „Bischöfe oder Pastoren” zum Erlaß von „Kirchenordnungen”
genau dahin umschrieben, daß sie nur religiös
unverbindliche Ordnungen aufzustellen befugt sind. In der
Aufstellung von solchen äußeren Ordnungen üben sie nicht die
Schlüsselgewalt, verkündigen sie nicht aus dem Geiste Gottes
fließendes, sondern lediglich menschliches, nicht „im Himmelreich
bindendes” Wort. Damit ist jede Möglichkeit kanonischer
Rechtsordnung ausgeschlossen. Der Christ gehorcht solcher
von den Trägern des geistlichen Amts ausgehenden Ordnung nicht
als im Gewissen vor Gott dazu verpflichtet, sondern nur „um der
Liebe und des Friedens willen”, damit er ➝
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gelten, will geistliches (nicht „kirchliches”!), im Evangelium begründetes, aus dem Geist Gottes fließendes, um des rechten Christentums willen geltendes, darum religiös verbindliches Recht sein. Das katholische ius humanum ist zwar nicht unmittelbar im Evangelium enthalten (wie das ius divinum), wird aber aus dem Evangelium abgeleitet, will im Sinne des Evangeliums sein und nimmt darum auf Grund des Evangeliums religiöse Verpflichtungskraft in Anspruch. Auch das ius humanum verpflichtet den Christen um seines Glaubens, um seines Christenstandes willen. Ohne den Gehorsam gegen das gesamte kanonische Recht kein wahres Christentum und keine wahren Christen! Mit diesem Wesen des kanonischen Rechts halte man die bei unseren protestantischen Kirchenrechtslehrern schon im 17. Jahrhundert und ebenso noch heutigen Tages herrschende Lehre zusammen, daß die lutherische Reformation keine „Erneuerung des Rechts”, vielmehr das lutherische Kirchenrecht eine Fortentwicklung des kanonischen Kirchenrechts bedeutete!!
In der Geltung des kanonischen Rechts kommt das Wesen des Katholizismus, die Gleichsetzung der sichtbaren Kirche mit der Kirche Gottes, die Gleichsetzung des Gehorsams gegen die sichtbare Kirche mit dem Gehorsam gegen Gott zum Ausdruck. Gerade so spricht das Wesen des Protestantismus in der Nichtgeltung, in der Unmöglichkeit kanonischen Rechts sich aus. Das kanonische Recht widerstreitet dem Evangelium von der Rechtfertigung allein durch den Glauben. Es richtet neuen Gottesdienst auf. Es schafft äußere Ordnungen, denen genügt werden soll, um vor Gott Rechtfertigung zu erlangen. Das ist Fälschung des Evangeliums. Das ist Einführung neuen jüdisches Gesetzeswerks. Dem muß aus allen Kräften Widerstand
➝ anderen keinen Anstoß gebe. Genau in dieser Weise bestimmt Luther und in der Sache ebenso Melanchthon in den Schmalkaldischen Artikeln sein Verhältnis zu der kanonischen Politie (oben Anm. 14, 17): das sind Ordnungen, denen wir „um der Liebe und des Friedens willen” uns freiwillig unterwerfen können, aber niemals Ordnungen kraft geistlichen (religiös verbindlichen) Rechts.
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geleistet werden. Immer wieder wird das in den Bekenntnisschriften ausgesprochen19. Im Kernpunkt des Protestantismus,
19 Unzählige Male wird in den lutherischen Bekenntnisschriften betont, daß die Bischöfe als Träger des geistlichen Amts keine im Gewissen verbindliche Kirchenordnungen, d.h. daß sie kein kanonisches Recht machen können. Augsb. Konf. Art. XV (Müller, S. 42): De ritibus ecclesiasticis docent (ecclesiae apud nos), quod ritus illi servandi sunt, qui sine peccato servari possunt et prosunt ad tranquillitatem et bonum ordinem in ecclesia, sicut certae feriae, festa et similia. De talibus rebus tamen admonentur homines, ne conscientiae onerentur, tamquam talis cultus ad salutem necessarius sit. Die Hauptstelle Art. XXVIII (Müller, S. 65 ff.): disputatur, utrum episcopi seu pastores habeant ius instituendi ceremonias in ecclesia et leges de cibis, feriis, gradibus ministrorum seu ordinibus cet. condendi. — — Sed de hac quaestione nostri sic docent, quod episcopi non habent potestatem statuendi aliquid contra evangelium —. Porro contra scripturam est traditiones condere aut exigere, ut per eam observationem satisfaciamus pro peccatis aut mereamur gratiam et iustitiam. — Relinquitur igitur, quum ordinationes institutae tamquam necessariae aut cum opinione promerendae gratiae pugnent cum evangelio, quod non liceat illis episcopis tales cultus instituere aut exigere. Necesse est enim in ecclesiis retineri doctrinam de libertate christiana, quod non sit necessaria servitus legis ad justificationem —. Darauf folgt die oben Anm. 18 bereits angezogene positive Ausführung. — Apologie Art. VII, VIII (Müller, S. 159): Constat enim multas stultas opiniones de traditionibus serpsisse in ecclesiam. Nonnulli putaverunt humanas traditiones necessarias cultus esse ad promerendam justificationem. Et postea disputaverunt, qui fieret quod tanta varietate coleretur Deus, quasi vero observationes illae essent cultus et non potius externae et politicae ordinationes, nihil ad justitiam cordis seu cultum Dei pertinentes —. Item aliae ecclesiae alias propter tales traditiones excommunicaverunt, ut propter observationem paschatis, picturas et res similes. Unde imperiti existimaverunt fidem seu iustitiam cordis coram Deo non posse existere sine his observationibus. Exstant enim de hoc negotio multa inepta scripta Summistarum et aliorum. Art. XV (Müller, S. 208): Nulla traditio a sanctis patribus hoc consilio instituta est, ut mereatur remissionem peccatorum aut justitiam. (Augustin und die anderen Kirchenväter glaubten die Lutherischen auf ihrer Seite zu haben; daß auch die patres katholisch waren, sah man nicht); S. 212: traditiones veteres factas in ecclesia utilitatis et tranquillitatis causa libenter servamus — exclusa opinione, quae sentit, quod iustificent. Art. XXVIII (S. 287 ff.): docent nos adversarii, quod episcopi habeant auctoritatem condendi leges utiles ad consequendam vitam aeternam. ➝
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in seinem Verständnis des Evangeliums liegt der Widerspruch gegen alles kanonische Recht (als solches) begründet. Der Katholizismus
➝ De hoc articulo controversia est. Oportet autem in ecclesia retineri hanc doctrinam, quod gratis propter Christum fide accipiamus remissionem peccatorum. Oportet et hanc doctrinam retineri, quod humanae traditiones sint inutiles cultus, quare nec peccatum nec justitia in cibo — et similibus rebus collocanda est —. Itaque nullum habent jus episcopi condendi traditiones extra evangelium, ut mereantur remissionem peccatorum, ut sint cultus quos approbat Deus tam quam justitiam et qui gravent conscientias, ita ut peccatum sit eos omittere. — Certum est enim sententiam illam (Luc. 10, 16): Qui vos audit, me audit, non loqui de traditionibus, sed maxime contra traditiones facere — requirit enim Christus, ut ita doceant, ut ipse audiatur, quia dicit: Me audit. Igitur suam vocem, suum verbum vult audiri, non traditiones humanas. — Citant et hoc (Ebr. 13, 17): Obedite praepositis vestris. Haec sententia requirit obedientiam erga evangelium — nec debent episcopi traditiones contra evangelium condere aut traditiones suas contra evangelium interpretari. — Abwechselnd ist von ritus ecclesiastici, ceremoniae, traditiones humanae, ordinationes, leges die Rede, deren Beobachtung um das Seelenheils willen notwendig ist, deren Erfüllung Gottesdienst bedeutet. Gemeint ist immer dasselbe: Rechtsordnung, die aus religiösen Gründen (kraft des Verhältnisses zu Gott) verbindlich sein will. Alle Ordnungen solcher Art werden als dem Evangelium widerstreitend (als ordinationes contra evangelium) verworfen. Wie auch ihr Inhalt sein möge — es können sachlich ganz löbliche Ordnungen sein —, sobald sie diesen religiösen Wert in Anspruch nehmen, sind sie wider das Evangelium, wider die frohe Botschaft von der Rechtfertigung allein durch den Glauben. Die „kanonische Politie” kann aus freien Stücken als bloß äußere Ordnung beobachtet werden. Sobald aber Gehorsam als religiös geschuldet gefordert würde, ist Verweigerung des Gehorsams Pflicht (Apol. Art. XV, S. 212: si quas traditiones parum commodas omittunt nostri, satis excusati sunt, quum requiruntur tamquam promereantur justificationem. Art. XXVIII, S. 289: Nec debent episcopi — traditiones suas contra evangelium interpretari; idque quum faciunt, obedientia prohibetur iuxta illud Gal. 1, 8: Si quis aliud evangelium docet, anathema sit). Kanonisches Recht bedeutet ein anderes Evangelium. Darum ist, ihm nicht zu gehorchen, Pflicht kraft des Evangeliums. — Alle im vorigen zusammengestellten Äußerungen der Bekenntnisschriften sind seit Jahrhunderten weltbekannt. In ihnen wird das kanonische Recht auf das allerdeutlichste abgemalt und auf das allerbestimmteste verworfen. Aber wo ist das Verständnis dieses ihres Inhalts geblieben? Schon im 16. Jahrhundert fiel die beginnende protestantische Kirchenrechtswissenschaft unter die Gewalt der katholischen kanonischen Jurisprudenz (vgl. die Nachweise bei v. Gierke, ➝
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ist Entstellung des Evangeliums. Vor dem wahren Evangelium verschwindet alles eigentümlich Katholische und mit ihm alles kanonische Recht.
Sobald das kanonische Recht das wirklich sein will, wofür es sich ausgibt, gehört es kraft protestantischen Glaubens notwendig auf den Scheiterhaufen. Alles kanonische Recht ist (als solches) wider das Christentum. Es bindet das Christentum an irgendwelche äußere Ordnung. Es will Christen machen helfen und ist doch ein Verderbnis des Christentums. Es will aus dem Evangelium abgeleitet sein und ist doch wider das Evangelium.
Kein Rechtsgehorsam kann vor Gott rechtfertigen. Keine Rechtsgewalt kann den Weg zu Gott öffnen. Die Schlüsselgewalt ist nur Gewalt der Wortverkündigung. Sie ist verderbt, wenn sie Gewalt zwangsweiser Gesetzgebung sein will. Die Idee, daß die sichtbare Christenheit als Kirche (als Trägerin des Lebens der Kirche Christi) Rechtsquelle sei, daß sie „aus ihrem ureignen Sein und Sollen”, aus dem Wesen des Christentums heraus „Wesensrecht” hervorbringe20, ist nach dem Urteil der lutherischen Reformation ein widerchristlicher Gedanke.
Darum ist denn auch das kanonische Recht von der
➝ Genossenschaftsrecht, Bd. 3 S. 716, 717). Die erste
Frucht der dadurch bewirkten Begriffsverwirrung war das sog.
Episkopalsystem, welches Joach. Stephani in seinen
Institutiones juris canonici (!) ad praesentem ecclesiarum
Germaniae statum directae (1604) für die lutherischen
Landeskirchen Deutschlands entwickelte. Durch die
Kirchengesellschaftslehre der Aufklärung verschwand vollends jede
Erinnerung an den Wesensgegensatz zwischen katholischem und
protestantischem Kirchenrecht, — ein Zustand, der bis heute
andauert. Noch in der soeben erschienenen Neuauflage der
bedeutenden und einflußreichen Darstellung, die Stutz
vom Kirchenrecht gegeben hat (Kohlers Enzykl. d. Rechtswiss., 2.
Aufl., Bd. 5, Erste Hälfte, 1914, S. 391) steht das katholische
jus humanum mit dem lutherischen und dem modernen evangelischen
Kirchenrecht als gleichartig auf einer Linie. Unsere
Kirchenrechtswissenschaft mit ihrer Lehre vom „kirchlichen”
(kirchengesellschaftlich erzeugten) Recht und von der
„kirchlichen Rechtsgeschichte” sieht noch immer alles durch die
naturrechtlichen Begriffe der Aufklärung und ist daher außer
Stande, die Gedanken der Vergangenheit zu verstehen, in denen die
Geschichte des Kirchenrechts beruht.
20 So Th. Kaftan, Vier Kapitel, S. 61,
62.
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lutherischen Reformation nicht aufgenommen worden, auch nicht „subsidiär”. Es ist vielmehr, wie Luther gewollt hatte, im Feuer der Reformation ganz und gar verbrannt. Auch Melanchthon steht nicht anders als Luther. Das kanonische Recht ist für ihn kein Recht mehr. Das ist das Entscheidende. Das ist denn auch der Inhalt der lutherischen Bekenntnisschriften. Warum ist es kein Recht? Weil das kanonische Recht als Ordnung der sichtbaren Christenheit nicht, wie es vorgibt, religiös notwendig, sondern religiös gleichgültig ist. Die ganze „kanonische Politie” mag beobachtet, Bischöfen, ja dem Papst mag ferner gehorcht werden. Warum? Weil solcher Gehorsam gegen äußere Ordnung mit dem Christentum nichts zu tun hat. Aber gerade durch diese Begründung ist jede Möglichkeit rechtlicher Verpflichtungskraft des kanonischen Rechts als solchen (unabhängig von der weltlichen Obrigkeit) ausgeschlossen21.
Auch das „menschliche Recht” (ius humanum) des Katholizismus will geistliches Recht sein, mittelbar aus dem Geist Gottes (den die kirchliche Körperschaft besitzt), aus dem Evangelium (welches die kirchliche Körperschaft bindend auslegt) abgeleitet, kraft der Schlüsselgewalt, die im Namen Gottes gebietet, hervorgebracht. Solches „menschliches Recht” im Sinn des Katholizismus ist für den Protestantismus genau ebenso unmöglich wie das katholische „göttliche Recht”. Die Bereitschaft, die „kanonische Politie” mit Bischofsgewalt und Papsttum als „menschliche Überlieferung” anzuerkennen, war ein Widerspruch in sich selbst, denn das Wesentliche an der „kanonischen Politie”, ihre Rechtsgeltung kraft des Evangeliums, ward als dem Evangelium widerstreitend abgelehnt.
21 So sagt denn auch Kahl selber (Rechtl. Inhalt des Konk., S. 4), daß vom lutherischen Standpunkt das kanonische Recht „als rein menschliche Ordnung subsidiär ertragen, aber auch jederzeit verworfen oder geändert werden konnte”. Hier kommt doch wenigstens annäherungsweise der Gedanke zum Ausdruck, daß das kanonische Recht für die Lutherischen keine Rechtsgeltung mehr besaß. Trotz alledem soll in den Bekenntnisschriften „überwältigend” der Gesichtspunkt hervortreten, daß es „um eine Erneuerung der Rechtsordnung überhaupt nicht geht”.
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Das gesamte kanonische Recht war für die lutherische Reformation als geltendes Recht mit einem Schlage verschwunden. „Überwältigend” tritt daher in den lutherischen Bekenntnisschriften nicht die Geltung, sondern die Nichtgeltung des kanonischen Rechts in den Vordergrund. Das kanonische Recht ist ohne jede religiöse und folgeweise ohne jede rechtliche Verbindlichkeit. Gewiß, in den Außendingen des Kirchenwesens konnten kanonische Rechtssätze beibehalten und fortentwickelt werden, wie das z.B. auf dem Gebiet des Patronatsrechts geschehen ist. Aber wenn auch der Inhalt kanonischer Rechtssätze blieb, ihr Wesen ward durch die Aufnahme in das lutherische Kirchenrechtssystem verändert. Das inhaltlich übernommene kanonische Recht galt nicht mehr als kanonisches, geistliches Recht um des Evangeliums willen, sondern als weltliches Recht um der Befehlsgewalt weltlicher Obrigkeit willen.
Vom kanonischen Recht blieb kein Stein auf dem anderen. Nicht bloß die Welt des Glaubens, auch die ganze Welt des Rechts war eine andere geworden. Es gab kein geistliches Recht mehr, und wie kein geistliches Recht, so keine geistliche Obrigkeit. Eine größere Umwälzung des gesamten Rechtswesens ist nie wieder dagewesen. Die Welt war von geistlicher Zwangsgewalt befreit. Die Selbständigkeit des weltlichen Rechts, die Souveränetät der weltlichen Obrigkeit, die Zuständigkeit aller öffentlichen Gewalt an den Staat, alle diese Gedanken, in denen das neuzeitliche Staatswesen wurzelt, sind durch die lutherische Reformation religiös gerechtfertigt und nur dadurch zu voller Wirkungskraft befähigt worden. Die Reformation Luthers war eine Erneuerung nicht bloß des Glaubens, sondern der Welt: wie der Welt des Geisteslebens, so auch der Welt des Rechts.