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§ 1.
Der Begriff des Rechts.

 

Die „genossenschaftliche Rechtstheorie” hat heute die Herrschaft. Ihr Inhalt lautet: jede „organische Gemeinschaft” besitzt die Kraft der Rechtserzeugung, jede „Gemeinschaftsordnung” ist Rechtsordnung1.


1 v. Gierke, Deutsches Privatrecht, Bd. 1 S. 119: „zur Rechtserzeugung befähigt ist jede organische Gemeinschaft.” Friedberg in seiner Deutschen Zeitschr. f. Kirchenr., Bd. 8 S. 1: „Organisation ist Rechtsbildung.” Friedberg, Kirchenr., 6. Aufl. § 2: Recht bedeutet einen Inbegriff von Normen, welcher „innerhalb eines Kreises von Menschen deren Zusammenleben ordnet”. Dove in Richter, KR. 8. Aufl. § 3 Anm. 1: die der Kirche unentbehrlichen Ordnungen „sind mit Rücksicht auf die begriffsmäßige Aufgabe des Rechts überhaupt als Rechtsordnung zu charakterisieren”; „Recht überhaupt und staatliches Recht fallen nicht zusammen”. Kahl, Lehrsystem des Kirchenrechts, Bd. 1 S. 51 ff.: „Gemeinschaftsordnung” ist gleichbedeutend mit „Rechtsordnung”; Recht ist „der Inbegriff der das Gemeinleben von Menschen beherrschenden Regeln”. Schön, Das Ev. KR. in Preußen, Bd. 1 S. 5 in der Anm.: Das äußere Leben der Kirche wird einer menschlichen Ordnung unterstellt, die, „weil sie Normen über ein menschliches Gemeinleben enthält, als Rechtsordnung anzusprechen ist”. In jüngster Zeit ist namentlich Stutz mit großem Nachdruck für die „genossenschaftliche Rechtstheorie” eingetreten. Insbesondere in seiner akademischen Rede: Die kirchliche Rechtsgeschichte (1905). Dort heißt es S. 11: „Das Recht ist nicht ein Erzeugnis nur des Staates”; „die genossenschaftliche Rechtstheorie genießt heute fast allgemeine Anerkennung”; S. 40: Gierkes Lehre, daß Recht alle Normen sind, „die nach der erklärten Überzeugung einer Gemeinschaft das freie menschliche Wollen äußerlich in unbedingter Weise bestimmen sollen” und daß folgeweise „jede organische Gemeinschaft zur Rechtserzeugung fähig ist”, muß vorbehaltlos gebilligt werden. Diese Sätze werden regelmäßig beweislos aufgestellt. Eine gründlichere Auseinandersetzung unternimmt nur Bierling. Er definiert in seiner Schrift: Juristische Prinzipienlehre, Bd. 1, 1894, S. 19: Recht ist „alles, was Menschen, die in irgendwelcher Gemeinschaft miteinander leben, als Norm und Regel dieses Zusammenlebens wechselseitig anerkennen”. Dazu Bierling in Doves Zeitschr. f. KR., Bd. 10 (1871) S. 442 ff., Bd. 13 (1876) S. 256 ff. Zur Kritik der juristischen Grundbegriffe, 2 Teile 1877, 1883. Aber auch Bierling

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Gewiß: das Recht ist eine Ordnung menschlichen äußeren Gemeinlebens (Gemeinschaftsordnung). Eine ganze Reihe von Eigenschaften hat das Recht darum mit jeder Gemeinschaftsordnung, d.h. mit jeder Ordnung eines zu überindividueller Dauer bestimmten äußeren Verbandes, gemeinsam. Diese Eigenschaften gilt es zunächst herauszustellen.

Gleich jeder Gemeinschaftsordnung dient das Recht der Erhaltung der Gemeinschaft, der es entspringt, durch gemeinschaftgestaltende (organisatorische), Machtbefugnisse und Pflichten verteilende Vorschriften. Durch die Vereinsordnung erhält sich der Verein, durch die staatliche Rechtsordnung erhält sich der Staat. Der Einzelne ist dieser Gemeinschaftsordnung, der Vereinsordnung, der staatlichen Rechtsordnung um dieser Gemeinschaft willen Untertan: ohne diese Ordnung würde die Gemeinschaft untergehen. Das Interesse der Gemeinschaft siegt durch das Mittel der Gemeinschaftsordnung über das im Sonderfall vielleicht widerstrebende Interesse des Einzelnen.

Jede Gemeinschaftsordnung, und so auch die Rechtsordnung, nimmt ferner als Ordnung nur des Gemeinlebens lediglich das äußere Verhalten des Einzelnen in Anspruch. Jede Gemeinschaftsordnung (so auch die Rechtsordnung) hängt an dem


➝ gibt in seinen eingehenden Ausführungen an Stelle einer Begründung nur eine Auseinandersetzung des Inhalts seiner Meinung. Im Hintergrunde dieser bei unseren Kirchenrechtslehrern durchaus gemeinverbreiteten Auffassung steht das kanonische Recht der mittelalterlichen Kirche, welches als ein von der Kirche genossenschaftlich erzeugtes „kirchliches Recht” gedacht wird. Einige Kirchenrechtslehrer vertreten allerdings den anderen Standpunkt, daß „immer nur das, was vom Staat als solches geschützt wird”, Recht im juristischen Sinne sei. So Mejer, Rechtsleben der deutschen evangelischen Landeskirchen (1889), S. 65; dazu Mejer, KR., 3. Aufl. (1869) § 6, und in Doves Zeitschr. f. KR., Bd. 11 S. 278 ff. Ebenso v. Schulte, Gesch. u. Quellen des kanon. Rechts, Bd. 1 (1875) S. 32, 33; Thudichum, Deutsches KR. des 19. Jahrh., Bd. 1 (1877) S. 6. Zorn, KR., S. 3. Aber dieser Standpunkt, daß „immer”, also begrifflich Recht und staatliches Recht zusammenfalle, ist angesichts der geschichtlich gegebenen Tatsache des mittelalterlichen kanonischen Rechts unhaltbar. Es bleibt also anscheinend nur die Möglichkeit der „organischen Rechtstheorie”.

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Erfolge, daß diese Gemeinschaft erhalten werde. Dazu ist ein bestimmtes äußeres Verhalten der Gemeinschaftsangehörigen notwendig und genügend. Darin beruht der Gegensatz des Rechtsgesetzes wie jeder Gemeinschaftsordnung zum sittlichen Gesetz. Das äußere Verhalten aber kann erzwungen werden und muß als zur Erhaltung der Gemeinschaft notwendig erzwungen werden, soweit die Zwangsmittel der Gemeinschaft reichen. Dem dient der Vollstreckungszwang, der Strafzwang, vor allem der mit jeder Gemeinschaftsordnung verbundene Geltungszwang (vgl. unten). Der Zwang ist keineswegs das besondere Kennzeichen der Rechtsordnung. Jede Gemeinschaft zwingt mit den ihrer Organisation zuständigen Kräften. Der Ausschluß aus einem Verein kann unter Umständen härter treffen, als manche Rechtsstrafe. Immer ist in jeder Gemeinschaft der Zwang nur von begrenzter Wirkungskraft. Aber ohne Zwang keine Selbstbehauptung der Gemeinschaft gegenüber dem Einzelnen.

Als Ordnung des Gemeinlebens ist endlich jede Gemeinschaftsordnung, ebenso auch die Rechtsordnung, eine Ordnung um der Ordnung willen. Die Erhaltung der Gemeinschaft ist an erster Stelle nur davon abhängig, daß eine Ordnung sei. Die Frage nach dem Inhalt der Ordnung, so bedeutsam sie auch für die Leistungsfähigkeit der Ordnung ist, steht, im Verhältnis zu dem Bedürfnis nach Ordnung überhaupt, in zweiter Reihe. Darum muß jede Gemeinschaftsordnung, folgeweise auch die Rechtsordnung, eine äußerlich vorgeschriebene Ordnung sein, die als solche zu befolgen ist, als eine gemeingültige Ordnung, die grundsätzlich verbindlich ist ohne Rücksicht auf die Lage des Einzelfalls (summum jus summa iniuria). Dann ist jedenfalls Ordnung. Schlechthin freies Ermessen der Beteiligten für den Einzelfall würde die Aufhebung jeglicher Ordnung bedeuten. Die etwa sachlich unzutreffende Wirkung der Gemeinschaftsordnung für diesen Sonderfall muß und soll mit in den Kauf genommen werden, um des Bestands der Gemeinschaft, d.h. um der Ordnung als solcher willen. Jede Gemeinschaftsordnung, ebenso die

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Rechtsordnung beruht deshalb auf der Vergangenheit und bewegt sich in geschichtlich entwickelten, mehr oder minder allgemein lautenden Sätzen, durch welche im voraus die Entscheidung einer gewissen Zahl von Fällen vorgeschrieben ist.

Dadurch vollendet sich der Gegensatz des Rechtsgesetzes (wie jedes Gemeinschaftsgesetzes) zum sittlichen Gesetz. Für das sittliche Leben gibt es keine überlieferte Formel, kein für eine Reihe von Fällen allgemein gefaßtes, dialektisch zu entwickelndes Gesetz, welches nach Art der katholischen Moralisten kasuistisch auszulegen und anzuwenden wäre. Die „Gesetze” der Sittlichkeit (das Gebot der Gottesliebe, der Nächstenliebe) sind in Wahrheit nur eine Anleitung zur Befreiung vom „Gesetz”, zur Entwicklung der Persönlichkeit im Sinne des sittlichen Ideals. Die alleinherrschende Großmacht des sittlichen Lebens ist die in jeder Lebenslage deutlich redende Stimme Gottes im Gewissen. Das sittliche Gebot ist verbindlich durch seinen, die innerliche Zustimmung mit Naturgewalt fordernden Inhalt und bestimmt sich immer ausschließlich nach der Gegenwart, d.h. nach der Lage dieses Einzelfalls. Das die Gemeinschaft ordnende Gesetz aber, und ebenso das Rechtsgesetz muß als gemeingültiges Gesetz verbindlich sein, ohne Rücksicht auf gegenwärtige Zustimmung des Einzelnen. Das heißt: es ist von formaler, auf bestimmten Vorgängen der Vergangenheit beruhender und nur in bestimmten Formen zu beseitigender gemeingültiger Verpflichtungskraft und übt dadurch für alle seine Sätze den (über das Gebiet des Straf- und Vollstreckungszwangs weit hinausgehenden) Geltungszwang, der von dem Wesen des Rechtsgesetzes wie jedes Gemeinschaftsgesetzes unzertrennlich ist. Das von der Vergangenheit in bestimmter Form hervorgebrachte Gesetz gilt für das Urteil darüber, was dem Wesen der Gemeinschaft gemäß, was ihm zuwider ist. So gilt jeder Rechtssatz (bis zu seiner formrichtigen Aufhebung) aus formalen Gründen (d.h. zwingend) für die Entscheidung der großen Frage, was recht und was unrecht ist. Der Geltungszwang steht jedem Rechtssatz (wie jedem Satz einer

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Gemeinschaftsordnung) zur Seite. Er ist viel mächtiger als der Straf- und Vollstreckungszwang. Er bestimmt das Urteil der Rechtsgenossen (der Gemeinschaftsgenossen) und damit das Urteil dessen selber, der durch den Rechtssatz (den Satz der Gemeinschaftsordnung) verpflichtet ist2. Die Macht des früher in bestimmten Formen (Statut, Gesetz, Gewohnheit) Gewordenen kommt in der Rechtsordnung, in der Gemeinschaftsordnung zum Ausdruck. Die Vergangenheit erscheint als die unparteiische Richterin für die Fragen der Gegenwart. Was in der Vergangenheit als Ordnung des Gemeinlebens siegreich durchgedrungen ist, erscheint als das dem Wesen der Gemeinschaft entsprechende Gesetz. Es muß beobachtet werden, damit eine Ordnung sei, bis eine neue Ordnung Kraft gewonnen hat, die formalen Erfordernisse der Rechtsänderung und damit der eigenen Rechtsgeltung zu erfassen.

In allen bisher besprochenen Stücken hat jede Gemeinschaftsordnung die gleiche Art wie die Rechtsordnung: sie geht auf äußeres Verhalten, sie erstrebt zwangsweise Durchsetzung, sie gilt kraft formal verbindlicher Tatsachen der Vergangenheit. Ist folgeweise, wie von so vielen behauptet wird, jede Gemeinschaftsordnung Rechtsordnung?

Außer Zweifel steht, daß es unmöglich ist, schlechthin lediglich der staatlichen Gemeinschaft rechtserzeugende Kraft beizulegen. Die Tatsache, daß es im Mittelalter ein nicht vom Staat erzeugtes kanonisches Recht gegeben hat, stellt unbestreitbar klar, daß das Recht nicht begrifflich mit staatlichem Recht zusammenfällt. Daher wiederum die Frage: Ist jede Gemeinschaftsordnung Rechtsordnung?


2 Es ergibt sich, daß es nicht zutreffend ist, wenn v. Scheurl in Doves Zeitschr. f. KR., Bd. 12 S. 55 und ebenso Kahl, Lehrsystem des Kirchenrerchts, Bd. 1 S. 86, je nach der Möglichkeit oder Unmöglichkeit des Vollstreckungs- bzw. Strafzwanges von „vollkommenem” und „unvollkommenen” Recht sprechen. Das sog. „unvollkommene” (keinen Rechtsnachteil androhende) Gesetz erzeugt kein unvollkommenes Recht. Auch die lex imperfecta bedeutet kraft des Geltungszwanges einen vollkommenen „echten Rechtssatz”, Binding, Die Normen und ihre Übertretung, Bd. 1, 2. Aufl. 1890, S. 63 ff.

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Daß diese Frage trotz alledem zu verneinen ist, beweist die gesellschaftliche Sitte.

Auch die gesellschaftliche Sitte ist eine Ordnung äußeren menschlichen Gemeinlebens, welche alle soeben besprochenen Eigenschaften, die einer Gemeinschaftsordnung als solcher zukommen, mit der Rechtsordnung teilt und doch nach allseitigem Einverständnis keine Rechtsordnung darstellt. Auch die gesellschaftliche Sitte geht nur auf äußeres Verhalten3. Sie ordnet den geselligen Verkehr innerhalb der verschiedenen Gesellschaftskreise, verteilt Ansprüche und Verbindlichkeiten (des geselligen Verkehrs), übt äußeren Zwang (durch Ausschluß von der Verkehrsgemeinschaft), der häufig mächtiger ist als der Rechtszwang, und schöpft ihre Geltung aus der Überlieferung, aus in der Vergangenheit hervorgebrachten Gesetzen, die, geradeso wie die Rechtsgesetze, durch formale Gründe erzeugt und wiederum beseitigt werden. Auch die gesellschaftliche Sitte dient der Erhaltung menschlicher Gemeinschaft (der Gemeinschaft geselligen Verkehrs), und um des Bestandes dieser Gemeinschaft willen erzeugt sie die Unterordnung des Einzelnen. Alles genau so wie bei der Rechtsordnung4. Und doch fällt die gesellschaftliche Sitte nicht unter den Rechtsbegriff.

Folglich: nicht jede Gemeinschaftsordnung ist Rechtsordnung.

Warum ist uns die gesellschaftliche Sitte kein Recht? Weil sie uns nicht durch sich selbst, nicht unbedingt, nicht selbstherrlich, nicht ohne weiteres, d.h. nicht kraft unseres sittlichen Wesens, verpflichtet. Die gesellschaftliche Sitte ist eine verschiedene je


3 Wenngleich in dem Gedanken, daß gesellige Gemeinschaft eine Gemeinschaft auch der Gesinnung fordert und daß durch bestimmte Formen äußeren Benehmens eine gewisse Höhenlage innerer Entwicklung als gewährleistet erscheint (daher die nahe geschichtliche Verwandtschaft der gesellschaftlichen Sitte mit der Sittlichkeit). Aber erfüllt wird die Vorschrift der Sitte durch die äußere Form als solche, wie auch die Gesinnung sei.
4 So paßt denn auch z.B. Bierlings Definition vom Recht („alles, was Menschen, die in irgendwelcher Gemeinschaft miteinander leben, als Norm und Regel dieses Zusammenlebens anerkennen”) genau auf die gesellschaftliche Sitte, ebenso die übliche Begriffsbestimmung: „Gemeinschaftsordnung ist Rechtsordnung.” Vgl. oben Anm. 1.

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nach den Kreisen der Gesellschaft. Sie gilt nur für den, der diesem Kreise angehören will. Sie ist eine bloße „Konventionalregel”, nur bedingt gültig, nur für den gültig, der sich ihr aus freien Stücken unterwirft. Konventionalregel ist keine Rechtsregel5.

Das ist wennmöglich noch deutlicher im Fall der Vereinssatzung. Die Vereinsordnung nähert sich der Rechtsordnung in noch höherem Grade als die gesellschaftliche Sitte, weil sie Ordnung nicht bloß einer „organischen”, sondern einer organisierten Gemeinschaft ist und deshalb die Eigenschaft einer rechtlichen Ordnung empfangen kann (durch Anerkennung seitens der Rechtsordnung). Aber auch die Vereinsordnung ist eine bloße Konventionalordnung. Sie ist keine in sich selber ruhende, durch sich selbst (selbstherrlich) verpflichtende, den einzelnen auch ohne seinen Willen ergreifende Ordnung. Sie gilt nur für den, der sich ihr in Freiheit unterworfen. Darum gilt die Vereinssatzung nur gemäß der Rechtsordnung, nicht als Rechtsordnung. Die Vereinssatzung ist keine Rechtsquelle. Die Rechtsgeltung der Vereinssatzung ist nicht ursprünglicher, sondern nur abgeleiteter Natur. Sie besteht kraft anderweit begründeter Rechtsordnung. Widersprechen die Vereinssatzungen oder sonstige Vereinsbeschlüsse dem staatlichen Recht, so sind sie vom Standpunkt der


5 Das ist die wichtige Tatsache, die Stammler herausgestellt hat. Als unbedingt geltende, „selbstherrlich” bindende Regel des sozialen Lebens unterscheidet sich das Recht von der gesellschaftlichen Sitte, ebenso von der Vereinssatzung, d.h. von der als bloß bedingt geltenden „Konventionalregel”. Vgl. Stammlers Schriften: Die Theorie des Anarchismus (1894); Wirtschaft und Recht (1896, 2. Aufl. 1906); Die Lehre vom richtigen Rechte (1902); in Hinnebergs Kultur der Gegenwart, Systematische Rechtswissenschaft, 2. Aufl. 1913, S. 1 ff.; Theorie der Rechtswissenschaft (1911) S. 90 ff. Am letztangeführten Orte S. 113 lautet die Begriffsbestimmung: Recht ist „das unverletzbar selbstherrlich verbindende Wollen”. Stammler ist der erste, der hier das Richtige gesehen hat. In kirchenrechtlichen Kreisen aber ist bis jetzt von der durch ihn gewonnenen Erkenntnis kein Gebrauch gemacht worden. Aber gerade die kirchenrechtliche Betrachtung ist nach meiner Ansicht imstande, die sachliche Begründung der von Stammler vertretenen hochbedeutenden Gedankenreihe zu vollenden.

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Rechtsordnung nichtig. Auch wenn sie von den Vereinsgenossen als gültig angesehen und befolgt werden (z.B. im Fall eines verbotenen Vereins), besitzen sie dennoch von geltenden Rechts wegen nicht etwa innervereinsmäßige, sondern gar keine Rechtsgeltung. Die „bürgerliche” (staatliche) Ungültigkeit der Vereinssatzung ist mit rechtlicher Ungültigkeit gleichbedeutend. Vereinsbeschlüsse und Vereinssatzung haben keine souveräne, selbstherrliche Geltung. Sie gelten nur, soweit sie von der staatlichen (im Mittelalter von der landrechtlichen) Rechtsordnung freigegeben sind. Vereinsordnung als solche ist keine Rechtsordnung.

Konventionalregel ist keine Rechtsregel. Gewillkürte Gemeinschaft ist keine Rechtsquelle. Die Ordnung einer gewillkürten Gemeinschaft hat keine Rechtsgeltung durch sich selbst.

Rechtsquelle ist nur solche Gemeinschaft, welche ursprüngliche rechtserzeugende Kraft besitzt, deren Gemeinschaftsordnung selbstherrlich durch sich selber rechtlich geltende Ordnung ist, die deshalb ihre Gemeinschaftsordnung als Rechtsordnung hervorbringt, unabhängig von jeder anderen Gemeinschaft. Nur die selbstherrliche Gemeinschaft ist Rechtsquelle. Und umgekehrt: nur ursprüngliche rechtbildende Kraft (Rechtsquelle), nur das ist Selbstherrlichkeit (Souveränetät). Das Wesen der Souveränetät beruht nicht in der Fülle der Gewalt, sondern in der Freiheit der Rechtsbildung. Die Ordnung einer selbstherrlichen Gemeinschaft ist durch sich selber Rechtsordnung. Die von einer selbstherrlichen Gemeinschaft zwecks ihrer Erhaltung hervorgebrachte Befehlsgewalt ist in sich selber ruhende selbstherrliche, d.h. obrigkeitliche Gewalt. Wo Rechtsquelle, da ist Obrigkeit. Und umgekehrt: wo Obrigkeit, da ist Rechtsquelle. Obrigkeit ist aus eigener (ursprünglicher) Kraft rechtlich verpflichtende Befehlsgewalt. Alles das ist nur in einer Zwangsgemeinschaft möglich.

Selbstherrliche, obrigkeitlich verfaßte, den Einzelnen ohne Rücksicht auf seinen freien Entschluß unterwerfende Gemeinschaft ist mit der sittlichen Freiheit der Einzelpersönlichkeit in Widerspruch,

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sofern nicht solche Gemeinschaft durch die sittliche Freiheit selber gefordert ist6. Selbstherrliche Gemeinschaft ist nur und kann nur sein die dauernde (den Einzelnen überdauernde) sittlich notwendige äußere Gemeinschaft, also die äußere Gemeinschaft, welcher der Einzelne um seines sittlichen Wesens willen angehören muß, der er darum eingeordnet und untergeordnet ist, kraft des Zwanges, der aus den Lebensnotwendigkeiten seiner eigenen Menschenpersönlichkeit hervorgeht. Die Gemeinschaft, welche den Menschen zum Menschen, die „blonde Bestie” zur sittlichen Persönlichkeit macht, ist die sittlich notwendige Gemeinschaft. Die ihrer Erhaltung dienende Ordnung ist sittlich notwendige Gemeinschaftsordnung. Nicht in dem Sinne, daß jedesmal der gesamte Inhalt dieser Gemeinschaftsordnung sittlich notwendig wäre, aber in dem Sinne, daß Geltung dieser Ordnung sittlich notwendig ist, damit eine Ordnung sei. Sie zwingt gleich jeder Gemeinschaftsordnung. Aber sie zwingt nicht bloß. Sie befreit. Sie macht das Dasein erst zum Menschendasein. Sie hat darum weit höhere Gewalt als bloß äußerlich wirkende Zwangsgewalt. Ihre Ordnung ist durch sich selber von sittlich verpflichtender Kraft. Das bedeutet, daß sie Rechtsordnung ist, denn das ist es, was das Recht von jeder anderen Gemeinschaftsordnung unterscheidet, daß das Recht durch sich selbst nicht bloß äußerlich, sondern im Gewissen verpflichtet, daß der Geltungszwang der Rechtsordnung (vgl. oben S. 8), welcher den Zuwiderhandelnden ins Unrecht setzt, in dem sittlichen Wesen des Menschen begründet ist. Darum ist Rechtsordnung keine bloße Konventionalordnung. Sie verpflichtet nicht bloß den, der sich ihr unterwarf. Sie bestimmt selber, wer ihr zugehörig ist, und gilt für jeden Zugehörigen, ihn innerlich verpflichtend, ohne Rücksicht auf seine Einwilligung. Sie leitet ihre Geltung nicht von ihm und seiner Willkür ab. Sie bedarf überhaupt keiner weiteren Verpflichtungsgründe. Sie ist von ureigener, ursprünglicher Geltungskraft. Warum?


6 Daß es solche Gemeinschaft gibt, sieht der Anarchismus nicht.

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Weil sie als solche, als Ordnung, wie unvollkommen auch ihr Inhalt sei, von unbedingtem sittlichen und darum den einzelnen schlechthin bindenden Wert ist. Denn sie erhält diese Gemeinschaft, ohne welche der Mensch nicht Mensch zu sein vermag.

Gewiß, auch die sittliche Verpflichtung zum Rechtsgehorsam gegen solche Ordnung besteht nicht kraft formulierbaren, buchstäblich geltenden, gleichmäßige Anwendung fordernden Gesetzes. Auch diese sittliche Pflicht kann im Einzelfall anderen höheren sittlichen Pflichten weichen müssen (man soll Gott mehr gehorchen als den Menschen)7. Aber es bleibt die Tatsache, welche das ganze Wesen der Rechtsordnung ausdrückt, daß das Recht, obgleich nur Gemeinschaftsordnung und folgeweise nur auf äußeres (unter Umständen erzwingbares) Verhalten gerichtet, doch durch sich selber sittlich verpflichtet, so daß die ihr entspringende Ordnung selbstherrliche Ordnung, die ihr entspringende Befehlsgewalt obrigkeitliche Gewalt darstellt.

Die Rechtsregel ist keine Konventionalregel. Die Recht schaffende Gemeinschaft ist keine Willkürgemeinschaft. Darum muß die von solcher Gemeinschaft geschaffene Ordnung, die Rechtsordnung, eine gerechte Ordnung sein. Hier begegnet uns die Tatsache, welche den vollen Beweis für die Richtigkeit der im vorigen entwickelten Gedankenreihe in sich trägt.

Nur an die Rechtsordnung stellen wir die Forderung der Gerechtigkeit. Gerade davon hat das Recht seinen Namen.


7 Bierling, Prinzipienlehre, Bd. 1 S. 64 beruft sich auf den Satz, daß man Gott mehr gehorchen muß als den Menschen, um die sittlich verpflichtende Kraft der Rechtsordnung zu bestreiten: unter Umständen sei vielmehr Widerstand gegen die Rechtsordnung sittliche Pflicht. Aber der Widerstreit sittlicher Pflichten, der in solchem Fall besteht, bestätigt lediglich den Grundsatz der sittlich verpflichtenden Kraft auch das Rechts. Jede sittliche Pflicht kann im Einzelfall durch eine stärkere sittliche Pflicht aufgehoben werden, zum Zeichen dessen, daß für das sittliche Gebiet kein allgemeines „Gesetz”, sondern immer allein die Lage des Einzelfalls entscheidet. Kein in Worte gefaßtes Sittengesetz hat ausnahmslose Geltung. Das gilt auch von dem Sittengesetz, welches zum Rechtsgehorsam verpflichtet („gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist” — aber auch „Gott, was Gottes ist”).

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Es will und soll das Rechte, das Gerechte sein. Die gesellschaftliche Sitte kann unzweckmäßig, roh, barbarisch, unter Umständen auch unsittlich sein; aber sie ist niemals ungerecht. Das gleiche gilt von der Ordnung aller Willkürverbände, z.B. aller Vereine. Bei Festsetzung solcher Ordnung kann unzweckmäßig verfahren werden, aber niemals ungerecht. Warum? Weil solche Ordnung bloße Konventionalordnung bedeutet, nur für den gültig, der an diesem geselligen Leben, an diesem Verbandsleben teilzunehmen gewillt ist. Die Konventionalregel kann nicht ungerecht sein: volenti non fit injuria.

Die Forderung der gerechten Gemeinschaftsordnung ist nur in einer Zwangsgemeinschaft möglich, d.h. in einer sittlich notwendigen Gemeinschaft der bereits geschilderten Art, die den Einzelnen mit selbstherrlicher Gewalt, ohne Rücksicht auf seine Zustimmung als zugehörig in Anspruch nimmt. Gerechtigkeit bedeutet die richtige Würdigung der Einzelpersönlichkeit in einer Gemeinschaft, der sie kraft ihres sittlichen Wesens zugehört: sie gibt dem Einzelnen als Gegenwert für seine Zuordnung zu der Gemeinschaft den ihm gebührenden Anteil an den Gütern der Gemeinschaft (suum cuique tribuere). Um des Zwanges der sittlich notwendigen Gemeinschaft willen erhebt sich die Gegenforderung der Gerechtigkeit, damit auch in und vermöge der Zwangsgemeinschaft die sittliche Freiheit des Einzelnen sich behaupte8.


8 Auch in der Gemeinschaft mit Gott behauptet die Persönlichkeit des Menschen sich in der Idee der Gerechtigkeit Gottes, ebenso wie in dem Glauben an die Liebe Gottes. So lange die Gemeinschaft mit Gott als eine äußere Gemeinschaft des Volkes, also als unmittelbar maßgebend auch für die Ordnung des volklichen Gemeinlebens, gedacht wurde, war folgerichtig die Auffassung auch des Verhältnisses zu Gott als eines Rechtsverhältnisses und zwar als eines die gesamte Rechtsordnung erzeugenden Verhältnisses gegeben. Die Urzeit gründet die volkliche Rechtsordnung auf den Willen der Volksgottheit, um damit die selbstherrliche Verpflichtungskraft des Rechts, seinen Wert als Widerspiegelung der göttlichen Gerechtigkeit, zugleich die Zugehörigkeit der Gottheit zu diesem ihrem Volk auszudrücken. In der Idee von der Sichtbarkeit der Kirche im

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Die an dem Maßstab der Gerechtigkeit zu bewertende Gemeinschaftsordnung, und nur diese, nennen wir Rechtsordnung. Das ist der Sinn der Sprache, wenn sie das Recht und das Gerechte (ius und iustitia) in unlösbaren Zusammenhang miteinander bringt. Willkürliche Bestimmung des Inhalts der Rechtsordnung ist ausgeschlossen. Nicht in dem äußeren Zwang, sondern in der Erfüllung des Gerechtigkeitsideals liegt die innerste Lebensmacht des Rechts, denn je nach dem Maß der Gerechtigkeit wird das Maß, in welchem die sittliche Geltungskraft der Rechtsordnung tatsächlich wirksam wird, sich bestimmen: nur durch Gerechtigkeit bestehen die Königreiche. Was gerecht ist, das ist auch klug.

Die Konventionalregel kann nicht gerecht noch ungerecht sein. So ist die Konventionalregel kein Recht. Nur die Zwangsregel (die Ordnung einer sittlich zur Mitgliedschaft zwingenden Gemeinschaft) unterliegt dem Urteil, ob gerecht oder ungerecht. Nur die Zwangsregel ist Recht.

Recht ist die selbstherrliche Ordnung einer sittlich


religiösen Sinn (des Volkes Gottes) liegt die Nachwirkung altheidnischer und zugleich alttestamentlicher Vorstellungen auf die Entwicklung des Christentums (vgl. Wesen und Ursprung des Katholizismus, 2. Aufl. S. 24 ff.). In dieser Idee hat der gesamte Katholizismus seine Wurzel. Kraft dieser Idee ist das Verhältnis zu Gott zugleich Gegenstand und Quelle der katholisch-kirchlichen Rechtsordnung, d.h. des kanonischen Rechts (den Altkatholizismus kennzeichnet die uneingeschränkte folgerichtige Durchführung dieses Gedankens): das Verhältnis zu Gott hat für den Katholizismus in weitgehendem Maße die Art eines geistlichen Rechtsverhältnisses. Erst Luthers Lehre von der Unsichtbarkeit der Kirche im religiösen Sinn hat das Christentum von diesem Stück Heidentum entlastet und damit das Verhältnis zu Gott von aller Ordnung des Volkslebens, überhaupt von aller äußeren Gemeinschaftsordnung und damit von allem, was der Rechtsordnung ähnlich steht, befreit. Gott ist jenseits aller Volksordnung, das Leben mit Gott jenseits aller Rechtsordnung, nicht Quelle und Gegenstand irgendwelchen Rechts, nur Quelle und Zielpunkt des Innenlebens des Einzelnen. Das Verhältnis zu Gott ist kein Rechtsverhältnis, ist niemals Bestandteil irgendwelchen äußeren Gemeinlebens, und ist doch (das ist das Geheimnis der Religion) ein Verhältnis von Person zu Person. Das ist es, was in dem Glauben an die Liebe und zugleich an die aus Liebe entspringende Gerechtigkeit Gottes sich ausspricht.

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notwendigen überindividuellen äußeren Gemeinschaft. Kürzer gesagt: Recht ist sittlich notwendige Gemeinschaftsordnung.

Nur die sittlich notwendige überindividuelle (den einzelnen überdauernde) äußere Gemeinschaft ist souverän. Nur sie kann den Einzelnen zwangsweise für sich in Anspruch nehmen. Nur sie kann und muß eine gerechte Gemeinschaftsordnung, d.h. Rechtsordnung, hervorbringen.