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Dritter Teil: Sohms Luther-Interpretation

 

Wir haben schon gesagt, daß Sohms Luther-Verständnis nicht im einzelnen dargestellt werden muß. Wir konzentrieren uns auf den Kirchenbegriff und die Korrelation von Wort und Recht. Dabei unterscheiden wir den frühen von dem späten Sohm, „Kirchenrecht” I von „Kirchenrecht” II.

 

A. Die Luther-Quellen

 

Einleitend überblicken wir kurz das Sohm zur Verfügung stehende Quellenmaterial, das er überwiegend nach den beiden Erlanger Ausgaben zitiert. Von den bis 1892 erschienenen Bänden 1 bis 6, 8, 12 und 13 der WA zieht Sohm die Bände 2, 6, 8 und 12 heran. Insgesamt kommen — abgesehen von einzelnen Tischreden — einunddreißig Lutherschriften zu Wort, ohne daß sie im Zusammenhang exegisiert werden, dazu zehn Predigten und ein Dutzend Briefe.

Fragt man nach der Angemessenheit der Auswahl, so muß man zunächst feststellen, daß der ganze „junge Luther” fehlt. An dem Punkt, an dem Sohm einsetzt, ist für Heckel schon das Wichtigste geschehen1. Daran wird deutlich, daß es Sohm nicht darum geht, die Linien der Gedanken des Reformators zu verfolgen; er begnügt sich mit einigen wenigen Punkten im Denken Luthers. Dessen langer Weg, auf dem er sich von seiner Schultheologie loslöste, bleibt unbeachtet. Auch den Thesenanschlag mit seinen unmittelbaren Folgen in den Jahren 1518/19 berücksichtigt Sohm — abgesehen von der resolutio Lutheriana super prop. XIIIa de potestate papae2 — nicht. So entgeht ihm die Einsicht, daß Luthers reformatorisches Ringen in jenen Jahren identisch ist mit


1. Schematisch ist der Werdegang der Rechtslehre Luthers nach Heckel folgender: In der Psalmenvorlesung, in der noch ganz unausgeglichen altes und neues Gut nebeneinanderliegen (Recht und Gesetz 304; Lex charitatis 28), gewinnt Luther mit dem Begriff ecclesia abscondita den Ausgangspunkt für seine Kirchenlehre und mit dem der lex spiritualis den Leitbegriff für seine Rechtslehre. Wesentlich mehr durchreflektiert ist die Römervorlesung. Die lex divina wird radikal spiritualisiert und mit dem Naturgesetz identifiziert. Ihrer Geltung im Reich Christi tritt nun die lex saeculi im Reich der Welt gegenüber. Im Zusammenhang mit dem Ablaßstreit klärt Luther dann anhand der Frage nach dem Sakramentsrecht seine Gedanken über das positive göttliche Recht und über das Verhältnis von göttlicher und irdischer Kirchenverfassung. Schließlich geht er seit den operationes in psalmos dem Wesen des menschlichen Rechts als solchem auf den Grund.
2. WA II, 183-240.

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seinem Ringen um die Fragen nach Ablaß, Bußsakrament und kirchlicher Absolutionsvollmacht, also nach dem Recht der Kirche. Daß sich in dieser Phase, besonders deutlich greifbar im Streit mit Eck 1518/19 dauernd neue Erkenntnisse aufdrängten, Entscheidungen ankündigten, Konsequenzen ergaben, dürfte auch dann unbestritten bleiben, wenn man nicht mit Bizer annimmt, daß Luther, seinem Selbstzeugnis entsprechend, erst in diesem Ringen nach dem Thesenanschlag zu seiner grundlegenden Erkenntnis vorgestoßen sei3.

Was nun weiter die Schriften Luthers angeht, die auf der Höhe des Kampfes die Summe aus der faktisch bereits vollzogenen theologischen Trennung von der papalistischen Tradition ziehen, so hat Sohm sie — mit Ausnahme des Traktates über die Freiheit — durchaus zitiert (den Appell an den Adel, die Auseinandersetzung mit Alveld, das Präludium und die Schrift von den guten Werken). Doch spielen sie nur eine untergeordnete Rolle und stehen im Schatten der Tat Luthers vor dem Elstertor. Zudem vermißt man den Sermon vom Bann und — aus dem Jahr 1521 — das Magnificat. Erst recht fällt auf, daß Sohm — mit Ausnahme der „treuen Vermahnung” — die Lutherschriften nicht zu Rate zieht, die den Ausgangspunkt und das Verhalten des Reformators im Kampf mit den Schwärmern enthalten. Es spielt in seinem Aufriß keine Rolle, daß Luther es nicht nur mit dem Papst, sondern auch mit Gegnern aus dem eigenen Lager zu tun hat. Entsprechend bleiben die Schriften zu den Bauernwirren und den Türkenkriegen ganz außer acht.

Mustert man schließlich die späteren Schriften Luthers, so sind zwar einige grundlegende vertreten (aus den zwanziger Jahren die Schriften zur Neuordnung des Gottesdienstes; von weltlicher Obrigkeit; de servo arbitrio; der Unterricht der Visitatoren; der große Katechismus; aus den dreißiger Jahren der Psalm 110; von den Konzilien und Kirchen; die Schmalkaldischen Artikel; ferner Wider Hans Worst); doch dienen sie nur zur Bestätigung des von Sohm für 1520 Vorausgesetzten, ohne eine eigene thematische Rolle zu spielen. Sohms Quellenbasis ist demnach nicht durchaus unzureichend; doch fehlen immerhin die Genese der Theologie Luthers und einer seiner beiden großen Gegner. Kommt man von Sohms neutestamentlicher Exegese her, so fällt an der Art und Weise, wie Sohm mit den Quellen umgeht, vor allem auf, daß er auch hier nicht heuristisch vorgeht, sondern die Quellen als dicta probantia benutzt. So fragt er nicht eigentlich nach Luthers Rechts- und Kirchenbegriff oder seinem Wortverständnis und muß daher bei der Diskrepanz des Kirchen- und Rechtsbegriffes Luthers und des 19. Jahrhunderts stehen bleiben.

Was die Lutherquellen in Kirchenrecht II betrifft, so sind gegenüber Kirchenrecht I keine neuen hinzugekommen. Sohm hat es in Kirchenrecht


3. Fides ex auditu.

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II darauf abgestellt, die in Kirchenrecht I vertretene Ansicht zu verteidigen und — das ist der Fortschritt gegenüber Band I — zu modifizieren. Dafür ist aber nicht neues Quellenmaterial, sondern — wenigstens zu einem Teil — neue Sekundärliteratur4 die Ursache.

 

B. Sohms Ausgangspunkt: Luthers Kirchenbegriff

 

1. Luthers Kirchenbegriff als Ausgangspunkt

a) Sohm setzt bewußt bei der Person Luthers1 als einer Art personifizierter Freiheit eines Christenmenschen ein, die — einem Samson vergleichbar — das Kirchenrechtsgebäude der Papstkirche einriß. Der Beginn der Reformation ist mit dem Reformator identisch, dessen mächtiger Geist sich in den Tiefen des Evangeliums gebadet hatte2. Dieser Ansatz setzt Sohm natürlich leicht dem Verdacht aus, er habe hier das Urbild des homo religiosus protestanticus beschworen. Und wenn man auch die ganz massiv in diese Richtung gehenden Äußerungen Gepperts zurückweisen muß3, so wird man doch Iwands doppelte Mahnung zu beachten haben, zwar Sohms „protestantische Wahrheit” nicht preiszugeben, andererseits aber keinesfalls „Luthers Entwicklung nach Analogie eines modernen, in seinem religiösen Erleben autonomen Individuums” zu verstehen4.

b) Man wird aber zunächst sehen müssen, daß Sohm selbst in der Destruktion des Kirchenrechts nicht die primäre reformatorische Tat Luthers gesehen hat. Luthers Kampf gegen das Kirchenrecht hat er vielmehr verstanden als „die unausweichliche, naturnotwendige Folge aus dem durch Luther wiederentdeckten urchristlichen und evangelischen Begriff der Kirche”5, dessen Charakteristika die Identität der sichtbaren Kirche mit dem Reiche Gottes6 und die alles Recht ausschließende Monarchie des Wortes Gottes in ihr7 sind. Weil Luther die Erkenntnis geschenkt wurde, daß die Kirche mit dem Reich Gottes identisch ist, mußte er jedes wie auch immer geartete Kirchenrecht verwerfen8 und


4. Nach Wesen und Ursprung 9 und 11 ist an Hermelink, Zu Luthers Gedanken über Idealgemeinden ZKG 1908 sowie an E. Rietschel, Luthers Anschauung von der Unsichtbarkeit und Sichtbarkeit der Kirche, 1900, zu denken.
1. Kirchenrecht I, 460.
2. ebd. 482.
3. Geppert, Lehrchaos 92 f., 103.
4. Iwand, Kirchenbegriff 147 ff.
5. Kirchenrecht 463.
6. ebd. 463, 465, passim.
7. ebd. 465.
8. ebd. 461.

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damit dem Worte Gottes freie Bahn machen9. Man darf sich durch Sohms Sprache nicht täuschen lassen. Er will sagen, daß nicht die Person Luthers, sondern seine Lehre, nämlich seine Kirchenlehre, entscheidend für Luthers Umgang mit dem Recht war. Mag man dagegen einwenden, auch die Kirchenlehre sei nicht das primär Neue bei Luther, sondern man müsse immer von Luther als Schriftausleger ausgehen10, so darf man das, was Sohm sagen will, etwa so formulieren: dem Reformator ist im Umgang mit der Schrift ein neues Verständnis der Kirche erwachsen, und aus ihm ergab sich sein kritisches Verhältnis zum Kirchenrecht.

 

2. Luthers Kirchenbegriff

Ist das formale Kennzeichen des lutherischen Kirchenbegriffs nach „Kirchenrecht” I seine Kongruenz mit dem neutestamentlichen, so ist sein Inhalt durch zwei Momente bestimmt: erstens ist die Kirche das sichtbar werdende Reich Gottes; zweitens wird die Kirche als geistliche und insofern unsichtbare Größe sichtbar an den notae.

a) Daß Sohm „in die bisherige Diskussion über das Verhältnis von Kirche und Recht” bei Luther den Begriff Reich Gottes eingeführt hat, ist zwar sein Verdienst11. Doch hat er den Reichsbegriff Luthers mit dem Rechtsbegriff einer späteren Zeit verkoppelt12 und nicht nach dem Wesen des Reich-Gottes-Begriffes bei Luther gefragt, den Begriff also nicht geklärt.

Schon die Belegstellen sind offenkundig unzureichend13. So bleibt Sohm die innere Vielfalt des Begriffes bei dem Reformator verborgen14. Indem Sohm vorauszusetzen scheint, daß der Begriff in sich selbst klar sei, muß man fragen, was denn Sohm unter Reich Gottes verstand.

Die Kirche, d.h. jede Versammlung in Christi Namen15, ist das Reich Christi, indem sie dieses Reich darstellt16 als die Kirche im geistlichen Sinn17, die in jeder Versammlung um Wort und Sakrament sichtbar


9. ebd. 463.
10. Iwand, Kirchenbegriff 165.
11. Heckel, Lex charitatis 12, 13.
12. Heckel, ebd. 15.
13. Es handelt sich um fünf Predigtstellen aus den Jahren 1529 bis 1535 und je eine aus dem großen Katechismus und der Schrift Von den conciliis und Kirchen.
14. Heckel, Irrgarten 6f.; regnum als corpus heißt „erstens die Königswürde des Hauptes (rex), zweitens dessen lebensspendendes Einwirken auf die Glieder des mystischen Leibes (influxus capitis in membra), drittens das Königsvolk der Gläubigen, die ihrem Haupt freiwillig folgen (populus Christi oder ecclesiasticus = ec-clesia vera = corpus ecclesiasticum). Alle drei Aussagen über das regnum Christi müssen stets zusammengedacht werden”. Vgl. auch S. 10.
15. Kirchenrecht I, 493.
16. ebd. 464 f.
17. ebd. 465.

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wird18. Die Kirche ist das sichtbar werdende Reich Gottes19, stellt das in die Welt der Erscheinung tretende Reich Gottes dar20. Sichtbare Kirche ist sichtbares Gottesreich21. Alle diese Belegstellen definieren nicht das Reich Gottes, sondern die Kirche. Der Begriff des Reiches Gottes ist also Prädikat der Kirche, freilich ein Prädikat, das in sich ungeklärt bleibt. Sohm will mit ihm den Begriff der Kirche aufwerten.

Nun kann Luther tatsächlich Kirche und Reich Gottes ganz eng aneinanderrücken22, wie er ja auch das Reich Gottes und den Glauben oder das Predigtamt zusammenstellen kann23. Aber damit macht er das Reich Gottes nicht zum Prädikat der Kirche. Der Satz, daß man es da, wo man es mit der Kirche zu tun hat, mit dem Reich Gottes zu tun habe, kann ja auch von der römischen Theologie in Anspruch genommen werden. Luther erfaßt vielmehr das Reich Gottes von dem Evangelium aus24 und macht das Evangelium zum Kriterium der Kirche. Doch kann Luther25 Kirche und Reich Gottes auch dadurch voneinander abheben, daß er unter dem Reich Gottes die abschließende offenbare Machtergreifung Gottes versteht26, wie es ja auch in den Bekenntnisschriften geschehen kann27. Die Luther’sche Identifizierung von regnum Christi und ecclesia ist von Luthers Wortverständnis her zu begreifen28. Bei Sohm dagegen soll der herrschende Kirchenbegriff vom Luther’schen Reich-Gottes-Begriff her verändert werden. Weil aber Sohm Luthers Reich-Gottes-Begriff gar nicht untersucht, füllt er ihn von seinem eigenen Kirchenbegriff aus. Formal wird also der Kirchenbegriff


18. ebd. 466.
19. ebd. 468.
20. ebd. 469.
21. ebd. 483, 485, 489, 494, passim.
22. Vgl. z.B. Dictata 1513-15 WA IV, 85, 5: Dominus Jesus Christus secundum humanitatem regnavit rex factus est regno sumpto Ecclesie.
23. WA XLI, 136: Was den Glauben und Christi Reich betrifft; EA 38, 231 . . . das Predigtamt, welches ist das Reich Christi, der da ist ein König.
24. WA XXXVII, 180, 16f.: Wo das Evangelium ist, da ist Christus, wo Christus ist, da ist der heilige Geist und sein Reich; ebd. 180, 12-15: Das Himmelreich ist überall da, wo die Sakramente und der Glaube sind.
25. Vgl. auch den anderen Gebrauch: WA XXXVIII, 113, 7 f.: Ein gutes Gewissen ist das Paradies und das Himmelreich; WA XXXII, 512, 30ff.: Und wollte Gott, daß mans dazu bringen könnte, daß eine Stadt viel solcher frommer Bürger, Weiber, Kinder, Herren, Knechte und Mägde hätte, so hätten wir das Himmelreich auf Erden; WA XII, 688, 24: Das ganze Königreich Christi ist Vergebung der Sünden.
26. WA X, 1, 2, 113, 8f.: Lieber wollen, daß der jüngste Tag nimmermehr kommen solle, ist nichts anderes, als daß Gottes Reich nicht kommen soll. — Zum Verhältnis vom Reich Christi zur Übergabe dieses Reiches an Gott vgl. WA XV, 542, 27-30.
27. Ap. VII, 17 (Bekenntnisschr. 237); vgl. dazu Schlink, Theologie der lutherischen Bekenntnisschrift 266 ff.
28. Vgl. E. Wolf, Peregrinatio 157: „Die Gleichsetzung von viva vox Evangelii, regnum Christi und ecclesia (ist) kennzeichnend” für das reformatorische Kirchenverständnis.

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aufgewertet durch den Reich-Gottes-Begriff; inhaltlich aber bestimmt Sohms Kirchenbegriff den Luther’schen Reich-Gottes-Begriff.

b) Sind Kirche und Reich Gottes identisch, so muß man weiter fragen, wie und wodurch das Reich Gottes in der Kirche sichtbar wird. Diese Frage ist bei Sohm apologetisch gemeint: er will nachweisen, daß die Sichtbarkeit der Kirche, die sich hier ergibt, keinesfalls Kirchenrecht notwendig macht. Sohm gibt nun zwei Antworten.

Die erste, deutliche Antwort geht davon aus, daß die Kirche bzw. das Reich Gottes sichtbar werden muß, weil zu ihr die Versammlung um das mündlich gepredigte Wort gehört29: das sichtbar werdende Reich Gottes ist die sichtbare Versammlung um Wort und Sakrament. Diese Formulierung hält fest, daß das (die Sakramente einschließende30) Wort das — mit Luther zu reden — unicum signum ecclesiae ist31. Freilich will Sohm damit nicht etwas über das Wesen des Reiches Gottes sagen, sondern braucht das Wort als die Größe, die das Recht in der Kirche ausschließt. Sohm sagt also trotz gleicher Formulierung nicht dasselbe wie Luther mit seiner nota-Lehre32. Doch ist Sohm nicht einfach auf falschem Wege. Geht es ihm doch immer wieder um die Frage, wie Christen werden bzw. wer Christen macht. Und darauf antwortet er33 mit dem Hinweis auf das Wort, das das Recht ausschließt.

Die andere Antwort läuft darauf hinaus, daß das Reich Gottes nicht durch das Wort, sondern auf dem Wege der Versammlung sichtbar wird; die Versammlung, in der es Wort- und Sakramentsverwaltung gibt, stellt das Reich Gottes dar34.

Daß Sohm zwei verschiedene Antworten geben muß, ist Folge seines Ausgangspunktes. Der Rahmen seiner Fragestellung ist der modus des Sichtbarwerdens des Reiches Gottes. Innerhalb dieses Rahmens kann man die notae ecclesiae nur significativ verstehen. Mit seiner Frage, wer eigentlich Christen mache, stößt Sohm aber bis zur konstitutiven Bedeutung35 des Wortes vor. Gleichwohl läßt er sich den Rahmen seiner Frage nicht sprengen.


29. Kirchenrecht I, 466 f. u. Anm. 16.
30. ebd. 469.
31. ebd. I, 466, Anm. 16; 468, 469, Anm. 19 und 20; 471.
32. Die notae-ecclesiae-Lehre hat bei Luther nach E. Wolf, Peregrinatio 154-161 die Intention, den Anspruch zu erweisen zur wahren Kirche zu gehören; genauer ist die Lehre von dem verbum als der unica perpetua et infallibilis nota ecclesiae „unmittelbar gerichtet gegen die für den römischen Kirchenbegriff wesentliche Lehre von den vier notae”.
33. Kirchenrecht I, 470, 471.
34. Mit dem Begriff Versammlung greift Sohm auf ein Wort zurück, das Luther gern verwandte; vgl. Gr. Kat. Bekenntnisschr. 655, 47ff.; bes. 656, 5 ff.
35. E. Wolf, Peregrinatio 156: „Diese notae bezeugen die irdische Existenz der Kirche . . ., indem sie sie begründen”; und dazu Anm. 39: „Auf das Verhältnis von bezeugen und begründen kommt es an!”

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C. Das Zentrum der Sohmschen Position: Wort und Recht

 

Der mit dem urchristlichen übereinstimmende Kirchenbegriff Luthers ist das Primäre: die Kirche ist das Reich Christi. Aus ihm folgt die Verwerfung des Kirchenrechts durch den Reformator. Behauptet man die Identität von Kirche und Reich Christi, so muß man die Identität von Kirche Christi und Kirche des Kirchenrechts preisgeben1. Weil in der Kirche Christus herrscht, kann sie kein leibliches Oberhaupt, keine Menschenlehre und Menschensatzung dulden2. Und weil er durch sein Wort regiert, darf es in ihr nicht menschliche Regierung durch das Recht geben. Weil die Kirche das Wort, das Evangelium, als nota besitzt, kann sie unmöglich auch noch das Recht als nota haben3.

 

1. Die Intention Sohms, seine „protestantische Wahrheit”4, besteht also in dem Versuch, die reformatorische particula exclusiva5 des solus Christus radikal im Bereich des Kirchenrechts wirksam zu machen6, und zwar mit dem Ergebnis, daß vor der Alleinwirksamkeit des Wortes als der einzigen Regierungsweise Christi in der Kirche (vor der Wortverwaltung, der Predigt des Evangeliums und des Gesetzes7 als des einzigen Zepters Christi) das Recht — als der Inbegriff aller neben das Wort und gegen das Wort sich setzenden bzw. gesetzt werdenden menschlichen Herrschaftsweisen — aus der Kirche verschwinden muß8. Recht und Wort können in der Kirche nicht koexistieren, weil Christus die einzige kirchliche Obrigkeit ist.

 

2. Die Exklusivität des Rechtes gegenüber dem Wort und umgekehrt gilt offensichtlich nur, wenn man voraussetzt, daß das Recht dem Wort gegenüber nicht dienstfähig, bzw. daß das Wort nicht herrschaftsfähig über das Recht, also unfähig ist, das Recht in seinen Dienst zu stellen. Die Exklusivität von Wort und Recht setzt also ein bestimmtes Wort-und Rechtsverständnis voraus. Was Sohm unter dem Wort versteht, macht er in unserem Zusammenhang nicht klar. Man darf jedoch den Wortbegriff zugrunde legen, den wir aus Sohms neutestamentlicher Exegese ermittelt haben. Dagegen ist sein Rechtsbegriff einigermaßen deutlich, wenn er auch noch nicht in der Geschlossenheit wie später in


1. KR 1,470.
2. KR I, 464.
3. KR I, 470.
4. Vgl. Iwand, Kirchenbegriff S. 147 in der Anm. 1.
5. Vgl. E. Wolf, Peregrinatio 119 ff.
6. KR I, 465, 468.
7. KR I, 463.
8. Kirchenrecht I, 465, 468, 470, 471.

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„Kirchenrecht” II vorliegt. Wir analysieren zunächst den Rechtsbegriff im Hinblick auf die Frage, inwiefern sich in ihm die Exklusivität von Wort und Recht äußert.

3. Rechtsgewalt ist obrigkeitliche Gewalt, die aus formalen Gründen zuständig ist und Gehorsam fordern kann9. Mit dem Recht bindet die im Besitz der Rechtsgewalt befindliche Obrigkeit die Gewissen; denn es gehört zum Wesen des Rechts, sittlich zu verpflichten und Gewissen zu binden10. Damit ist erneut klargestellt, daß Sohm keineswegs daran dachte, mit dem Kirchenrecht das ganze Recht preiszugeben. Es geht ihm vielmehr darum, ausdrücklich festzustellen, daß alles Recht menschliches Recht ist11, menschliche Herrschaft aufrichtet, durchsetzt und erhält. Eben deshalb kann die Kirche nicht Geltungsbereich des Rechtes sein und kein Kirchenrecht haben. Denn Kirchenrecht bedeutet menschliche Obrigkeit in dem Bereich der allein Christus vorbehaltenen Herrschaft. Und hier stößt Sohm nun zu dem tiefsten Punkt seiner Überlegung vor: Denkt man den Begriff des Kirchenrechts und also menschliche Herrschaft in der Kirche, so denkt man notwendigerweise an die Herrschaft über das Wort Gottes, an das Recht auf die Predigt, an das formal zustehende Recht auf die Lehre, an die Bindung der Gewissen an eine bestimmte menschliche Obrigkeit. Recht innerhalb der Kirche wäre Konkurrenz zum Wort, ja prinzipiell Anti-Wort. Recht ist wort-feindlich, nicht mediatisierbar durch das Wort. Es in der Kirche gelten zu lassen, hat zur Folge, daß das Wort Gottes entleert, ungültig und ohnmächtig wird, aber auch daß das Recht selber die ihm gesetzte Aufgabe verfehlt, denn in der Kirche gibt es „nichts nach menschlicher Art zu regieren”12. Es vergreift sich am falschen Objekt. Geht es doch in der Kirche ausschließlich darum, daß Christen gemacht werden13, und dies kann nur das Wort Gottes als das Zepter und die Herrschaftsweise Christi. Das Recht und die obrigkeitliche Rechtsbefugnis können das nicht, ob man sie nun von der Seite des Rechtes oder von der des Wortes aus betrachtet. Indem die Gewalt, Christen zu machen, dem göttlichen Wort in der Predigt vorbehalten ist, ist sie dem menschlichen Wort im Recht vorenthalten. Das ist der Grund für das letztgültige Gegeneinander und die Exklusivität von Wort und Recht im Blick auf die Kirche.

Aber ist Kirchenrecht nicht zumindest teilweise „göttliches Recht”, also gerade nicht Aufrichtung menschlicher, sondern göttlicher Obrigkeit? Sohm antwortet darauf in dreifacher Hinsicht: Erstens mit seiner


9. ebd. 479.
10. ebd. 478, Anm. 39; diese Äußerung weist bereits auf den Rechtsbegriff des Rechts in Kirchenrecht II hinüber.
11. ebd. 467, 479.
12. ebd. 481.
13. ebd. 570.

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Gleichsetzung von Gottes Wort und ius divinum, wodurch die Anwendung der Vokabel jus als uneigentliche Redeweise aufgefaßt wird: es handelt sich nicht um Recht, sondern um Gottes Wort. Zweitens ist das sog. göttliche Recht der Kirche in Wahrheit angemaßtes Menschenrecht und erweist sich — etwa was den Primat des Papstes bzw. der römischen Kirche oder die Überordnung der Bischöfe über die Presbyter anlangt — vor der Autorität der Heiligen Schrift als nichtig. Drittens partizipiert das sog. menschliche Kirchenrecht derart an jenem angemaßten „göttlichen” Recht, daß es mit ihm abgetan wird14. Weil alles denkbare Recht im Herrschaftsbereich Christi nur Anti-Wort sein kann, hält der Reformator nach Sohm das Kirchenrecht nicht für reformabel, sondern schafft es ohne Ersatz ab15. Innerhalb der Kirche gilt das Wort Christi, und dort gilt es prinzipiell als Anti-Recht.

 

4. Indem Sohm die reformatorische particula exclusiva so versteht und wendet, laufen seine Gedanken nicht auf kirchliche Anarchie hinaus16. Wir unterstreichen und greifen dabei auf das bereits zum Urchristentum Ausgeführte zurück: wenn Sohm dem Kirchenrecht den Boden entzieht, redet er nicht der prinzipiellen Unordnung das Wort oder auch nur der faktischen Ordnungslosigkeit. So einfach ist es nicht, Sohm als Schwärmer einzureihen. Die Kirche hat eine Ordnung, aber die Ordnung der Kirche ist Nicht-Recht17. Ist das Recht prinzipiell wortfeindlich, so ist doch das Wort keineswegs ordnungsfeindlich. Ordnung hält Sohm — im Unterschied zum Recht — für mediatisierbar, für dienstfähig im Verhältnis zum Wort, für kein Anti-Wort. Über die Ordnung kann das Wort herrschen. Ordnung bedeutet nicht eine andere Obrigkeit neben dem Wort und gegen das Wort, keine Konkurrenz für Christi Herrschaftsweise im Wort.

Nach Sohm wird die Unterscheidung zwischen dem prinzipiell als Anti-Wort verstandenen Recht und der vom Wort in Dienst genommenen Ordnung in Luthers Bereitschaft sichtbar, den Papst als Oberhaupt der Kirche de jure humano anzuerkennen, wobei Sohm wohl mit solchem jus humanum kein wirkliches jus mehr meint, sondern Ordnung. Gäbe der Papst sein angemaßtes Recht über und auf das Wort Gottes und damit sich selbst als Obrigkeit preis, dann wäre eine Koexistenz des Reformators innerhalb der päpstlichen Ordnung unter


14. ebd. 461.
15. ebd. 463, 462.
16. Es sei denn, man verstehe unter Anarchismus „die Vorstellung von einem sozialen Leben, das anders als durch rechtliches Wollen geregelt ist”, so R. Stammler, Rechts- und Staatstheorien, 17. Dort auch die Unterscheidung des Anarchismus von der Anarchie, „welche unregelmäßige Zustände in einem rechtlichen Gemeinwesen besagt”. Vgl. zum Anarchismus RGG, 3. Aufl., I, Sp. 353 ff.
17. Kirchenrecht I, 477 f.

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dem Wort möglich. Doch müssen wir uns diesen Zusammenhang genauer klar machen.

Sohm hatte behauptet, Luther habe „aus dem Wesen des Christentums” die Folgerung gezogen, daß in der Kirche Christi kein Kirchenrecht sein dürfe18. Nun muß er sich mit der Tatsache auseinandersetzen, daß Luther trotzdem das „Dasein menschlicher Ordnung in der Ekklesia für möglich, ja in gewissem Maß für unentbehrlich erklärt hat”19. Es ist also der antirechtliche nicht der einzige Aspekt: Luther hat bei seinem reformatorischen Auftreten nicht verlangt, daß die bestehende Kirchenverfassung aufgehoben oder auch nur geändert würde. Er wollte lediglich freie Bahn für den Glauben, freie Bahn für das Evangelium. Sohm zitiert die Erwägung Art. smalc. II, 420, die es für zulässig erklärt, „daß die Gewalt des Papstes als eine menschliche Ordnung über die ganze Kirche um der äußeren Einigkeit willen beibehalten werde”21. Ja, noch in der resolutio super prop. XIIIa nach der Leipziger Disputation habe Luther zugestanden, daß die potestas papae in der Geschichte durch Gott zugelassen sei, und daß man ihr daher, auch wenn sie ungerecht sei, solange gehorchen müsse, als es sich nicht um einen Gehorsam im Widerspruch gegen Gott handele. Nehme man dies mit Luthers Aussagen in der Auseinandersetzung mit Emser (Menschengesetzen gegenüber müsse das Gewissen frei gelassen werden; man darf sich entscheiden, sie frei zu halten, ohne daß man es schuldig wäre)22 zusammen, so stehe man vor folgender Grundauffassung Luthers: Rechtsgewalt entspricht nicht dem Wesen der Kirche23. Dagegen kann menschliche Ordnung in der Kirche sein, aber nie als Rechtsordnung24. Luther will sie dulden, obgleich sie dem Wesen der Kirche nicht entspricht, Unrecht ist und also die Gewissen nicht bindet. Mit dem Verbrennungsakt vor dem Elstertor hat Luther unmißverständlich gemacht, daß es für ihn Kirchenrecht als Recht nicht mehr gibt. Aufgrund der „großartigen Überlegenheit” Luthers über alles Äußerliche wollte Luther es dulden, sofern es nur dem Gewissen, dem Evangelium, der Schrift nicht widerspricht und diese frei läßt25; er wollte es als auferlegtes Kreuz gelten lassen, obwohl es von der Kirche innerlich abgelehnt wird26.

Nun kann man für das Kirchenrecht als Kreuz und auferlegtes Leiden tatsächlich eine Reihe von Belegstellen anführen27 und noch weitere


18. ebd. 476.
19. ebd.
20. Bekenntnisschriften 419, 8 ff., 31 ff.
21. Kirchenrecht I, 476.
22. ebd. 477 f. und Anm. 37; 478, Anm. 37.
23. ebd. 482.
24. ebd. 479.
25. ebd. 481 f.
26. ebd. 482, Anm. 43.
27. WA VII, 275 f., 294, 669, Cl I, 438, 2 ff.; 482, 32 ff.; II, 168.

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Gesichtspunkte für Luthers Bereitschaft, den Papst de jure humano anzuerkennen, beibringen28. Doch müssen wir vor allem auf eine Unstimmigkeit in Sohms Gedankengang hinweisen: Seiner Sprachregelung gemäß sagt er zunächst29, Ordnung menschlicher Art habe Luther für möglich gehalten (womit doch „Recht” eben ausgeschlossen zu sein schien). Dann aber bequemt sich Sohm zu der Formulierung, Luther habe Kirchenrecht als jus humanum nicht ausgeschlossen30, und zählt dann auf, wie solches Kirchenrecht aussehen muß: es darf die Gewissen nicht binden, ist kein „nötig Gesetz”, es soll freiwillig gehalten werden. Beschreibt Sohm damit nicht eben wesentliche Kennzeichen des Kirchenrechts? Steht er an dieser Stelle nicht unmittelbar vor der Erkenntnis, daß es anderes als formales, obrigkeitliches Recht in der Kirche geben kann? Das Recht, das nicht „dem Wesen der Kirche” dient, das den Menschen nicht rechtfertigt, das nicht Gewalt über das Wort Gottes bedeutet, bei dessen Vollzug sich nicht das eigentlich Christliche erfüllt — hier steht es vor Sohm, ja, er nennt es sogar und findet es bei Luther —, aber er geht an ihm vorüber.

 

5. Wir wenden uns nun dem Wortbegriff Sohms zu. Die Funktion des Wortes31 als der Predigt des Evangeliums (und des Gesetzes)32, Herrschaftsweise Christi zu sein33, muß im Sinne Sohms umfassend mit seiner Gewalt, Christen zu machen, beschrieben werden. Diese (lutherische34) Formel, die ja für das Kirchenrecht die nicht ganz unerhebliche Frage beiseite läßt, was denn aus den zu Christen gemachten Menschen werden solle, hat Sohm nicht entfaltet. Seine Aussagen betreffen meist das Formale und sind darin richtig: Die sachliche Wahrheit der Kirche hängt daran, daß in Wahrheit Gottes Wort und Wille verkündigt wird35. Das Wort allein ist die Herrschaftsweise Christi36. Es genügt Gott und auch uns, „daß wir die Schrift haben und daß die Schrift uns habe”37. Greifen wir das zum Neuen Testament Ausgeführte auf, so ist dieses Wort nicht eschatologisch und auch nicht kerygmatisch verstanden;


28. Ein weiterer Grund, der Luther bewegte, den Papst de jure humano Anerkennung nicht zu versagen: die Christenheit anerkennt ihn übereinstimmend (WA II, 187, 15).
29. Kirchenrecht I, 476, 479; wenn Luther den Papst de jure humano anerkennen möchte, dann rückt er ihn auf die Ebene der Obrigkeit (WA I, 618, 2; 621, 11), damit allerdings auch gelegentlich neben die türkische Obrigkeit (WABr. I, 356); andererseits tritt an die Stelle des primatus potestatis der Ehrenprimat (WA II, 397, 3; WABr. I, 475, 420-24).
30. Kirchenrecht I, 481.
31. ebd. 465.
32. ebd. 463.
33. ebd. 471.
34. Z.B. WA VII, 644, 22; Cl I, 335, 28; 332, 21.
35. Kirchenrecht I, 1.
36. ebd. 471.
37. ebd. 482.

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es haftet an der charismatischen, begabten Persönlichkeit, die begeistert, überzeugt und mitreißt. Durch sie regiert und herrscht Gott autoritär, betont Sohm, aber eben durch sie und nicht anders. Nicht der Inhalt des Wortes Gottes, sondern diese seine Form steht im Vordergrund — obwohl Sohm „Kirchenrecht” I, S. 23 das Gegenteil beteuert, daß das Wort nämlich nicht an seiner Form erkennbar sei, sondern an seiner inneren Gewalt. So ist es nicht zufällig, daß Sohm in unserem Zusammenhang nicht sagt, das Wort selbst schließe das Recht aus, sondern betont, daß die Kirche kein Kirchenrecht wolle38. Ebenso sagt er ja auch nicht, daß das Wort stärker sei als das Recht, sondern die Gewalt des Lehramts besitze gegenüber dem Recht die „höhere moralische Gewalt . . ., welche im Namen Gottes Gehorsam fordert”39.

Ist das Recht Anti-Wort, so muß unter Wort die gehobene Rede des begeisterten und begeisternden Charismatikers verstanden werden; und umgekehrt ist der Feind dieses Wortes tatsächlich das Recht. Das Wort, das in sich sittliches Wort ist, muß dem Recht widersprechen. Aber dieses Wort enthält in sich nicht das Recht Gottes, es kann nicht das Recht Gottes proklamieren. Nach Luther enthält das mit der Heiligen Schrift indirekt identische Wort Gottes das Recht des Reiches Gottes, wie Sohm selbst mit einem Lutherzitat zugeben muß40. So ist Sohms Position zutiefst die des (in diesem Sinne) entrechtlichten Wortes Gottes. Wer das Wort Gottes entrechtlicht, muß konsequenterweise auch das Recht der Kirche bestreiten.

 

6. Aber was ist unter dem Wort, das das Recht des Reiches Gottes in sich enthält, zu verstehen? Wir versuchen, diese Frage in Auseinandersetzung mit J. Heckel bis zu einem gewissen Grade zu klären, ohne Heckels Aufriß im einzelnen zu analysieren.

Betrachtet man den Aufriß der „Lex charitatis”, so fallen Unbefangenheit, Nachdruck und Umfang auf, mit und in denen der Begriff Recht auf das Reich Gottes angewandt wird. Diese Tatsache ist freilich schon in „Recht und Gesetz” im Jahre 1937 angebahnt. Dort fragt Heckel, ob Luther nicht auch in rechtlicher Hinsicht schon vor 1517 geprägt sei41. Er verficht dann die These, daß sich Recht und Religion in der Theologie des Reformators nicht trennen ließen42, sondern eng zusammengehörten43. Gott sei Rechtsquelle. Folglich müsse Sohms Behauptung,


38. ebd.
39. ebd. 54.
40. ebd. 465, Anm. 14 zitiert Von den conciliis und Kirchen WA 50: . . . des Reichs Recht, das ist nach der heiligen Schrift . . . welches der heiligen Kirchen Recht ist . . . solch Recht ist Gottes Wort, das Reich ist Gottes Kirche.
41. Recht und Gesetz 294.
42. ebd. 290.
43. ebd. 306.

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das Wesen des Rechts sei weltlich, als Schwärmerei abgelehnt werden44. Luther habe nicht gegen das juristische Element in der Theologie gekämpft, sondern lediglich gegen die Art und Weise seiner Verwendung45. Diese Thesen, die in den „Initia” im Blick auf die Phase des Thesenanschlags historisch weitergeführt und systematisch verdichtet werden, bestimmen schon den Ausgangspunkt der „Lex charitatis”. So wie wir oben an Hand der Untersuchungen Petersons, Maurers und Käsemanns nachwiesen, daß Sohms methodischer Mangel darin besteht, nicht nach dem (religionsgeschichtlichen) Begriff des Rechts im NT gefragt, sondern sich damit begnügt zu haben, daß der moderne Rechtsbegriff dem NT fremd sei, ebenso wirft Heckel Sohm in bezug auf seine Darstellung der Reformation vor, er habe es versäumt, die Frage nach dem Recht des Reiches Gottes zu stellen, und habe lediglich den positivistischen Rechtsbegriff des endenden 19. Jahrhunderts mit dem Reichsbegriff Luthers konfrontiert und konsequent erklärt, der erste sei auf den letzteren nicht anwendbar46. Von daher bestimmt Heckel seine Aufgabe, nach dem Recht des Reiches Gottes zu fragen. Er weiß sich dabei im Rahmen der Fragestellung K. Barths nach dem Verhältnis zwischen Rechtfertigung und Recht und leitet seine „neue Fragestellung”47 mit dem Nachweis ein, daß Luthers „theologische Rechtslehre”48 von dem Recht der Christen ausgehe, nämlich von dem „Recht des Christus”, dem Recht im Reiche des Königs Christus bzw. derjenigen ,,Rechtsgemeinschaft mit ihm”, von der die Rechtfertigungslehre handele49. Insofern basiere Luthers Rechtfertigungslehre auf einer „Zusammenschau von Theologie und Jurisprudenz”50, seien doch Glaube und Recht von der lex spiritualis aus, dem „geistigen Mittelpunkt” des Kapitels Reformation und Recht, untrennbar verbunden51. Luther sei nicht nur in einer bestimmten Natur- und Kirchenrechtstradition aufgewachsen52, sondern habe auch in seinem persönlichen Ringen nach 1512 vor einer Rechtsfrage gestanden53. Und so sei es nicht verwunderlich, daß Luther die Rechtsproblematik zu einem Hauptthema seiner theologischen Arbeit geworden sei54.

Wie beschreibt Heckel nun das Recht Gottes bzw. des Reiches Gottes? Zunächst versteht er das Reich Gottes bzw. Christi im strengen Sinne


44. ebd. 291.
45. ebd. 292.
46. Lex charitatis 13.
47. Lex charitatis 19-21.
48. ebd. 19.
49. ebd.
50. ebd. 20.
51. ebd. 21.
52. ebd. 27.
53. ebd. 22.
54. ebd. 26.

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als regnum55, wie ja auch sein Widerspiel, das regnum satanae56, ein rechtlicher Machtbereich ist. Wie die Glieder dieses Reichs „als Rebellen gegen Gottes Herrschaft aus der Rechtsgemeinschaft mit ihm ausgeschlossen, geistlich exkommuniziert”57 sind, so sind dagegen die Glaubenden58 ( = der geistliche Stand59) als Angehörige des Reiches Gottes Glieder der Rechtsgemeinschaft mit Gott. Denn das Reich Gottes ist der Ort, an dem Christus rex und iudex ist und als solcher anerkannt wird60, d.h. wo Gottes Rechtswille von den Menschen vernommen und verbindlich angenommen wird61. Die Gottes Rechtswillen Unterworfenen und ihn Anerkennenden bilden die geistliche Gemeinschaft mit Gott: Sie haben ihr jus im Himmel62 und sind daher keiner weltlichen Obrigkeit untertan63; Christus ist ihre Obrigkeit.

In seiner obrigkeitlichen Funktion, seinem Regiment64, bedient er sich des Wortes und des Geistes als seiner Mittel65, aber keines weltlichen Rechtes und keiner Gesetze66. Doch das bedeutet nur, daß die Christen „dem Rechte des Evangeliums” gemäß67 bzw. unter dem christlichen Recht leben68, d.h. an Gottes Liebe Anteil haben69 und die geistlichen Privilegien, insbesondere das Vorrecht der Kreuzträgerschaft, genießen70. Für sie ist die charitas lex geworden71, d.h. in ihnen und unter ihnen wirkt sich der göttliche Rechtswille, der Liebe ist, als Ordnung des Reiches Christi aus72; die charitas ist das Standes- und Reichszugehörigkeitsgesetz der Kinder Gottes73.

Was ist die lex charitatis eigentlich? Sie ist identisch mit der lex Christi74. Diese wiederum ist der Zugang zur lex divina75, inhaltlich identisch mit dem Naturgesetz, freilich nicht als weltliche Norm verstanden, die man erfüllen kann, sondern als geistlich verstandene Gottesliebe, als conformitas mit Gott im Willen. Sie besteht also inhaltlich


55. ebd. 37 ff.
56. ebd. 37, Anm. 208.
57. ebd. 90.
58. ebd. 37, Anm. 215.
59. Nach Lex charitatis 38, 219 f. ist „geistlicher Stand” kanonistischer Begriff.
60. ebd. 38, Anm. 222; 38 f., Anm. 2, 33.
61. ebd. 50 f. und Anm. 313-315.
62. ebd. 38, Anm. 225, 227, 228-232.
63. ebd. 39, Anm. 234.
64. ebd. 38 f., Anm. 233.
65. ebd. 39, Anm. 238.
66. ebd. 39, Anm. 237.
67. ebd. 193, Anm. 1500.
68. ebd. 71, Anm. 498; 129, Anm. 1049; 166.
69. ebd. 70, Anm. 489.
70. ebd. 129, Anm. 1049.
71. ebd. 67, Anm. 468.
72. ebd. 133.
73. ebd. 127. Vgl. 122, 134.
74. ebd. 124, Anm. 1003.
75. ebd. 28, 51, Anm. 327.

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in dem Evangelium76, sofern das Evangelium eben die geistliche Interpretation des Naturgesetzes ist77. Im Grunde also ist die lex Christi gar keine lex, sondern eine lex sine lege78, nämlich die Predigt des Evangeliums als des Rechtsanspruches Gottes und der göttlichen Liebe79.

Lau hat gefragt, ob Heckel und Sohm am Ende nur durch eine bloße Vokabelfrage getrennt seien. In der Tat bezeichnet diese Frage einen Sachverhalt, den man sich klar machen muß. Heckel redet von dem, worüber wir eben als Recht Christi bzw. seines Reiches bzw. der Liebe referierten, aber nicht von dem Kirchenrecht, das Sohm ausschloß. Das von der weltlichen Vernunft geschaffene Kirchenrecht, das von Sohms Verdikt getroffen wurde, hat — das betont Heckel ausdrücklich80 — nach Luther tatsächlich keinen Platz in der Kirche. Insofern Heckel etwas anderes als das von Sohm ausgeschlossene Recht meint, muß man fragen, ob es sinnvollerweise als Recht bezeichnet werden darf. Ist mit dem Recht des Reiches Gottes nicht etwas anderes als Recht gemeint? Geht es in ihm nicht um das, was nach Sohm und Klein gerade auf keinen Fall verrechtlicht werden darf?

Offensichtlich ist es Lau entgangen, daß man hier methodisch zwei Dinge auseinander halten muß. Wir haben einerseits zu beachten, daß Heckel eine historische Frage auf dem Wege der historischen Untersuchung beantwortet. Er fragt nach Luthers Rechtsbegriff und entwickelt ihn aus den Quellen. Dabei stößt er auf den Zusammenhang, den Luther zwischen Christus, seinem Reich, der Kirche und ihren Gliedern obwalten sieht und als Rechtsverhältnisse beschreibt. Greifen wir den Satz Luthers heraus, daß Christus legislator divinus ist81. Dieser Satz kann — wie hier — traditionelle Wendung, aus der Kanonistik übernommene Formel sein, zumal der Luther des Jahres 1518 ihn sagt. Der Satz könnte freilich auch im Rahmen der Schriftauslegung Luthers stehen, sich etwa von Gal 6, 2 oder 1. Kor 9, 21 Luther aufgedrängt haben. Er könnte schließlich die eigene Meinung des Reformators wiedergeben, der damit die Verbindlichkeit des Wortes Christi betonen möchte.

Damit stehen wir vor der anderen Seite, der systematischen Frage nämlich, die nach der historischen Feststellung zu erörtern ist: Was können wir heute mit der Luther’schen Formulierung anfangen? Man kann etwa antworten: Sofern das Recht für uns etwas Säkulares ist, können wir Luthers Formulierung nicht mehr wiederholen und übernehmen. Christus-Recht gibt es für uns nicht. Oder wir nehmen die


76. ebd. 118, Anm. 939.
77. ebd. 124, Anm. 1004.
78. ebd. 64, Anm. 437.
79. ebd. 125, Anm. 1005-1007.
80. Irrgarten 65, Anm. 96.
81. Vgl. Heckel, Initia 10; WA 533.

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Luther’sche Formulierung zum Anlaß, uns daran erinnern zu lassen, daß auch das Recht in der säkularisierten Welt in einer Relation zu Gott steht, mag sie auch nur den Christen deutlich sein. Mir scheint, eine dritte Antwort sei methodisch unanfechtbar: wir verstehen den Satz, wie er sich unserer historischen Betrachtung erschließt, kerygmatisch, d.h. nicht zuerst als Aussage über das Recht als solches, sondern als Interpretament des Christusgeschehens. Freilich werden wir ein solches Interpretament nicht als zufällig ansehen, und wir werden das Zeugnis Luthers so ernst zu nehmen haben, daß wir es auch auf die Phänomene des heutigen Rechtes ausdehnen. Es könnte ja sein, daß die nicht von Luther stammende, säkularistische Prämisse Sohms, alles Recht sei seinem Wesen nach weltliches Recht, auch für Lau noch gilt.

Diese Prämisse ist es ja, die, gesteht man sie zu, Sohms Werk schlüssig sein läßt, die aber, das nachgewiesen zu haben ist Heckels Verdienst, in sich selbst anfechtbar ist, weil sie auf Luther nicht zutrifft. Ist doch Gottes Wort eben die Aufrichtung des göttlichen Rechtes; ist doch Luthers Rechtsbegriff durch und durch theologisch geprägt.

Indessen gerate ich mit meiner These, Luthers Rechtsanschauungen seien zunächst kerygmatisch zu nehmen, nicht nur in Widerspruch gegen Lau, sondern auch in Widerspruch gegen Heckel. Ich suche dabei nach einem Weg zwischen Sohm und Heckel hindurch. So bedenklich es nämlich ist, daß bei Sohm die Entkerygmatisierung des Wortes auf eine Entrechtlichung des Wortes hinausläuft (und damit auf eine Entrechtlichung der Kirche und auf ein weltliches Recht, das in keiner Beziehung zum Wort mehr steht), so ist es doch auch nicht ganz unbedenklich, das Wort so sehr zu verrechtlichen, daß es dabei entkerygmatisiert wird, wie es — zugespitzt gesagt — bei Heckel der Fall ist. Bei Sohm hört das — im religiösen Rahmen notwendig mißverstandene — Wort auf, das Recht Gottes zu bringen. Bei Heckel wird das Wort Gottes identisch mit dem Recht, so daß man fragen möchte, ob es noch Anrede ist, Zeugnis des Heilshandelns Gottes. Dabei übersehe ich nicht, daß Heckel dieser Gefahr durchaus zu begegnen sucht82. Ich nenne drei Beispiele, die die Gefahr der Entkerygmatisierung des Wortes bei Heckel andeuten:

1) Lex 27 schreibt Heckel, Luther habe das Recht als eine Frage bezeichnet, „an der man nie auslernt”. In der Anm. 119 führt er dazu WA 30, 1, 227, 23 an: „Gottes Wort ist nicht auszulernen”.
2) Lex 117 geht es um das naturrechtlich legitime Handeln der Obrigkeit; es ist legitim, wenn es vollzogen wird „im gläubigen Dienst des Naturgesetzes”, wofür die Anm. 1409 WA 15, 372, 9 als Beleg nennt: „Gott (will) . . ., das wyr . . . ynn eym freyem richtigen glauben . . . thun, was unser ampt ist”.


82. Lex charitatis 125.

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3) Lex 117 wird das genannte Naturgesetz mit der lex Christi identifiziert. Nach Anm. 1110 lautet die Belegstelle in WA 7, 51, 17: „Fides sola est salutaris et efficax usus verbi dei.”

Wenn ich nun vorschlage, die Rechtsformulierungen Luthers zunächst kerygmatisch zu interpretieren, dann meine ich damit, man solle sie von der Erkenntnis des Wortes als der neuen Grundkategorie aus würdigen. Liegt dann der scopus solcher Aussagen nicht in dem Zeugnis von dem allem menschlichen Wollen und Streben unbegreiflich begegnenden Heilshandeln Gottes, in dem Gott unser Herr wird? Vielleicht darf man sagen, daß die rechtlichen Aussagen Luthers das Herrsein Gottes in seinem Heilshandeln festhalten, während andere Aussagen den Akzent auf das Heil legen, das in dem Herrsein Gottes beschlossen liegt. Rede ich von dem Recht Gottes, so ist damit inhaltlich das Recht des durch Gottes Heilshandeln und Herrschaft begründeten Christenstandes gemeint, das in der Proklamation des Freispruches, des Anrechtes auf die Erbschaft und den Zuspruch der Kindschaft besteht. Es ist das, was K. Barth das „Grundrecht” nennt. Als solches ist es vom kirchlichen und weltlichen Recht zu unterscheiden. Aber das letztere ist als menschliches doch das Recht der mit Gottes Recht konfrontierten Menschen, Recht, das mit dem Gottesrecht nicht verwechselt werden darf, aber ohne das Gottesrecht nie ganz verstanden werden kann.

Wir halten fest: Luthers Rechtsbegriff ist ebenso kerygmatisch zu verstehen wie für einen theologischen Rechtsbegriff bedeutsam. Das Gottesrecht ist das Evangelium, aber das Evangelium ist Gottes Recht. Die Christen leben im Glauben, d.h. aber: sie unterstehen der lex Christi. Sie haben keine Obrigkeit, aber Christus ist ihre Obrigkeit.

Daß dies kerygmatisch gemeint ist, soll sagen: Dieses Recht Gottes wird mit seinem Anspruch präsent, indem Gottes Wort gepredigt wird. Es wird gegenwärtig, indem Gott als Herr Gegenwart wird. Dabei vollzieht sich die Scheidung zwischen Gehorsam und Ungehorsam, zwischen der Herrschaft des Satans und Christi. Es macht so oder so Untertan und legt die Menschen ihrem Herrn gegenüber fest. Es ist also das im Kerygma proklamierte und nur im Umkreis des Kerygmas zu findende Recht Gottes.

Aber indem es das ans Kerygma gebundene Recht Gottes ist, hat es seine Bedeutung auch im Hinblick auf das Recht als Gegenstand wissenschaftlichen Bemühens: Einmal indem es alles Recht limitiert: weltliches Recht rechtfertigt nicht, schafft nicht Heil und Unheil. Zum anderen, indem es das weltliche Recht in seinem Dasein rechtfertigt: es ist sowohl im Blick auf die im mundus satanae Lebenden als auch für die in der

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Kirche, der einem Spital vergleichbaren Größe, Existierenden eine Weise des Regimentes Gottes zur Linken83.

Ich kann mir vorstellen, daß sich Heckel durch meine Kritik nicht getroffen fühlt. Geht es ihm doch um den Nachweis, daß wir — sowohl im weltlichen als auch im kirchlichen Bereich — stets der göttlichen Jurisdiktion unterstellt sind, der Herrschaft Gottes, den Christen existent im Wunder des Lebens in der lex Christi, dem Ungläubigen spürbar in der Bejahung oder doch Forderung des Naturrechts. Nun, daß dies primär zu verkündigen, um dieser Verkündigung willen freilich auch zu lehren, aber jedenfalls nicht primär im Sinne einer Rechtsontologie oder -metaphysik zu systematisieren sei, das ist es, was ich anmerken möchte.

 

D. Die Folgerungen des späten Sohm: Die Kirche ist unsichtbar

 

„Kirchenrecht” I, erschienen 1892, war seinem Untertitel — „Die historischen Grundlagen” — gemäß ein Versprechen. Aber war auf dem Boden dieser historischen Grundlagen eine positive Kirchenrechtssystematik möglich1? Das posthum herausgegebene Fragment, das man „Kirchenrecht” II genannt hat, hat jedenfalls nicht eine Kirchenrechtssystematik auf den Grundlagen des Kirchenrecht I aufgebaut und entfaltet, sondern enthält vor allem einige Umwandlungen jener Grundlagen selber. Offenbar konnte Sohm seine in Kirchenrecht I vorgetragenen Thesen nicht einfach stehen lassen. Sie trieben ihn weiter, nicht eigentlich zu einem weiterführenden systematischen Teil, sondern zu einer seine eigenen früheren Ergebnisse verändernden und radikalisierenden Zuspitzung. Und dieser Vorgang ist es, den wir jetzt, und zwar nacheinander im Blick auf den Kirchen-, Rechts- und Wortbegriff ins Auge fassen müssen. Das Problem besteht wesentlich darin festzustellen, ob Sohm eine in Kirchenrecht I angelegte Grundlinie nur konsequent bis zu den extremen Thesen von Band II auszieht, d.h. ob man Kirchenrecht II als notwendige, logische Vollendung von Band I aufzufassen hat — oder ob man den frühen Sohm des Kirchenrecht I von den in Kirchenrecht II gezogenen Konsequenzen entlasten muß. Anders gefragt: was ist es, das Sohm weitertrieb, die These von Kirchenrecht I selber oder etwas näher zu Bestimmendes an ihr?


83. ebd. 101.
1. Vgl. Kirchenrecht II, Vorwort; Stutz Rez. KR II.

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1. Der Kirchenbegriff in „Kirchenrecht” II

Nach Kirchenrecht I sind der urchristliche und der lutherische Kirchenbegriff deckungsgleich2. Luthers Bedeutung, so heißt es dort, besteht darin, daß er den urchristlichen Kirchenbegriff wiederentdeckt hat.

Schon in „Wesen und Ursprung” beginnt Sohm, diese Sicht zu modifizieren. Er fragt: Lag die Katholisierung des Urchristentums nur in den äußeren Umständen begründet? Oder war sie eine im Wesen des Urchristentums liegende, wenn auch von den neutestamentlichen Zeugen keineswegs intendierte Möglichkeit? Man sieht, wie Sohm hier mutig ein heikles Thema anrührt. Seine Antwort lautet bekanntlich: Indem im NT ein sichtbares Volk als geistliche Größe bezeichnet wird, ist es möglich, daß aus dem geistlichen ein geistlich-rechtlicher Kirchenbegriff wird.

Diese Akzentuierung macht es Sohm unmöglich, in Kirchenrecht II seine Behauptung aus Kirchenrecht I zu wiederholen, Luther habe den urchristlichen Kirchenbegriff repristiniert3. E. Rietschel4 hat Sohm den Weg zu einer neuen Sicht des reformatorischen Kirchenbegriffs gewiesen. Luther hat, heißt es jetzt, den urchristlichen Kirchenbegriff auf eine solche Weise erneuert, daß ein abermaliges Abgleiten in den Katholizismus von vornherein ausgeschlossen ist. Die wahre Kirche sei nach Luther nicht zugleich in der Sichtbarkeit und der Unsichtbarkeit, sondern sie sei lediglich unsichtbar5, sie sei als „Kirche im religiösen Sinn” eine „überweltliche Größe”6, „in jener Welt” beheimatet7; „weltliche Angelegenheiten hat sie nicht”8. Sie ist Glaubensgegenstand, d.h. sie wird dem Gläubigen an ihren Lebenszeichen sichtbar. So gewiß diese notae ecclesiae in der äußerlich sichtbaren Christenheit offenbar werden, so gewiß gehören sie nicht dieser, sondern der unsichtbaren Kirche Christi9. Eine äußere Gemeinschaft ist die Kirche im religiösen Sinn — „auch sofern sie Wort und Sakrament besitzt” — nicht und hat daher kein objektives, „irgendwie auf den Besitz äußerlich wahrnehmbarer heiliger Dinge begründetes Dasein”, sondern ist „ein Volk, dessen Glieder durch die Trägerschaft eines unaufhörlich in Bewegung befindlichen geistlichen Lebensstromes bestimmt werden”10. Das bedeutet nun freilich, daß der neutestamentliche und lutherische Kirchenbegriff nicht mehr deckungsgleich sind. Das ist Sohm nicht entgangen: „Luthers


2. Kirchenrecht I, 463.
3. Kirchenrecht II, § 13: Der Standpunkt der lutherischen Reformation.
4. Wesen und Ursprung 11 und in Bezug auf Hermelink WUK S. 9.
5. Kirchenrecht II, 130.
6. ebd. 168 f.
7. ebd. 169.
8. ebd.
9. ebd. 130.
10. ebd. 132.

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Kirchenbegriff unterscheidet sich von dem Kirchenbegriff des Urchristentums. Gewiß. In der Erkenntnis des Wesens des Christentums sind wir auch durch das Urchristentum nicht gebunden. Luther hat seinen Kirchenbegriff aus der Tiefe seines eigenen Lebens mit Gott . . . geschöpft. Das Urchristentum war zu der Erkenntnis der Unsichtbarkeit des Volkes Gottes noch nicht gelangt. Dadurch ist das Urchristentum katholisch geworden. Die Entdeckung Luthers, daß die Kirche unsichtbar sei, schloß die Aufhebung des Katholizismus in sich”11.

 

2. Das Verhältnis von „Kirchenrecht” I zu „Kirchenrecht” II

a) Indem sich Sohm diesen Kirchenbegriff zu eigen macht, gerät er in den Widerspruch zum NT und zu seinen eigenen früheren Ausführungen. Was den Widerspruch zum NT betrifft, so fällt zwar die Leichtigkeit auf, mit der Sohm Luthers Erkenntnis des Evangeliums und der Kirche über das NT setzt: das NT ist nicht unbedingt zuständig für die Erkenntnis des Wesens des Christentums. Doch will Sohm damit nicht prinzipiell die Normativität der Schrift bestreiten, sondern eher ihre Zeugen besser verstehen, als sie sich selbst verstanden; er meinte, mit der Erkenntnis Luthers ließe sich klarer als die neutestamentlichen Zeugen es tun, aber durchaus in ihrem Sinn von der Kirche reden, zumindest hinsichtlich der Abwehr des römischen Kirchendenkens.

Aber das eigentliche Problem steckt hinter der Abwendung von dem neutestamentlichen und lutherischen Kirchenbegriff (von Kirchenrecht I). Der Fortschritt über das NT und den Luther im Sinne von Kirchenrecht I ist in der angegebenen Intention nicht ganz unvertretbar. Doch muß man fragen, was Sohm denn unter der unsichtbaren Kirche versteht. Meint er etwa die unsichtbare Kirche der Aufklärung, die er in Kirchenrecht I charakterisiert und abgelehnt hatte? Dort hieß es: „Nach der Anschauung der Aufklärung ist die Kirche Christi unsichtbar und nur unsichtbar; . . . was sichtbar ist, ist weltlich . . . Dieser Kirchenbegriff der Aufklärung führt noch heute in der kirchlichen Organisation die Herrschaft”12. Damit ist die Frage nach dem Verhältnis Sohms zur Aufklärung angerührt. Wir werden ihr später nachgehen und fragen hier zunächst, ob Sohms Kirchenbegriff in Kirchenrecht II die Substanz des


11. ebd. 133.
12. Vgl. Kirchenrecht I, 698: „Die . . . Kirche des Urchristentums . . . ist eine rein geistliche, die katholische Kirche eine geistlich-weltliche, die evangelische Kirche im Rechtssinn, wie sie heute vor uns steht, eine rein weltliche Organisation.” I, 699: „Die Ausbildung eines rechtlichen Kirchenregimentes hat das Wesen der Kirche aufgehoben.”

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neutestamentlichen Kirchenbegriffs, bereichert um die klare Abgrenzung gegen den Katholizismus, festhält.

Derselbe Sohm, der es nach Kirchenrecht II als einen Mangel empfindet, daß das NT „die weltliche sichtbare Christenheit mit der Kirche im religiösen Sinn gleichgesetzt” hat13, hatte in Kirchenrecht I auf die Frage: „ist die wahre geistliche Christenheit denn wahrnehmbar?” geantwortet: „Zweifelsohne! Sie ist notwendig sichtbar . . . in jeder Versammlung von Christen in Christi Namen (um Wort und Sakrament). Wir sollen nicht zweifeln, daß da, wo Christi Wort verkündigt wird, auch wahre Gläubige sind. Gottes Wort gebiert notwendig Gläubige kraft der ihm innewohnenden Gewalt.”14

Jetzt, in Kirchenrecht II, heißt es dagegen: Das äußerliche Wort (und Sakrament), welches der äußerlich sichtbaren Christenheit angehört, „fällt als solches nicht mit dem wahren Wort und Sakrament zusammen”15. Und: „Die sichtbare Christenheit hat nicht den Geist Gottes, ist nicht das Volk Gottes, hat nicht das Wort Gottes . . . auch sofern sie Wort- und Sakramentsgemeinschaft hervorbringt, ist sie nur Welt, gar nicht Kirche. Es gibt keine sichtbare Kirche”16.

Man wird urteilen müssen, daß diese Sätze aus Kirchenrecht II Sohms Kirchenbegriff aus Kirchenrecht I nicht interpretieren, sondern preisgeben. Das Wort, so hieß es damals, gebiert notwendig Gläubige. Das ist eine wesentliche Erkenntnis, auch wenn wir nicht ohne weiteres unterstellen dürfen, daß Sohms Wortbegriff unanfechtbar sei. Und so ist ja oft in Kirchenrecht I davon die Rede, daß Gottes Geist die Kirche versammelt und regiert. Nun aber, in Kirchenrecht II, heißt es, das Wort gehöre der unsichtbaren Christenheit. Damit schaut Sohm ganz auf die Christen, gar nicht mehr auf den handelnden Christus.

b) Bedeutet diese Diskrepanz zwischen Kirchenrecht I und II, daß Sohm in Band I noch nicht auf dem Wege war, an dessen Ende er in Band II steht? Ist Sohm also seinem — wie immer anfechtbaren, aber im Prinzip vertretbaren — Ansatz von Kirchenrecht I untreu geworden? Oder gibt es eine Verbindungslinie zwischen I und II?

Wir greifen zunächst auf einen Ausschnitt aus Kirchenrecht I c. 1 zurück, wo Sohm über die urchristliche Kirche Folgendes ausführt: „Die Ekklesia ist die gesamte Christenheit, der Leib Christi, die Braut des Herrn, — eine geistliche Größe, den Normen des Irdischen, auch dem Recht entrückt. Nicht als ob die Ekklesia eine unsichtbar und unwirksam, schweigend im Hintergrund verharrende, rein begriffliche Macht bedeute. Im Gegenteil: Die Ekklesia ist sichtbar und wirksam in


13. Kirchenrecht II, 181.
14. Kirchenrecht I, 492.
15. Kirchenrecht II, 131.
16. Kirchenrecht II, 135.

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all den Versammlungen der Christenheit”17. Vom Ende des Weges Sohms fällt Licht und Schatten schon auf diese frühen Sätze. Ist doch schon hier die Kirche Subjekt der Sätze über die Kirche. Zwar wird zunächst die Kirche als Leib und Braut Christi definiert; aber dann wird doch nicht von des Herrn Wirken an seiner Braut, sondern von der Wirksamkeit der Ekklesia selber in den Versammlungen der Christenheit gesprochen. Die Kirche ist hier, könnte man abgekürzt sagen, nicht Aktion Jesu Christi, sondern christliche Aktion.

Setzt man nun für den frühen Begriff „Ekklesia” den späten der „unsichtbaren Kirche” und für „Versammlung” „sichtbare Kirche” ein, so hat man die formale Kontinuität in Händen. Was noch fehlt, ist lediglich die Umkehrung der Intention: In Kirchenrecht I wertet die mittels des Begriffspaares Wesen und Erscheinung hergestellte Beziehung zwischen Ekklesia und Versammlung die letztere zur Kirche auf; in Band II wertet die Beziehungslosigkeit zwischen unsichtbarer und sichtbarer Kirche letztere zur Welt ab.

Nicht anders ist es, wenn wir ein Beispiel aus Kirchenrecht I c. 318 wählen: „Weil die sichtbare Kirche lediglich das in die Welt der Erscheinung eintretende Gottesreich darstellt, darum kann gerade auch in der äußerlich wahrnehmbaren sichtbar werdenden Kirche keine andere Herrschaft sein, kein ander Szepter als Christi Szepter, kein ander Regiment als das des heiligen Geistes.” Auch hier wird bereits die Kirchenrecht II beherrschende unsichtbare Kirche vorausgesetzt und als Reich Gottes bezeichnet. Tritt sie, in der Christus wirkt, in Erscheinung, so haben wir von der sichtbaren Kirche zu reden, aber die Abhängigkeit der sichtbaren von der unsichtbaren Kirche macht klar, daß auch die sichtbare Kirche eine geistliche, nur vom Wort regierte Größe ist. Auch dieser Passus redet also nicht eigentlich von Christus und seinem wirkenden Wort und von der Kirche als der Aktion Christi, sondern hat sein Gefälle im Wirken der unsichtbaren Kirche, die hier noch Reich Gottes heißt, also in der Kirche als der christlichen Aktion. Sohm wollte die Kirche als erscheinendes Reich Gottes festhalten, also zu einer geistlichen Größe aufwerten, und sie auf diesem Wege von jedem Rechte abheben. Die Füllwörter „gerade” oder „auch” oder „lediglich” in solchen Zusammenhängen19 signalisieren die Schwierigkeit, mit der Sohm es dabei zu tun hatte — und der er schließlich erlag. Denn endlich wird die sichtbare Kirche ganz und gar ihrer Verbindung zur unsichtbaren Kirche beraubt, so wie es einst die Aufklärung gelehrt hatte.

c) Wie steht es nun mit der Intention des Sohmschen Gesamtwerkes?


17. Kirchenrecht I, 22.
18. Kirchenrecht I, 468.
19. ebd. 483, 484 in der Anm.; 486, 487, passim.

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Haben wir uns an den Kirchenbegriff von Band I oder von Band II zu halten?

Die Intention kommt m.E. nicht in Kirchenrecht II, sondern in I zum Vorschein. Sohm wollte eigentlich die konkrete Kirche, bzw. Gemeinde, bzw. Versammlung in ihrer geistlichen Eigenart erfassen und sie als rechtsfreie Größe eigener Art reklamieren, und er suchte dies zu erreichen, indem er sie — in der Intention auf der Linie des NTs, aber ohne die Erkenntnis des Eschatologischen — als analogielose geistliche Größe beschrieb. Diese Absicht sollte man ihm nicht abstreiten. Ebensowenig darf man verkennen, daß er sie nicht konsequent durchführen konnte. Es fehlte ihm ja die Möglichkeit, die Kirche als eschatologische Größe — die in der Welt existiert, aber nicht von der Welt ist — zu verstehen, obwohl Sohm in dieser Richtung dachte. Indem er aber die Analogielosigkeit der Kirche in der Kirche selbst, statt in ihrem Herrn suchte, indem er sie als christliche Aktion, aber nicht als Aktion Jesu Christi verstand, konnte er seinen Ansatz nicht durchhalten.

Aber, möchte man fragen, mußte dies zu der völligen Verkehrung des Ansatzes in Kirchenrecht II führen? Schließlich ist doch die Intention von Kirchenrecht I in II ins Gegenteil verkehrt. In der Tat läßt sich aus dem bisher Gesagten die Diskrepanz zwischen Intention und Ergebnis Sohms nicht erklären. Warum mußte er zuletzt die sichtbare Kirche als bloße christliche Welt preisgeben, nachdem er sie zunächst als erscheinendes Gottesreich aus der Welt herausgehoben hatte? Warum mußte er sie endlich dem Staatsrecht unterstellen, nachdem er sie zunächst nicht einmal dem kirchlichen Recht Untertan sein ließ? Die Erklärung für diesen Umschwung liegt meines Erachtens zwar in der Begrifflichkeit Sohms mitbegründet, ist aber nicht ohne die äußeren Umstände zu begreifen, in denen Sohm sich befand. Die Konzeption von Kirchenrecht I ging 1892 offenkundig Hand in Hand mit der Hoffnung, es sei möglich, die Kirche in ihrer irdischen Gestalt an ihr Wesen und ihre Aufgabe zu erinnern, damit sie ihrer Relation zu ihrem Herrn gewahr werde und aus aller Verfremdung zu ihrem Wesen zurückfinde. Daher war sein Ziel die Aufwertung der sichtbaren Kirche. Der spätere Sohm resigniert einmal kirchenpolitisch (man denke an seine Teilnahme im Fall Jatho20), zum andern deshalb, weil seine Thesen allgemein nicht genügend anerkannt werden. So findet er schließlich keinen anderen als den entgegengesetzten Weg. Es ging ihm von Anfang an um die Kirche Jesu Christi. Konnte ihr nicht durch eine Erneuerung des äußeren Kirchenwesens geholfen werden, so vielleicht durch dessen Zerstörung im geistlichen Sinn, d.h. durch seine Preisgabe an den Staat.

Dabei ist Sohm in doppelter Hinsicht seinem Ziel treu geblieben: in der frühen wie in der späten Phase ist sein Werk nur zu verstehen als


20. Vgl. ChW, Jahrg. 1911.

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Kritik am bestehenden Kirchentum21. Das dürfte für Kirchenrecht I ohne weiteres zugestanden werden, gilt aber auch für II. Faßt man die — gewiß überaus anfechtbaren — Sätze in Kirchenrecht II über die Kirche nicht primär als Lehre, sondern als Polemik auf, und ist man bereit, auf kritische Stimmen zu hören, dann wird man sie als die letzte Möglichkeit eines an der Kirche verzweifelnden Mannes würdigen, der retten wollte, so gut er konnte. Aber nicht nur die kirchenkritische Grundhaltung verbindet trotz völliger Verschiebung der Aspekte Kirchenrecht I und II miteinander. Auch im Verständnis des Christlichen bleibt die Kontinuität bewahrt. War es schon in Kirchenrecht I die sittlich-religiöse Persönlichkeit, die Sohm im Auge hat, so ist es in II die reine Innerlichkeit, auf die Sohm sich zurückzieht, indem er alles andere preisgibt.

Damit wird abschließend noch einmal die Begrenzung des Sohmschen Kirchenbegriffes sichtbar. War das „Nein” Sohms gegenüber dem Kirchenbegriff des Katholizismus und der Aufklärung in Kirchenrecht I getragen von dem „Ja” zum urchristlichen und lutherischen Kirchenbegriff, und sagt Sohm in Kirchenrecht II zum urchristlichen Kirchenbegriff und damit zu seiner frühen Lutherinterpretation „nein”, welche Möglichkeit bleibt ihm jetzt noch übrig? Muß er nicht letzten Endes den Katholizismus rechtfertigen? Oder lenkt er zur Aufklärung zurück? Oder wird es ihm gelingen, eine neue Position zu fixieren, die weder aufgeklärt noch katholisch, aber auch nicht mit der neutestamentlichen und der Lutherschen deckungsgleich ist, sondern die beiden letzteren ihrer Intention gemäß weiterentwickelt? Die Position Sohms ist die dem Christentum als Religion entsprechende religiös-gesellige Vereinigung von Individuen; es ist die der Weiterentwicklung des Christuszeugnisses im NT zur Religion entsprechende Fortentwicklung des urchristlichen Kirchenbegriffes zu einer freien, geistigen Versammlung Gesinnungsverwandter. Damit ist natürlich auch Luther preisgegeben.

 

E. Die Folgerungen des späten Sohm: Der Rechtsbegriff des Rechts

 

Erst Dombois1 hat die tragische Lage Sohms, die wir oben für die Gestalt seines späten Kirchenbegriffs mitverantwortlich machten, voll gewürdigt; wir müssen sie auch zum Verständnis des — wiederum nur im Fragment vorliegenden2 — späten Rechtsbegriffes heranziehen. Das


21. Kirchenrecht I, Vorwort.
1. Dombois, Altkirchliche und evangelische Kirchenverfassung 2.
2. Kirchenrecht II, V 5, Vorwort von E. Jacobi und O. Mayer.

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Fundament der protestantischen Kirchenrechtslehre besteht — das sieht Sohm — wesentlich in dem körperschaftlich-voluntaristischen Naturrechtsdenken, das, aus der Zeit nach Gratian stammend, den Altkatholizismus in Neukatholizismus verwandelt und sich der Kirche Roms bemächtigt hatte, aber mit seinem Systemzwang auch das protestantische Kirchenrechtsdenken in seinen Bann geschlagen hält. So steht Sohm „vor der Alternative aut Papa aut nihil” und zögert nicht, seine Entscheidung zu treffen.

 

1. Die Abrechnung mit der protestantischen Kirchenrechtswissenschaft

Das Referat Sohms über den Stand der Kirchenrechtswissenschaft3 rechnet mit jenem Denken ab, indem es das aus dem Katholizismus stammende oder ihn nachahmende, das evangelische Kirchenrecht verfälschende Fundament der protestantischen Kirchenrechtslehre bloß legt.

Zunächst, so führt Sohm aus, wird allenthalben vorausgesetzt, daß es nur „einerlei Kirchenrecht” gibt. Unterscheidet sich der Protestantismus vom Katholizismus im Lehrbegriff von der Kirche, so stimmt er mit ihm überein im Rechtsbegriff der Kirche4. Daß diese Voraussetzung tatsächlich gemacht wird, weist Sohm einerseits an der Herrschaft der sogenannten Kombinationsmethode5, andererseits an dem körperschaftlichen Ausgangspunkt nach6. Sohms Vorwurf gegen seine Kollegen ist von dem Pathos des Historikers getragen. Er vermißt die Berücksichtigung der „Entwicklungsstufen des Christentums”7, ebenso der Veränderungen im Rechtsbegriff zwischen dem 1. und 20. Jahrhundert8.


3. ebd. C. 1, §§ 1-5.
4. ebd. 2: „Derselbe Rechtsbegriff ergibt notwendig dasselbe Kirchenrecht. Natürlich nicht notwendig desselben Inhalts, aber doch notwendig derselben Art.” Vgl. S.3.
5. ebd. 3 f.
6. ebd. 4f.: „Dasselbe System paßt für das katholische Kirchenrecht und für das protestantische. Protestantisches und katholisches Recht sind nur Abwandlungen, Erscheinungsformen desselben einen Kirchenrechts.” Auch diejenigen, die den Bruch mit der Kombinationsmethode vollzogen, wollen „von einem verschiedenen Rechtsbegriff der Kirche, von Grundgedanken, welche die grundverschiedene Auffassung beider Kirchen vom Wesen des Kirchenrechts . . . betreffen, . . .” nichts wissen (ebd. 11,6).
7. ebd. 9: „Wie der Unterschied der Bekenntnisse, so ist natürlich nach der herrschenden Lehre überhaupt die Entwicklungsstufe des Christentums für den Rechtsbegriff der Kirche und damit für das Wesen des Kirchenrechts gleichgültig. Der Rechtsbegriff der Kirche war im 1. Jahrhundert bereits der gleiche wie im 20. . . . (und) steht außerhalb der geschichtlichen Entwicklung.” Vgl. ebd. 10-12, 19.
8. ebd. 12: „Wir hören immer dasselbe, mögen wir einen Kirchenrechtsschriftsteller des 17. oder des 20. Jahrhunderts fragen.” ebd. 11: „Der oberste Leitsatz unserer Kirchenrechtswissenschaft: der Rechtsbegriff der Kirche ist immer derselbe; . . . es hat ohne Unterschied der Zeiten und der Bekenntnisse immer nur Kirchenrecht im Stil der Aufklärung gegeben.”

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Wie die römische Systematik auf das Naturrecht des ausgehenden Mittelalters, so ist die protestantische auf das der Aufklärung festgelegt.

Wie das „einerlei Kirchenrecht”, so wird auch — das ist das Zweite — ganz schematisch ein ungeschichtlicher, zeitloser Kirchenbegriff, die Genossenschaft, vorausgesetzt9, eine Tatsache, die Sohm im Blick auf die Literatur der Jahrhundertwende um so schmerzlicher berühren mußte, als er in „Kirchenrecht” I versucht hatte, den Kirchenbegriff des Urchristentums und der Reformation herauszuarbeiten und den Nachweis zu führen, daß der Kirchenrechtsbegriff vom jeweiligen Kirchenbegriff her normiert sei. Der zeitlose Kirchenbegriff, der die Kirche immer als Religionsgesellschaft erfaßt, ist letzten Endes nur haltbar, wenn man einen einzigen Religionsbegriff voraussetzt, einen Genus-Begriff der Religionsgesellschaft, der sich in den verschiedenen Religionsgesellschaften lediglich „besondert”. Das impliziert aber eine Nivellierung der theologischen Fragen zwischen Katholizismus und Protestantismus10.

Entscheidend ist die Frage, wie sich die Rechtskirche zur Kirche Christi, das Kirchenregiment zum Worte Gottes verhält11. Und gerade an diesem Punkt sieht Sohm das Vorbild des Katholizismus in der protestantischen Lehre wirksam. Einmal darin, daß das Kirchenrecht als Religionsgesellschaftsrecht, zum anderen darin, daß die Kirche als Anstalt gesehen wird. Beides zusammen schlägt sich in der Meinung nieder, daß Kirchenrecht der Kirche Christi dienendes Recht sei12.

Der Protestantismus kann zwar die Rechtskirche nicht mit der Kirche


9. ebd. 11: „Für das Recht ist die Kirche aller Zeiten und aller Bekenntnisse ein körperschaftsmäßiger, gesellschaftlicher Verband.” ebd. 12: „Der höhere Begriff, unter den die Kirche des Kirchenrechts fällt, ist der der Religionsgesellschaft (die auch eine jüdische, mohammedanische, heidnische sein kann): die Kirche des Kirchenrechts ist die auf einem christlichen Bekenntnis beruhende Religionsgesellschaft . . .”
10. Die Kirchenrechtswissenschaft hat „von der Gleichberechtigung der katholischen und der protestantischen Art des Kirchenrechts, d.h. von der Gleichwertigkeit der beide erfüllenden religiösen Idee auszugehen”, ebd. 16: „Man hört nichts oder wenig von dem furchtbaren Druck, den dieser ungeheuere Verwaltungskörper (sc. der römische) auf die Kirche Christi ausübt. Die Art des Christentums, die im katholischen und protestantischen Kirchenrecht sich äußert, die religiösen Gegensätze, die den Protestantismus zum Kampf gegen den Katholizismus entzündeten, überhaupt die Wirkung des katholischen, des protestantischen Kirchenrechts auf das religiöse Leben, wie wenig ist davon in unseren Kirchenrechtsdarstellungen zu spüren . . . Die Hauptsache fehlt . . . (nämlich) die Eigenart der religiösen Idee, welche über Inhalt, Sinn und Kraft des katholischen, des protestantischen Kirchenrechts entscheidet.” (ebd. 16.)
11. ebd. 17 und der ganze § 4.
12. ebd. 20: „Das katholische Kirchenrecht ist . . . wirkliches Kirchenrecht. Es erscheint als der Kirche Christi dienendes Religionsgesellschaftsrecht. Dieser letztere Gedanke ist es, der im Laufe des 19. Jahrhunderts unter Miteinwirkung der Neubelebung des protestantisch-kirchlichen Lebens durch den Pietismus von den führenden protestantisch-kirchlichen Kreisen aufgenommen und zur Grundlage der noch heute herrschenden Lehre gemacht wurde”. Vgl. ebd. 21.

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Christi identifizieren, aber er kann beide eng aneinander heranrücken, gerade indem er im Gegensatz zur Aufklärung die Kirche nicht mehr als Verein, sondern als Anstalt versteht13, die durch ein die wahre Lehre entfaltendes Bekenntnis zur Darstellung der Kirche Christi wird14. Das Kirchenrecht ist dann von religiösem Wert15, die Kirchenkörperschaft Erscheinungsform der Kirche Christi16. Diese Idee von der Kirche als Anstalt17 ist aber „nur auf dem Boden der klerikalen Organisation des Katholizismus möglich”18 und auf protestantischem Boden nur in Verbindung mit dem Kollegialismus denkbar19, wobei allerdings die praktische Wirkung der kollegialistischen Religionsgesellschaftstheorie der Aufklärungszeit — Kirche Christi und Religionsgesellschaft werden voneinander stark abgehoben20 — sich im 19. Jahrhundert ins Gegenteil verkehrt. Die Lösung der gesamten Problematik kann nur gefunden werden, wenn man erkennt, daß sich in der Form des Kampfes um das Recht der Kirche der Kampf um den Inhalt des Evangeliums, um die letzten religiösen Grundfragen überhaupt, abspielt21. Diesen Kampf um das Verständnis des Evangeliums beschreibt Sohm als die Auseinandersetzung um die Frage, was eigentlich Recht sei.

 

2. Der Rechtsbegriff des Rechts

Sohm ist im Besitze eines „Rechtsbegriffes des Rechts”, den er in die Formel zusammenpreßt: „Recht ist die selbstherrliche Ordnung einer sittlich notwendigen, überindividuellen äußeren Gemeinschaft: Recht ist sittlich notwendige Gemeinschaftsordnung”22. Hier fällt die Unterstreichung von „selbstherrlich” und „sittlich notwendig” auf, mit der


13. ebd. 20f.: „. . . Anstalt. Das soll heißen: die rechtlich verfaßte Kirche ist eine auf göttlicher Ordnung beruhende, kraft göttlicher Ordnung notwendige Schöpfung, sie ist eine Anstalt für die Zwecke Gottes, nicht ein Verein für die Zwecke ihrer Mitglieder.”
14. ebd. 22 f.
15. ebd. 23, passim.
16. ebd. 25: „Die Kirchenkörperschaft (Religionsgesellschaft) fällt nicht (wie nach katholischer Lehre) mit der Kirche Christi zusammen, aber sie ist das Werkzeug, die äußere Organisation (,Leib und Organ’), wodurch die Kirche Christi sich betätigt, sich verteidigt, sich erhält.”
17. ebd. 28. Sohms juristische Kritik am Anstaltsbegriff macht geltend, daß eine Anstalt ein öffentlich-rechtlicher Verband ohne Mitglieder ist, wohl aber einen Vorstand und auch Genußträger hat, denen der Zweck der Anstalt zugute kommt.
18. ebd. 28.
19. ebd. 29 beruft sich Sohm insbesondere auf Puchta, Richter.
20. Sohm exemplifiziert an der kirchenregimentlichen Lehrzucht, welche vom Kollegialsystem der Aufklärung ausgeschlossen, von der Anstaltslehre des 19. Jahrhunderts wiederbegründet wurde: „Um die Mitte des 19. Jahrhunderts setzte die Anstaltstheorie ein. Seit dieser Zeit gibt es wieder Lehrprozesse” (ebd. II, 32).
21. ebd. 33.
22. ebd. 55.

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Sohm es ablehnt, jede Gemeinschaftsordnung Rechtsordnung zu nennen. Zwar konzediert Sohm, daß das Recht den Dienst der Erhaltung von Gemeinschaft, weiter die aus der Selbstbehauptung der Gemeinschaft gegenüber dem Einzelnen folgende Erzwingbarkeit und schließlich seine Geltung kraft formal verbindlicher Tatsachen der Vergangenheit mit der Ordnung jeder menschlichen Gemeinschaft gemein habe23. Doch macht er am Beispiel der gesellschaftlichen Sitte24 und der Vereinssatzung25 den Unterschied zwischen Konventionairegel und Rechtsregel klar26: die erste ist für den gültig, der sich ihr freiwillig unterwirft27; sie ist nicht sittlich notwendig, sondern „gewillkürt”, hat keine ursprüngliche, durch sich selbst geltende, sondern nur abgeleitete Rechtsgeltung. Die Rechtsregel dagegen verpflichtet uns kraft unseres sittlichen Wesens; sie ist selbstherrliche28 Ordnung, weil sie die Ordnung einer sittlich notwendigen Gemeinschaft ist und von der sittlichen Freiheit selber gefordert wird. Sie unterwirft „den Einzelnen ohne Rücksicht auf seinen Entschluß der Gemeinschaft29, „welche den Menschen zum Menschen, die blonde Bestie zur sittlichen Persönlichkeit macht”30, und verpflichtet durch sich selber im Gewissen31. Indem sie von unbedingtem sittlichen Wert ist32, muß sie allerdings dem Maßstab der Gerechtigkeit genügen; denn in und vermöge der Zwangsgemeinschaft soll sich die sittliche Freiheit des Einzelnen behaupten33. Und eben „in der Erfüllung des Gerechtigkeitsideals liegt die innerste Lebensmacht des Rechts”34, aber andererseits gilt: „Nur die Zwangsregel ist Recht.”35

Diejenige Gemeinschaft nun, der anzugehören Postulat der sittlichen Freiheit des Einzelnen ist, ist die Volksgemeinschaft36. Sie ist die alleinige Rechtsquelle auf Erden, sie erzeugt den Staat, das Eigentum, das


23. ebd. 48-50.
24. ebd. 50.
25. ebd. 51 f.
26. ebd.
27. Ein trotz Verbot bestehender Verein hat zwar eine Rechtsordnung, diese besitzt aber nicht etwa innervereinsmäßige, sondern gar keine Rechtsgeltung, ebd.
28. ebd. 52. Den Begriff „selbstherrlich” hat Sohm nach Kirchenrecht II, 51 Anm. 4 von R. Stammler übernommen. Er rühmt Stammler nach, er sei „der erste, der hier das Richtige gesehen hat”, und ist der Meinung, die kirchenrechtliche Betrachtung sei „imstande”, die sachliche Begründung der von Stammler vertretenen Gedankenreihe zu vollenden.
29. Kirchenrecht II, 52.
30. ebd. 53.
31. Zum Gewissensbegriff vgl. ebd. II, 49; zur Sache vgl. E. Wolf, Von der Freiheit des Gewissens.
32. Kirchenrecht II, 53.
33. ebd. 54.
34. ebd. 55.
35. ebd.
36. ebd. 55-58.

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weltliche Recht und die weltliche Obrigkeit37. Konsequent wird nun aus dieser unlutherischen, der romantisch-historischen Tradition entstammenden Volksmetaphysik der moderne Staat als Sammlung der Macht des Volkes an einer Stelle gefolgert38 und daraus der Schluß gezogen, daß alle Obrigkeit neben der staatlichen verschwindet und alles weltliche Recht mit staatlichem Recht identisch wird.

 

3. Der Kirchenrechtsbegriff des späten Sohm

a) Historisch

Dies alles wäre in Frage gestellt, wenn es nicht ausschließlich gelten würde, d.h. wenn neben das Volk die Kirche als Rechtsquelle träte. Die Formulierung Sohms ist charakteristisch: „Ist die Kirche Rechtsquelle, so ist auch die Kirche ein selbstherrlicher Verband”39. Natürlich handelt es sich jetzt nicht um ein in der religiösen Gemeinschaft geltendes weltliches Recht; das hätte ja seine Quelle in der Welt und nur seinen Gegenstand in dem religiösen Leben. Vielmehr handelt es sich um die Frage, ob die Kirche selber im religiösen Sinn Rechtsquelle ist, ob die Christenheit aus dem Evangelium göttliches Recht hervorbringt. Müßte man das bejahen, so wäre die Kirche Quelle geistlicher Obrigkeit und geistlichen Rechtes. Historisch gesehen hat es solches Recht gegeben; denn das Wesen des kanonischen Rechtes ist es40, aus dem Glauben abgeleitetes Recht zu sein und um des christlichen Glaubens willen Rechtskraft zu erlangen41. Es ist „ein Recht ganz anderer Art als alles weltliche Recht”42. Für dieses Recht war entscheidend der Wille Gottes, nicht der Gemeinwille des kirchlichen Verbandes43. Man darf das Faktum, daß alles kanonische Recht in Wahrheit kein göttliches Recht ist, mit dem andern Faktum, daß es aufgrund seiner geglaubten göttlichen Herkunft Rechtskraft erlange, nicht verwechseln44. Nicht


37. ebd. II, 56: „Die Volksgemeinschaft ist Rechtsquelle, sie erzeugt den Staat, den Träger und Erhalter der volklichen Macht. Sie erzeugt das Eigentum: die Macht des Volkes steigernd durch Freiheit. Sie erzeugt die weltliche Obrigkeit und das weltliche Recht”; zur „Erhebung des Begriffes Volk in die Reihe der theologisch-ethischen Hauptbegriffe”, vgl. K. Barth, KD III, 4, 345 ff. Weiter ebd. II, 47: Zwar drückt nun die Ordnung der Volksgemeinschaft „wie mit der Wucht von tausend Atmosphären” auf das Leben des Einzelnen, aber zugleich erzeugt dieser Druck „die Lebensluft, in der wir atmen”. „Um unserer sittlichen Freiheit willen gehorchen wir dem Rechtsgesetz.”
38. ebd. 57.
39. ebd. § 8, S. 58 f. entwickelt unter der Überschrift „Geistliches Recht” dessen Möglichkeit von der Position der vorhergehenden §§ aus.
40. ebd. § 9, 59-63.
41. ebd. 60.
42. ebd. 63.
43. ebd. 62.
44. ebd. 62.

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kraft seines christlichen Inhaltes, sondern kraft seines Wesens ist es kirchliches Recht. Wenn nun Sohm auch altes und neues45 kanonisches Recht unterscheidet, so sind beide doch im Wesen eins: „das Wesen des kanonischen Rechtes ist, aus dem Worte Gottes ein äußeres Gesetz, aus dem Evangelium eine Rechtsordnung, aus der . . . Schlüsselgewalt . . . zwangsweise Regierungsgewalt über das Volk Gottes hervorzubringen”46.

Wenn es also historisch gesehen aus dem Evangelium fließendes, göttliches Recht gegeben hat, so muß die Frage gestellt werden: „Ist das kanonische Recht der katholischen Kirche Recht im Rechtssinne?”47


45. Das kanonische Recht des Altkatholizismus knüpft hinsichtlich des kirchlichen Selbstverständnisses an das Urchristentum an (ebd. 637). Darum erfolgt die Hervorbringung ihres Rechtes nicht in der Form der Gesetzgebung, sondern der Didaskalie. Kanonisches Recht ist für die Kirche im religiösen Sinn geltendes Recht, es fällt mit dem für die Christenheit geltenden göttlichen Recht zusammen; das durch die Apostel übermittelte göttliche Wort entscheidet über die religiös notwendige Ordnung, während es im Urchristentum noch keine bestimmte, religiös notwendige Ordnung gegeben hatte. War diese Ordnung streitig gewesen, so hatte das Gemeinübliche, Katholische die Entscheidung gebracht. Daraus entwickelte sich der Satz, daß die katholische Christenheit unfehlbar ist, wohnt doch in ihr als dem Volke Gottes der Geist Gottes. Die altkatholischen Synoden sind Darstellung des Volkes Gottes; über die Geltung ihrer Beschlüsse entscheidet immer erst die Rezeption (vgl. Dombois, Altkirchliche und evangelische Kirchenverfassung). Die Christenheit, aber nicht die Synode ist unfehlbar. Die Synode beschließt nicht eigentlich, sondern bezeugt den Willen Gottes. Es gibt keinen unfehlbaren Papst oder Kirchenlehrer, sondern nur das auf Inspiration beruhende geistliche Gewohnheitsrecht, also von dem Geist Gottes erzeugtes Recht, das das Evangelium ausgestaltend und entfaltend ergänzt. Dies macht Sohm am Werke Gratians deutlich. Für diesen ist kanonisches Recht Sakramentsrecht: „Das vom kanonischen Recht geregelte Leben der Kirche ist das sakramentale (geheimnisvolle) Leben Gottes mit seinem Volk” (ebd. 84).
46. Gratians Werk war in sich widerspruchsvoll: Einmal verband er den Gedanken der päpstlichen Monarchie mit dem Altkatholizismus. Zum anderen verstand er das Kirchliche Recht sowohl als himmlisches als auch als weltliches Recht (ebd. 101). Aus dem ungelösten Nebeneinander dieser disparaten Größen entsteht der Neukatholizismus (vgl. § 11, 87-118). Einmal gibt man das altkatholische Traditionsprinzip für die Rechtsentwicklung auf: das kanonische Recht wird veränderlich, indem neben das unmittelbar im Evangelium enthaltene göttliche Recht das faktisch viel umfangreichere menschliche Recht tritt (ebd. 101 f.). Zum anderen entwickelt man die Körperschaftstheorie: die Kirche ist nach Art des Staates verfaßt, bringt ihr Recht kraft körperschaftlicher Gewalt durch ihre körperschaftlichen Organe hervor (ebd. 105 f.). Beides zusammen genommen bedeutet: „Die Unfehlbarkeit der Kirche als Christenheit verwandelt sich in die Unfehlbarkeit der Kirche als Körperschaft” (ebd. 110). Die Kirche als Körperschaft ist zunächst das allgemeine Konzil: „Nur das allgemeine Konzil hat (nach Körperschaftsrecht) den heiligen Geist” (ebd. 112). Seit dem Vaticanum — es machte der seit dem 16. Jahrhundert geltenden Lehre, „daß nicht der Papst allein, auch nicht das Konzil allein, aber der Papst mit dem allgemeinen Konzil unfehlbar sei” (ebd. 114) noch ein letztes Zugeständnis: „ein allgemeines Konzil mußte berufen werden, damit es sich selbst entsetzte” (ebd. 115) — ist der Papst allein kraft Körperschaftsrechtes der Träger der Unfehlbarkeit der Kirche Christi (ebd. 115). Hatte im Altkatholizismus die Vergangenheit Macht über die Gegenwart, so besitzt nunmehr im Neukatholizismus die Gegenwart Macht über die Vergangenheit (ebd. 115, 117). „An die Stelle des (religiösen) Traditionsprinzips ist das (körperschaftrechtliche) Gesetzgebungsprinzip getreten” (ebd. 116).
47. ebd. 118.

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Vom katholischen Standpunkt aus ist das Recht der katholischen Kirche sittlich notwendige Gemeinschaftsordnung: „Die katholische Idee ist, daß es ohne diese Rechtsordnung kein Christentum gibt . . . Die Mitgliedschaft in dieser katholisch verfaßten Christenheit ist notwendig, damit der Mensch wahrhaft ein Mensch nach dem Ebenbilde Gottes sei”48. Weiter gilt die Ordnung der katholischen Kirche als solche49. Und schließlich ist die katholische Kirche Quelle von Recht und Obrigkeit und als solche souverän50. Wie kommt nun Sohm darum herum, die katholische Rechtsordnung als echte Rechtsordnung anzuerkennen? Nun, er leugnet sie nicht für das Mittelalter: „Das geistliche Recht ist im Mittelalter Recht im Rechtssinn. Ein zweites Recht neben dem weltlichen”51. Für die Gegenwart jedoch ist erstens die Erkenntnis der Reformation maßgeblich, der zufolge es keine bestimmte äußere Kirchengemeinschaft gibt, „welcher der Mensch, der Christ, um seines Seelenheils, um seines sittlichen Wesens willen, angehören müßte”, sondern nur noch eine Zwangsgemeinschaft, den Staat, und also nur noch weltliches Recht52. Neben die reformatorische Erkenntnis tritt zweitens die Toleranzidee der Aufklärung, die die Idee einer allein seligmachenden äußeren Kirchengemeinschaft für die Rechtsordnung hat verschwinden lassen53. Der tolerante, souveräne, paritätische Staat ist die Vollstreckung der reformatorischen Erkenntnis von dem Ende der geistlichen Obrigkeit54.

b) Systematisch

So ist endlich klar, wie Sohm die Frage, ob es auch noch anderes als weltliches Recht gebe, beantwortet. Im Mittelalter gab es — historisch gesehen — neben der weltlichen Reichsverfassung mit dem Kaisertum die kanonische Kirchen Verfassung mit dem Papsttum; theologisch ist


48. ebd. 118 f.; 119, Anm. 1.
49. ebd. 119 f.
50. ebd. 120.
51. ebd. 120 f.
52. ebd. 121.
53. ebd. 121, vgl. S. Gegensätze 6: „Das Individuum wird in der Aufklärung als Souverän der Weltgeschichte inthronisiert. Seine Schöpfung ist das Recht, der Staat, die Kirche, die Gesellschaft.”
54. ebd. 121 f., vgl. Geleitwort zu Walter Sohm.
Die Toleranzidee hat in der Gegenwart innerhalb des paritätischen Staates und angesichts mehrerer gleichmäßig privilegierter Kirchenkörper entscheidende Bedeutung für die geltende Rechtspraxis. Kraft seines Christentums ist niemand verpflichtet, einem solchen Kirchenverband anzugehören. Glaubensstand und Bekenntnis des Einzelnen entscheiden über solche Zugehörigkeit. So kann Sohm schließen: „Auch in Deutschland ist die Kirche Christi aus dem Rechtsgebiet verschwunden.”
Kennt die Gegenwart nur staatlich-weltliches Recht und ist die katholische Kirche bei ihrem mittelalterlichen Selbstverständnis stehengeblieben, so wird aus dem weltlichen Recht eine Farce, es sei denn, das katholische Selbstverständnis werde verändert. Zur Sache vgl. E. Wolf, Toleranz.

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hinzuzufügen, daß dieses Recht wider den Geist Gottes ist55. Was die moderne Zeit betrifft, so zerbrach mit der Alleinherrschaft des Katholizismus im Zeitalter der Reformation jedes geistliche Recht; und theologisch ist hinzuzufügen, daß die Reformation „die Zuständigkeit aller öffentlichen Gewalt” an den Staat . . . religiös gerechtfertigt hat56. Letzteres ist das Thema des diese Untersuchung abschließenden § 13 „Der Standpunkt der lutherischen Reformation”57. Sofern das Urchristentum noch nicht katholisch war, d.h. die Ekklesia nur als religiöse Größe kannte und keine bestimmte Ordnung als religiös notwendig betrachtete, ist das altkatholische und neukatholische Kirchenrecht nicht-sein-sollendes echtes Recht. Sofern das Urchristentum die sichtbare Ekklesia mit dem Volk Gottes identifizierte, ist die historische Entwicklung des Kirchenrechtes im Sinne eines geistlichen, nicht weltlichen Rechtes geschichtlich begründet. Und sofern erst Luther den urchristlichen Kirchenbegriff zugunsten des dem Urchristentum nicht bekannten Begriffes von der unsichtbaren Kirche preisgab und damit den katholischen Kirchen- und Kirchenrechtsbegriff aufhob, ist der neutestamentliche Kirchenrechtsbegriff als komplettierungsbedürftig und nur von seiner bei Luther vollendeten Gestalt aus als gültig erwiesen, andererseits aber Luthers Begriff von der ecclesia abscondita für die Kirchenrechtswissenschaft allein verbindlich. Er schließt jedes geistliche Kirchenrecht aus und kennt nur noch weltliche Obrigkeit. Reformation und Aufklärung harren freilich noch der praktischen Vollendung: Sohm will die Aufgabe erschließen, alles geistliche Recht als Nicht-Recht aufzudecken und alles weltliche Recht der kirchlichen Verbände an den Staat abzutreten.

 

4. Kritik

a) Zu Sohms Verständnis von Volk und Staat

Den Begriff der Volksgemeinschaft, der in „Kirchenrecht” I keine Rolle spielt58, entnimmt Sohm der Romantik. Offenbar ist er sich dessen bewußt, daß er mit einem untheologischen Begriff operiert; denn er nennt die Volksgemeinschaft als Antwort der Geschichte auf die Frage, wer die sittlich notwendige Gemeinschaft sei59. So führt er denn auch lediglich geschichtliche Gründe an, die seine These beweisen sollen. Indem er


55. Kirchenrecht II, 118.
56. ebd. 151.
57. ebd. 130-151.
58. Vgl. Gegensätze 17: „Das Volk war gewissermaßen entdeckt worden, die Volkspoesie, die Volkssprache, die Recht erzeugende, Staat erzeugende, alles tragende Kraft der Nation.”
59. Kirchenrecht II, 55.

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den Begriff des Volkes mit dem des Staates verknüpft, gerät er in die Nähe der gefährlichen Theologisierung des Volksbegriffes, der nach dem 1. Weltkrieg zusehends zur Herrschaft drängte60.

Sohms Staatsauffassung ist schon mehrfach analysiert worden. So hat Stutz Sohm vorgeworfen, er habe einem aufklärerischen Staatsabsolutismus gehuldigt61. Dagegen hat Foerster Sohms Staatsbegriff in die „besten Traditionen des deutschen Protestantismus” verlegt, ohne die Idealisierung des Staates durch Sohm zu verkennen62. Man wird vor allem zu bedenken haben, daß die aus reformatorischen, romantischen und idealistischen Komponenten bestehende Staatsauffassung Sohms auf alle Fälle nur dann zutrifft, wenn der Christ Bürger zweier Reiche ist. Sonst läßt sich der Satz nicht begreifen, daß der Staat, die Zwangsgemeinschaft, den Menschen erst zum Menschen macht. Dabei verliert der Staat den reformatorischen Gesichtspunkt heilsökonomischer Funktion und verfällt der Idealisierung.

b) Sohms Verhältnis zur Aufklärung

Wir haben Grund, die Stellung Sohms zur Aufklärung besonders zu analysieren. Einmal deshalb, weil sich die überraschende Frage ergeben hat, ob Sohm mit dem Kirchenbegriff von „Kirchenrecht” II nicht doch dieselbe Antwort auf die Frage nach der Kirche gegeben habe, wie es die Aufklärung getan hatte. Zum anderen aber, weil die beiden Sohmschen Berichte über die Aufklärung, die ich im Folgenden kurz zusammengefaßt wiedergebe, uns auf einen Parallelvorgang aufmerksam machen.

Schon 1883 in den „Gegensätzen” macht sich Sohm seine Gedanken: Die Aufklärung entdeckte „die Freiheit des Einzelnen”63. Mit der Popularisierung aufklärerischer Gedanken in den europäischen Massen wurde zwar der Himmel zerstört64, aber die Freiheit des Einzelnen „von der Vergangenheit”65 gewonnen: „Die Weisheit, das Gesetz, der Glaube der Vergangenheit war für die Gegenwart unverbindlich geworden.” „Das Individuum wird als Souverän der Weltgeschichte inthronisiert”; seine Apotheose findet statt66. Des Menschen Schöpfung „ist das Recht, der Staat, die Kirche, die Gesellschaft”67. Hier finden wir also bereits einen Doppelaspekt: Die Aufklärung befreit von der Macht der Vergangenheit und bedeutet — wie das Schreckgespenst der französischen Revolution lehrt — zugleich die Gefährdung des eben erst Gewonnenen.


60. Vgl. E. Wolf, Barmen S. 137 ff., insbesondere 143 f.
61. Kirchenrecht II, 549.
62. Preisschrift 38 f. nennt Foerster als Vorgänger Sohms, den Freiherrn vom und zum Stein und W. v. Humboldt; vgl. F. Fischer, L. Nicolovius 1939.
63. Gegensätze 4.
64. ebd. 5.
65. ebd. 7.
66. ebd. 15.
67. ebd. 17.

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Ausführlicher befaßt sich Sohm mit der Aufklärung in seiner Kirchengeschichte. Die Aufklärungstheologie hat, indem sie alles Positive des christlichen Glaubensbekenntnisses abtat und es auf Gott, Tugend und Unsterblichkeit reduzierte, den festen „Stab des christlichen Glaubens, an dem sich sicher durch das Leben wandeln läßt, in ein schwankendes Rohr, in unbestimmte, zweifelweckende Vorstellungen verwandelt”68.

Kant hat die Religion von dem Gebiet theoretischen Erkennens weg-geführt und sie dazu bestimmt, die unmittelbaren, ohne Gründe den Menschen überführenden, erfüllenden Macht des Willens nach Freiheit (von Welt und Sünde), das Bedürfnis des Menschen nach Gott zu befriedigen. Dabei hat Kant die Religion lediglich auf die Moral abgezweckt; er kennt nur den „Gesetzgeber vom Sinai”, aber nicht das Wort Gottes, das sich offenbart voll Gnade und Wahrheit69.

Staatsphilosophisch war vom Gedanken des Staatsvertrages aus, demgemäß der Einzelne sich eines Teiles seiner natürlichen Freiheit zugunsten des Staates entäußert, alle öffentliche Gewalt dem Staat zugeschrieben worden70. Die Kirche verschwindet. Was bleibt, ist die Kirchengesellschaft, die Gemeinde, deren Zusammenfassung die Religionspartei heißt71. Auch hier bedeutet Aufklärung Freiheit von der Vergangenheit, Unverbindlichkeit alles Vergangenen72.

Auch jetzt ist wieder ein doppelter Aspekt zu beachten: neben der Befreiungstat droht die Selbstzerstörung des Menschen; neben der Entintellektualisierung des Religiösen steht seine Problematisierung. Neben der in der Aufklärung entbundenen rechts-, staatskirchen- und gesellschaftsschöpferischen Macht des Individuums steht die Monopolisierung der öffentlichen Macht im Staat. Wichtig ist nun, daß Sohm die in der Aufklärung gefallene Entscheidung als gültig ansah, und daß er zwei in seinem System bedeutsame Voraussetzungen eben der Aufklärung entnommen hat:

Erstens hat die Aufklärung die Macht der Vergangenheit gebrochen. Daß Recht Macht der Vergangenheit, daß es in diesem Sinn eine formale Größe ist, das hat die Aufklärung entdeckt. Sohm interpretiert mit dieser aus der Aufklärung stammenden Erkenntnis das NT: Die Ordnungsfaktoren des NTs sind nicht formaler Natur, wollen keine Macht über Vergangenheit bekunden. NT und Aufklärung kommen bei Sohm überein. Zweitens hat die Aufklärung die Omnipotenz des Staates geschaffen. Sie blieb zwar nicht das letzte Wort, sondern wurde durch den Liberalismus


68. Kirchengeschichte 167.
69. ebd. 168.
70. ebd. 174.
71. ebd. 176.
72. ebd. 174.

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korrigiert73. Aber auch der Liberalismus ging insofern nicht hinter die Aufklärung zurück, als auch nach ihm alle öffentliche Gewalt dem Staat zuständig ist. Eben dies aber ist nach „Kirchenrecht” II der Reformation zuzuschreiben, indem sie die Kirche als Obrigkeit abschaffte und Staat und Recht als weltliche Größen religiös rechtfertigte74. Hier kommt Luther mit der Aufklärung überein.

So wird man fragen müssen, ob die Übereinstimmung zwischen NT und Aufklärung bei Sohm einerseits, zwischen Luther und der Aufklärung andererseits, drittens die zwischen Luther und dem NT (in Kirchenrecht I) und schließlich die Nichtübereinstimmung zwischen Luther und dem NT (in Kirchenrecht II) nicht damit zusammenhängt, daß Sohms eigene Position eine aufgeklärte ist.

Es mag zwar überraschen, ist aber nicht zu bestreiten, daß der Begriff des Aufgeklärten Sohms zusammenfassende Charakteristik seiner Gegner sein kann75. Sohm fühlt sich herausgefordert, weil die protestantische Kirchenrechtslehre das aufgeklärte Religionsgesellschaftsrecht nicht aufgibt76, nachdem sie es mit dem Anstaltsbegriff verbunden hat77. Gerade damit stößt Sohm zum Zentrum seiner Kritik vor: „Die Form des naturrechtlich ewigen einerlei Kirchenrechts entnimmt unsere Kirchenrechtswissenschaft der Aufklärung . . .; die über den Inhalt entscheidende religiöse Idee aber entnimmt sie dem Katholizismus. Unsere . . . protestantische Kirchenrechtswissenschaft trägt halb die Aufklärung, halb den Katholizismus in ihrem Herzen. Was sie als die Grundidee des Kirchenrechts aller Zeiten und aller Bekenntnisse darbietet, ist eine widerspruchsvolle Mischung des Urkatholizismus und des Kollegialsystems des 18. Jahrhunderts. Diese Tatsache ist es, die in der herrschenden ,objektiven’ oder ,juristischen’ Methode sich geltend macht”78. Daher ist es Sohms offen ausgesprochenes Ziel, „uns zu befreien wie von der Macht der Aufklärung so von der Macht der katholischen Kirchenrechtswissenschaft”79, d.h. zu einer geschichtlichen Schau der Dinge zu kommen80. In dem Kampf gegen die Aufklärung geht es also Sohm um den Kampf gegen den Katholizismus und Protestantismus.


73. ebd. 190 f.
74. Kirchenrecht II, 150; im Geleitwort zu Walter Sohm, XXIV-XXVI ist die Aufklärung Vollstreckerin der Reformation, sofern sie die religiös gemeinte Gewissensfreiheit der Reformation zur staatsrechtlichen Toleranz weiterentwickelte.
75. Vgl. oben die Anmerkungen zu III E 6 ff.
76. s.o. die Anmerkungen zu III E 12ff.
77. Kirchenrecht II, 20 f., 26 f.
78. ebd. II, 14; ebenso Gratian 545 f.
79. Gratian 545.
80. Kirchenrecht II, 10: „In Bezug auf die leitenden Ideen des Kirchenrechts und damit letztlich auch über alle einzelnen Erscheinungen denken wir heute noch so ungeschichtlich wie zuvor. Der letzte Grundgedanke bleibt: wie es heute ist, so war es immer . . . es hat, ohne Unterschied der Zeiten und Bekenntnisse, immer nur Kirchenrecht im Stil der Aufklärung gegeben.”

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Wir werden uns nun zu fragen haben, wie das Nebeneinander von positivem und negativem Verhältnis zur Aufklärung in Sohms Werk zu verstehen ist, die positive Voraussetzung der Ohnmacht der Vergangenheit und der Allmacht des Staates einerseits, die Abwehr des aufgeklärten Religionsgesellschaftsrechts samt seiner Verknüpfung mit dem Anstaltsbegriff und der seit der Erweckungsbewegung möglich gewordenen Idee, Kirchenrecht sei der Kirche Christi dienendes Recht81, andererseits. Kämpft Sohm nicht auf dem Boden der Aufklärung gegen die aufklärerischen Züge der Kirchenrechtswissenschaft seiner Zeit? Und muß er daher nicht zwangsläufig am Ende die aufklärerische Lösung fordern, nun freilich ganz ins Extrem gehend?

Aus dem Geleitwort für seinen Sohn81a läßt sich von hier aus noch einmal auf unsere Darstellung der neutestamentlichen Exegese Sohms blicken. Religiöses Leben ist nach diesem Geleitwort „Innenleben im Gewissen”, das von allem Zwang befreite Leben mit Gott. „Es gibt keine Machtstelle mehr, welche im Namen Gottes den religiösen Überzeugungen der Obrigkeit oder der Untertanen zu gebieten” hätte. Die einzige existierende Obrigkeit, die weltliche, hat „keine Gewalt über das Innenleben mit Gott, über das religiöse Gewissen, über den Glauben”. Das alles ist schon gesetzt mit der nicht-rechtlichen Gewissensfreiheit der Reformation, die von der Aufklärung zur rechtlich gültigen Toleranz weitergebildet wurde. Das, was — nach Sohms Auffassung — die Reformation brachte, das Ende allen Rechtes in der Kirche Christi, was von der Aufklärung dann weiter entwickelt wurde zum rechtlichen Toleranzgedanken, soll nun im 20. Jahrhundert rechtlich installiert werden: die Kirche soll von Staats wegen ihr Recht verlieren, und was an ihr weltlich ist, soll von Rechts wegen an den Staat fallen. Das aber ist nur dann sinnvoll, wenn man sich selber auf die Innerlichkeit zurückzieht und die Welt sich selbst überläßt.

c) Zu Sohms Verständnis des Sittlichen

Wir haben oben davon berichtet, daß Klein, ohne das Verhältnis Sohms zu Luther zu prüfen, das Verständnis des Ethischen als Sohms Schlüsselposition herausgearbeitet hat82. Ich möchte dem systematischen Gedankengang Kleins hier nicht entgegentreten, wohl aber den für unsere Kritik unerläßlichen Zusammenhang von Ethik, Recht und Wort bei Sohm umreißen.

Schon „Kirchenrecht” I, S. 23 betont Sohm, daß Wort, Ordnung und Sittlichkeit zusammengehören: „die Lehre vom Worte Gottes ist notwendig zugleich Sittenlehre (die Lehre von der christlichen Sittlichkeit),


81. ebd. 20.
81a. Geleitwort zu Walter Sohm XXIV.
82. s.o. I C 2.

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und mit dieser aus der göttlichen Offenbarung geschöpften christlichen Sittenlehre hängt die Lehre von der Ordnung der Ekklesia zusammen. Es sind Moralgebote, welche wie über das Leben des einzelnen, so auch . . . über Leben und Gliederung der Ekklesia entscheiden. Damit ist jeder Gedanke an Gesetzgebung rechtlicher Art ausgeschlossen”. Das ist schon dieselbe Linie, die wir später in „Kirchenrecht” II ausgezogen finden: Gottes Wort ist immer bezogen auf Sittlichkeit und insofern Ordnungsfaktor der Kirche; Kirchenordnung fällt unter die Sittlichkeit und ist eben damit dem Bereich des Rechtes entnommen. Was aber nicht unter dem Gesichtspunkt der Sittlichkeit Bestandteil der Ordnung, sondern äußerer Natur ist, kann dem (staatlichen) Recht unterstellt werden.

Der Begriff der Sittlichkeit steht in der idealistischen Tradition: Sittlichkeit ist das Leben unter der Macht des Gewissens, das die deutlich redende Stimme Gottes in jeder Lebenslage präsent macht, also das Leben ohne Gesetz im Gegenüber zu Gott. Sittlichkeit ist nicht-normiertes Leben im Angesichte Gottes. Nicht einmal die Schrift oder das biblische Christusbild können und dürfen hier zur Norm werden; nie geht selbst das Evangelium in ein menschliches Wort sittlicher Vorschrift auf; auch Christi eigene Worte sind nicht gesetzlich gemeint83. Dennoch gibt es „Gesetze” der Sittlichkeit — das Doppelgebot der Liebe, das Naturgesetz Luthers, das hier in völlig formalisierter Gestalt auftaucht. Es ist aber nicht als Gesetz, sondern als Anleitung zur Befreiung vom Gesetz aufzufassen — also als die auf dem Boden des Idealismus formalisierte lutherische lex sine lege —, als Anleitung zur Entwicklung der Persönlichkeit des sittlichen Ideals84. Der sich diesem Ideal annähernde Mensch ist bestimmt „durch die Trägerschaft eines unaufhörlich in Bewegung befindlichen geistlichen Lebensstromes”85, ist doch die Gemeinschaft mit Gott zugleich die Erfüllung des Sittengesetzes86. Freilich ist dieser selbe Mensch auch Glied des Staates, und so muß Sohm die Freiheit des Einzelnen zur sittlichen Persönlichkeit, d.h. die


83. Kirchenrecht II, 134 in der Polemik gegen Troeltsch (in der ebd. 132 beginnenden Anm. 2): „Nicht das biblische Christusbild, sondern der in den Gläubigen lebendige Christus selber ist der kostbare, überschwängliche und überirdische Besitz der Kirche Christi, sich offenbarend nicht in der Schrift, sondern in der Predigt des Evangeliums.” Und weiter ebd. 138: „(die Kirche) hängt niemals an dem: was dünkt euch von Christo? Das ist eine Frage an Schriftgelehrte und Pharisäer, deren Weisheit daran zuschanden wird. Sie hängt nur an dem: Hast du Christum? Hast du durch Christum den gnädigen Gott gefunden, als den Herrn und als die Quelle deines Lebens? Das Wort des Evangeliums, der frohen Botschaft von dem Reiche Gottes in den Menschenherzen, kann in kein Menschenwort eingefangen werden.” Weiter ebd. 169: „Christus gab seiner Kirche . . . den Geist des Lebens: die Gewißheit der Gotteskindschaft, welche die Gewißheit der Sündenvergebung in sich schließt, aber kein Kultgesetz, kein äußeres Gesetz.”
84. Kirchenrecht II, 49.
85. ebd. 132.
86. Sittlichkeit 7.

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Freiheit von jedem Gesetz, ausbalancieren mit der selbstherrlichen Gemeinschaftsordnung des Staates. Ähnlich wie Sohm die formelle Freiheit des Christen mit der Autorität des Lehrbegabten mittels des Begriffes der Liebespflicht in Einklang brachte, so läßt er jetzt sittliche Freiheit des Einzelnen und Staatsraison liberal sich ausgleichen. Zweifellos konnte Klein nirgendwo einen stärkeren Anwalt gegen die römische Verrechtlichungstendenz finden als in Sohm. Doch muß man fragen, ob Sohm wirklich der Antipode gegen jene ist. Steht nicht einfach der autonome Sohm gegen die autonome Kirche von Rom? Ist die Verwirklichung des Christlichen evangelisch so zu beschreiben, wie Sohm es mit seinem Verständnis des Sittlichen tut? Es ist der im Schema des Verständnisses des Christlichen als Religion aufgefaßte Glaubende, also die autonome sittliche Persönlichkeit, die einerseits den Staat als Zwangsgemeinschaft und andererseits die Kirche als freigeistige Gesinnungsgemeinschaft und schließlich die Gerechtigkeit und Freiheit als Telos des Staates und als Rechtfertigung seines Zwangscharakters fordert. Religiöse Rechtfertigung des allein staatlicher Obhut zuständigen Rechtes und der Auschluß alles Rechts aus der Religion ergeben sich aus dem Postulat der sittlichen Persönlichkeit: im Staat erlangt sie die Garantie ihrer sittlichen Freiheit, in der Kirche verlangt sie den Respekt vor ihrer sittlichen Autonomie.

 

F. Die Folgerungen des späten Sohm: Die Macht und Ohnmacht des Wortes Gottes

 

Hatten wir oben die Korrelation von Wort und Recht nach Kirchenrecht I dargestellt (II D), so müssen wir jetzt den Wortbegriff Sohms in Kirchenrecht II und zwar in seiner Beziehung zur Predigt, zur kirchlichen Ordnung und zur Welt bestimmen. Hier stoßen wir auf die letzte Schranke des Sohmschen Systems.

 

1. Gottes Wort und kirchliches Wort

Sohms Überzeugung, daß Gottes Wort Gläubige gebiert1, soll in Kirchenrecht II abgesichert werden wider das Mißverständnis, als sei selbstverständlich und undialektisch das Wort der sichtbaren Kirche eben jenes Gläubige gebärende Wort. Indem nun Sohm, wie wir sahen, sichtbare und unsichtbare Kirche voneinander löst, werden zugleich


1. Kirchenrecht I, 487.

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Wort und Sakrament der sichtbaren Kirche von dem Gläubige gebärenden Gotteswort distanziert und zur religiösen Unverbindlichkeit, zu Wort und Bekenntnis der christlichen Welt degradiert2. Das wahre Gotteswort ist nicht etwa nicht im Besitz der sichtbaren Kirche, sondern im Besitz der unsichtbaren Kirche3. So stehen sich die beiden Reiche der unsichtbaren Kirche und der christlichen Welt vollkommen voneinander getrennt gegenüber, und so auch das Gläubige schaffende, wahre religiös verbindliche Wort im Besitz der unsichtbaren Kirche und das religiös unverbindliche Wort der als christliche Welt zu bezeichnenden sichtbaren Kirche. Ein dünner Fäden hält beide noch zusammen, die Tatsache nämlich, daß das im Besitz der unsichtbaren Kirche befindliche, wahre Wort als Lebenszeichen der unsichtbaren in der sichtbaren Kirche offenbar wird4. Wie man leicht sieht, hat Sohm im Hinblick auf eine Reformationsmöglichkeit der sichtbaren Kirche resigniert; aber doch wohl auch im Hinblick auf die Macht des Wortes Gottes. Daß das Wort der Kirche nur indirekt mit Gottes eigenem Wort, mit Gott in seinem Wort identisch ist, das ist wohl richtig. Die sichtbare Kirche „besitzt” Gottes Wort nicht. Insofern Sohm dies auch sagt, muß man ihm recht geben. Aber meint er Gottes eigenes Wort, wenn er von ihm behauptet, es sei im Besitz der unsichtbaren Kirche? Die Ekklesia des NT ist creatura verbi divini. Besitzt die Kirche das Wort Gottes, und ist sie in der Lage, seinen Inhalt festzulegen, etwa so, daß es nur auf das Innere zielt5, dann ist freilich eine andere Möglichkeit als die, an seiner die Welt verwandelnden Macht zu zweifeln, nicht gegeben.

 

2. Wort und Ordnung

Auch daran, daß Gottes Wort die Kirche ordnet, hat Sohm resigniert. Daß Gottes Wort die Macht hat, die Kirche zu ordnen, das war geradezu Eckpfeiler des Beweisganges in „Kirchenrecht” I gewesen: „Die Lehre von der kirchlichen Ordnung muß ein Teil der Entfaltung und Lehre des Gotteswortes sein”6. „Das Regiment gerade in der sichtbaren Kirche besteht allein in der Predigt des Evangeliums”7. „Das Reich Gottes . . ., die Kirche Gottes hat eine gottgegebene Ordnung durch die charismatische Organisation . . ., eine Ordnung, welche ihre Verwirklichung in der Christenheit fordert”8. In „Kirchenrecht” II aber lesen wir, daß die


2. Kirchenrecht II, 137.
3. ebd. 131.
4. ebd. 130.
5. Kirchenrecht I, 487.
6. ebd. 23.
7. ebd. 468.
8. ebd. 495.

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Kirchenordnung „bloß menschliche, religiös gleichgültige Ordnung ist”9 — weil ja infolge der Nichtidentität von sichtbarer und unsichtbarer Kirche und folglich der Worte beider die sichtbare Kirche nur unverbindliche, menschliche Worte reden und Ordnung setzen kann. Soll solche Ordnung rechtlich verbindlich sein, ist das Sache des Staates.

Schon in „Kirchenrecht” I kann man den Ansatz der späteren Resignation spüren. Fällt die dort obwaltende Beziehung zwischen Ekklesia (Wesen) und Versammlung (Erscheinung), werden beide voneinander distanziert, so kann die Verbindlichkeit des Gotteswortes für die Ordnung der Kirche „auch und gerade” in der sichtbaren Kirche10 nicht aufrechterhalten bleiben. Erstreckt sich schon nach „Kirchenrecht” I, 487 die Wirkung des Wortes „nur auf das Innere (Ewige, Himmlische)”, so ist klar, daß das im Besitz der unsichtbaren Kirche befindliche Wort Gottes schließlich gar keine irdische, verbindliche Ordnung schaffen kann.

 

3. Wort und Welt

Schließlich mußte Sohm vor der Weltförmigkeit der sichtbaren Kirche kapitulieren, weil er nicht daran festhielt, daß das Wort die Welt verwandelt. Wie klar hatte Sohm in „Kirchenrecht” I noch von der Herrschaft Gottes in der „Kirche in der Welt” geredet: „Gerade auch in der äußerlich wahrnehmbaren, sichtbar werdenden Kirche” dürfe „keine andere Herrschaft als Gottes Herrschaft sein”11; in der Kirche kann nur „in Gottes Namen”, d.h. nur „durch das Mittel des Wortes . . ., nicht durch das Mittel rechtlicher Gewalt” regiert werden12.

Nun meint Sohm zu sehen, daß es eine äußerlich sichtbare Kirche, die durch Gottes Wort regiert wird, nicht gibt. Konsequent erklärt er, die äußere Christenheit sei Welt13 und als ein Stück Welt der Obrigkeit Untertan. „Sie ist durch die weltliche Obrigkeit verfaßt und wird durch die weltliche Obrigkeit regiert”14. Wieder kann man vom Ende her sehen, wie in „Kirchenrecht” I schon der Anfang steckt. Schon dort lehrt Sohm15, daß Staat und sichtbare Kirche sich in zwei ganz verschiedenen Ebenen bewegen, jener in dem Reich des Irdischen, diese allein in dem Reich des Himmlischen. „Gerade weil es sich in der Kirche nur um eine Gemeinschaft himmlischer Güter und in der Übung von Kirchengewalt nur um die Mitteilung himmlischer Güter handelt, ist es unmöglich, daß


9. Kirchenrecht II, 142.
10. Kirchenrecht I, 465.
11. ebd. 468.
12. ebd. 542.
13. Kirchenrecht II, 140.
14. ebd. 143.
15. Kirchenrecht I, 487.

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Staat und Kirche irgendwie zusammentreffen und miteinander in Streit geraten”16. Man muß das „allein” und das „nur” aus diesen Sätzen heraushören, um die später gezogene Konsequenz zu verstehen: Die unsichtbare Kirche, die sich laut „Kirchenrecht” I im Reich der Himmel bewegt, hat keine weltlichen Angelegenheiten17. Was einst gerade von der sichtbaren Kirche galt, das ist jetzt auf die unsichtbare Kirche bezogen. Auch hinter der Resignation gegenüber der Weltförmigkeit der Kirche steckt wieder die Resignation am Worte Gottes: Wer lehrt, daß sich das Wort von vornherein nur auf das Innere bezieht, der wird später alles Äußere ausdrücklich einer anderen Macht neben dem Wort unterstellen müssen.

 

4. Zusammenfassung

Sohm hat die Kirche im Auge, die Gottes Wort in eigene Regie nimmt. Er will sie zur Buße rufen. Wenn aber Buße der Stand unter dem Wort ist, so kann der Kirche, die sich am Worte Gottes vergeht, nur durch das Wort selber geholfen werden. Hätte Sohm dies sehen können, so hätte er deutlicher von diesem Wort reden müssen. Zwar versuchte er, die Kirche auf Gottes eigenes Wort, von dem sie lebt, hinzuweisen; aber er kam nicht los von dem formalisierten Wortbegriff, in dem das Wort Gottes gleichsam der habitus des wahrhaft protestantischen Menschen ist. Er redete die Kirche auf dieses Wort an. Als sie es nicht hören wollte, resignierte er an ihr und an ihm.

Innerhalb seines Verständnisses des Christentums als Religion faßte Sohm Gottes Wort auf als das Ende des Kirchenrechtes und verstand Luthers Kampf als Kampf gegen das Recht in der Religion. Aber Luther hatte doch gerade erfahren, daß Gottes Wort die Krisis aller Religion bedeutet. Daher kämpfte er auch gegen die Religion im Recht. In der Radikalität und Konsequenz der Sohmschen Konzeption gegen das Recht in der Religion lebt formalisiert und eingeengt Luthers Kampf gegen die Religion und so auch gegen die Religion im Recht weiter. Ein erneuertes Verständnis des Wortes Gottes kann also sichtbarmachen, daß Sohms Kampf gegen das Kirchenrecht nicht das letzte Wort bleiben darf; daß wir von dem Kampf gegen die Religion im Recht dispensiert wären, ist damit allerdings nicht gesagt.

So fordert Sohm ein neues Verständnis des Wortes Gottes heraus. So wie sich in seinem System das Wort, das sich lediglich auf das Innere, Sittliche bezieht, mit einer Luthervorstellung verband, in der der Reformator alles Äußerliche überlegen preisgab, und konsequenterweise mit einem Rechtsbegriff verknüpfte, der Korrelat des vom Worte preisgegebenen


16. ebd. 487.
17. ebd. 487 f.

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Äußeren war, muß unser Wortverständnis umgekehrt davon ausgehen, daß Gottes Wort in sich selber Gottes Recht ist. Damit ist klargestellt, daß Gott unser Herr und so unser Gegenüber wird und bleibt und mit uns verbindlich redet und handelt. Ist damit verwehrt, das biblische Zeugnis in Religion aufzulösen, so ist auch ausgeschlossen, daß wir das Wort Gottes nur auf die Innerlichkeit beziehen und ihm alles Äußerliche, das Leibliche entziehen. Freilich, dieses Recht ist das Gottes Wort inhärente Recht, das ebensowenig wie Gottes Wort selbst der Kirche oder dem Menschen verfügbar wird. Ja, Gottes Recht partizipiert nicht nur an der Unverfügbarkeit des Wortes Gottes, sondern bringt diese auf den schärfsten Ausdruck: Gottes Wort ist unverfügbar, weil sich in ihm Gottes Recht irdisch durchsetzt.

Wie verhält sich nun dieses Gottesrecht zu dem „Kirchenrecht”? Auf keinen Fall kann es sich darum handeln, daß im Kirchenrecht Gottes Wort nun doch verfügbar wird. Man wird zunächst sagen müssen: Die Kirche ist das von Gottes Wort und Recht getroffene und beide bezeugende Gegenüber Gottes. So wahr Gottes Wort erst begriffen wird, wenn man es in seiner Unverfügbarkeit anerkennt, so wahr erkennt man Wesen und Analogielosigkeit der Kirche erst dann, wenn man sie als hörendes und bezeugendes Gegenüber dieses Wortes und Rechtes Gottes auffaßt. In diesem Sinne ist die Kirche das Gottes Recht unterstellte Volk Gottes. In ihr gilt Gottes Recht. Das heißt einmal, daß Gottes Wort in ihr immer wieder Gottes Herrschaft aufrichtet und daß die versammelte Gemeinde im Heiligen Geist diese Herrschaft immer wieder anerkennt. Zum anderen heißt das, daß die Kirche die von Gott in seinem Wort verbindlich gemachten Weisen seiner Rechtsaufrichtung als positive Anordnungen im Sinne des Gottesrechtes gelten zu lassen hat: die Einverleibung des Einzelnen in den Christusleib im Geschehen der Taufe; die Konstituierung des Christusleibes durch das Geschehen des Abendmahles; die Proklamation der Herrschaft Gottes in der Predigt einschließlich der Botschaft gnädiger Vergebung über dem seine Schuld bekennenden Sünder.

Fragt man nun weiter nach dem in der Kirche geltenden vom Gottesrecht zu unterscheidenden Recht, und macht man etwa geltend, daß das NT Belege für das Streben nach und die Aufrichtung von Normen und formalen Autoritäten enthält, so muß man zunächst auf die oben in Auseinandersetzung mit Schlier und Sohm ausgesprochene These zurückverweisen, daß die Rechtsphänomene des NTs nicht positivistisch, sondern kerygmatisch verstanden werden müssen, also in ihrer historischen Bedingtheit und im Blick auf die Tatsache, daß die älteste Christenheit mit ihnen versuchte, am Gottesrecht angesichts bestimmter drohender Gefahren festzuhalten. Es gibt keine echte Schriftgemäßheit im Formalen; aber die Beobachtung der „Formgrößen” des NTs in ihrem Zusammenhang

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mit dem Kerygma als der Mitte der Schrift gehört mit zu der Treue gegenüber der Schrift. Die kirchlichen Entscheidungen des NTs sind für uns Zeugnisse, aber nicht kopierbare Mustersatzungen18. Die Aufrichtung des Rechtes Gottes ist Mitte des Kerygmas und der Ordnung des NTs.

So wird das Recht der Kirche im Sinne eines anderen Rechtes als des Gottesrechtes bestimmt sein von den Aufgaben der Kirche als des Gegen-übers Gottes: einerseits im Blick auf die in Gottes Wort festgesetzten Weisen seiner Herrschaft in „Wort und Sakrament”; andererseits im Blick auf die geistliche und leibliche Fürsorge ihrer Glieder; schließlich im Blick auf die Gemeinschaft der Christen und der Gemeinden untereinander und ihrer Dienste. Dieses von den Christen um des Dienstes und der Aufgabe der Kirche an der Welt und den Getauften willen zu schaffende Recht muß vor allem sachgemäß, zweckentsprechend und variabel sein. Es ist insofern ein eigenes Recht, als es von der Kirche im Blick auf das besondere Sein und die besonderen Aufgaben der Kirche fixiert ist, nicht etwa, weil es keine „weltlichen Formgrößen” enthalten dürfte. Schließlich kann die Kirche nicht daran vorbei, sich in irgend einem Sinne gegenüber der öffentlichen Gewalt und der nichtkirchlichen Gesellschaft zu definieren bzw. definieren zu lassen. Das hierbei entstehende Kirchenrecht ist der Kirche „angesonnenes” Recht19, das nach Epochen, Landschaften, Ideologie der staatlichen Machthaber und Selbstverständnis des jeweiligen kirchlichen Verbandes verschieden ist. In ihm spricht sich das Wesen der Kirche nicht aus. Trotzdem darf man nicht aus einer fragwürdigen „Überlegenheit” heraus20 die Arbeit an diesem Recht dem Staat überlassen. Das Interesse der Kirche muß auch hier wach sein, wie die Erfahrungen der Kirche im 3. Reich und in der Gegenwart beweisen. Daß die Zugehörigkeit zur Kirche im Sinne des Gegenstandes staatlicher Gesetzgebung nicht über die Zugehörigkeit zur Kirche Christi als des Herrschaftsbereiches Gottes, in dem Gott in seinem Recht anerkannt wird, entscheidet, ist ebenso mit Sohm festzuhalten, wie man gegen ihn betonen muß, daß das Leben in jenem Herrschaftsbereich Gottes meine Existenz in der „Kirche in der Welt” bedingt.

Im Staats-Kirchenrecht akkomodiert sich die Kirche formal dem weltlichen Recht. In ihrem eigenen Kirchenrecht spricht die Kirche sich von ihrem Wesen her im Blick auf ihre Aufgaben aus und bezeugt so als Christengemeinde der Bürgergemeinde, daß sie, ohne dem weltlichen Recht die Gültigkeit abzusprechen, doch nicht ihm, sondern dem Recht Gottes untersteht. Im Gottesrecht setzt Gott sich irdisch durch und schafft die ihm gehorsame Welt. Dieses Recht wird verkündigt. Wo es verkündigt und anerkannt wird, da ist Kirche.


18. E. Schweizer, Gemeinde und Gemeindeordnung im NT, 1959, S. 7ff.
19. s.o. Anm. 30 zu II A.
20. Kirchenrecht I, 481. Vielleicht hat sich in solch fragwürdiger Redeweise Sohms etwas von dem Pathos Luthers erhalten, daß der Christ nur Bürger eines Reiches ist.