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Zweiter Teil: Sohms neutestamentliche Exegese

 

Die Einzelanalyse von Kirchenrecht I c. 1. („Das Urchristentum”) soll Sinn und Grenze der Sohmschen Position (in der Reihenfolge seines Aufrisses) dartun.

 

A. Die Ekklesia als analogielose Größe

 

Sohm hat dem Kirchenbegriff des Urchristentums eine prinzipiell-beherrschende Rolle als Maßstab der ganzen Kirchenrechtsgeschichte zugewiesen. Darin liegen bleibende, wenngleich angefochtene1 Verdienste, insbesondere die Zersetzung der bis auf Sohm herrschenden2, auch heute noch nicht überall preisgegebenen Lehre von der Kirche3. Der Kirchenbegriff, der den Kirchenrechtsbegriff zu bestimmen hat, lautet: Das Wesen der Kirche ist geistlich4.

 

1. Die Beweisführung

a) Sohm gewinnt seinen Kirchenbegriff5 durch Rückgriff auf den Sprachgebrauch des klassischen Griechisch (Ekklesia = regierende Volksversammlung des Freistaates; also nicht = Verein), der LXX (Ekklesia = das feierlich vor Gott versammelte Volk Israel) und des Spätjudentums (Ekklesia ist die Gemeinde der von Gott zum Heil Gerufenen im Unterschied zur Synagoge als dem an irgendeinem Ort konstituierten Gemeindeverband), sowie im Blick auf das NT durch die Beobachtung, daß dort der Begriff Ekklesia ohne Rücksicht auf die Größe der


1. Schott, ThLZ 1954, Sp. 462f.: „Das evangelische Kirchenrecht ist eine Funktion nicht des Kirchenbegriffes, sondern der Zuordnung von Geistlichem und Weltlichem und damit eine Funktion der Geschichte, also eine echte Variable . . . Der entscheidende Fehler der Sohmschen Aporie liegt demnach nicht im Kirchenbegriff oder im Rechtsbegriff, sondern in ihrer Zeitlosigkeit.” Gesteht man das zu, so sind dennoch mit solcher Rückführung der Sohmschen Aporie auf den „entscheidenden” systematischen Fehler seine historischen Aufstellungen noch nicht erledigt.
2. Den Abbau der von Ritschel beeinflußten Kirchenidee durch Sohm hat zuerst Seil, Forschungen der Gegenwart, 14-16, dann Linton, Urkirche 1 ff., dargestellt; vgl. E. Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie V, 145-231.
3. W.M. Plöchl, Geschichte I, 40 f., postuliert weiterhin für die Urzeit ohne Bedenken einen „Körperschaftsbegriff”; vgl. v. Campenhausen, Begründung 5 u. Anm. 1.
4. So schon Kirchenrecht I, S. X.
5. Kirchenrecht I, 16 f. u. Anm. 2-4.

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Versammlung bald auf Stadt-, bald auf Hausgemeinden angewandt wird und zumeist eine Näherbestimmung (etwa durch den Genitiv τοῦ θεοῦ bei sich führt.

b) Interpretation und Zuspitzung. Ekklesia als geistliche Größe bedeutet zunächst das neutestamentliche Volk Gottes6 und meint in diesem Sinn „keine bestimmte empirische Größe, keinen sozialen Begriff”, „sondern lediglich ein dogmatisches Werturteil”7. Diesen Sachverhalt legt Sohm sich mit dem gebräuchlichen8, allerdings charakteristisch nuancierten Begriffspaar Wesen und Erscheinung zurecht. Die konkrete Versammlung ist nicht etwa „nur” Erscheinung der Ekklesia, also deren substantiell geminderte, ohne Schwierigkeit als Rechtseinheit denkbare irdische Abschattung, sondern als erscheinende Ekklesia etwas anderes als Rechtseinheit bzw. soziales Gebilde. Der aufgewertete Begriff der Erscheinung tut also dar, daß die Ekklesia der Ebene soziologischer Betrachtung entnommen ist. Folgerichtig erhält sie in Antithese zu „(rechtlicher Orts-) Gemeinde” den unjuristischen Titel „Versammlung”. Jede solche Versammlung ist als Erscheinungsform der Gesamtgemeinde von dieser grundsätzlich ununterscheidbar9. Das hat die Konsequenz, daß jede, nicht nur die ortsgemeindliche Versammlung, alle „geistlichen Handlungen” (Taufe, Abendmahl, Wahlakt) vollziehen kann10, ja, daß wie die Idee der Ortsgemeinde als eines rechtlich konstituierten Gemeindeverbandes so auch deren Organisation gar nicht vorhanden ist11, ohne daß damit die Existenz von „Hauptversammlungen” an einem bestimmten Ort bestritten wäre12. Sohm will nicht sagen, daß die Ekklesia hinsichtlich ihrer Phänomenalität ausfällt — daß sie sich irdisch manifestiert, wird ja durch den Begriff der Versammlung festgehalten —, sondern daß es nur die Ordnung der Ekklesia gibt, nicht der Versammlung als solcher.

 

2. Prüfung

Sohm erblickt die Analogielosigkeit der Ekklesia darin, daß sie unfähig ist zu rechtlicher Gemeindebildung. Es ist zu bestreiten, daß


6. ebd. I, 18.
7. ebd. I, 19.
8. Vgl. dazu Hirsch, V, 149, 152; Heckel, Lex 13: die seit Puchta in der Kirchenrechtsgeschichte gängige Unterscheidung zwischen rechtsfreier Glaubenskirche und rechtlich verfaßter Rechtskirche hatte den kirchenrechtlichen Positivismus begünstigt.
9. Kirchenrecht I, Anm. 19.
10. ebd. 21, 68, 121 und Anm. 83; 193 ff. und Anm. 5 ff. Zu den von Sohm genannten Stellen vgl. heute O. Cullmann, Gottesdienst 10, Anm. 14.
11. Kirchenrecht I, 21 f.
12. ebd. 21, Anm. 18.

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damit die Analogielosigkeit der Gemeinde, der Ekklesia, zutreffend beschrieben ist.

a) Der erste Handgriff Sohms besteht in der Unterscheidung zwischen soziologisch-empirischer und theologischer Betrachtung der Kirche. Sohm hat sie von Schürer13 übernommen, aber zugleich modifiziert. Schürer vermutete, daß das Spätjudentum zwischen Synagoge und Ekklesia in der Art zweier Betrachtungsweisen differenziert habe: dieselbe Versammlung werde einmal rein empirisch als ein irdisches Phänomen unter anderen Synagoge, das andere Mal im Blick auf ihr Selbstverständnis feierlich Ekklesia genannt14. Weil nun im NT der Begriff Synagoge nicht auf die christliche Gemeinde angewandt wird15, die Christenversammlung vielmehr Ekklesia heißt, folgert Sohm, daß „nicht ihre tatsächliche Gestalt (ob viele, ob wenige), sondern ihr geistlicher Wert ausgedrückt” wird, nämlich daß es sich um die Versammlung des Gottesvolkes handelt16. Dabei verschiebt er den Akzent. Denn war die spätjüdische Ekklesia nach Schürer immer auch Synagoge, d.h. als ideale Gesamtgemeinde zugleich örtlicher Gemeindeverband, so postuliert Sohm, „daß das Wort Ekklesia keine bestimmte Größe, keinen socialen Begriff . . ., sondern lediglich ein dogmatisches Werturteil ausdrückt”17. Aus dem inklusiven „zugleich” Schürers wird das exklusive „lediglich” Sohms.

b) Zweitens bedient sich Sohm des Begriffspaares Wesen und Erscheinung. Daß es der Aufwertung des geistlichen Charakters der Ekklesia dient, wurde bereits hervorgehoben. Nun muß beachtet werden, daß es wie immer schillert18: das Wesen ist ganz in der Erscheinung, geht aber dennoch nicht einfach in ihr auf. Daher kann Sohm einmal Erscheinung und Wesen der Ekklesia bis zur Identität beider aneinanderrücken: „es gibt . . . nur Versammlungen”19; ein andermal kann er sie mit den Worten einander zuordnen, daß die Ekklesia „sichtbar und wirksam in allen Versammlungen der Christenheit” ist20; und


13. Schürer, a.a.O. II, 362, Anm. 248.
14. Der Passus, den Sohm, Kirchenrecht I, 18, Anm. 5, zitiert, lautet bei Schürer: „. . . das spätere Judentum scheint . . . einen Unterschied im Gebrauch beider Begriffe gemacht zu haben, und zwar in der Art, daß synagoge mehr die Gemeinde nach der Seite ihrer empirischen Wirklichkeit, ekklesia mehr dieselbe nach ihrer idealen Bedeutung bezeichnete, synagoge ist der an irgendeinem Orte konstituierte Gemeindeverband, ekklesia dagegen die Gemeinde der von Gott zum Heil Berufenen, namentlich wie kahal die ideale Gesamtgemeinde Israels —; synagoge drückt nur einen empirischen Tatbestand aus, ekklesia aber enthält zugleich ein dogmatisches Werturteil.”
15. Jak 2, 2 hat Sohm, so weit ich sehe, nicht zitiert.
16. Kirchenrecht I, 18.
17. ebd. 19; „lediglich” von mir gesperrt.
18. vgl. Hirsch, Geschichte, V, 152; R. Eisler, Wörterbuch der philosophischen Begriffe s. v. Erscheinung.
19. Kirchenrecht I, 66.
20. ebd. 22; „in” von mir gesperrt.

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endlich distanziert er sie voneinander erheblich, indem er davon spricht, daß die Versammlung, die Christenheit, Forderungen an die Ekklesia richten kann21. Diese letzte Wendung ist ein Beleg dafür, daß Sohm gelegentlich aus der Rolle fallen konnte. Was ist hier unter Ekklesia verstanden? Und wer ist für das Fehlen des Rechtes verantwortlich? Ist es die Ekklesia in ihrem Wesen — wozu dann noch jene Forderung? Ist es aber die Christenheit, so ist das Wesen von der Erscheinungsform aus bestimmt. Dann redet Sohm an dieser Stelle von menschlichen Wünschen bezüglich eines bestimmten Kirchenideals. Das Wesen der Ekklesia hinge also am menschlichen Wunsch, wäre Produkt menschlicher Forderungen und Ideale. Aber auch abgesehen von solcher Erwägung ist das idealistische Begriffspaar wenig geeignet, den mit Ekklesia gemeinten Sachverhalt adäquat zum Ausdruck zu bringen, vor allem weil dabei die Ekklesia statt des Herrn als wirkende Größe verstanden wird (die Konsequenz, die sich daraus ergibt, s.u. III D, 2). Wären Sohms Gedanken sowohl um Phänomenalität und Selbstverständnis der Kirche als auch um das Geschehen der Wortverkündigung in ihr gekreist, so hätte er aus dem Begriff der Ekklesia nicht — wie mittels des Begriffspaares Wesen und Erscheinung — ihre Rechtlosigkeit folgern können22, ohne ihre Analogielosigkeit preisgeben zu müssen.


21. ebd. 28.
22. Vgl. H. Diem, Rez. Hildebrandt 1956: „Im NT ist die Erscheinung der Kirche in einer konkreten Einzelgemeinde ein Ereignis, nicht die Manifestation eines ,Wesens’ oder der ,Natur’ der Kirche, sondern das Geschehen der Versammlung Gottes, die durch Jesus Christus geschieht”; vgl. Conzelmann, RGG 1,3. Aufl., Sp. 336.
Was Sohms Verständnis von Matth 18, 20, eines Verses, den Sohm „geradezu sektiererisch verstanden” hat (Klein, Normierung 25), betrifft, so läßt sich dreierlei ausmachen:
Erstens: es handelt sich nach Sohm um einen Fundamentalsatz urchristlichen Kirchenbewußtseins, der allgemeine Geltung besaß. Der Widerspruch zwischen Ekklesia als der Bezeichnung für die eine neutestamentliche Volksversammlung und der für jede einzelne Ekklesia, sie sei groß oder klein, löse sich, wenn man sich klar mache, daß Ekklesia kein sozialer Begriff sei, sondern dogmatischer, aus dem Glauben stammender Titel, der den geistlichen Wert jeder Christenversammlung ausdrücke. Dies eben werde durch Matth. 18, 20 belegt und gefolgert: Wo der Herr, da ist die Christenheit mit allen ihr zuteil gewordenen Verheißungen. „Daher der früh sprichwörtlich gewordene Satz: ubi tres, ibi ecclesia” (So der Gedankengang I, 18 f.).
Zweitens: es handele sich um einen angeblich urchristlichen Satz. Sohm tut die Hatch-Harnacksche Vermutung, hier handele es sich um das gesetzliche Minimum des römischen Kollegiums (Gesellschaftsverfassung 124), ironisch ab: „Man sieht, es läßt sich für alles Christliche mit Leichtigkeit sein Ursprung aus dem Heidnischen nachweisen”, KR I, 20, Anm. 15).
Drittens übersetzt Sohm εἰς τὸ ἐμὸν ὄνομα mit „in meinem Namen”.
ad 1) Nach Sohm besagt Matth. 18, 20 etwa: nicht meine Teilhabe an der Großkirche, sondern an dem Versammeltsein in Christi Namen entscheidet darüber, ob ich Christ und in der Ekklesia bin. Denn die Ekklesia ist Versammlung des Gottesvolkes, nicht aber organisierte Institution. Das Kirchlein der zwei oder drei ist Korrektiv gegenüber der Großkirche und bleibende Erschütterung ihrer Selbstsicherheit.
Man mag dagegen zunächst den Zusammenhang anführen, in dessen Rahmen der ➝

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c) Denn der Nachweis Sohms, daß die Kirche eine analogielose Größe ist, ist ja nicht zu bestreiten. Und auch seine Reduktion des urchristlichen Kirchenbegriffs auf den der Ekklesia setzt ihn nicht von vorneherein ins Unrecht. Zwar hat die Forschung inzwischen die Einheitlichkeit des Kirchenbegriffs des NTs bestritten23, die verschiedenen urchristlichen Selbstprädikationen aufgewiesen und voneinander abgehoben24 und den Ekklesiabegriff wie die anderen Theologumena von der Kirche und ihrer Eigenart deutlicher erfaßt25, so daß man nicht


➝ Vers sagen will: Die identische Bitte aller wird sicher gewährt, denn nicht einmal bei zweien oder dreien fehle ich (so schon Merx z. St.; ähnlich Schoch, Weisung). Indessen haben wir ja ein Sprichwort vor uns, das auch in seinem eigenen Sinn abgesehen von dem Zusammenhang verstanden werden muß. Es redet von der Freiheit des Gottesdienstes von der Zahl (Schlatter, Matth. z. St.), wie das Judentum es schon tat (so schon B. Weiss, Komm. z. St.). Weiter wird man auf die Mühe hinweisen, die Paulus aufwandte, um die örtlichen Ekklesien miteinander zu verbinden und im Zusammenhang mit Jerusalem zu halten (Bultmann, NTTh 92-94), was zwar nicht gegen die Präsenz Christi in der kleinsten Hausgemeinde, aber doch dagegen spricht, diese letztere gegen fester umgrenzte und größere Versammlungen und den irdischen Zusammenhang der Ekklesien auszuspielen.
Oder darf man vermuten, daß unser nur von Matth. tradiertes Logion den bewußten Gegensatz einer verschollenen, frühen judenchristlichen Gruppe gegen die werdende Großkirche und deren Ansprüche formuliert? Dann hätte Sohm für selbstverständliche Regel gehalten, was in Wahrheit umkämpfte und schließlich verlorene Position, aber nicht das Normale und allgemein Geltende war.
Wenn Schoch gegen Sohms These von dem ungreifbaren, momentanen Dasein der Kirche den Vers ein Zeugnis „für die über den Kreuzestod hinausdauernde, gewiß sich erneuernde Gegenwart Jesu Christi als Herr der Seinen” nennt (Weisung, 30 f.), so ist das um den entscheidenden Punkt herumgeredet; und die Berufung auf E. Schweizer (Leben des Herrn) verleiht deshalb keinen Nachdruck, weil die dort angeführte, für die Kontinuität der Gemeinde bürgende Treue Gottes nicht undialektisch für die kirchliche Institution in Anspruch genommen werden darf. Matth. 18, 20 redet nun einmal von der Treue Gottes, genauer: von der Präsenz Christi nicht in der Großkirche, sondern in der kleinsten Gemeinde bzw. der Versammlung dreier Christen.
ad 2) Daß Matth. 18, 20 ein genuin christlicher Satz sei, darf man nicht mehr behaupten. Er ist eine im Lichte des österlichen Glaubens an den Auferstandenen christianisierte rabbinische Sentenz.
ad 3) εἰς τὸ ὄνομα ist als Übersetzung des hebräischen le schem bzw. le schum aufzufassen und durch „mit Rücksicht auf”, „um des Namens willen” zu übersetzen (Schlatter, Der Evangelist Matthäus z. St.; Schniewind, Das Evangelium nach Matthäus 557; Bietenhard, ThW V, 274, 14 f.); „in meinem Namen” ist also keine zutreffende Übersetzung. Nach Kirchenrecht I, 493 will Sohm diese verstanden wissen als eine Versammlung „um sein Wort”. Auf später Auszuführendes vorgreifend ist dies wiederum zu verstehen als Versammlung zu dem Zweck, einen Charismatiker = christliche Persönlichkeit und dessen geistliche Rede zu hören. Man versteht Sohms Interesse an dem Vers, wenn man ihn von Sohms Geist- und Autoritätsbegriff aus versteht.
23. Vgl. schon den berühmten Aufsatz Holls über den Kirchenbegriff.
24. Schon Harnack hatte die urchristlichen Selbstbezeichnungen zusammengestellt, Mission und Ausbreitung, 1. Aufl. 1902, S. 250.
25. Vgl. die Literatur, die zusammengestellt ist bei K.L. Schmidt, ThW III, 502, Anm. (bis 1932) und bei F.M. Braun (bis 1946); ferner Bultmann, NTTh; Schweizer, Geist und Gemeinde; Oepke, Gottesvolk; Kümmel, Anfänge; Moe, Urchristentum; Elert, Abendmahl; Schlier, Zeit der Kirche; Linton, Urkirche; RGG III, 3. Aufl., 1297 ff.

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mehr wie Sohm davon ausgehen kann, daß ausschließlich der Begriff der Ekklesia die Urzeit beherrscht habe26. Aber damit ist die Analogielosigkeit der Ekklesia nur noch deutlicher geworden. Freilich, nicht weil man sie als rechtlose, sondern weil man sie als eschatologische Größe versteht. Diese Sicht war Sohm verdeckt. Er verstand unter „eschatologisch” so viel wie „zukünftig”27. So ist Sohm also der Vorläufer moderner Fragestellung hinsichtlich des urchristlichen Kirchenbegriffes28; zugleich aber ist ersichtlich, daß er nicht zu dem letzten und tiefsten Punkt der Analogielosigkeit der Kirche vorstoßen konnte29. Denn indem Sohm die Ekklesia als rechtlose Größe verstand, wollte er sie zwar als analogielose, als Größe sui generis beschreiben. Doch beschrieb er ihre Analogielosigkeit nur im Vergleich mit jedwedem Rechtskörper, aber nicht auch im Vergleich mit jedwedem religiösen Geschehen. So erkannte er die Ekklesia nicht radikal als analogielose Größe. Doch weist seine Konzeption in diese Richtung. Versteht man die Ekklesia als Größe sui generis im radikalen Sinn, nämlich als eschatologische Größe, so wird ihre Verschiedenheit von Rechtskörpern und religiösem


26. Kirchenrecht I, 15, 16, 21. Im Verlaufe von Kirchenrecht I bezieht sich Sohm außer auf das Corpus Paulinum noch auf Acta, Jak, Apk und die beiden berühmten Stellen bei Matth. In Gratian 68 ff. identifiziert er ausdrücklich den paulinischen Begriff der Ekklesia als den ältesten uns erreichbaren mit dem urchristlichen Kirchenbegriff überhaupt. Vgl. die folg. Anm.
27. Das hat Sohm in seiner Auseinandersetzung mit Rieker in Gratian 68 f., Anm. 9, gesagt: „Wenn . . . Rieker . . . die Kirche des Urchristentums . . . für eine eschatologische Größe erklärt (sie sei das Volk, welches erst künftig, in der Endzeit, zu dem von Gott regierten Volke zu werden bestimmt sei), so dürfte das schwerlich Zustimmung finden können. Nach Rieker bedeutet der paulinische Begriff der Kirche als des Leibes Christi, als des Volkes, welches schon gegenwärtig durch Christum und damit durch Gott regiert wird, eine „sehr wichtige und folgenschwere Modifikation” des urchristlichen Kirchenbegriffs. Aber der eschatologische Kirchenbegriff Riekers beruht nur auf geschichtlicher Konstruktion. Aus urchristlichen Quellen kann er nicht bewiesen werden. Das einzige, was wir aus den urchristlichen Quellen mit Sicherheit entnehmen können, ist der paulinische Kirchenbegriff.” Vgl. Gratian S. 70.
28. Barion, Grundlegung 8 f., weist darauf hin, daß Sohm heute weithin „herrschende Lehre” geworden sei. Vgl. etwa K.L. Schmidt, ThW III, 508: „. . . nicht erst eine Addition von Einzelgemeinden (ergibt) die Gesamtgemeinde” (sondern jede Gemeinde stellt die Kirche dar).” „Wenn jemand in einer solchen Versammlung verachtet ist . . ., wenn man zusammenkommt in ihr . . ., wenn die Frau in ihr schweigen soll . . ., so ist nicht an die an einen Ort gebundene Gemeinde überhaupt gedacht.” Vgl. weiter Bultmann, NT 93: „(Es) ist die kirchliche Organisation primär aus dem Bewußtsein erwachsen, daß die Gesamtgemeinde vor der Einzelgemeinde besteht . . . Daß die Einzelgemeinde eine Erscheinung der Gesamtgemeinde ist, zeigt sich in der in den Eingangsgrüßen (der Briefe) mehrfach begegnenden Wendung . . .” Vgl. ebd. 39, 178 f., 440 ff.
29. Charakteristisch, wie Bultmann im Blick auf den gleichen Sachverhalt, der auch Sohm vor Augen war, den anderen Schluß zieht: „Darin, daß das Wort Ekklesia bald die Gesamtkirche, bald die Einzelgemeinde bezeichnet . . ., spiegelt sich der eigentümliche Doppelcharakter der eschatologischen Gemeinde; sie ist einerseits kein Phänomen der Welt, sondern gehört zum neuen Aion, und andererseits verkörpert sich diese eschatologische Gemeinde, die als solche unsichtbar ist, sichtbar in den einzelnen Gemeinden in der Welt.”

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Geschehen festgehalten. Wie sich aber die eschatologische Größe zum Recht, und zwar sowohl dem ihr von außen „angesonnenen”30 Recht, als auch zu dem in ihr geltenden Recht verhält, ist dann erneut eine offene Frage.

 

B. Die analogielose Autorität in der Ekklesia

 

Die Ekklesia ist eine „geistliche Größe”. Das bedeutet, daß sie „durch den Geist Gottes geführt, regiert” wird1. Folglich muß Sohm am Regiment über die Ekklesia ihren geistlichen Charakter und damit ihre Analogielosigkeit erhärten.

 

1. Der Gegensatz zwischen rechtlicher Befugnis und der Macht der Wortverwaltung

In Kirchenrecht I hat Sohm noch nicht seinen „Rechtsbegriff des Rechts” expliziert. Man tut daher gut, seine spätere Rechtssystematik nicht mit seinen früheren neutestamentlichen Forschungen zu verquicken. Die Argumentation verläuft folgendermaßen: Ist Christus das Haupt der Ekklesia, dann kann es in ihr Gewalt nur im Namen Christi geben2. Bezeichnenderweise macht Sohm im Anschluß daran keine allgemeine Behauptung über den Gegensatz zwischen der Hauptschaft Christi und dem Recht, zwischen Wort und Recht, sondern fragt speziell: „Ist es denkbar, daß ein Rechtssatz darüber entscheide, wessen Rede für die Kirche Gottes Rede sei?”3 Die Frage wird gestellt, um sie zu verneinen. Das Recht für solche Verneinung liefert Sohm eine kurze Gegenüberstellung von Rechtsbefugnis und Verwaltung des Wortes Gottes4. Jene ist formaler Natur; dieses ist nicht an seiner Form, sondern an seiner „inneren Gewalt” zu erkennen. Jene steht zu aufgrund bestimmter Tatsachen der Vergangenheit; dieses ist nicht zu garantieren durch formrichtige Wahl des Amtsträgers. Jener gegenüber gibt es nicht die Möglichkeit der Kritik; dieses will von der Christenheit geprüft


30. Der Begriff des Ansinnens hat in der Soziologie im Rahmen des Oberbegriffes der Rolle, die etwa ein Mensch innerhalb einer Gruppe spielt, seine Stellung. Sofern nämlich ein Mensch zu einer bestimmten Gruppe gehört, wird von ihm ein typisches, seiner Gruppenzugehörigkeit entsprechendes Handeln und Verhalten erwartet, ihm „angesonnen”. Diesen Begriff des Ansinnens kann man nun auf die Kirche eben im Blick auf diejenigen Erwartungen anwenden, die ihr vonseiten des Staates, der Gesellschaft und der Wissenschaft entgegengebracht werden. Er ist dann Gegenbegriff des Selbstverständnisses der Ekklesia.
1. Kirchenrecht I, 1.
2. ebd. 22 u. Anm. 1.
3. ebd. 23.
4. ebd.

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und dann anerkannt werden. Jene braucht sich nicht als sachlich gerecht-fertigt zu erweisen, die Geltung des Rechts genügt; dieses muß, soll die Christenheit ihm folgen, seine sachliche Rechtfertigung in sich tragen, nämlich daß es aus Gottes Geist stammt.

Man bemerke, daß die Glieder dieser beiden einander gegenüberstehenden Reihen sich nicht genau entsprechen. Genau genommen stehen sich nicht Recht und Wort gegenüber, aber auch nicht das Wesen der Rechtsbefugnis und der Wortbefugnis, sondern Rechtsbefugnis und die Problematik des Menschenwortes als Gotteswort. Daher wird betont, daß Gottes Wort nicht erkennbar ist am Formalen, nicht garantierbar durch das Formale, daß es geprüft werden und seine sachliche Rechtfertigung in sich tragen muß. Indem aber Sohm nun daran festhält, daß Gottes Wort — im Gegensatz zu einem formalen Verständnis — an seiner inneren Gewalt erkennbar werde, bleibt er auf seine Weise ebenfalls an der Form haften. Er nennt nicht den Inhalt des Wortes Gottes und Gott als Bürgen für die Identität von Menschenwort und Gotteswort (unbeschadet der Freiheit Gottes, von der aus jedem menschlichen Verfügen über Gottes Wort gewehrt wird), sondern er setzt lediglich ein formales Kriterium gegen das andere, die religiöse Form gegen die juristische. Die Lehre vom (so verstandenen) Herrenwort steht nun in der Gemeinde an der Stelle der Gesetzgebung und schließt letztere aus5. Die Gliederung der Ekklesia leitet sich aus dem Wort Gottes ab. Sie ist gottgegeben und folglich nicht Sache menschlicher Willensbildung. Gliederung aber bedeutet Über- und Unterordnung; daher ist formale Gleichheit der Glieder, ihrer Art und Rechte, ausgeschlossen6.

 

2. Die grundlegenden Ämter und Funktionen der Wortverwaltung

Wie kommt es zu solcher Über- und Unterordnung?

Welche Ämter hat Sohm im Auge?

a) Zwar sind in der paulinischen Gemeinde alle Christen Geistliche und Charismatiker, daher auch alle „zur Tätigkeit in der Kirche berufen (allgemeines Priestertum)”; aber es gibt einige, welche „durch die Kraft ihres Charismas sich auszeichnen, denen der Geist Gottes im besonderen Maß gegeben ist”7, die Geistlichen „im engeren Sinn des Worts”8. Dieser Umstand ist für die Unter- und Überordnung innerhalb der Ekklesia verantwortlich.


5. ebd. 24 f.
6. ebd. 26.
7. ebd. 21; dort Hinweis auf 1 Kor 12, 4; vgl. Kirchenrecht I, 35, Anm. 13.
8. ebd. 28 u. Anm. 2 u. 3; dort Hinweis auf die den ἅγιοι gegenüberstehenden ➝

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Solche quantitierende Beschreibung der sich kraft des Charismas besonders Auszeichnenden legt die Frage nahe, ob Sohm etwa grundsätzlich statt auf die Intention auf die menschliche Manifestation der Charismen blickt. (Übrigens verweist Sohm für seine These auch auf die ἡγοὐμενοι in Acta und Hebr, also auf späte Stellen, die selbstverständlich autorisierte Amtsträger visieren9.)

b) Das quantitierende Charismenverständnis als Basis der Überordnung innerhalb der Kirche ist erst recht bedenklich, wenn man nun erfährt, daß Sohm an die Apostel, Propheten und Lehrer als die Träger des Regimentes über die Kirche denkt10. Zwar stellt er sie nach 1. Kor 12, 28 den anderen Charismatikern voran und hebt sie insofern von ihnen ab11, aber mit jenen anderen versteht er auch diese ersteren ausschließlich als charismatische Persönlichkeiten in seinem Sinn.

Die drei Typen der Wortverwaltung sind untereinander vertauschbar; ein prinzipieller Unterschied zwischen Apostel, Lehrer und Prophet ist nicht vorhanden12, wie ja auch allen dreien das Lehramt Lebensberuf ist13 und ihnen daher die Gemeinden den Lebensunterhalt zu gewähren haben14.

Sie sind nicht als gemeindliche Exponenten aufzufassen, als gewählte Funktionäre, sondern als autoritatives Gegenüber der Versammlung. Denn aus der Hauptschaft Christi über die Gemeinde folgt, daß die Gemeinde sich nicht selbst regiert; sie ist nicht souverän. Das hat Sohm ganz klar erkannt15, mag er auch die Vorstellung von der Repräsentanz Christi durch die Apostel nicht zureichend erfaßt, mithin jenes Gegenüber in seiner Schärfe nicht wirklich gesehen haben16.

c) Das Bild, das Sohm nun von den Funktionen der Wortverwaltung entwirft, vermittelt einen lebendigen Eindruck von der Regiergewalt des Wortes Gottes über die Versammlung. Die Apostel werden definiert als die „von Gott (Christo) selber zum Missionswerk


➝ ἡγοὐμενοι Hbr 13, 7. 17. 24, die ἡγοὐμενοι Apg 15, 22. 32, die προηγοὐμενοι in 1. Cl 1,3; 21,6; Herm Vis II 2,6; III 9,7; sowie auf 1. Kor 14,37; vgl. Bultmann, NTTh 156; Schweizer ThW VI, 421 u. A. 605. Sohm nennt nicht die προιστόμενοι 1. Thess 5, 12 f.
9. Zu Hebr 13, 7. 17. 24 vgl. Michel z.St.; zu Apg 15, 22. 32 vgl. Haenchen z.St.; zu 1. Cl 1, 3; 21, 6; Herm. Vis II 2, 6; III 9, 7 vgl. Büchsel ThW II, 909f.; zum quantitierenden Verständnis der Charismen vgl. Bultmann NTTh 156 f., 330 f.
10. Kirchenrecht I, 29.
11. ebd. 41, Anm.9; zu 1. Kor 12,28, vgl. Lietzmann-Kümmel z.St.; E. Schweizer, Leben des Herrn 55 ff. In den Charismentafeln Rom 12, 3 ff.; 1. Kor 12, 4 ff. werden die Apostel nicht gennant. Zu 1. Kor 12, 28 vgl. auch Sohm, Kirchenrecht I, 29.
12. ebd. 45 (u. Anm. 21), 46, 48 f., 48, Anm. 34 (zitiert Eus. Hist.Eccl.IV, 15, 39: Polykarp = διδάσκαλος ἀποστολικὸς καὶ προφητικός) 49 und Anm. 35.
13. Kirchenrecht I, 49 f.
14. ebd. 50 u. Anm. 38-40.
15. z.B. I, 36, Anm. 14.
16. An dieser Stelle erblickt Sohm den Hauptfehler von Hatch und Harnack.

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ausgesandten und ausgerüsteten Prediger des Evangeliums”17, welche die Fülle der Gaben besitzen18; zu ihnen gehören die wandernden Missionare der nachapostolischen Zeit, „da sie durch apostolisches Charisma zu gleicher Tätigkeit wie die Apostel berufen sind”, und auch die Evangelisten Timotheus und Titus19. Zwar beschreibt Sohm den Apostolat auch hinsichtlich der Augenzeugenschaft und des Auftrags20, doch steht nicht die Beauftragung, das Mandat des Apostels im Vordergrund, sondern seine Begabung21.

Die Apostel sind vor allem zuständig für die Ordnung der Versammlung22; sie stellen diese bis in die Einzelheiten hinein fest nicht durch Rechtssätze, sondern — „kraft Charismas”23 — durch die Verkündigung des Herrenworts24 oder der sich aus ihm ergebenden Folgesätze oder durch ihre eigene, im heiligen Geist begründete Meinung25 oder durch den Hinweis auf die in allen anderen Ekklesien bereits bestehende Ordnung, sofern diese unter dem Gesichtspunkt der Gleichmäßigkeit aufzunehmen ist26. Die Funktionen des Apostolates sind weiterhin zu erkennen an den „Evangelisten”27 und „Apostelschülern” Timotheus und Titus, die die Befugnis über die Stellenbesetzung28, die Kirchenzucht29, das Kirchengut30 und die für die Versammlung maßgeblichen Ordnungen31 innehaben, und zwar wiederum kraft empfangenen Charismas32.

Sohm hat also aufgrund der — im historischen Sinne keineswegs kritisch verwandten33 — Quellenzeugnisse durchaus gesehen, daß der


17. Kirchenrecht I, 42.
18. ebd. 43.
19. ebd.
20. ebd. 42, Anm. 10. Zu den Jerusalemer Apostel vgl. Kirchenrecht 1,43, Anm. 15.
21. Vgl. gegen diese Auffassung außer Rengstorf, ThW I, s.v. ἀπόστολος Schlier zu Gal 2: „das Charakteristische . . . ist nicht die Tatsache ihrer Aussendung, auch nicht der Inhalt ihres Auftrages, sondern die Tatsache ihrer Beauftragung und der damit verbundenen Autorisation . . . (Ihre) Autorität (ist) von vorne herein von einer persönlichen oder charismatischen Autorität unterschieden . . .”
22. Kirchenrecht 29: Die Festlegung der Ordnung ist Lehre, daher in der Zuständigkeit des Lehrbegabten.
23. ebd. 29; hier wieder die Verkennung des Apostels als Delegaten und Mandatars seines Herrn zugunsten seines persönlichen Charismas.
24. ebd. u. Anm. 4 mit Hinweisen auf 1. Kor 4, 17; 7, 10. 12; 11, 12; 14, 37; 1. Thess 4, 2.
25. ebd. u. Anm. 4 mit Hinweis auf 1. Kor 7, 25. 40; vgl. Kirchenrecht I, 24 i. d. Anm. mit der Berufung auf 1. Kor 11, 1 ff.; 14, 1 ff.
26. Kirchenrecht I, 24 i. d. Anm. mit Hinweis auf 1. Kor 11, 16; 14, 33 f.; 4, 17; 7, 17.
27. z.B. Kirchenrecht I, 43. Sohm trennt die Apostel nicht prinzipiell von ihnen.
28. Kirchenrecht I, 44, Anm. 16 aufgrund von 1. Tim 3, 1 ff., 8 ff.; Tit 1, 5.
29. Kirchenrecht I, 44, Anm. 17 aufgrund von 1. Tim 5, 19 f.; Titus 3, 10.
30. Kirchenrecht I, 44, Anm. 18 aufgrund von 1. Tim 5, 17 u. 5, 11, 16.
31. Kirchenrecht I, 44, Anm. 19 aufgrund von 1. Tim 4, 3-6.
32. Kirchenrecht I, 44, Anm. 19.
33. Insbesondere werden die Pastorale mit den echten Paulinen ihrer jeweiligen historischen Einmaligkeit entnommen; vgl. Kirchenrecht I, 45, Anm. 20.

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Wille zur Norm bereits in der paulinischen Literatur kräftig ist. Trotzdem hat er den Begriff „Norm” ebenso sorgsam vermieden wie den des Rechtes, des Gesetzes34 und der Gemeinde im Rechtssinn. Er will deutlich machen, daß es sich bei allem nie um Gesetzgebungsgewalt35, sondern um geistliches Regiment über die Versammlung36 und um die Autorität des Geistes handelt. (Die apostolische Aufgabe des Weitergebens und der Auslegung des Traditionsgutes hat Sohm noch nicht in Ansatz bringen können; sie bleibt trotz ihrer großen Bedeutung auch i. F. außer Betracht.) Er sagt: Die Ordnung der Kirche, die von den Aposteln kraft ihres Charismas im Rahmen ihrer Lehrgabe der Versammlung zu geben ist, gilt Paulus in allen Stücken als gottgewollt, obgleich nur ein Teil unmittelbar auf dem Herrenwort beruht, während der andere Teil lediglich mittelbar aus dem Worte hervorgeht. Weil sie jedoch als ganze für gottgewollt angesehen wird — ihr zweiter Teil soll unter dem Gesichtspunkt des Herkommens und der liebevollen Selbstunterordnung von den Gemeinden angenommen werden —, muß sie für die gesamte Christenheit einheitlich sein. An diese Ordnungsproblematik wird der Katholizismus anknüpfen, indem er (zuerst 1. Cl 42 bis 44) die ganze Ordnung unmittelbar als gottgewollt auffaßt und damit jene Unterscheidung zweier Teile aufhebt, zugleich jedoch die paulinische Lehre entstellt37.

d) Die Prophetie, Neuoffenbarung des göttlichen Worts38, hat neben dem Apostolat entscheidenden Einfluß auf die Ordnung der Gemeinde, die Stellenbesetzung und Absolution und Verwaltung des Kirchengutes39. Der Prophet spricht das eucharistische Gebet40, und durch ihn als durch sein Werkzeug erwählt Gott zur Tätigkeit in der Christenheit41. Oikodome und Paraklese werden beiläufig erwähnt42. Die Beschreibung der Phänomene des neutestamentlichen Prophetismus hilft nun weiter in unserer Frage nach Sohms Charismen- und Geistbegriff. Vornehmste Prophetie ist die ekstatische Rede: „nicht der Prophet selber redet hier, sondern durch ihn, wie durch ein bloßes Werkzeug, redet . . . Gott selber in der ersten Person”43. Aber dies ist außerordentlich und selten. „Vielmehr ist ihre regelmäßige Erscheinungsform lediglich die gehobene, begeisterte, von Herzen kommende, aus innerer


34. Einzige mir bekannte Ausnahme: Kirchenrecht I, 46 u. Anm. 25.
35. ebd. 30 u. Anm. 6.
36. ebd. 43 u. Anm. 14.
37. vgl. Sohms Exkurs Kirchenrecht I, 23 ff. u. d. Anm.
38. ebd. 38.
39. ebd. 46.
40. ebd.
41. ebd. 31, Anm. 8.
42. ebd. 39, Anm. 6.
43. ebd. 38, Anm. 3.

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Gottesoffenbarung geschöpfte Rede”44. „Ein jedes begeisterte Zeugnis ist Prophetie, so daß jede freie Rede über geistliche Dinge unter den Gesichtspunkt der prophetischen Rede fällt”45. In jedem Falle ist sie Offenbarung des „in den Christen lebendigen, heiligen Geistes”46 und als solche „Mittel der Offenbarung des göttlichen Willens”47. Bei ihrem Vollzug ist „das Selbstbewußtsein . . . nicht notwendig in dem Propheten aufgehoben”48.

Es liegt auf der Hand, daß man von der neueren religionsgeschichtlichen Forschung aus Sohms Vorstellung von der Prophetie anfechten muß49. Prophetie bedeutet nicht Manifestation des in den Christen lebendigen heiligen Geistes, sondern Präsenz des unverfügbaren, den Menschen zu seinem Funktionär machenden Geistes Gottes auf Erden. In unserem Zusammenhang muß betont werden, daß Sohm wieder nicht an der Intention des Pneuma, sondern vielmehr an „den sinnenfälligen Zeichen pneumatischer Ergriffenheit”50 interessiert ist, und zwar sowohl hinsichtlich der außerordentlichen Ekstase als auch der weniger fremdartigen Erscheinungsweisen des Prophetischen. Dies stimmt überein mit seiner quantitierenden Auffassung der Charismen. Offensichtlich handelt es sich um eine prinzipielle Unstimmigkeit im Sohmschen Gedankengefüge: hinsichtlich der Ekklesia und ihrer Ordnung verwirft Sohm die gängigen Betrachtungsweisen und begreift die Gemeinde als Versammlung und ihr Recht als charismatische Organisation; hinsichtlich der charismatisch-pneumatischen Phänomene bleibt er der gängigen Betrachtungsweise treu. Im ersten Fall redet er der theologischen statt der soziologischen Interpretation das Wort; im letzteren stößt er nicht über die religiöse, psychologisierende Interpretation zu der theologischen durch. Man steht vor der Frage, ob Sohms Ansatz zu einer theologischen Würdigung der Sachverhalte nicht so ernst gemeint ist, wie man von seinem Ekklesiabegriff her annehmen muß, oder aus welchem Grund er seinen Ansatz nicht durchzuhalten vermochte. Jedenfalls stellt er bloß die religiöse Form gegen die juristische.


44. ebd. 39.
45. ebd. 39.
46. ebd. 40.
47. ebd. 56, Anm. 1.
48. ebd. 39, Anm. 14.
49. Das neutest. Prophetentum reicht von den judenchristlichen Enthusiasten (vgl. Käsemann, Heiliges Recht) und den heidenchristlichen Enthusiasten über die Propheten der Acta einerseits, den Apokalyptiker andererseits, dessen λόγοι προφητείας in dem βίβλος προφητείας festgehalten und kanonisiert werden, und über die προφητεία προαγοῦσα 1. Tim 1, 18 als der Rechtsgrundlage für die apostolische Delegation bis hin zu der vom Amt regulierten und an das AT und die paradosis gebundenen Prophetie in 2. Ptr (vgl. Käsemann, Apologie S. 289). Vergröbernd darf man sagen: die Geschichte des neutestamentlichen Prophetentums verläuft vom enthusiastischen Prophetismus, der neben sich kein Amt kannte, zum amtlichen Prophetismus, der neben sich keine freie Prophetie mehr duldete.
50. G. Bornkamm, Ende des Gesetzes 114.

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Im Ablauf unserer Untersuchung drängt jedoch eine spezielle Frage auf Antwort: Wie wird die Autorität solch prophetischen Wortes aussehen? Mit dieser Frage steht m.E. in nuce das ganze Sohmsche System auf dem Spiel. Denn: ist die Kirche eine geistliche, also nicht-rechtliche Größe, weil sie vom Geist regiert wird, dann wird die Beschreibung des Vollzugs des geistlichen Regiments zum entscheidenden Nerv der Beweisführung. Wir wenden uns dieser Frage zu, indem wir Sohms knappe Darstellung der Didaskalie und der Nouthesie als Teilen der apostolischen Wortverwaltung bei Seite lassen.

 

3. Die Autorität der Wortverwaltung

Man möchte vielleicht von vorne herein fragen, ob das Sohmsche Bild von der urchristlichen Ordnung überhaupt Platz für Autorität und Verbindlichkeit lassen will und kann. Handelt es sich nicht um eine Ordnung der Zufälligkeit, also um prinzipielle Unordnung? Aber so oft auch behauptet worden ist, Sohm habe die urchristliche Ordnung als Anarchie beschrieben, so muß doch zunächst mit Entschiedenheit entgegnet werden, daß Sohm der Wortverwaltung und der Regierung der Ekklesia durch Apostel, Propheten und Lehrer durchgehend und unüberhörbar Autorität zugeschrieben hat.

a) Der Befund: Die Autorität der Lehrbegabten

Autorität besitzen der Apostel51, der Lehrbegabte im weiteren52 wie im engeren Sinn53, die prophetische54 wie die ermahnende Rede55 und auch der Apostelschüler. Diese Autorität rührt nicht von dem den Aposteln vom Herrn her gewordenen Auftrag her, erst recht nicht von einem gemeindlichen Beschluß, sondern sie entstammt einzig dem Charisma56. Autoritäre Rede ist Rede im Namen Gottes57 kraft Charismas. Ihr entspricht es, daß der Lehrbegabte „Anerkennung” und „Gehorsam” seitens der Versammlung fordern58, daß etwa der Apostel Paulus „befehlsweise” reden59 kann, wenn er „Vorschriften” gibt60 oder „gebietet”61, wenn der Lehrbegabte die Gemeinde „regiert”62 durch die


51. Kirchenrecht I, 48, Anm. 8.
52. ebd. 29 u. Anm. 4.
53. ebd. 41, 47.
54. ebd. 40.
55. ebd. 41.
56. ebd. 29.
57. ebd. 32; vgl. 30, Anm. 5.
58. ebd. 27-30 u. Anm. 7.
59. ebd. 30, Anm. 5.
60. ebd. 24 in der Anm.
61. ebd. 41, Anm. 8.
62. ebd. 36, Anm. 14.

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„Gewalt”63, die ihm für sein „geistliches Regiment”64, die „Macht”65, die ihm im Blick auf die Verwaltung der Gemeinde gegeben ist.

Es ist unbestreitbar, daß Sohm die Dinge so sah. Der Begriff der Anarchie taucht nirgends auf. Ihr oder der Unverbindlichkeit hat Sohm, zumindest expressis verbis, nicht das Wort geredet. Die Versammlung ist geistgelenkt, charismatisch organisiert, von den Lehrbegabten regiert. Man darf dies und muß dies ausdrücklich so betonen, wenn auch Sohm selber, wie sich versteht, anders akzentuierte: Die Versammlung ist vom Geist gelenkt, durch die Charis und die Charismen organisiert, von den Lehrbegabten regiert. Und diese Lehrbegabten sind keine Despoten66; obwohl sie „über” der Gemeinde stehen67, sind sie nicht zur Gesetzgebung befugt68 (wenngleich sich aus späterer Zeit Zeugnisse dafür anführen lassen69).

Ebenso unbestreitbar ist freilich das andere, daß Sohm mit dem gleichen Pathos, mit dem er die Korrespondenz von „autoritär” und „im Namen Gottes” schafft, diejenige zwischen Autorität und Recht zerreißt. Aber nicht die Anarchie ist die Alternative zum Recht70, sondern die charismatisch fundierte und funktionierende Ordnung. Daß es sich um eine nicht-rechtliche Autorität handelt, sucht Sohm zu beweisen, indem er die Macht der Versammlung beschreibt; die Versammlung kann und muß dem Charismatiker Lehre und Verwaltung gestatten oder versagen. Ebensowenig wie der Lehrbegabte der Versammlung, ist die Versammlung dem Lehrbegabten ausgeliefert. Das Charisma ist für beide Seiten der die Entscheidung herbeiführende und die Organisation bestimmende Faktor.

b) Der Befund: Die Macht der Versammlung über Lehre und Verwaltung

Der Vorgang, den Sohm im Auge hat, ist die Gestattungs-, Zustimmungs-, Unterwerfungs-71 oder Anerkennungshandlung72 der versammelten Christen, durch welche sie den Trägern der apostolischen Lehre im Blick auf deren Charisma nach vorausgegangener Prüfung das Wort73 bzw. die Befugnis zur Leitung74 übertragen. Die Versammlung


63. ebd. 51.
64. ebd. 43.
65. ebd. 44, Anm. 18.
66. ebd. 30, Anm. 5 (gegen Harnack).
67. ebd. 41, Anm. 8.
68. ebd. 30 u. Anm. 6.
69. ebd. 41 u. Anm. 8; 46.
70. Gegen E. Schweizer, Gemeindeordnung, Ev. Th. 1946/7, 358: „Wo es keine wirkliche Gemeinde mehr gibt, da kann man nur noch schwanken zwischen Anarchie und Despotie, zwischen Sohm und Rom.” Mit der Festlegung Sohms auf die Anarchie ist Sohm nicht wirklich getroffen, seine Aporie nicht wirklich erkannt.
71. Kirchenrecht I, 53.
72. ebd. 54.
73. ebd. 51 f.
74. ebd. 52 f.

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erkennt und anerkennt das Charisma75. Denn niemand kann sich das Charisma selber zuschreiben. Aber: diese Macht der Versammlung, das Wort und die Leitung „zu geben oder zu versagen”76, ist nicht etwa das das Recht der Lehrbegabten begrenzende Recht der Ekklesia, sondern wie die Autorität der Apostel Nicht-Recht, nämlich Element der am Charisma orientierten Organisation. Und wieder ist unter Recht die Möglichkeit, unter Nicht-Recht die Unmöglichkeit verstanden, aufgrund formaler Abmachung zu entscheiden, „ob das Wort des Lehrenden wirklich Gottes Wort ist”77. Ob im Lehrbegabten sich das Zeugnis des heiligen Geistes zu Worte meldet, entscheidet das gegenwärtige Zeugnis des auch in den Versammelten lebendigen heiligen Geistes78.

Den Begriff der Gestattung, ἐπιτρέπειν, kann Sohm nur mit Did 10,7 belegen — τοῖς δὲ προφήταις ἐπιτρέπετε εὐχαριστεῖν —, doch vermutet er, daß er dort technisch gebraucht wird79. Die mit jenem Begriff bezeichnete Handlung findet Sohm auch anderwärts, zumal in 1. Thess 5, 19 bis 21. Die Gemeinde soll die Prophetie, den Geist in ihrer Mitte, nicht löschen, eine Ermahnung, die auf das Vorhandensein solcher „die Unterdrückung des freien Wortes” betreibenden Strömungen in ihr hinweist80. Es steht jedoch nicht die „Redefreiheit” der Apostel, sondern der gemeindlichen Propheten in Frage81.

Sohm selber nimmt nun die Einrede vorweg, daß in 1. Kor 14 es genau umgekehrt sei. Dort entsteht der Eindruck, daß sich die Gemeindeglieder ohne Schranke und Regel zur Rede drängen82. Er macht dagegen geltend, daß den dortigen Vorschriften des Paulus die Voraussetzung zugrunde liegt, die korinthische Gemeinde sei für das, was sich in ihrer Versammlung abspielt, verantwortlich. Deshalb sei es kein Zufall, daß dort eine Wendung auftauche, die dem Satz 1. Thess 5, 19 bis 21 parallel laufe: οἱ ἄλλοι διακρινέτωσαν (v. 29). Paulus appelliere also an die Einsicht der Korinther. Man wird letzteres Sohm zugestehen dürfen: man denke an 1. Kor 10, 15; 11, 13; aber dort appelliert Paulus deshalb an die Einsicht, weil er nicht blinden, sondern „sehenden” Gehorsam wünscht. Doch andererseits kann Paulus bloßen Gehorsam verlangen oder doch deutlich voraussetzen, daß die Gemeinde, deren Anerkennung er verlangt, sich widerspruchslos unterwirft. In diesen


75. ebd. 51.
76. ebd.
77. ebd. 53.
78. ebd.
79. Zu ἐπιτρέπειν vgl. weiter Matth 19, 8 = Mk 10, 14; Joh. 19, 38; Apg 21, 39f.; 26, 1; 27, 3; 28, 16. Weiter 1. Kor 14, 34; 1. Tim 2, 12.
80. Kirchenrecht I, 51 u. Anm. 2 u. 3.
81. Sohm bezieht den ganzen Abschnitt auf die Gnadengaben; so auch Schlatter (Erl); O. Holtzmann; Dibelius; anders Grundmann ThW II, 263.
82. vgl. G. Bornkamm, Ende des Gesetzes 113 ff.

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Fällen83 liefert Paulus seine Autorität und sein Charisma der Gemeinde nicht zur Begutachtung aus. Er selber kann die Entscheidung der Gemeinde sogar vorwegnehmen und deren Vollzug bedingungslos verlangen84. Die Gemeinde soll nicht nur sein Charisma erkennen und daher des Paulus „Rede über geistliche Dinge” gestatten, sondern sie soll hinsichtlich seiner Anordnungen, die den Gottesdienst betreffen, anerkennen ὅτι κυρίου ἐστὶν und sich folglich unterwerfen (1. Kor 14, 37). So werden ja jene im „dekretalen Jussiv” formulierten Verfügungen durch 1. Kor 14, 8 in den eschatologischen Horizont gerückt85. Paulus erbittet nicht Liebe, sondern droht mit dem Fluch. Sohm hingegen, in seinem religiös-psychologischen Charismabegriff befangen und von diesem aus den Apostolat verstehend, versucht mit dem Begriff „Liebespflicht” durchzukommen.

c) Die Kategorie der Liebespflicht

Man wird zunächst die Intention dieses Begriffes zu würdigen haben. Denn Sohm kämpft nach zwei Richtungen. Die Regierungsgewalt des apostolischen Lehramtes ist weder Despotie noch die bloß moralische Einwirkung etwa eines Ratschlages86. Sie soll weder rechtliche noch gar keine Verbindlichkeit besitzen. Sie ist charismatischer Natur und charismatisch verbindlich. Ihr Wirkungsbereich, innerhalb dessen sie Anerkennung findet, ist die Versammlung der Charismatiker. Wir sahen, was es heißt, daß das Regiment über die Versammlung auf der Seite der Wortverwaltung liegt, in der Hand „der von Gott begabten Einzelpersönlichkeit”87. Das Gemeinderegiment im Sinne der Souveränität der Gemeinde oder der Gemeindedemokratie wird abgelehnt88. Aber andererseits wird die Gemeinde nicht entmündigt, sondern verantwortlich gemacht. Sie kann zwar den Lehrberuf nicht verleihen, charismatische oder rechtliche Fähigkeit nicht delegieren; ihre Zustimmung ist kein Rechtsgrund für das Tätig werden des Lehrers; ihr fehlt die Macht, das Wort des Lehrbegabten zum Worte Gottes zu machen89. Aber sie ist nie formal gebunden zu formalem Gehorsam. Sie bezeugt je und je, daß Gott ein Charisma verliehen hat90. Dieses Zeugnis und die ihm entsprechende Anerkennung und Unterordnung zu vollziehen, ist die Pflicht der Kirche. Aber eben ihre Liebespflicht im Gegensatz zur formalen Anerkennung, wie ja auch der Dienst des Lehrbegabten in der Ekklesia nur in der Liebe sachgemäß geschieht91. Und ebenso akzeptiert


83. bes. 1. Kor 5, 3; 14, 37; 16, 18; 2. Kor 13, 2-6.
84. 1. Kor 5, 3.
85. Käsemann, Sätze heiligen Rechts.
86. Kirchenrecht I, 54 f., Anm. 9.
87. ebd. 54.
88. ebd.
89. ebd.
90. ebd. 53.
91. ebd. 27.

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die Christenheit die Gleichmäßigkeit der Ordnung dort, wo sich diese nur mittelbar aus dem Herrenwort ergibt, „um der Liebe willen”92.

So wird man die Intention Sohms, mit dem Begriff der Liebespflicht die Verbindlichkeit des Charismas festzuhalten und nach zwei Seiten abzusichern, nicht von vorneherein für abwegig halten dürfen. Tatsächlich treffen Begriffe wie „Despotie”93 oder „Ratschlag”94 nicht die Sache. Darf man Sohms Begriff der Liebespflicht als Alternative diesen beiden Auslegungen gegenüber verstehen, so steht man vor der Tatsache, daß Sohm im Rahmen seiner Möglichkeiten versucht hat, die kirchliche Autorität und die ihr entsprechende Anerkennung als ein Geschehen eigener Art zu erklären. Es fragt sich nur, ob Sohms Begriff nicht ebenso stark wie jene beiden anderen, nur in anderer Weise, an den handelnden Personen statt an der Sache selbst orientiert ist und darin seine Schranken hat. Wir gehen dieser Frage an Hand der Perikope Apg 13, 1-3 nach.

d) Kritik der Liebespflicht

Sohm hat sich im einzelnen exegetisch keine genaue Rechenschaft über Apg 13, 1-3 abgelegt95 und erkennt zwei Vorgänge in der Perikope, das Zeugnis des Geistes und das Zeugnis der Gemeinde96. Das erste besteht darin, daß Gott, einen Propheten als sein Werkzeug benutzend, der Versammlung kundtut, er habe Paulus und Barnabas zu Aposteln berufen. Das zweite besteht darin, daß die Versammelten den Prophetenspruch als Gottes Weisung anerkennen und Paulus und Barnabas aussenden. Dürfen wir diese Vorgänge von dem oben entwickelten Sohmschen Verständnis des Prophetischen her begreifen, so redet in der Gemeinde zu Antiochia ein Begeisterter. Nun hatte Sohm die verschiedenen Phänomene der Geistesrede mit den Werten einer Gefühlsskala zu erfassen gesucht; es handelt sich im extremen Fall um Ekstase, in der Regel jedoch um eher „normale” Zustände wie die gehobene, von Herzen kommende, begeisterte Rede. Prophetie ist also weniger theologisch als psychologisch relevant. Wir haben schon gefragt, mit welcher Begründung solche prophetische Rede Autorität beanspruchen kann. Man wird hier zweierlei bedenken müssen:

Einmal: der Sohmsche Begriff der Autorität ist vor allem gegen das


92. ebd. 34.
93. Nach Kirchenrecht I, 54-56, Anm. 9 gegen Harnack, ThLZ 1889, Sp. 420 f.
94. Nach Kirchenrecht I, 54-56, Anm. 9 gegen Weizsäcker, Das apostolische Zeitalter, 1. Aufl. 1886, und gegen Löning, Die Gemeindeverfassung 1889.
95. Die Wendung λειτουργοὐντων δὲ τῷ κυρίῳ καὶ νηστευόντων gibt er unpräzise wieder mit „in einer Versammlung von Christen”. Den Imperativ ἀφορίσατε und die damit befohlene Aussendung des Apostels Paulus hält er für historisch echt. Die Handauflegung ist ihm Zustimmung- und Ordinationsbehandlung. Vgl. Haenchen z. St.
96. Kirchenrecht I, 57 ff.

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demokratisch-vereinsmäßige Mißverständnis gerichtet. Sohm hat weniger die Tatsache im Auge, daß der Geist sich in vollmächtiger Weise zu Worte meldet und die Hörer unter seine Vorschrift zwingt, als vielmehr, daß der eine Begeisterte seine Zuhörer überzeugt, mitreißt, seine Begeisterung auf sie überträgt. Zugespitzt: nicht der christliche Verein, wohl aber die christliche Persönlichkeit ist für Sohm konstitutiv. Auf sie projiziert Sohm den neutestamentlichen Charismatiker.

Zum anderen wird man — später Auszuführendes vorwegnehmend — darauf hinzuweisen haben, daß Sohm den Geist als die Kraft zur Sittlichkeit verstand und diese streng vom Rechte unterschied, weil in ihr der Geist, in jenem aber die Form herrscht. Der Geist ist die Autorität, die an das in allen Menschen identische Ideal der Sittlichkeit überzeugend zu appellieren vermag; sie trifft autoritär im Gewissen97. Aber sie ist keine Legislative, wie ihr auch keine Exekutive zu Gebote steht. Sie ist — als einzige Großmacht des sittlichen Lebens — eine Autorität, die auf Überzeugung, nicht auf bloße Geltung zielt.

Dieser Vorgriff auf „Kirchenrecht” II ist methodisch nicht anfechtbar, weil Sohm der Sache nach auch schon in KR I diesen Gesichtspunkt vorgetragen hat. Den Zusammenhang zwischen geistlicher Ordnung und Sittlichkeit hebt er bereits dort mit den Sätzen hervor: „Die Lehre von der kirchlichen Ordnung muß ein Teil der Entfaltung und Lehre des Gotteswortes (διδαχή) sein. Die Lehre vom Wort Gottes ist notwendig zugleich Sittenlehre (die Lehre von der christlichen Sittlichkeit), und mit dieser aus der göttlichen Offenbarung geschöpften christlichen Sittenlehre hängt die Lehre von der Ordnung der Ekklesia zusammen. Es sind Moralgebote, welche wie über das sittliche Leben des einzelnen, so auch . . . über Leben und Gliederung der Ekklesia entscheiden”98.

Aber auch die Korrespondenz zwischen Einzelpersönlichkeit und moralischer Gewalt ist bereits in Kirchenrecht I zu finden: „Die Leitung der Ekklesia kommt von oben her, durch das Mittel der von Gott begabten Einzelpersönlichkeit. Die Regierung der Christenheit ist von vorneherein autoritärer, monarchischer Natur, und die Gewalt des Lehramtes ist darum so bedeutend, weil sie keine rechtliche, disziplinare, vereinsmäßige, wohl aber die höhere moralische Gewalt bedeutet, welche im Namen Gottes Gehorsam fordert”99. Der Bann des moralisierenden, ethisierenden Verständnisses des Christlichen hat, wie diese Sätze beweisen, auch auf Sohm gelegen100. Von hier aus läßt sich das autoritative Moment der charismatischen Organisation, wie Sohm es


97. ebd. 49.
98. ebd. 23 f.
99. ebd. 54.
100. Vgl. die Rede „Der christliche Mann und die Sittlichkeit” als biographisches Beispiel.

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sieht, leicht erfassen: Zunächst: Der Begriff der Liebespflicht eliminiert die Pointe des Berichtes Apg 13, 1-3. Diesem Bericht zufolge erhebt sich in der gottesdienstlichen Versammlung der Gemeinde, die sich auf die zu fällende Entscheidung von großer Tragweite sorgfältig vorbereitet hat, ein Prophet und verkündet in vollmächtiger, autoritärer Weise Gottes Willen. Mit den Begriffen „vollmächtig, autoritär” soll gesagt sein, daß dieser Prophet nicht auf brüderlich-liebevolle Zustimmung seiner Hörer, sondern mit ihrer Unterwerfung rechnet; er ist nicht primär Ekstatiker, begeisterter, aus dem Inneren schöpfender und begeistern wollender Redner, der als solcher Organ des Willens Gottes ist, wie Sohm es meint; sondern er ist umgekehrt primär Gottes Funktionär und beansprucht als solcher die Unterwerfung der Hörer, die in verantwortlichem Übernehmen des Prophetenspruches besteht. Sohms Begriff der Liebespflicht glättet hier die Wogen: der Prophet ist formell frei von der Versammlung, allein sein Charisma legitimiert ihn; aber auch die Versammlung ist frei im formalen Sinn, sie stimmt indessen aus Liebe zu. Und eben diese Korrelation von charismatisch-pneumatischer Autorität (im Sinne Sohms) und Liebe verharmlost die Perikope und bringt sie um ihre befremdliche Spitze. Denn es ist doch charakteristisch für unsere Stelle, daß hier zwei disparate Größen miteinander in einer für uns problematischen Weise zusammengebunden sind. Unbedingte Anordnung und verantwortliche Unterordnung stehen beisammen, einseitige Verfügung und eigene Entscheidung. Die Versammelten hören nicht eine begeisternde, an ihre Einsicht appellierende, moralisch-autoritäre Rede an, um daraufhin aus Liebe zuzustimmen. Vielmehr erleben sie eine Willenskundgebung von Seiten einer unbestrittenen, souveränen Instanz. Gleichwohl ordnen sie sich dieser nicht aus Kadavergehorsam, sondern in verantwortlicher Entscheidung unter. Der Prophet dekretiert — und seine Hörer werden verantwortlich. Das ist für uns befremdlich und problematisch. Erst recht, wenn man unter Freiheit die sittliche Autonomie des Individuums versteht. Es ist daher verständlich, daß Sohm nach einem Ausgleich zwischen den beiden aus¬einander klaffenden Komponenten gesucht hat. Er wollte weder nach der Seite der Despotie bzw. der formalen Gewalt des Lehramtes hin ausbrechen, noch nach der des bloßen Ratschlages oder des Gemeindeparlamentes. Der Begriff der Liebespflicht ist nichts als dieser Ausgleich, der das Unerträgliche ausmerzt. Dem autonomen Individuum in der Versammlung wird ein Stück persönlicher Freiheit reserviert: es bleibt dem Prophetenspruch gegenüber formell frei und stimmt aus Liebe zu. In unserer Perikope aber verliert die Gemeinde ihre „persönliche” Freiheit, um in der Freiheit des Gehorsams gemäß der Anordnung des Propheten zu handeln. Solange der Geist noch nicht geredet hatte, mußte die Gemeinde warten und sich auf seinen Spruch vorbereiten; solange

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konnte sie also noch gar nicht handeln. Nachdem sie die Weisung ihres Herrn empfangen hat, ist sie erst recht gebunden. Wäre sie immer noch formell frei, so hätte der Botenspruch sie nicht qualifiziert. Würde sie dann zu seinem Inhalt ihr Nein sprechen, so wäre das kein Ungehorsam, sondern möglicher Gebrauch ihrer formellen Freiheit, die ja nicht angetastet werden dürfte. Und spräche sie ihr Ja, so hätte sie sich letzten Endes nicht der Autorität des Propheten gebeugt, sondern wäre bloß ihrem eigenen Wollen nachgekommen, welches durch die Liebe gleichsam transformiert wäre. Hier muß man fragen, was es für eine Autorität ist, die nicht fluchen, binden und lösen kann, sondern zuletzt doch von der Zustimmung der Hörer abhängig ist. Sie ist gewiß mehr als ein guter Ratschlag, aber doch nur ein Befehl ohne Befehlsgewalt, eine am entscheidenden Punkte hilflose Autorität.

 

4. Zusammenfassung

Unsere Untersuchung hat bisher ergeben, daß Sohm die Ekklesia als nicht-rechtliche Versammlung, ihre apostolischen Lehrer und Verwalter als nicht-rechtliche Leiter der Versammlungen, ihre Verfassung als nicht-rechtliche, geistliche Gewalt beschrieben hat. Gleichwohl mußten wir unterstreichen, daß er die Versammlung hinsichtlich ihrer Phänomenalität nicht annihiliert, das Vorhandensein von autoritativ regierenden Lehrern und seiner bestimmten Organisationsform mit einer Reihe von bestimmten Regeln nicht bestritten hat. Seine Begriffe „Versammlung” (statt rechtlich konstituiertem Gemeindeverband oder Einzelgemeinde), „charismatische Organisation” (statt rechtlicher Verfassung) und „charismatische Autorität” (statt formal zustehender rechtlicher Gewalt) signalisieren den Gegensatz seines Bildes vom Urchristentum gegenüber der Ansicht seiner Gegner, daß man die Ekklesia in Analogie zu den modernen Gesellschaftsformen verstehen dürfe. Sie beweisen auch, daß Sohm für die Erkenntnis offen war, daß die Ekklesia samt ihrer Organisation und ihren Autoritäten eine Größe, der Vollzug ihrer Organisation ein Geschehen sui generis ist. Doch wurde uns an ihnen auch die Grenze und die Fragwürdigkeit der Sohmschen Aufstellungen deutlich. Der Begriff der Ekklesia leidet darunter, daß Sohm nicht bis zu der grundlegenden Einsicht vorstoßen konnte, die die Ekklesia als eschatologische Größe versteht und darin auch ihre Analogielosigkeit erblickt. Sohm ist wohl Vorläufer dieser Einsicht, vermochte aber selber nur diejenige Eigenart der Ekklesia in den Mittelpunkt zu rücken, die sich ihm von seiner religiösen Sicht her erschloß. So wertvoll es war, daß Sohm den positivistischen Kirchenbegriff zertrümmerte, so ist doch seine religiöse Vorstellung von der Kirche nicht

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frei von Fehlern. Weil Sohm die Kirche nicht als die eschatologische Setzung Gottes verstehen konnte, hängt sein Kirchenbegriff an der Vorstellung der einzelnen sich versammelnden Menschen, so daß von deren Idealen in Bezug auf die Organisation der Kirche die Rede sein kann. Von hier aus zieht sich nun eine Linie durch den Sohmschen Aufriß, dessen einzelne Etappen wir verfolgten. So werden die apostolischen Lehrer nicht innerhalb des eschatologischen Horizontes, in dem sie stehen, sondern als christliche Persönlichkeiten begriffen. Ihr Amt hängt am Charisma, ihre Befugnis an ihrer persönlichen, freilich gottgegebenen Begabung. Und die Charismen werden nicht als Konkretionen der in die Endzeit einbrechenden Charis des richtenden und rettenden Gottes, sondern psychologisch und quantitierend von ihrer Erscheinungsweise her aufgefaßt. So fand Sohm in dem Begriff der Liebespflicht, der seine Position abgrenzt und auf eine Formel bringt, den notwendigen Ausdruck für seine am Charismatiker orientierte Interpretation des Vollzugs der charismatischen Organisation. Von da aus ergab sich die Möglichkeit, Sohms Autoritätsbegriff zu beurteilen. Er ersetzt den des kirchlichen Rechts, ohne doch die Unverbindlichkeit oder gar die Anarchie zu postulieren. Der Fehler liegt darin, daß dieser Begriff undenkbar ist ohne die charismatisch begabte Persönlichkeit des Lehrenden einerseits, die sittliche Autonomie der Versammelten andererseits. Er hängt nicht zusammen mit dem Sich-Durchsetzen des offenbar werdenden Gottes, sondern mit der am Einzelnen orientierten moralisierenden Auffassung des Christlichen, die Sohm mit seiner Zeit teilt.

 

Wir halten unsere Ergebnisse in drei Sätzen fest:

a) Auch abgesehen von der Frage nach dem urchristlichen Recht und von der Haltbarkeit der Sohmschen Antwort auf sie sind Sohms neutestamentliche Exegesen durchweg anfechtbar im Blick auf ihre Interpretationsgrundlage.

b) Trotz aller der Interpretationsgrundlage anhaftenden Mängel hat Sohms Nachweis, daß Paulus kein formales Recht kennt oder intendiert, unverletzte Gültigkeit.

c) Sohms eigentlicher Mangel liegt — von seiner Interpretationsgrundlage aus notwendig — auf methodischem Gebiet. Indem er mit dem unter b) genannten Nachweis die Frage nach dem Recht im NT für erledigt hielt, fragte er nicht, ob es im NT nicht ein anderes als formales, vereinsmäßiges, nämlich von der historischen Forschung zu erschließendes Recht gäbe. Seinem Ringen um das Selbstverständnis der Kirche, ihrem Verständnis aus ihr selber heraus, trat nicht die Bemühung zur Seite, das urchristliche Recht in seiner Eigenart aus sich selber heraus zu verstehen. Das religiöse, sittliche Moment schon in Sohms

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neuem Kirchenbegriff verlegte Sohm in demselben Moment die Einsicht in den historischen Sachverhalt, in dem solche Einsicht mit dem Wegfall des juristischen Verständnisses der Ekklesia möglich geworden war.

 

C. Der Übergang vom Urchristentum zum Frühkatholizismus1

 

Die Rekonstruktion des Urchristentums ist die Basis, auf der Sohm den großen Bogen der gesamten Kirchenrechtsgeschichte aufbaut, die Epoche, die „über alles weitere entscheidet”. Doch ist das Urchristentum in sich selbst problematisch. Das sieht Sohm ganz deutlich. Enthält es doch in den nachpaulinischen Gemeinden die Ansätze, die der späteren Verwandlung des Urchristentums zum Katholizismus Vorschub leisteten.

 

1. Ansätze zur Bildung von Gemeinden und Ämtern im Rechtssinne

Fünf Vorstufen sind es, die Sohm — zumeist aus Apg und Past — als solche Ansatzpunkte späterer Fehlentwicklung nennt:

a) Die Hauptversammlung, die aus praktischen Gründen und von der theologischen Idee aus, daß Christenversammlung Versammlung der ganzen Christenheit sein soll, in steigendem Maße an Gewicht gewinnt2.

b) Die Ordnung der Feier des Herrenmahles, die für die künftige Ordnung der Ekklesia vorbildlich wird und deren Leiter Vorläufer des späteren Monepiskopos ist3.

c) Die Verwaltung des Kirchengutes, das in der Urzeit durchaus als Gottesgut, also (im Sinne Sohms) nicht-rechtlich verstanden wird, als eine „rein geistliche”, „religiöse” Größe, deren späteres juristisches Verständnis bei gleichzeitigem Festhalten an ihrem geistlichen Charakter von der Sache selbst her naheliegt4.


1. Sohm redet von „Altkatholizismus”.
2. Kirchenrecht I, 67 f.
3. Sohm will vom „Wesen der Eucharistie” reden, nennt aber nur das Sprechen des Dankgebetes und die Verwaltung der Liebesgaben. Es genügt ihm, daß mit der regelmäßig wiederholten Feier des Herrenmahles in der Hauptversammlung der Ansatzpunkt für die künftige Ordnung der Kirche gegeben ist. Aus dem Lehrbegabten, der jeweils neu zur Verwaltung der Eucharistie berufen wird, wird der Monepiskopos werden. Sohms Blick hängt also an der Form, nicht am Wesen der Eucharistie.
4. Kirchenrecht I, 69-71, 80.

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d) Sohm konnte den Wahlakt und die das Charisma des Berufenen stärkende und bezeugende Ordination mit Handauflegung nicht übersehen. Er sucht sie seiner Konstruktion einzuordnen unter dem Gesichtspunkt, daß dabei die Erwählung von Menschen als Erwählung durch Gott verstanden sei, mithin als eine nicht-rechtliche, geistliche Handlung gelten müsse. Formales sei für sie nicht kennzeichnend5.


5. Ordination ist in den echten Paulinen nicht bezeugt. Gleichwohl ist sie nicht „jünger” als die charismatische Organisation, wird aber erst greifbar in den Past und Acta, wo sie mit der Charismenlehre verknüpft ist (v. Campenhausen, Amt 83). Sohm hält die Past und diese späte Verknüpfung für historisch echt und unterscheidet nicht zwischen so verschiedenen Stellen wie Gal 1, 1 und 1. Tim 4, 14.
Apg 1, 23-26 sind nach Sohm drei aufeinander folgende Akte zu unterscheiden: Die Vorwahl durch die Versammlung, durch die zwei Männer bereitgestellt werden; das Zeugnis Gottes, das durch den Loswurf erfolgt; das Zeugnis der Versammlung, in dem die Gemeinde Gottes Entscheidung anerkennt. Man wird fragen müssen, ob hier überhaupt Menschen wählen. Abgesehen von der Vorwahl hat die Gemeinde nur zu akklamieren. Sie ist so wenig wie Acta 13, 1 ff. formell frei. Das eschatologische Sei schwebt über ihr, d.h. das über ihr aufgerichtete Recht Gottes. Von Liebespflicht kann gar nicht die Rede sein (vgl. z. St. Haenchen, der leider nicht der Frage nachgegangen ist, wie der Loswurf und das Gottesrecht an unserer Stelle zu werten sind); der Loswurf ist nötig, weil — im Aufriß des Lukas — die Gemeinde noch nicht den heiligen Geist empfangen hat; er ist eine Handlung heiligen Rechtes, die aus dem Judentum stammt. Das Gottesrecht ist hier bezogen auf die Zwölfzahl der Apostel; v. 16 formuliert betont ἔδει πληρωθῆναι, v. 21 δεῖ. Die Zwölfzahl der Apostel entspricht der Zwölf zahl der Stämme Israels; vgl. Lk 22, 30 καθήσεσθε δώδεκα θρόνους τὰς δώδεκα φυλὰς κτλ., präziser Matth 19, 28 καθήσεσθε καὶ αὐτοὶ ἐπὶ δώδεκα θρόνους κτλ., entsprechend Apk 21, 12 im Blick auf die ἁγία πόλις ἔχουσα πυλῶνας δώδεκα καὶ ἐπὶ τοῖς πολῶσιν ἀγγλέλλους δώδεκα, καὶ ὀνόματα ἐπιγεγραμμένα κτλ. Das δεῖ ist eschatologisch gemeint; wie einst die Zwölf mit dem eschatologischen Richter zusammen richten werden, muß jetzt ihre Zwölfzahl komplettiert werden. Vorgänge der ältesten Zeit konnten also später unter den eschatologisch-rechtlichen Gesichtspunkt gerückt werden, wobei offen bleibt, inwieweit Lk das noch verstand. Was die Erwähnung der Zahl 120 (v. 15) betrifft, so darf man die Beziehung auf Sanh I, 6 (vgl. Billerbeck II, 594 f.) nicht mit Haenchens Argument bestreiten, die Leser der Acta z. Zt. des Lk hätten diese Beziehung nicht verstanden. Denn daß jüdisches Verwaltungsrecht ein Ansatzpunkt für das Kirchenrecht gewesen ist, kann in der lukanischen Tradition festgehalten worden sein, ohne daß Lk dies ausmerzte.
Wenn Sohm nun den Wahlakt Apg 1, 23 ff. als Zeugnis für eine rein geistliche Handlung wertet, dann kann er das nur deshalb, weil er modernes Rechts- und Geistverständnis voraussetzt, das moderne Geistverständnis mit dem des NT identifiziert und daraus seine Schlüsse zieht. Unser Verständnis legt dagegen dar, daß es rein geistliche Handlungen im Sinne Sohms nicht gegeben hat.
Zu Apg 13, 2ff., vgl. oben II, B; hier muß noch auf den Umstand hingewiesen werden, daß sich Sohm den Gal 1, 1 visierten Vorgang in Analogie zu Apg 13, 1 ff. vorstellt (Kirchenrecht I, 56, Anm. 1). Der Vorwurf — so argumentiert Sohm —, Pl sei durch Mitwirkung von Menschen berufen worden, wäre unmöglich erhoben worden, wenn solche Mitwirkung nicht völlig ausgeschlossen gewesen wäre. Pl wolle nun seine unter menschlicher Mitwirkung geschehene Erwählung bzw. Berufung zum Apostel als eine solche durch Gott verstanden wissen (Sohm stellt ebd. Ignatius ad Phil 1, 1 daneben: das Amt des Ignatius sei nicht ἀφ᾽ ἑαυτοῦ οὐδὲ δι᾽ ἀνθρώπον und bemerkt dazu: Ignatius ist zwar von Menschen gewählt worden, aber in dieser Wahl war der Wille Gottes wirksam; vgl. Schlier, Gal 3, Anm. 2). Sohm bemerkt nicht, daß Pl seine Berufung durch den Begriff der ἀποκάλυψις qualifiziert und so den Ursprung des Apostolates von jeder menschlichen Mitwirkung unabhängig macht (vgl. ➝

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Schlier zu Gal 1, 14; Bultmann, RGG, 2. Aufl., IV, Sp. 1021, 1023; anders NT 184: Pl „ist durch das Kerygma der hellenistischen Gemeinde gewonnen worden”; Rengstorf ThW I, 439 f., 443). Träfe Sohms Ansicht zu, so hätte Pl sich nicht gegen den Verdacht, bloßer Delegat seiner Gemeinde zu sein, prinzipiell zu Wehr setzen können.
1. Tim 1, 18; 4, 14; 6, 12; 2. Tim 1, 6; 2, 2 sind die Zeugnisse für die Ordination in den Past. Sohm legt sich den Sachverhalt so zurecht: Handauflegung und Ordination sind Bezeugung des vorangehenden Charismas; sie bekräftigen und „bewahrheiten” es (Kirchenrecht I, 63 f.). Grund der Erwählung des Timotheus ist das prophetische Zeugnis der Versammlung. Der Erwählung durch den Apostel folgt die Zustimmungshandlung seitens der Versammlung in Form von Gebet und Handauflegung (ebd. I, 58, Anm. 4 nennt Sohm im Anschluß an H.J. Holtzmann, Past 1880, folgende Akte: Prophetie — Bekenntnis des Timotheus — Rede und Gebet des Apostels — Handauflegung seitens des Apostels und des „Presbyteriums” — so nur hier; ansonsten vermied Sohm diesen Ausdruck sorgfältig —. Die Zeugen, 1. Tim 6, 12; 2. Tim 2, 2, stimmen der Prophetie namens der Versammlung zu).
Wir überblicken die Texte insbesondere mit Rücksicht auf das Verhältnis von Charisma und Ordination. Die Prophetie taucht zweimal in unserem Zusammenhang auf: 1. Tim 4, 14 ist dem Timotheus das Charisma διὰ προφητείας gegeben; „διὰ” ist mit Schlier (Zeit der Kirche 135, Anm. 14) mit „aufgrund”, „infolge” zu übersetzen. Man hat an einen Vorgang wie den Apg 13, 1 ff. beschriebenen zu denken (vgl. Dibelius und Jeremias z. St.). Sie steht hier — chronologisch richtig — vor der Handauflegung durch die Ältesten: als Gottes Wahl geht sie der Ordination voran. Letztere ist kirchliche Validisierung der ersteren. Wenn Gott gehandelt hat, muß die Kirche handeln. Gott handelt nicht so, daß das kirchliche Handeln überflüssig, sondern daß es notwendig wird.
1 Tim 1,18 präzisiert die Prophetie als eine προφητεία προαγοῦσα. Es ist zu beachten, daß jetzt auf die Prophetie nicht im Hinblick auf die Ordination, sondern aus einem anderen Grunde rekurriert wird: „Pl” gibt die παραγγελία (mit Dibelius z. St. auf das Folgende zu beziehen, nicht auf die vorhergehenden Verse) an den Timotheus weiter. Als Apostel ist er zu solcher Weitergabe legitimiert. Nun soll Timotheus zu dem des Apostels Erbe weiterführenden Tun autorisiert werden. Timotheus ist der richtige Mann dafür, sofern ihn die προφητεία dazu bezeichnet hat. Die προφητεία προαγοῦσα ist folglich hier der Rechtsgrund für die Automation durch den Apostel (etwas anders Jeremias, 13f.); er handelt gemäß (κατὰ) der Prophetie.
Außer der ὁμολογία wird zweimal die Handauflegung erwähnt. Die Homologie in 1. Tim 6, 2 wird dort mit καλὴ nicht eigentlich näher bestimmt, sondern eher im abgegriffen-kirchlichen Sprachgebrauch charakterisiert. Ob man nun mit Sohm (I, 58, Anm. 4) an die Ordination zu denken hat (so auch Jeremias, 39), oder an die Taufe (Schlier, a.a.O. 138, Anm. 17: neben ihr steht κλῆσις, das macht die Beziehung auf die Taufe und das Taufbekenntnis wahrscheinlich) läßt sich nicht mehr sicher entscheiden; doch vgl. Käsemann, Ntl. Studien für Bultmann, 1954, 261ff; Conzelmann, Past z. St.; Michel, ThW V, 216 f. Die erwähnten Zeugen legen den Gedanken an die Ordination nahe, wenn man an die analoge Stelle 2. Tim 2, 2 denkt.
Die Handauflegung wird 1. Tim 4, 14 von den Presbytern, 2. Tim 1, 6 von dem Apostel vollzogen. Ob man dabei an denselben Vorgang zu denken hat oder an zwei verschiedene Akte, ist nicht mehr sicher zu entscheiden; vgl. Jeremias und Conzelmann z. St. Daß die Handauflegung kein ursprünglich und genuin christlicher Akt ist, ist heute Allgemeingut (gegen Sohm I, 61 f.; vgl. E. Lohse, Ordination; Jeremias, Past 29 f.; Conzelmann, Exkurs zu 1. Tim 4, 14; Schlier, a. a. O. in der auf Sohm 135 beg. Anm.; Haenchen, Die Apostelgeschichte 221).
Ebenso klar, daß man die Ordination nicht als bloß symbolischen, bezeugenden, sondern als einen Akt zu verstehen hat, der Kraft und Segen zur Amtsführung vermittelt. In den Past ist die Ordination Übermittlung des Amtsgeistes, Sicherstellung des Traditionsgutes, Übertragung der Lehrbefähigung, Zusprechung der Entscheidungsgewalt (vgl. v. Campenhausen, Amt, 125 f.; Conzelmann, z. St.). Wir nennen sie eine Handlung heiligen Rechtes im Sinne Käsemanns, womit einerseits ihr verbindlicher, auch formeller Charakter, andererseits ihre Unabhängigkeit von einer ➝

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➝ souveränen (staatlichen oder gemeindlichen, vereinsmäßigen) Instanz betont ist. Beachtlich bleibt, daß sie nicht bei Pl und innerhalb seiner nach außen, auf die Welt ausgerichteten Konzeption vom σῶμα Χριστοῦ, sondern erst in den Past und ihrer mehr nach innen gewandten οἴκος θεοῦ Vorstellung eine Rolle spielt.
Die Sohm bewegende Frage lautete: wie verhalten sich Ordination und Charisma zueinander? Ist letzteres von der Ordination, oder ist diese vom Charisma aus zu verstehen? (Sohm versteht das διὰ τῆς ἐπιθέσεως τῶν χαιρῶν 2. Tim 1, 6 von dem μετὰ ἐπιθέσεως 1. Tim 4, 14 aus und betont: „Die Handauflegung ist nicht kausal für das Dasein, sondern kausal für die Anerkennung des Charismas” (I, 65, Anm. 18). Obwohl nun Sohm die Handauflegung als Mittel der Weitergabe des Amtes an den Nachfolger im AT ausdrücklich erwähnt (Kirchenrecht I, 61 u. Anm. 10), behauptet er dennoch, die neutestamentliche Handauflegung sei nicht aus ihr hervorgegangen (ebd.). Statt dessen leitet er diese — wiederum emphatisch jeden außer-christlichen Ursprung abweisend — aus der urchristlichen Handauflegung zum Zwecke der Krankenheilung ab und beschreibt sie als ein „Mittel, durch welches der in dem Handelnden lebendige Geist Gottes auf den anderen einwirken soll” (ebd. I, 62; Sohm lehnt die Handauflegung als bloß begleitende, an sich bedeutungslose Handlung ab). Diese Auffassung sei später mechanisiert und so der katholischen Ordinationsidee Vorschub geleistet worden (ebd. I, 62 f.). Das Nebeneinander von Charisma und Handauflegung beweise, daß im NT die Ordination nicht rechtlich und folglich auch nicht katholisch verstanden werde; sie sei so viel wie eine Konfirmation: Stärkung des Charismas, welches der Empfänger bereits besitzt (ebd. I, 64. Die Ordination „soll die dem Charisma widerstrebenden Kräfte der Sünde in dem Ordinationsempfänger überwältigen, das Charisma von allen hindernden Einflüssen befreien”, ebd. I, 63. Sie gibt kein formelles Recht und „macht” folglich nicht zum Amtsträger).
Diese Theorie nachprüfen, heißt zugleich ein Stück weiter in Sohms Charismen-Idee eindringen. In der Tat ist das Charakteristikum unserer Stellen (1. Tim 4, 14; 2. Tim 1, 6; 2. Tim 2, 2) die Korrelation von Charisma und Ordination. Treffen sich doch hier — und werden miteinander ausgeglichen — die (paulinische) Charismenlehre und die (palästinensische) Ordinationsvorstellung. Jedoch mit Rücksicht auf die Lage der christlichen Gemeinden so, daß ein neuer Typ von christlichen Amtsträgern entsteht: nicht mehr jeder Charismatiker ist als solcher auch Amtsträger; die Korrelation von Taufe und Charisma zerreißt, und die von Charisma und Ordination ersetzt sie. Daß damit noch nicht die spätere Unterscheidung von Klerus und Laien Ereignis wird, ist klar; aber man sollte zugeben, daß sie von hier aus möglich werden kann. Zwar haben noch alle Christen ihren Beruf als Christen und Geistträger. Aber galt für Pl, daß die einzige „Installation” das Charisma war, und daß dessen Wirksamwerden einzig von der Aufgabe der οἰκοδομή und der ἀγάπη her geregelt wurde, so muß man jetzt sagen: das Charisma (und die darauf hinweisende Prophetie) designiert, die Ordination installiert — jedenfalls in Fällen, wo bestimmte Aufgaben, die über das normale Maß hinausgehen, in Frage stehen. Aber eben: in diesen Fällen ist die Ordination, wenngleich nicht ohne das vorangehende Charisma denkbar, ein formales Element. Zugespitzt: daß alle die Charismen haben, ist in den Past nicht das Problem, wohl aber, ob jeder Charismatiker gemeindeleitende Funktionen ausüben darf. Die Ordination in den Past grenzt bestimmte Aufgaben aus dem allgemeinen charismatischen Bereich aus und will ihre angemessene Ausführung sichern. Eben zu dieser Sicherung bedarf es des formalen Elementes (vgl. Braun RGG, 3. Aufl. I, Sp. 1692), das Sohm richtig bei der Witwenversorgung (I Tim 5, 3 ff.) beobachtet, hier jedoch zu Unrecht nicht gelten lassen will (I, 101). Was es um die Ordination ist, ist also von Sohm nicht zureichend erfaßt. Wie steht es mit dem anderen Gliede der Korrelation, dem Charisma? Einige nebensächliche Beobachtungen übergehend darf man gleich die Frage stellen, ob Sohm nicht selber „katholisch” gedacht hat, als er vom „Besitz” des Charismas sprach (I, 64). Es ist wahr, daß Amt und Charisma noch Komplemente sind. Zwar ist das Amt durch die Ordination gesichert oder doch zu sichern. Aber die „Gegebenheit” der Gnade (ἐδόθη 1. Tim 4, 14; ὅ ἐστιν ἐν σοὶ 2. Tim 1, 6; daneben jedoch ἃ ἤκουσας παρ᾽ ἐμοῦ 2. Tim 2, 2) hängt noch wie bei Pl nicht an der Person, sondern am Geber, wenn diese Gnade sich auch auf die Fähigkeit, ➝

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e) Die nachapostolischen Ämter des Bischofs, des Ältesten und des Diakonen, die als nicht-rechtliche Ämter innerhalb bestimmter Gemeinden verstanden werden6.

Trotz dieser im NT enthaltenen Vorstufen zur Gemeindebildung (im Rechtssinn) hält es Sohm für gesichert, daß das NT als ganzes die Gemeinde im Rechtssinne nicht kennt und erst recht nicht intendiert. Es kennt nur Versammlungen in völliger tatsächlicher wie auch rechtlicher Unabgeschlossenheit. Sie kommen und gehen in dem großen Strome der Christenheit und lassen diese in Erscheinung treten. Geht die Versammlung auseinander, so verschwindet ihre Spur: „Vor ihr wie in ihr wie nach ihr” besteht nur eine Größe, die Christenheit auf Erden7. Eine rechtliche Organisation kann es nicht geben, weil der der Organisation im rechtlichen Sinne fähige Körper, die Einzelgemeinde, gar nicht vorhanden ist. Zwar ist die Gliederung der Gesamtekklesia möglich; sie hängt zunächst an den Charismatikern „in besonderem Maß”. Doch wenn diese in der Folgezeit von Charismatikern bestimmter Gemeinden abgelöst werden, so bedeutet das nur, daß man an der geistlichen Gemeinde und der geistlichen Organisation der Gemeinde festhält. Immer noch steht alles auf der faktischen geistlichen Gewalt und Einsicht der Leitenden und der Versammelten.

 

2. Katholisierung als Verrechtlichung

a) Auf die grundlegende Epoche der rechtsfreien, charismatisch geordneten, vom Geist regierten Ekklesia folgt die Phase des entstehenden Katholizismus, in der die rein geistlichen Handlungen und Ämter in solche mit (formaler) Rechtsnatur umgebildet werden. Die genannten Ansätze werden formalisiert, d.h. depraviert und ins Formale, Rechtliche pervertiert, dennoch als geistliche Elemente festgehalten. Sie prägen


➝ bestimmte Aufgaben in einem bestimmten Bereich auszuführen, beschränkt. Diese Frage drängt sich erst recht auf, wenn man diese Aussage mit unserer bisherigen Analyse des Sohmschen Charismenverständnisses verknüpft. Wenn der Charismatiker die sittlich-moralisch-religiöse Persönlichkeit ist und als solche das Charisma „besitzt”, dann ist die paulinische Charismenlehre damit ebenso sehr bedroht, wie von einer rein formalistisch verstandenen Ordination aus. Denn dann hängt die „Gegebenheit” der Gnade nicht mehr am Geber, der immer der Geber bleibt, sondern an der Person, die nun die Gabe besitzt. Sohm vermochte der Scylla (Ordination im formalen Sinn) nur zu entgehen, indem er der ebenso gefährlichen Charybdis (Verständnis des Charismatikers als sittliche Persönlichkeit) erlag.
Die Amtsstellung des Ordinanden beruht weder auf der Vollmacht der Gemeinde, noch auf dem Vollzug der Ordination als solchen, noch auf der Vollmacht des Ordinators — das alles kann man mit Sohm sagen. Sie hängt aber auch nicht am Charisma des Ordinanden im Sohmschen Sinne; denn das würde bedeuten, daß sie an der begabten Person und also letztlich am Menschen hinge.
6. Kirchenrecht I, 84-150.
7. Kirchenrecht I, 65 f.; 155 f.; entsprechend Wesen und Ursprung XXVIII sq.

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in dieser umgebogenen Gestalt noch den modernen Papalismus mit seinem universalen Episkopat. Katholizismus ist verrechtlichtes Urchristentum. Luther inauguriert so etwas wie eine zweite Urzeit, indem er das Zwitterwesen „geistliches Recht” zerbricht; aber dieses lebt wieder auf und muß nun sowohl vom NT als auch von Luther her in Frage gestellt werden. In „Kirchenrecht” I, dessen erstes Kapitel uns bisher beschäftigte, ist diese große Linie bereits vollständig enthalten. Aber erst in „Wesen und Ursprung” gewinnt sie formelhaften, man möchte sagen: kategorialen Charakter, um dann in „Kirchenrecht” II vollendet und im „Gratian” in bestimmter Hinsicht untermauert zu werden. Wir verfolgen diesen Vorgang im Blick auf den Übergang vom Urchristentum zum frühen Katholizismus.

b) Die älteste Zeit war hinsichtlich ihrer Organisation zwar nicht unentwickelt, aber doch gleichsam im Stande der Unschuld. Sie kannte eben nur jene faktische, nicht aber irgend eine formale Gewalt oder Befugnis. Erst die — nach Sohm8 in 1. Clem und den dort visierten Vorgängen innerhalb der römischen und der korinthischen Gemeinde Ereignis gewordene — Rebellion gegen diesen Zustand änderte „mit einem Schlage” alles. Die tatsächliche geistliche Gewalt wird unter den Gesichtspunkt der Legitimität gerückt, formalisiert und verrechtlicht. Aber indem man an dem Grundsatz des geistlichen Geschehens festhält, muß mit Notwendigkeit das ursprünglich gar nicht vorgesehene, nun erst eindringende Recht mittels einer unvermeidlichen Fiktion als „geistliches Recht” deklariert werden. Denn von Anfang an waren keine weltlichen, sondern nur geistliche Organisationselemente vorhanden. Aus der rein geistlich organisierten Gemeinde wird die geistlich-rechtlich organisierte, die Gemeinde im Rechtssinn.

c) In „Wesen und Ursprung” gewinnt Sohm die Formel für den Vorgang und seine Motive, indem er ihn als die Entstehung des Katholizismus gesondert in den Blick faßt.

Wodurch entstand der Katholizismus? Im Gegensatz zu der herrschenden Meinung9, die der hellenisierenden Umbildung des Evangeliums die Schuld gibt, insbesondere im Gegensatz zu von Harnack10, formuliert Sohm seine These: „Das Wesen des Katholizismus besteht


8. ebd. 150 ff.
9. Nach Wesen und Ursprung 3 ff.: „Das Heidenchristentum, und zwar seine theologisch-dogmatische Art erscheint als der Quellpunkt des Katholizismus. Als die entscheidende Tatsache für (seine) Entstehung . . . gilt die Unfähigkeit des vulgären Heidenchristentums . . ., sich den wahren Inhalt des Evangeliums anzueignen. Das Evangelium bedeutet die Aufhebung der Gesetzesreligion . . . (Aber) dem Heidenchristentum ward das AT . . . (erneut) zur Grundlage der christlichen Religion . . . (So wurde) die frohe Botschaft ein ,neues Gesetz’ . . . Nicht die Verfassungsentwicklung, sondern die hellenisierende Umbildung des Evangeliums war (nach der herrschenden Lehre) die das Christentum katholisierende Kraft.”
10. Entstehung 182 enthält folgende Definition: „Der Katholizismus ist die alttestamentlich-christliche Verkündigung, übergeführt und eingetaucht in die ➝

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darin, daß er zwischen der Kirche im religiösen Sinn . . . und der Kirche im Rechtssinn nicht unterscheidet . . . Die Kirche im Rechtssinn ist ihm eine rechtlich verfaßte Organisation: das Leben der Christenheit mit Gott ist durch das katholische Kirchenrecht geregelt. Aus dieser grundlegenden Tatsache folgt mit Notwendigkeit alles andere . . .”11.

Besteht das Wesen des Katholizismus in jener Identifizierung von religiöser und rechtlicher Kirche, so liegt sein Ursprung eben in der Umdeutung der ersteren in die letztere. Aber der Vorgang ist doch komplizierter, und Sohm sieht das sehr wohl. Zwar: die Ekklesia ist eine religiöse Größe12, ein geistliches Volk13. Aber: die Urzeit in ihrer Unschuld hat den Gedanken, daß die Kirche als religiöse zugleich eine verborgene, unsichtbare Größe ist, nicht zum Ausdruck gebracht. Sie setzte, das hat Sohm durchaus nicht wegdisputiert, die religiöse Größe Ekklesia mit dem sichtbaren Volk Gottes gleich14; Sohm formuliert: „zwar die Kirche Gottes war sichtbar, aber das Handeln der Kirche war unsichtbar”15. In dem ersten Satz (die Kirche Gottes ist sichtbar) liegt der Ursprung des Katholizismus. In dem zweiten Satz (das Handeln der Kirche ist unsichtbar) liegen die Gedanken, die den Protestantismus mit dem Urchristentum verbinden16.

Was ist nun geschehen? „Der natürliche Mensch fordert die sichtbare Kirche Christi, eine Kirche, welche zweifellose göttliche Antwort auf all die bangen Fragen des Menschenherzens gibt . . . Das katholische Prinzip entspricht dem brennenden Verlangen der Menschenseele nach Sichtbarkeit des Unsichtbaren”17. Indem sich dieses Verlangen auf dem Wege der Verrechtlichung durchsetzte, wurde die Kirche katholisiert. Und es war nicht bloß die römische, sondern auch je und je die evangelische Kirche, die in Theorie oder Praxis oder in beidem jenem Verlangen immer wieder erlag18.


➝ hellenische Denkweise, d.h. in den Synkretismus des Zeitalters und in die idealistische Philosophie.”
11. Wesen und Ursprung des Katholizismus 13 f.
12. ebd. 48 f.: „Alle Rätsel lösen sich, sobald die einfache Wahrheit klar erkannt wird, daß die Ekklesia des Urchristentums eine religiöse Größe darstellt . . . und daß sie folgeweise nur unter dem religiösen, niemals unter dem politischen Gesichtspunkt betrachtet und beurteilt werden kann . . .” (Politisch = soziologisch, historisch im weitesten Sinne des Wortes).
13. ebd. VII und VIII: „Das Volk Gottes im NT ist ein geistliches Volk: Kinder Gottes, nicht Kinder Abrahams.”
14. Gratian 66, 68; Wesen und Ursprung passim; Kirchenrecht II, 181 f. (dazu O. Schmitz, Grenze der Gemeinde 12) passim.
15. Gratian 66.
16. Gratian 66, Anm. 6.
17. Wesen und Ursprung 20f.; vgl. weiter KG, 15. Aufl., 29f.: „Der natürliche Mensch (ist) ein geborener Feind des Christentums . . . Der natürliche Mensch ist ein geborener Katholik . . . Aus dem übermächtigen Verlangen des natürlichen Menschen nach einer gesetzlich verfaßten, katholisierten Kirche ist das Kirchenrecht entsprungen.”
18. Wesen und Ursprung 9 f.: „Der Aufklärung ist die Kirche im Rechtssinn eine ➝

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3. Das Problem des „Katholischen” im Urchristentum

a) Sohm und Schlier

Um dieser Konstruktion willen hat man Sohm vorgeworfen, er habe, indem er den Nachweis zu führen suchte, das Urchristentum sei noch nicht katholisch gewesen, selber katholisch gedacht19. Obwohl nun dieser Vorwurf übersieht, daß Sohms Konzeption nicht auf eine Apologie des Urchristentums, sondern auf eine Korrektur bestimmter urchristlicher Fehlerquellen von der Reformation aus (s. III D, 1) hinausläuft, visiert er dennoch die äußerst wichtige Frage, worauf sich denn eigentlich eine Berufung auf das NT legitimerweise zu richten hat und von welchem Ort und zu welchem Zweck solche Berufung erfolgen darf. Um die grundsätzliche Frage, um die es hier geht, in aller Schärfe stellen zu können, setzen wir Sohms These, das NT sei noch nicht katholisch gewesen, die Schliersche These entgegen, das NT enthalte die katholischen Prinzipien20. Dies ist insofern sinnvoll, als sich Schlier bei seinen Forschungen „auf Auslegungen der alten liberalen Schule stützen kann, die dem Inhalt der Pastoralbriefe unbefangen gegenüber stand . . ., während konservative evangelische Auslegung . . . den neutestamentlichen Sätzen die Spitze abbrach”21.

b) Das Neue Testament als Berufungsinstanz

Beide Seiten setzen das NT als Berufungsinstanz voraus, die eine für den Nachweis des Unrechtes, die andere für den des Rechtes des Katholizismus. Im übrigen ist die Frage auf beiden Seiten auf völlig verschiedene Weise inhaltlich gefüllt. Sohm setzt voraus, daß das NT von dem Prinzip des reinen Geistes beherrscht werde, der alles (formale) Recht ausschließe, anders ausgedrückt: daß es im NT keinen Rechtsbegriff gebe. Schlier dagegen, an diesem Punkt Sohm weit überlegen, setzt einen ausgeprägten und bis ins einzelne entfalteten Rechtsbegriff voraus. Zunächst verwendet er ihn religionsgeschichtlich-exgetisch als eine rein theologische Größe. So spiegelt 1. Kor 6, 1 ff. „das große Recht der Gläubigen (sc. auf einen Schiedsrichter oder auf Rechtsverzicht), . . . ihr


➝ Religionsgemeinschaft (Religionsgesellschaft), insbesondere die vom Staat privilegierte Religionsgesellschaft. Auf diesem Kirchenbegriff der Aufklärung beruht das gegenwärtige Staatskirchenrecht der gesamten Kulturwelt. Noch mehr. Dieser Kirchenbegriff der Aufklärung erscheint uns als ein naturrechtlicher, ewiger, für alle Zeiten selbstverständlicher Begriff. Infolgedessen beherrscht er auch unsere Wissenschaft der Geschichte. Daher die unerschütterliche, bei (protestantischen) Kirchenrechtslehrern und Theologen noch heute ausnahmslos verbreitete Meinung, daß auch das Christentum der Urzeit sich in der Form der Religionsgesellschaft (eines ,Kultus-vereins’) ,organisierte’ Selbstverständlich hatten die Christen der Urzeit bereits den Kirchenbegriff der Aufklärung.”
19. vgl. Kamlah, a.a.O. Anhang; dazu v. Campenhausen, Rez. Kamlah.
20. Schlier, Zeit der Kirche 308.
21. ebd. 313.

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himmlisches Recht wider, nach dem sie der Welt im Glauben und in der Hoffnung enthoben sind und schon in einem Staate wohnen, der nicht der irdische ist”22. Weiter23 kann gesagt werden, daß die Taufe den Geistempfang vermittelt und damit „die Anzahlung des im Evangelium aus- und zugerufenen Erbes, die einen Teil der Gesamtzahlung vorwegnimmt und dem Getauften dadurch zugleich den Rechtsanspruch auf das Erbe bis zu dem Tage, da es sein voller und endgültiger Besitz wird, bestätigt”. Zu Römer 6, 16-18 sagt Schlier: „Der Eintritt in ein Gehorsamsverhältnis bedeutet eine rechtlich-moralische Bindung an den jeweiligen Herrn; . . . (so sind) die Getauften in ein Gehorsamsverhältnis zur Gerechtigkeit eingetreten und also an sie rechtlich und moralisch gebunden . . . Der Taufgehorsam ist der moralisch-rechtliche Sinn, den das sakramentale Geschehen (der Taufe) in sich birgt”24. Neben diesen religionsgeschichtlichen Gebrauch des Rechtsbegriffes tritt der eigentlich kirchenrechtliche, indem gesagt werden kann, bereits in 1. Kor beginne „ein allgemeines Kirchenrecht zu entstehen”25. Dieses Kirchenrecht wird durch das Adjektiv „apostolisch” qualifiziert. So gibt es ein „apostolisches” Recht zur Delegation zu einem kirchlichen Dienst26. Apostolisches Kirchenrecht meint dasjenige Recht, dessen Quelle der Apostel ist27, gibt dieser doch kirchenrechtlich gemeinte und entfaltbare Anordnungen (etwa zur Stellung der Witwen)28, Anweisungen über Rechte und Befugnisse der Apostelschüler29, und legt er doch Einzelheiten des richterlichen Verfahrens fest. So stehen seine rechtlichen Anordnungen neben dogmatischen, ethischen, asketischen, liturgischen und seelsorgerlichen. Und all dies stammt aus dem „göttlichen Recht” der apostolischen Sendung. Bestandteil des apostolischen Rechtes sind die Akte der Bußgewalt (1. Tim 1, 20), die man als „heiliges Recht”30 bezeichnen kann; in ihnen ist „prinzipiell” das Kirchenrecht schon „gesetzt”31.

c) Die urchristlichen „Formgrößen” und das Kerygma

Diesem Unterschied im Inhaltlichen steht eine weitreichende Übereinstimmung zwischen Sohm und Schlier im Formalen gegenüber. Und sie ist es, die uns hier eigentlich zu beschäftigen hat. Es ist doch


22. ebd. 6 f.
23. ebd. 180.
24. ebd. 52.
25. ebd. 155.
26. ebd. 134; solche Delegation ist ein amtliches Element, welches mit persönlichen Elementen „ineinanderliegt”; gemeint sind: 1. Tim 1, 3; 2. Tim 4, 9, 12; Tit 1, 5; 3, 12.
27. Zeit der Kirche 133.
28. ebd.
29. ebd. 138, Anm. 18, 131.
30. nach Peterson, a.a.O. 147, 319.
31. Schlier, Zeit der Kirche 135.

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merkwürdig, daß sich die Frage, auf was sich denn eigentlich der Appell an das NT richtet, im Blick auf Sohm und Schlier nur so beantworten läßt, daß man einige Formgrößen nennt32. Bei Sohm handelt es sich um das Nichtvorhandensein von Formgrößen rechtlicher Natur, wie das formale Verständnis der Hauptversammlung als eines Rechtskörpers, der Lehrgewalt, der Wahl, der Ordination, — wobei hier von der Frage abgesehen wird, ob dieser Nachweis geglückt ist. Bei Schlier geht es um den Nachweis ihrer Existenz im NT, und ihr Nachweis belegt zugleich die katholischen Prinzipien im NT. An diese richtet sich unsere Hauptfrage. Als katholische sind sie zugleich apostolische Prinzipien, nämlich die der formellen Delegation (mit Einschluß der Sukzession), der kirchlichen Potestas und des Kirchenrechts überhaupt, des Dogmas, des Amtes und der Tradition33. Sie alle sind von Anfang an in der Kirche wirksam und drängen, teils bei Paulus schon vorhanden, in den Past zur bewußten Klärung.

Prinzip heißt hier offenbar erstens: Die genannten Elemente sind von Anfang an (das heißt: schon im Corpus Paulinum) da. Sie kommen nicht erst später, wie Sohm meinte, in der Epoche der Depravation bzw. Alteration des ursprünglichen Zustandes hinzu, sondern sind historisch primär. Eine Kirche ohne sie hat es nie gegeben. Zweitens sind sie als Bestandteil der kanonischen Schriften prinzipiell gemeint, sofern sie für alle späteren Zeiten verbindliche Elemente kirchlicher Ordnung sind. Sie gehören als apostolische Elemente nicht nur historisch, sondern sozusagen substantiell zur Kirche und bestimmen ihre Struktur. Ihre Preisgabe wäre mit dem Verlust kirchlicher Existenz überhaupt identisch. Drittens: sofern sie von der katholischen Kirche bewahrt und festgehalten, von den protestantischen Kirchen mindestens zum Teil preisgegeben wurden, nennt Schlier sie die „katholischen” Prinzipien. Zugleich will er damit ausdrücken, daß der Katholizismus im NT angelegt ist und sich legitimerweise aus ihm entwickelte: „Will man (gemeint ist: in der gegenwärtigen evangelischen Theologie) die Glaubensposition Luthers und der Reformation retten, muß man den Kanon der Schrift auflösen”34. Denn, so ist zu begründen, er enthält eben jene katholischen, von den Protestanten preisgegebenen Prinzipien.

Man sieht: Schlier und Sohm setzen voraus, es bestehe ein Zusammenhang der heutigen mit den neutestamentlichen Formgrößen; Sohm negativ, indem für ihn die Formgröße Recht für die nachkanonische Zeit der Depravation kennzeichnend ist; Schlier positiv, sofern für ihn die katholischen Prinzipien, jedenfalls in der Substanz, damals wie heute die gleichen sind. Die Urzeit der Kirche wird auf beiden Seiten


32. Der Begriff bei E. Wolf, RGG, 3. Aufl., I, Sp. 1698.
33. Zeit der Kirche 212 f.
34. ebd. 311.

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als relativ vollkommen vorausgesetzt; während sie nach Sohm von ihrer Vollkommenheit fortschreitend abfällt, entwickelt sie sich nach Schlier in positiver Weise, ohne die Sache, um die es geht, wesenhaft zu verändern, weiter und weiter.

Solch ein Zusammenhang zwischen dem Heute und dem Damals ist natürlich an sich unbestreitbar. Aber er ist ja auf beiden Seiten im Sinne einer Wertung gemeint. Und diese Wertung beruht nicht auf der historischen Forschung, sondern auf dogmatischer Grundeinstellung.

So hat man Sohm zu fragen, inwieweit für seine Theorie so etwas wie eine Urzeit-Ideologie verantwortlich ist35. Weiter hat Sohm die Einheit des Urchristentums des 1. Jahrhunderts vorausgesetzt. Wir wissen heute, daß ein reiches Gegeneinander und Nebeneinander verschiedener Gruppen und Typen bestand. Weiter konnte Sohm noch der Meinung sein, die Abzweigung zum Frühkatholizismus befinde sich säuberlich jenseits der Kanonsgrenzen. Daher konnte er sich auch relativ leicht vom Frühkatholizismus abgrenzen. Schließlich ist erneut auf Sohms Gleichung Recht = formales Recht als seine Grundtatsache hinzuweisen, die sowohl dafür, daß Sohm einen wesentlichen Gegensatz zwischen der urchristlichen und der modernen Kirche als einer Körperschaft öffentlichen Rechts herausarbeiten konnte, als auch dafür verantwortlich ist, daß mit dem Fehlen des formalen Rechts die weitere Frage nach einem anderen als dem formalen Recht unterdrückt wurde.

Auch auf Schliers Seite stecken dogmatische Vorentscheidungen, sie sind jedoch schwerer greifbar als bei Sohm und hängen mit dem Begriff des Apostolischen zusammen. In unserem Zusammenhang ist vor allem zu fragen, in welcher Weise Schlier die Pastoralbriefe liest und bewertet. Was sich dort der historischen Betrachtung als Notwehrmaßnahme enthüllt, wird bei Schlier zum Prinzip und ewigen Programm. Die Pastoralbriefe werden als Bestandteil des Kanons gerade nicht ernst genommen, wenn man von den Einleitungsfragen absieht und ihren Inhalt positivistisch versteht. Liegt das „Prinzip”, das sich in der Entscheidung der Kirche im Verlaufe der bedrängenden gnostischen Krise abzeichnet, auf die sich die Pastoralbriefe beziehen, nicht doch an einem tieferen Punkt, als Schlier wahrhaben will, nämlich in ihrer kerygmatischen Intention? Wenn man Schlier ebenso positivistisch interpretiert, wie er die Pastoralbriefe, so behauptet er, daß die Pastoralbriefe bereits das Papsttum und die heutige Römische Kirche enthalten. Man wird aber vielmehr zu überlegen haben, ob die Pastoralbriefe nicht ein Beleg für


35. Sohm, Miterbe der romantisch-historischen Rechtsschule, war auch auf anderen rechtshistorischen Forschungsgebieten an den historischen Ursprüngen interessiert. Vgl. das Vorwort zu I, wo er der Aufgabe des Archäologen die des Historikers entgegenstellt; weiter den Versuch R. Schmidts, Sohms Staats- und kirchenrechtliche Untersuchungen auf einen gemeinsamen Plan zurückzuführen (Worte z. Gedächtnis).

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die Tatsache sind, daß das Kirchenrecht zu allen Zeiten eine variable Größe gewesen ist, und zwar variabel wie das in der jeweiligen Situation durch die Kirche an die Welt zu gebende Kerygma selber.

Löst man sowohl die Schlierschen als auch die Sohmschen Thesen aus dem Wertungsschema heraus, in dem sie sich befinden, so bleibt folgendes beachtenswert: Indem Sohm Formalisierung und Verrechtlichung zum Leitbegriff für die Entstehung des frühen Katholizismus machte, hat er eine tatsächlich eingetretene Verschiebung im Verständnis der Kirche und eine latente Bedrohung für jede Kirche herausgearbeitet36 und sie als eine aus der Kirche selbst stammende Gefahr beschrieben37. Es ist gewiß, daß er damit einem wesentlichen Strukturelement des Katholizismus auf die Spur gekommen ist38. Man wird nur zu fragen haben, ob es nicht auch „geborene Protestanten” gibt, die als natürliche Menschen Feinde des Evangeliums sind. Insofern aber solche Verschiebung nicht jenseits, sondern bereits diesseits der Grenzen des Kanons sichtbar wird39, stellt uns die Schliersche Arbeit vor die Aufgabe, das neutestamentliche Recht in seinem Zusammenhang mit dem Kerygma näher zu untersuchen.

 

D. Geist, Wort und Recht im Neuen Testament

 

1. Wesen und Grenze der theologischen Position Sohms, soweit sich diese in seiner neutestamentlichen Exegese greifen läßt, können jetzt näher beschrieben werden.

a) Sohm war an der Kirche als dem erscheinenden Reiche Gottes interessiert. Mit klarem Blick erfaßte er ihre Verschiedenheit von allen rechtlichen Gebilden. Ihm, dem Juristen, war die Kirche zum theologischen Problem geworden; von daher war es ihm nicht mehr möglich,


36. vgl. v. Campenhausen, Amt 325; Dahl, Volk Gottes, 382, Anm. 223.
37. KG 19: „Die Verfolgung, welche von außen angriff, war die geringste Gefahr für die Kirche. Weit verhängnisvoller war es, daß dieselben Mächte, mit denen das Christentum zu kämpfen hatte, in den Gemeinden Eingang fanden, im Begriff, den Glauben der Christenheit und damit die Kraft ihres Daseins zur Entartung zu bringen.” Von da aus ist die zusammenfassende These Sohms ebd. 33 zu verstehen, mit der festgehalten wird, daß eine Veränderung des Evangeliums mit der der Organisation Hand in Hand ging. Wesen und Ursprung 33: „Nicht bloß eine Verfassungsänderung, nein, eine Glaubensänderung ist vor sich gegangen.”
38. Diese Erkenntnis ist von Klein immer wieder in den Vordergrund gerückt worden, zuletzt ohne ausdrückliche Nennung Sohms EvTh 1957, 97ff.: „Von der Tragweite des kanonischen Rechts”, wo Klein unter Aufnahme seiner früheren Aussagen ganz im Sinne eines weitergeführten Sohm die Fragwürdigkeit des römischen Kirchenrechts herausarbeitet.
39. vgl. Käsemann, Begründet der neutestamentliche Kanon die Einheit der Kirche?; H. Braun, RGG, 3. Aufl. I, 1685 ff.

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sie juristisch zu definieren. Nicht daß er sie als Phänomen preisgegeben hätte: In der sichtbaren Versammlung tritt das Gottesvolk zusammen. Aber gerade als solche Versammlung ist sie juristisch nicht zu verrechnen. Nicht phänomenal, aber juristisch ist sie inexistent, weil sie „geistlich” existiert. Ihre Analogielosigkeit ist ihre Rechtlosigkeit.

Die Kirche ist nicht ungeordnet, aber ihre Ordnung entspricht ihrem Wesen, d.h. sie ist ebenfalls geistlich, nicht-rechtlich, juristisch nicht definierbar. Das Bild des Vollzuges dieser Ordnung ist ob seiner Konsequenz gerühmt worden: Zwischen Despotie und Unverbindlichkeit bzw. Anarchie schafft Sohm einen der Kirche eigenen, an ihrer Analogielosigkeit teilhabenden Begriff der Autorität, die dem Worte des Charismatikers inmitten der Versammlung innewohnt.

Doch wird nach Sohm im Laufe der Geschichte die ursprüngliche Analogielosigkeit der Kirche preisgegeben. Es entsteht die Gemeinde und das Amt im Sinne des formalen Rechts. Damit stellt sich die Kirche der Welt gleich. Doch noch in der Depravation des verrechtlichten Geistes wird die ursprüngliche Analogielosigkeit festgehalten, sofern das Recht der Kirche in der Fiktion des geistlichen Rechtes existieren muß.

b) Gewiß, so kann man nur reden, wenn man eine bestimmte Rechtsauffassung hat. Aber wer Nicht-Recht sagt und geistliche Ordnung gelten läßt, der steht und fällt nicht mit seiner Rechtsauffassung, sondern mit einem bestimmten Geistbegriff. Der Geistbegriff Sohms kündigt die Grenze der theologischen Position Sohms an. Schon am Ekklesia-begriff ließ sich zeigen, daß Sohm ihn nicht radikal erfassen konnte, ihn nur im Vergleich zu anderen Sozialgebilden, aber nicht auch zu religiösen Idealen erfaßte. Die Gegenüberstellung von Rechtsbefugnis und Wort ließ uns erkennen, daß Sohm nicht nach dem Wort selber fragte. Wir erkannten weiter, daß die Vorstellung des autoritären Charismatikers nicht an der Autorität der Charis, am Geber des Charisma, sondern an der irdischen Manifestation der Charismen orientiert war und letztlich an der christlichen Persönlichkeit hängt, wie denn wohl das Wort Gottes bei Sohm das des sittlichen Ideales sein dürfte. Schließlich erwies sich der Begriff der Liebespflicht als Ausgleichsversuch zwischen der formellen Freiheit der christlichen Persönlichkeit des Redenden und der formellen Freiheit der Hörer, die beide als autonome Individuen aufgefaßt werden.

c) Darf man den Nachweis Sohms, daß das NT das moderne formale Religionsgesellschaftsrecht nicht kennt, für geglückt, und muß man die positiven Aufstellungen Sohms über den Geist im NT für mißglückt halten, und hat man die methodische Lücke in seinem Werk darin zu sehen, daß er nicht gefragt hat, ob das NT arteigene Rechtsvorstellungen im Rahmen seiner Zeit und im Unterschied zu dem modernen Rechtsbegriff hat, so ist die Auseinandersetzung mit Sohm

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erst dann abgeschlossen, wenn nach den neutestamentlichen Rechts- und Geistvorstellungen gefragt und dabei der Versuch gemacht wird, das Sohmsche Problem neu zu formulieren. Wir greifen dabei auf die oben I, 2 genannten Untersuchungen zurück und versuchen, die rechtlichen Phänomene des NTs begrifflich zu klären. Wir fragen sowohl nach dem Geistbegriff des NT als auch nach seinem Wortverständnis und beziehen beides auf die unter Wort und Geist lebende Gemeinde.

 

2. Der Rechtscharakter der geistlichen Akklamation

a) Den Begriff der Akklamation (i.F.: A.) hat Peterson vor drei Jahrzehnten in den Vordergrund gerückt1. Unter A. versteht er „die Rufe einer großen Menge, die sich bei den verschiedensten Gelegenheiten äußern konnten. Bei dem Erscheinen des Kaisers oder eines hohen Beamten, um sie zu feiern, aber auch in Versammlungen oder Ansammlungen (besonders im Theater oder im Gericht), wenn es galt, Beschlüsse zu fassen oder bestimmte Forderungen durchzudrücken. Diese Rufe wurden keineswegs als etwas Gleichgültiges angesehen, sondern hatten unter Umständen rechtliche Bedeutung, weswegen man sie nicht selten aufzeichnete”2. In diesem Sinne ist die A. eine an bestimmte Ereignisse gebundene allgemeinorientalische Erscheinung3. Sie ist als paganer Vorgang der Religionsgeschichte auch für das NT bezeugt durch Apg 19, 24 ff4. A.en sind aber auch in den kirchlichen Brauch


1. Heis Theos, vgl. K.G. Kuhn, ThW I, art. marana tha; G. Bornkamm, Ende des Gesetzes 125; auch K. Barth, KD III, 34, 443; beachtlich, daß das Stichwort Akklamation im Index der NTTh Bultmanns nicht steht. Auch bei Holstein spielt der Begriff der Akklamation keine Rolle.
2. Heis Theos 141; dort und Anm. 1-3 erinnert Peterson u.a. an das, was Poseidonios bei Athenaeus V 211 den Aristion über die A. des Mithridates sagen läßt: keine Stadt, die nicht mit unmenschlichen Ehren ihn empfinge und ihm zuriefe: Gott König.
Peterson verweist auf die verfassungs- und versammlungsrechtliche Bedeutung der A. des römischen Senates, griechischer Volksbeschlüsse und der kleinerer Körperschaften. Die A. stammt aus dem Osten und ist in der Kaiserzeit auch für den Westen zu belegen. Ägypten dürfte die Vermittlerrolle gespielt haben.
3. Allgemein ist die A. anläßlich der Königskrönung, auch der Ruf „Lang lebe der König”, evtl. verbunden mit dem Zusatz „für Immer” oder „in Ewigkeit” (ebd. 142); dazu gehört auch die imperiale nika-A. (ebd. 143).
4. Vgl. jetzt Haenchen z. St. Es handelt sich um den ephesinischen τάραχος περὶ τῆς ὁδοῦ (zu ὁδός vgl. W. Michaelis, ThW V, 931). Aufgewiegelt von dem Silberschmidt Demetrius bricht die Volksmenge in die bekannte A. aus — durchaus nicht „das Losungswort des lokalen Größenwahnsinns des Stadtbürgers” bzw. das naturwidrige Geschrei des in Gottesfurcht verkleideten, aber in seinem Besitzstand bedrohten Egoismus (H.J. Holtzmann, Acta, z. St.), sondern echte A.: der Enthusiasmus des Volkes führt die Entscheidung gegen Pl und die christliche ὁδός, durch Unterstellung unter die lokale Gottheit herbei. Als öffentlich-rechtliche Sitte ist die A. im NT belegt im Prozeß Jesu (vgl. Mk 15, 6 par; Peterson 149, verba: κράζειν, ἀνακράζειν, ἐπιφωνεῖν, κραυγάζειν), und im Prozeß des Pl (Acta 21, 34, 36, 28; ➝

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(Konzilsverhandlungen, Liturgien) gelangt5, wurden auf eine Inspiration des Volkes zurückgeführt und besaßen kirchenrechtliche Bedeutung (etwa die einer Wahl)6. Den Zusammenhang zwischen A. und Apotheose7 und A. und Fluch8 hat Peterson ebenso aufgehellt wie das Vorkommen der A. in volkstümlichen Wundererzählungen9.


➝ ἐπιφωνεῖν, κράζειν). Sie fehlt im strengen Sinn in der neutestamentlichen Wundergeschichte (Peterson 195; Dibelius schränkt dies mit dem Hinweis ein, jenes Urteil gelte nur, „wenn man A. im allerstrengsten Sinn faßt”, Formgeschichte 72, Anm. 2; vgl. auch 55, 67, 71 f.), wo allerdings die Reaktion der anwesenden Zeugen auf die im Wunder sich manifestierende epiphane Gottheit immer wieder genannt wird (θαμβεῖσθαι Mk 1, 27; θάμβος Mk 16, 5 f.; Lk 4, 36; θαυμάζειν Matth. 8, 27; 9, 33; 15, 31; 21, 20; Mk 5, 20; Lk 8, 25; 9, 43b; 11, 14; 24, 41; ἐκπλήτοεσθαι Mk 7, 37; ἐκπλήσσεσθαι 2, 12; 6, 51; Acta 2, 7; 8, 8, 11, 13; 10, 45). Solch staunende Reaktion ist jedoch nicht selten an die wunderbare Lehre Jesu geknüpft (Peterson 194 f.; vgl. θαμβεῖσθαι Mk 1, 27; 9, 15; 10, 24; θαυμάζειν Matth. 22, 22; Lk 20, 26; ἐκπλήσσεσθαι Mk 1, 22; 10, 26; 11, 18; Matth. 7, 28; 22, 33; Lk 4, 32; Act 13, 12; vgl. weiter Matth. 13, 54; Mk 6, 2; Matth. 14, 22 (προσκινεῖν) und Mk 15, 31 (δοξάζειν) erfolgt aus dem Staunen heraus der Schritt zur Unterwerfung). Daß die A. im strengsten Sinne fehlt, ist darin begründet, daß dem über die Erde gehenden Gottessohn, dem Menschen und Mächte staunend und erschreckend begegnen, noch die große Öffentlichkeit fehlt; erst dem auferstandenen, gegenwärtigen Herrn akklamiert die Gemeinde.
5. Außer den Anm. 3 genannten noch die Κύριε-ἐλέησον-, σῶσον — und ἄξιος -A.; Peterson 143 ff. und 304. vgl. Euseb Hist. Ecc. IV, 29, 4:
6. Peterson 145.
7. Peterson 171, 210, Anm. 1; 212, 215, 217; vgl. Acta 12, 20ff.
8. Peterson 147; der akklamatorische consensus populi gehörte vermutlich von Anfang an zum Anathem.
9. „Auf das Wunder, in dem antike Vorstellung göttliche Epiphanie erblickt, reagiert das Volk mit erschreckten und erstaunten Rufen, dem akklamatorischen Bekenntnis, das wie das Bekenntnis des Märtyrers zum Heis Theos aus dem göttlichen Pneuma stammt . . . Denn in beiden literarischen Formen (Wundererzählungen und Märtyrerakten) geht das Bekenntnis aus dem Geist hervor . . . und . . . ist . . . vielleicht auch nicht ohne einen gewissen rechtlichen Nebenklang formuliert worden.” Die A. in der Wundererzählung wird geradezu eine „Art von juristischer Beglaubigung des Wunders darstellen . . . (also die Funktion besitzen, die) sonst in der Wundererzählung die Nennung von Augenzeugen oder die Eidesleistung zu vollbringen hat . . . Nur ist freilich zu beachten, daß die der Wundererzählung durch die A. zukommende juristische Bestätigung keine rein weltlich-juristische, sondern eine sakral-rechtliche, eine aus dem religiösen ἐνθουσιασμός erwachsene Bestätigung ist" (Peterson, 183 ff., 214ff., 304 f.).
Technisch werden für die A. gebraucht: βοᾶν (191 f.) bzw. ἐκβοᾶν (226, Anm. 1) bzw. ἐπιβοᾶν (191, 193), vgl. Stauffer, ThW, I, 624; (ἀνα-) κράζειν (191), vgl. Grundmann, ThW, III, 898 ff.; ἐξομολογεῖσθαι (203 Anm. 1; 320), vgl. O. Michel, ThW, V, bes. S. 203: ein in die Rechtssphäre gehöriger Begriff, der soviel wie „etwas zu Recht bestehend anerkennen” bedeuten kann; ἀναφωνεῖν (191, Anm. 3); ἐπιφωνεῖν, ἐπευφημεῖν (225, Anm. 1; 318, 323 f.); dieses akklamierende Rufen kann als ein solches im χῶρος (145, 186, Anm. 1), als ein Geschrei ἐν ἑνὶ στόματι (192, Anm. 1) bzw. ἐξ ἑνὸς στόματος (ebd.), oder als ein Rufen μιᾷ καρδίᾳ (ebd.), bzw. μιᾷ φωνῇ (172, Anm. 1; 191 u. Anm. 2; 199) bzw. μιᾷ ψυχῇ (193), oder als ein ὁμοδυμαδὀν bzw. ὅμου (172, Anm. 1) geschehendes charakterisiert und damit durch die Betonung der Einmütigkeit die göttliche Inspiration besonders hervorgehoben werden. Das Moment des Erstaunens, Erschreckens, Fürchtens (θαυμάζειν, ἐκπλήσσεσθαι, φοβεῖσθαι, das die Epiphanie bekundet und zur A. hinführt (193 ff.), ist ebenso charakteristisch wie die Reaktion widergöttlicher Mächte, die durch die Verba φρίσσειν oder τρέμειν (195 ff.) beschrieben werden kann.

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b) Es ist bedeutsam, daß die (vor-) paulinische Gemeinde die A. als Möglichkeit eigenen Bekennens, als Rechtselement ihrer Ordnung aufgegriffen hat. Sie scheute sich vor solcher Übernahme ebensowenig wie vor der Übernahme jüdischer, gnostischer oder populär-philosophischer Begriffe im Rahmen ihrer Verkündigung.

A.en in diesem Sinne gehen bis in die älteste Zeit zurück, wie die A. der Mächte im Christus-Hymnus Phil 2, 1110 beweist (vgl. die religionsgeschichtlichen Parallelen im NT: den Hymnus 1. Tim 3, 1611, Hebr 1, 612 und die Stelle Apk 5, 2113). Sachlich war die Übernahme durch den Umstand ermöglicht, daß A.en als inspirierte Rede galten14. Ihr Sinn ist denn auch nicht das Bekennen „in dem abgeblaßten modernen Sinn der Feststellung persönlicher Erfahrungen”15. Vielmehr nimmt die vom heiligen Geist getriebene Gemeinde16 in der A. „respondierend auf, was bei der Huldigung der Mächte im göttlichen Thronsaal geschieht. Sie ist also in das eschatologische Geschehen hineingerissen und Zeugin der Inthronisation” ihres Herrn auf Erden17.

Die Perikope 1. Kor 12, 1-3 mit ihrer κύριος Ἰησοῦς — A. stellt für unseren Zusammenhang ein dreifaches klar: Erstens ist es nicht wahr, daß ein Mensch aufgrund eigener Erkenntnis oder aufgrund eines herzlichen Bedürfnisses oder einer Willensanstrengung zu der Erkenntnis kommen kann, daß Jesus sein Herr ist. Daß ein Mensch dies bekennen kann, ist vielmehr in der Gabe des Geistes begründet. Aber,


10. Vgl. Käsemann, Kritische Analyse. Der Vers hat den Vorgang der himmlischen Inthronisation Christi im Auge. „Das geschieht, indem Gott dem Erhöhten den Kyrios-Titel verleiht. Und das wird in der A. und der Proskynese der Mächte bestätigt. Sie nehmen an diesem Akt eben deshalb teil, weil sie bisher die Inhaber der kosmischen Gewalt gewesen sind. Indem sie nun der Machtübertragung auf den Christus zustimmen, werden sie selber entmächtigt. In Zukunft ist Christus allein Weltherrscher” (351 f.). Man beachte das Verb ἐξομολογεῖσθαι, das aus dem Zitat stammende Verb κάμπτειν und die akklamatorische Formel κύριος Ἰησοῦς Χριστός.
11. Mit der zweiten, dritten und sechsten Zeile des Hymnus ist wieder das aus Phil, Hebr und Apk bekannte Geschehen ins Auge gefaßt, vgl. Jeremias z.St., E. Schweizer, Erhöhung 63 f.; 103, 128 f., 132 f., 136 ff.
12. Vgl. O. Michel z. St. und Käsemann, Gottesvolk 68 ff.: Es handelt sich um die öffentliche Besitzergreifung des Christus; mit der allgemeinen kosmischen Huldigung vor dem Inthronisierten endet das Christusdrama.
13. Hier ist Christus der aufgrund seines Sieges (ἐνίκησεν V. 5 absolut gebraucht) zum öffnen der Siegel und Entgegennahme der Rechtsurkunde (O. Roller) Berechtigte (ἄξιος V. 2 meint weder „zaubermächtig” noch „religiös-ethisch würdig”). Die Rechtsurkunde ist aber kein Schuldschein (so Roller von Kol 2 aus), sondern das Buch des neuen Bundes. Wichtig ist der Zusammenhang mit dem himmlischen Geschehen samt den dazugehörigen himmlischen Huldigungen und deren Fortgang auf der Erde: nachdem V. 8-10 die vier Wesen und die Ältesten dem neuen Weltkönig gehuldigt und seine Herrschaft feierlich und rechtsverbindlich anerkannt haben, stimmt die Himmelswelt ein in den Axiosruf, worauf die Irdischen respondieren.
14. Käsemann, Kritische Analyse 359, Anm. 2 mit Bezug auf 1. Kor 14. 26ff.; Kol 3, 16.
15. ebd. 351.
16. vgl. Rom 8, 14-16; 1. Kor 12, 1-3.
17. Käsemann, Kritische Analyse 359.

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dies ist das Zweite, der Geist reißt nicht zu einer Unverantwortlichkeit fort, so daß in Wahrheit nur der Geist, nicht aber der von ihm gepackte Mensch sich verbindlich festgelegt hätte. Sondern der Geist schenkt die Freiheit zu diesem Bekenntnis, erlöst von der Unfreiheit, nicht κύριος Ἰησοῦς sagen zu können. Das Dritte: indem der Geist in der Versammlung zu diesem Bekenntnis drängt, zwingt er alle in die Entscheidung, entweder mit einzustimmen in den Ruf κύριος Ἰησοῦς oder in Widerspruch gegen ihn ἀνάθεμα Ἰησοῦς zu rufen. Der Geist qualifiziert die vermeintlich neutrale Situation als die der Entscheidung, in der der Mensch entweder der Herrschaft Christi unterstellt von den Dämonen frei, oder als Rebell gegen die Herrschaft Christi weiterhin den Dämonen verfallen sein wird. Diese Entscheidungsmacht des Geistes kommt hier18 wie in der den „Vorrang der Prophetie vor der Glossolalie” deutlich machenden Perikope 1. Kor 14, 23-2519 zum Ausdruck.

Neben der A. κύριος Ἰησοῦς, steht die andere: ἀββὰ ὁ πατήρ 20, in der die Gemeinde das ihr widerfahrende Heilshandeln Gottes als zu Recht bestehend anerkennt. Wiederum ist solche Anerkennung kein „Prädizieren”, sondern selber Bestandteil des Heilshandelns, sofern es sich im Geiste der Sohnschaft vollzieht. Gott schenkt die Sohnschaft so, daß die Beschenkten Gott als den Vater und sich selbst als die Söhne erkennen und anerkennen können. Als Gottes Kinder und von seinem Geist getrieben brechen sie in den akklamatorischen Ruf aus21 und erklären damit verbindlich, daß die Mächte, unter denen sie bislang als δοῦλοι versklavt waren, ihren Rechtsanspruch verloren haben. A. ist also hier die „im Geiste” von Menschen verantwortlich gemachte,


18. ἄγεσθαι ist Rom 8, 14; Gal 5, 18 vom Gottesgeist gebraucht. Es ist also derselbe Begriff, der das Getriebenwerden hier zu den Götzenbildern, dort vom heiligen Geiste bezeichnet. Das Phänomen des Enthusiasmus bzw. des Pneumatikertums liegt beide Male vor. Die Welt ist entweder Machtsphäre der Götzen oder des Herrn.
19. G. Bornkamm, Ende 114ff.; bes. 115, Anm. 4: Huldigung und Akklamation geltender Epiphanie Gottes in der Gemeinde, nicht bloß der Bestätigung der Inspiration des Redenden. Bornkamm übersetzt das aus Jes 45, 14 stammende ἐν ὑμῖν mit „unter euch”.
20. Röm 8, 15; Gal 4, 6 sind A.en: beachte den akklamatorischen term. techn. κράζειν (Peterson 191, Anm. 3; Schlier Gal 140, Anm. 1; etwas abweichend Grundmann ThW III, 899), die Näherbestimmung des Schreiens als eines solchen ἐν πνεύματι, sowie das zu πνεῦμα gehörige Gen. Attr. υἱοθεσίας (= juristischer term. techn. für die Adoption, die durch Rechtsakt erfolgende Verbindung des Sohnes mit dem Vater, die Rechtsgrundlage für des Sohnes Sohnschaft; vgl. Bauer s.v.; Schlier Gal 139 und ebd. Anm. 1; Bultmann NTTh 274; Schrenks Alternative ThW V, 1007 zwischen dem ekstatischen und kindlichen, freudigen, unknechtischen Geist der Gewißheit ist unhaltbar, schon weil der Ruf doch „ekstatisch" gemeint ist).
21. Das aramäische ἀββά (zur Form vgl. Bl. Debr. § 147, 3; G. Kittel ThW I, 4; G. Schrenk ThW 984 f.) ist im NT stets zugleich übersetzt; die Doppelsprachigkeit aller Stellen (vgl. weiter Mk 14, 36; die Parallelen Matth 26, 39; Lk 22, 42 bringen nur πάτερ μου bzw. πάτερ) beweist nur, daß es sich um eine liturgische Formel handelt, jedoch nicht um eine Erinnerung an das Vater unser (anders Kittel ebd.; Grundmann ebd.).

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bekennende Aussage, daß sie das dem rechtlichen Anspruch der Mächte auf sie von Gott bereitete Ende für sich ebenso verbindlich anerkennen, wie die jenes Ende herbeiführende Aufrichtung des Herrschaftsanspruches Gottes.

Dieser Herrschaftswechsel ist Gegenstand und Ursprung der A. Das erhellt aus Rm 10, 9 f, wo Paulus offenbar auf eine ihm vorgegebene Bekenntnisformel, ein breites „gemeinchristliches Bekenntnis”, anspielt, nämlich auf das bei der Taufe abgelegte22. Muß man hier πιστεύειν ἐν τῇ καρδίᾳ εἰς δικαοσύνην von dem ὁμολογεῖν στόματι εἰς σωτηρίαν unterscheiden, so ist zugleich die Korrespondenz von πιστεὐειν und ὁμολογεῖν zu betonen: πίστις ist zugleich ὁμολογία, sie ist Glaube an, „bezogen auf ihren Gegenstand, auf Gottes Heilstat in Christus”23. Das bedeutet: Glaube ist nicht ohne verbindliche, öffentliche Erklärung, keine bloße Diathesis der Seele, kein Erlebnis als solches; er ist menschliche Ratifizierung des von Gott gesetzten neuen Rechtsverhältnisses zwischen Vater und Sohn und damit selber Teil des Heilshandelns Gottes, sofern solche Erklärung im Geiste geschieht. Die πίστις bezieht sich in der A. als einem geschichtlichen Handeln des Menschen auf Gottes in der Geschichte geschehenes Heilshandeln. A. ist die mang im Akte des verantwortlichen Auf-sich-Nehmens der Heilstat Gottes, der Anerkennung Gottes als des πατήρ.

 

c) Nach diesen Beispielen24 versuchen wir nun, das Wesen der A. im NT25 zu umschreiben: A. ist Selbstbehaftung des Menschen vor Gott aufgrund des vernommenen Kerygma, ein der Unterwerfung gleichkommender Rechtsakt als Antwort auf Gottes Heilshandeln, bekennendes Ja der Gemeinde zu dem Herrn des neuen Aion; als solche ist sie geistgewirkte Verbindlichkeitserklärung des (bzw. der) Akklamie-renden.

A. ist weiter Proklamation des Auferstandenen als des Herrn nach außen, die die Hörer in die Entscheidung stellt, also geistgewirkte Verkündigung der von Gott her gefallenen und fallenden Entscheidung, die dem Hörer die „autonome” Freiheit nimmt und ihn verantwortlich macht.

A. ist in beiden Fällen inspirierte Rede, Ruf des Organes des Geistes.


22. Bultmann, NTTh 81, 124, 308.
23. Bultmann, NTTh 308.
24. Ein umfassender Versuch müßte neben sie das liturgische Gut des NTs stellen und ihren Rechtscharakter würdigen. Weiter wäre der Zusammenhang von liturgischem Gut und Kerygma zu untersuchen, ebenso zur Tradition. Auch ist in unserer Arbeit von den Qumran-Texten abgesehen worden und somit klar, daß unsere Folgerungen von einem kleinen Ausschnitt aus nur vorläufigen Charakter haben.
25. G. Bornkamm, Das Bekenntnis im Hebräerbrief, 59, nennt als konstitutive Elemente der ὁμολογία: „das Moment der Öffentlichkeit, der Verbindlichkeit, der Endgültigkeit und den Autoritätscharakter”.

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Sie ist nicht in der menschlichen Einsicht begründet, läßt aber auch den Akklamierenden und den Hörenden nicht blind.

Mit der Erhellung des Akklamationsrechtes war Sohms Werk von der historischen Fragestellung aus erschüttert. Einmal war jetzt deutlich, daß Sohm nicht nach dem Recht im NT gesucht, sondern nur das moderne Recht im NT nicht gefunden hatte. Weiter war der Nachweis, daß Geist und Recht im religionsgeschichtlichen Sinn Korrelate sind, für Sohms Werk vernichtend. Nichts fällt ja so auf, wie diese Korrelation: nur wo der Geist herrscht, gibt es Akklamation. Nicht nur die Engführung des Rechtsbegriffes, sondern vor allem das Geistverständnis Sohms war dem neutestamentlichen Sachverhalt nicht gerecht geworden. Zwar hatte Sohm entdeckt, daß es sich in der urchristlichen Organisation um geistliche Vorgänge handelt, aber der Wert dieser Entdeckung wurde von vornherein dadurch geschmälert, daß unter Geist die im Menschen steckende und sich äußernde Frömmigkeit verstanden wird.

Der Sohmsche Autoritätsbegriff ist gleichfalls von der Erkenntnis des Akklamationsrechtes aus zerbrochen worden. Sohms Autoritätsbegriff ist der der religiösen Wahrheit, die Kraft der frommen Rede, die die Autonomie des Individuums voraussetzt26. Diese Autonomie wird vom heiligen Geist, der die Akklamation wirkt und Autorität setzt, zerbrochen.

Wenn Barion sagt, Sohms System sei nur historisch und weiter historisch nur durch den Nachweis zu erschüttern, daß es in der ältesten Zeit bereits Rechtsordnung gegeben habe27, so ist ihm entgegenzuhalten, daß seine Behauptung wie die Sohmsche Theorie auf der petitio principii beruht, Recht sei identisch mit formalem Recht. So begrenzt also eine systematische Komponente auch die Fragestellung Barions. Indem wir Barions Forderung, Sohm historisch zu prüfen, ernst nehmen, gerät Sohms Geistbegriff ins Wanken, und es erschließt sich die geistgelenkte Ekklesia als eine Größe eigenen Rechtes. Die „rein geistliche” Versammlung, von der Sohm gesprochen hat, ist als solche — im religionsgeschichtlich-theologischen Sinn — eine Rechtsgröße.

d) Damit stehen wir vor der Frage, in welchem Sinne die A. ein Rechtsakt ist. Zunächst, müssen wir antworten, im religionsgeschichtlichen, „rein historischen” Sinn, im Sinne einer Rechtsform, die es einmal gab. In ihr gehören Geist und Recht zusammen. Eine Rechtsform stellt sie insofern dar, als der Akklamierende sich im geistgewirkten Ruf verbindlich festlegt und Partei ergreift. Darauf kann er künftig behaftet werden.

Über dieses zunächst „rein historische” Verständnis der A. gelangt man hinaus, wenn man sieht, daß die A. im NT in den Dienst der


26. Vgl. O. Weber, ThEx, N.F. 16, 14 ff.
27. s.o. I B 3.

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Verkündigung genommen werden kann. Von der A. als einem geistlichen Rechtsakt reden, bedeutet eine Aussage über den heiligen Geist machen: er ist nicht das Prinzip der Innerlichkeit und Sittlichkeit des autonomen Menschen, sondern ist das Prinzip des Gehorsams gegenüber Gott. Die Identität von Geist und Christus28 hält fest, daß es sich um den Gehorsam gegenüber dem in Christus offenbaren Gott handelt. Sein Geist unterstellt seinem Recht. Die Akklamation führt uns in den Bereich des Gottesrechtes, das die Souveränität Gottes und das Ende der Autonomie des Menschen heraufführt. Bei diesem Recht geht es also nicht um ein Ordnungsprinzip, aufgrund dessen der Mensch Ausgleich und Wahrung seiner Interessen gegenüber anderen sucht. Es ist nicht Schöpfung des Menschen, sondern eine Weise Gottes, sich auf Erden Geltung zu verschaffen.

Fragt man nach dem Geist Gottes, so stößt man also auf das Recht Gottes. Das ist gegen Sohm festzuhalten. Doch handelt es sich um das Recht Gottes, nicht um ein der Ekklesia als einem weltlichen Verbände zugehöriges, analog zu dem körperschaftlichen Recht zu begreifendes Recht. Das hat Sohm richtig gesehen.

 

3. Der kerygmatisch-rechtliche Charakter des heiligen Rechtes

Das neutestamentliche A.srecht steht im NT nicht isoliert da, sondern im Zusammenhang mit dem heiligen Recht.

a) Die Perikope 1. Kor 5, 1 ff29 zeigt, wie beide zusammen gehören. Zunächst ist zu beachten, daß die korinthische Gemeinde unter Akklamation des Kyrios offiziell zusammentreten soll30. Indem sie auf diese Weise als Christusleib qualifiziert ist, wird die Gemeinde ebenso von jeder souveränen Körperschaft wie auch von einer „rein geistlichen” Versammlung unterschieden. Denn mit der A. tritt sie unter die Herrschaft und das Recht des Kyrios. Unter diesem Gesichtspunkt sind das Zusammenwirken der Instanzen, sowie Ausmaß, Vollzug und Zweck der Strafe zu verstehen.


28. Vgl. 2. Kor 3, 17 und die Gleichung en pneumati = en Christo.
29. Vgl. i.E. wie zum Ganzen Käsemann, Hl. Recht; L. Vischer, Die Auslegungsgeschichte in 1. Kor 6; E. Dinkler, Rechtsverzicht.
30. Genauer: es soll „in der Gemeinde durch Anrufung des Kyrios dessen Dynamis wirksam gemacht werden” (Bultmann, NTTh 126). ἐν τῷ ὀνόματι = unter Anrufung des Namens wird durch die Wortstellung zu συναχθέντων ὑμῶν nicht zu παραδοῦναι, gewiesen (Lietzmann z. St.); συνἀγεσθαι entspricht συνέρχεςθαι, dem term. techn. für das Zusammentreten wie der griechischen Volksversammlung so der offiziellen christlichen Gemeindeversammlung als des Volkes Gottes, die mit Abendmahl verbunden war. Alle christliche Versammlung geschieht ἐν τῷ ὀνόματι τοῦ κυρίου, d.h. in der Vollmacht und unter der Autorität des ephiphanen Herrn.

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Von den drei Instanzen — Kyrios, Apostel, Gemeinde — ist nur die erste souverän, während die beiden letzten, ohne überflüssig zu werden, von der ersten abhängig bleiben31. Doch stehen die beiden letzten nicht gleichwertig nebeneinander; vielmehr entscheidet der Apostel, und die Gemeinde vollzieht in der pneumatischen Gegenwart des Apostels seine Anordnungen. Das Ausmaß der Strafe überschreitet die Möglichkeiten eines Vereins, der etwa eines seiner Mitglieder ausschließt. Der Kyrios, der den Apostel handeln und die Gemeinde dessen Befehl ausführen läßt, liefert den Blutschänder, den er wie alle Getauften in seinen Herrschaftsbereich versetzt hatte, wieder den Mächten aus, denen er entrissen war. Es wird also eine Exkommunikation angeordnet32. Maurer möchte den Rechtscharakter dieser Handlung gegen Sohm mit der Bemerkung sicherstellen33, man dürfe den Rechtsbegriff nicht zu eng fassen. Damit vermischt er wieder den religionsgeschichtlich-historischen mit dem gegenwärtigen Rechtsbegriff, wenn auch in umgekehrter Weise wie Sohm. Sohm hatte den letzteren auf das NT angewandt mit dem Ergebnis, daß er dort nur „rein geistliche” Handlungen konstatieren konnte. Maurer bezieht den religionsgeschichtlichen auf den modernen Rechtsbegriff, um letzteren zu erweitern. Indem wir in 1. Kor 5, 1 ff einen Akt heiligen Rechtes finden, stellen wir zweierlei fest: erstens ist


31. κέκρικα (v. 3) drückt aus, daß Pl anstelle der leider passiv gebliebenen Gemeinde die Initiative ergriffen hat, und kann beides heißen: ich habe beschlossen (entschieden) oder: ich habe gerichtet. Im zweiten Fall wäre τὸν κατεργασάμενον direktes Objekt zu κέκρικα (ich habe den Verbrecher gerichtet). Es ist aber unwahrscheinlich, daß Paulus in einer so schwerwiegenden Sache und bei einer so weittragenden Entscheidung ohne die Gemeinde gehandelt hat. So dürfte die erste Möglichkeit vorzuziehen sein: τὸν κατεργασάμενον ist vorausgenommenes Objekt zu dem Infinitiv παραδοῦναι (ich habe beschlossen, den Verbrecher zu übergeben); so auch Lietzmann z. St.; Bauer s. v.
Man darf die Gegenwart des Paulus in der Versammlung nicht im modernen Sinne mißverstehen: ich bin im Geiste, etwa mit guten Wünschen bei euch. Vielmehr sind die Worte παρὼν δὲ πνεύματι — ὡς παρὼν — συναχθέντων ὑμῶν καὶ τοῦ ἐμοῦ πνεύματος — im Sinne einer „Fernwirkung” (Bousset, zit. nach Lietzmann z. St.) zu verstehen; des Apostels Pneuma wird „als eine wirksame ,Macht’ gegenwärtig sein” (Bultmann, NTTh 205).
Die Wendung σὺν τῇ δυνάμει τοῦ κυρίου drückt die Abhängigkeit der Macht des Pl von der des Kyrios aus. Lietzmann z. St. bezieht sie mit Recht auf das unmittelbar vorangehende καὶ τοῦ ἐμοῦ πνεύματος. Die Dynamis des Kyrios bedient sich hauptsächlich des Apostels, nicht in erster Linie der Gemeinde, die bisher versagt hatte. Es bleibt zu beachten, daß Pl δύναμις τοῦ κυρίου nur mit σύν, nicht mit καί anschließt. Hält er doch damit fest, daß die Dynamis Christi und der Apostelgeist nicht grundsätzlich, sondern faktisch, nicht auf jeden Fall im Sinne einer Verwaltungsordnung bzw. eines Ordnungsmechanismus zusammengehören. Der Apostel tastet die Souveränität des Herrn nicht an, sondern bleibt deren Funktionär. Der Herr kann nicht so festgelegt werden, daß man ihm eine bestimmte Form seiner Mitwirkung reserviert und ihn damit zum Bestandteil einer Rechtsordnung macht. Seine Dynamis könnte ja auch in einem Gemeindeglied wirksam geworden sein; dann hätte der Apostel nicht einzugreifen brauchen.
32. Vgl. A. Deissmann, LvO 257; Lietzmann z. St.; Käsemann, Heiliges Recht.
33. Maurer, Bekenntnis, 20, Anm. 1: „ist eine nach 1. Kor 5, 3-5 ,im Geist’ ➝

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es eine (auszuführende34) Handlung, die für die damals Beteiligten Rechtscharakter besaß; zweitens ist es eine Handlung, die von modernen Rechtshandlungen zu unterscheiden ist.

Dies wird ersichtlich, wenn man die von Paulus erwartete Strafwirkung35 und den angegebenen Strafzweck36 beachtet. Indem den gottfeindlichen Mächten das Recht eingeräumt wird, des Schuldigen irdische Existenz zu verwüsten, wird Gottes Handeln am jüngsten Tage doch nicht vorgegriffen. Obwohl die Gemeinde im Blick auf das jüngste Gericht handelt, macht sie dessen letztes Urteil doch nicht überflüssig. Gott ist der Geber, aber auch Ziel und Grenze des von ihm in der Gemeinde auf Erden zum Vollzug gebrachten Rechtes.

b) Sätze heiligen Rechtes hat Käsemann in seinem gleichnamigen Aufsatz aufgezeigt. Auch sie beweisen, daß die urchristliche Ekklesia sich nicht als eine „rein geistliche” Versammlung, allerdings auch nicht als eine Körperschaft weltlichen Rechtes verstanden hat. Als Musterbeispiel dient Matth 10, 32 f: Vorder- und Nachsatz enthalten das gleiche Verb ἀρνεῖσθαι bzw. ὁμολογεῖν; der Vordersatz wird eingeleitet durch (πᾶς οὖν) ὅστις; der Nachsatz enthält das betont auf das Verb (im Tempus des eschatologischen Futurs) folgende κἀγὼ).

Diesen Sätzen entspricht Gal 1, 8 f; dort ist der Vordersatz durch ἐάν eingeleitet, während im Nachsatz der Imperativ mit ἔστω das eschatologische Futur ersetzt. 1. Kor 16, 22 ist der Fluch neben das οὐ φιλεῖ gerückt — letzteres ist der Grund für den Fluch37. In beiden


➝ vollzogene Übergabe des Sünders an den Satan nicht auch eine Rechtshandlung? Wer diese Frage verneint, faßt der nicht . . . den Rechtsbegriff zu eng?”
34. Ob die Korinther die Anordnung des Pl ausgeführt haben, und ob und wie die von Pl erwarteten leiblichen Schäden des Blutschänders eingetreten sind, wird uns ja nirgends berichtet.
35. Die Meinung des Pl, daß Exkommunikation leibliche Folgen habe, hängt mit „den antiken Anschauungen vom religiös-kultischen Fluch” zusammen (J. Schneider, ThW, V, 170; dort auch der richtige Hinweis, daß eine Parallele zu Acta 5, 1 ff. vorliegt).
36. Zur Bedeutung des Pneuma im ἵνα-Satz vgl. Bultmann, NTTh 205: „Die Person, das eigentliche Ich, das hier der sarx als dem leiblich-körperlichen Leben gegenübergestellt wird” und die Interpretation G. Bornkamms in v. Campenhausen, Amt 147, Anm. „Es handelt sich um die dem Apostel und die der Gemeinde zuteil gewordene Gotteskraft, an der auch der Sünder teilhatte, die ihm aber jetzt nicht länger überlassen werden darf, sondern durch seinen Tod ,gerettet’ werden muß — für die am jüngsten Tage offenbar werdende Vollständigkeit des Leibes Christi.” E. Schweizer, ThW VI, 434.
37. Zu 1. Kor 16, 22 vgl. R. Seeberg, Aus Religion und Geschichte I, 118 ff.; Lietzmann, Messe, 229; G. Bornkamm, Ende des Gesetzes, 123ff.; 124: „Auf jeden Fall appelliert das maranatha an den himmlischen Richter und verleiht dem Anathema drohenden Nachdruck. Die Formel gehört damit in die Sphäre des heiligen Rechtes. Sie enthält keine disziplinarische Anweisung für irgend eine menschliche Instanz, . . . sondern sie spricht für den gesetzten Fall die von Gott her fallende Entscheidung aus und überläßt den Frevler dem Strafgericht Gottes, wobei die Verantwortung ganz dem Angeredeten zufällt und das Anathema die Aufforderung zur Selbstprüfung enthält.”

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Fällen tritt an die Stelle der eschatologischen Strafandrohung der Fluch38.

In diesen Fällen appelliert also der Apostel nicht an die Liebespflicht der Adressaten, sondern flucht. Er läßt ihnen nicht die Freiheit, aus Liebe ihr Ja oder aus formell zustehender Freiheit ihr Nein zu sagen. Wie soll es auch formelle Freiheit geben, wenn der Apostel im Namen seines Herrn fluchen kann! Hier gibt es nur die Unterwerfung unter des Apostels Autorität oder den Stand unter dem Fluch39.

Käsemann hat weiter eine Anzahl von Leit- und Ordnungssätzen aus 1. Kor 14 (Verse 13. 28. 30. 35. 37) neben solche Sätze heiligen Rechtes gestellt und sie als Abwandlungen von Sätzen heiligen Rechtes verstehen gelehrt. Ihre Nachsätze enthalten weder den Fluch noch das eschatologische Futur, sondern sind im dekretalen Jussiv formuliert. Eben damit werden sie als Sätze der vom Apostel geforderten Gemeindeordnung ausgewiesen. Ihre verpflichtende Kraft liegt zwar bereits in ihnen selbst, sofern durch sie der Gemeinde apostolische Rechtssetzung widerfährt. Aber erst v. 38 macht ihre verpflichtende Kraft völlig sichtbar, ein stilechter Satz heiligen Rechtes40, der die vorangehenden Ordnungssätze aufgrund apostolischer Vollmacht in der Art eines Fluches in den eschatologischen Horizont rückt41. Wenn Sohm sich darauf berufen konnte, daß hier ja von der Einsicht die Rede sei, so läßt sich leicht zeigen, daß dieser Einwand nicht stichhaltig ist. Die Ordnungssätze gelten, wie v. 38 beweist, auch unabhängig von der Einsicht der Adressaten; will sagen: Nichteinsicht zieht den Fluch nach sich, begründet aber nicht Verweigerung des Gehorsams. Wer sie hört, ist nicht mehr formell frei, nämlich zur Zustimmung aus Liebe oder zur Abweisung aufgrund formeller Freiheit. Einsicht oder Nichteinsicht sind Kriterium dafür, ob die Adressaten den Geist haben oder nicht.

c) Das Wesen des heiligen Rechtes besteht in dem Rechte Gottes auf die ihm gehörige, dem Kerygma von dem Heilshandeln in Christus gehorsam gewordene Menschheit. Ihr widerfährt, indem sie sich als Gemeinde versammelt, je und je Rechtssetzung Gottes durch die Verkündigung.

Was seinen Rechtscharakter anbelangt, so ist der Begriff des heiligen Rechtes zunächst wieder historisch gemeint und umschreibt das Phänomen der göttlichen Jurisdiktion in der Gott unterstellten Gemeinde.


38. Vgl. neben Matth 10, 32 f., 1. Kor 3, 17 und Apk 22, 18 f.; neben Gal 1, 8 f., 1. Kor 16, 22; 11, 27.
39. Über den Fluch in der Abendmahlsliturgie s.u. II D 4.
40. Zu Vers 38 und dem Vorzug der im Text gegebenen Lesart vgl. Käsemann, Heiliges Recht.
41. Sohm sah, daß 1. Kor 14, 37 f. Paulus seine Vorschrift „von der Zustimmung der Korinther für unabhängig erklärt” hat und deutet dies als eine Ausnahme, die mit der tatsächlichen Machtstellung des Paulus über die Korinther zusammenhänge; vgl. Kirchenrecht I, 55 in der Anm.

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Als Gottesrecht ist es apodiktisch, nicht kasuistisch, sofern die von Gott her fallende Entscheidung über den Frevler proklamiert, aber menschlich nicht vollzogen, der Frevler vielmehr dem Gericht Gottes überlassen wird42. Gleichwohl ist es der Ursprung der auf einzelne Fälle und bestimmte Verhältnisse des gemeindlichen Lebens zugeschnittenen Ordnungssätze43, die der Apostel als Organ des Geistes Gottes verfügt (Schlier: produziert). Die Instanzen, nicht systematisierte und auch nicht systematisierbare Elemente einer stabilen Ordnung oder eines praktikablen Ordnungsprinzips (wie etwa der Sohmschen Liebespflicht), sind einander komplementär zugeordnet. Sie greifen ineinander, sofern in ihnen der Geist herrscht. Das heilige Recht ist konkret, aber unabgeschlossen und unvollständig, nicht am Sozialgebilde, sondern an Gottes Herrschaft orientiert. Indem es verkündigt wird, macht es verantwortlich, fordert Selbstprüfung und bindet an den Christusleib. Es ist weder demokratisch, noch monarchisch (wie Sohm von der charismatischen Einzelpersönlichkeit her das autoritäre Element des Lehrbegabten auslegte) aufzufassen.

Fragt man nach dem Wort Gottes im NT, so stößt man auf das Recht Gottes. Das ist wiederum gegen Sohm zu behaupten. Der Begriff des heiligen Rechtes sichert aber dieses Gottesrecht gegenüber der Verwechslung mit dem am Sozialkörper orientierten menschlichen Recht. Das ist mit Sohm festzuhalten.

 

4. Der Rechtscharakter des Sakraments44

a) Bereits die älteste Gemeinde kennt das Anathema in der Abendmahlsliturgie. Wie der Apostel als Delegat seines Herrn fluchen kann, so bringt der im Sakrament gegenwärtige Herr Fluch und Segen mit


42. Vgl. G. Bornkamm oben Anm. 37.
43. Vgl. den Aufsatz Käsemanns über „Sätze heiligen Rechtes” und Lichtenstein, Die älteste christliche Glaubensformel 6, der auf von πιστεύομεν, οἴδαμεν, λέγω usw. abhängige ὅτι-Sätze (wie 1. Thess 4, 15; 4, 2; 1. Kor 11, 23; Rom 6, 8, 6; 10, 9 f.; 14, 14; Phil 2, 11; 2. Petr 1, 10) hinweist und sie als autoritäre, verbindliche Lehrsetzungen bzw. als autoritative Feststellungen von Glaubenssätzen versteht, die von dem Apostel als dem Organ des rechtsetzenden Gottes verfügt (Schlier: „produziert”) werden.
44. Zum Begriff vgl. Gratian 51: „Das Kanonische Recht ist nach Gratian Sakramentsrecht.” Dieses knüpfte an das Sakrament und den Kirchenbegriff des Urchristentums an (ebd. 64 f.: „Aus dem urchristlichen und dem altkatholischen Begriff der Kirche . . . — nicht, wie die gemeine protestantische Lehre ist, aus heidnischem Mysterienwesen —, ist das altkatholische Sakrament hervorgegangen . . . Alle Voraussetzungen des altkatholischen Sakramentsbegriffes sind bereits im Urchristentum gegeben, . . . sonst wäre es nicht zum altkatholischen Sakramentsbegriff gekommen. Der Altkatholizismus ist geschichtlich die gerade Fortentwicklung des Urchristentums. Dennoch war das Urchristentum ohne Sakrament im Sinne des Altkatholizismus.”) ➝

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sich. Es wird 1. Kor 16, 22 das Anathema ausgesprochen, weil das Maranatha folgt. So ist das Abendmahl tatsächlich Ansatzpunkt für das Kirchenrecht, aber nicht im formalen Sinn — mit Bezug auf die Verwaltung der Gaben und die Leitung der Feier allein —, wie Sohm meinte, sondern vom Wesen des Herrenmahles her, der Epiphanie des Herrn.

Käsemann ist diesen Fragen nachgegangen, indem er den Rechtsgehalt des Abendmahles bei Paulus untersucht hat45. Er findet 1. Kor 11, 17 ff „eine Häufung juridischer oder rechtsverwandter Begriffe und Wendungen”46 und nennt den paulinischen Abendmahlsbericht „eine Formel heiligen Rechtes”47. D.h. es wird der Gemeinde „eine verbindliche Formel heiligen Rechtes überliefert . . ., deren unantastbare Gültigkeit ihrem Inhalt und der dadurch gesetzten heiligen Handlung entspricht”48. Die Gemeinde wird hier heilig-rechtlich dazu verpflichtet, bei ihrem Zusammentritt die καινὴ διαθήκη zu proklamieren, die durch Jesu Tod aufgerichtet und in Kraft gesetzt worden ist49. Sie hat dies zu tun, ἄχρι οὖ ἔλθῃ. Die Gemeinde feiert also das Herrenmahl als dasjenige Ereignis, das sie „in die Gegenwart des Erhöhten und seit seinem Tode Herrschenden”, in die „Konfrontation mit dem Weltenrichter”


➝ Zuerst ist der altkatholische Sakramentsbegriff nachweisbar in 1. Clem: die eucharistische Feier erscheint dort als Fortsetzung des alttestamentlichen Tempeldienstes; die Ordnung wird aus einem Ritus zu einem Kultus mit von Gott selbst vorgeschriebener Form (ebd. 75). „Das altkatholische Sakramentsrecht fällt zusammen mit dem ordnungsmäßigen (den von Gott gegebenen Vorschriften entsprechenden) Handeln der Kirche” (ebd. 79).
45. Anliegen und Eigenart der paulinischen Abendmahlslehre, EvTh 1949.
46. ebd. 272 werden angeführt: συνέρχεσθαι ist fester Terminus für den offiziellen Zusammentritt des antiken Demos und von da aus auf das Zusammentreten der Christengemeinde im Gottesdienst übertragen. Die Antithese von κυριακόν und ἴδιον δεῖπνον wird so stark betont, daß man Anlaß hat, sich der staatsrechtlichen Verwendung des ersten Adjektivs zu erinnern. Auffällig ist der Nachdruck, der im Schluß des Abschnittes auf das Verb krinein und seine Derivate gelegt wird; ἀναξίως in der ganz formalen Bedeutung ,nicht angemessen’ und ἔνοχος haben zweifellos rechtlichen Sinn; wenn καταγγέλλειν mit „proklamieren” übersetzt werden muß, so verbindet sich das mit der Bedeutung von διαθήκη als Willenskundgebung, Ordnung; παραλαβάνειν und παραδιδόναι dürfen als Äquivalente der entsprechenden rabbinischen Termini angesehen werden; ἀνάμνησις ist als Akt des Bekennens zu verstehen.
47. ebd. 272.
48. ebd. 273.
49. ebd. 272. „Die eschatologische Gottesordnung muß auf Erden proklamiert werden, und die gesamte Christengemeinde tut das eben bei der Feier der Eucharistie.” Aus dem Verständnis der anamnesis als Bekenntnis wird gefolgert, daß der Wiederholungsbefehl die Gemeinde nicht bloß anhält, das Herrenmahl regelmäßig zu feiern und dabei selbstverständlich die Erinnerung an Jesu Tod wachzuhalten, sondern ihr gleichzeitig damit die Verpflichtung der Verkündigung der Heilsbedeutung dieses Todes auferlegt” (273). „Die neue diatheke ist nichts anderes als die durch Christus heraufgeführte Gestalt der basileia theou als eines bereits jetzt gegenwärtigen Tatbestandes” (278; dort Hinweis auf Lk 22, 29; Apg 1, 6) „ἄχρι οὖ ἔλθῃ ist deutliche Umformung des Maranatha-Rufes” (G. Bornkamm, Ende des Gesetzes 129).

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stellt und der Herrschaft dieses Kyrios unterwirft50. Indem sie das tut, wird sie von ihm „zu konkretem leiblichen Gehorsam im Leibe Christi" beschlagnahmt51. So ist es kein Zufall, daß sich hier die juridischen Begriffe häufen; richtet doch im Herrenmahl der gegenwärtige Herr „ein bestimmtes Recht auf, das Recht des jüngsten Tages, nämlich des Weltenherrn und Weltenrichters im Bereich seiner Herrschaft”52. So ist das Abendmahl keine Angelegenheit, „die menschlicher Willkür überlassen bliebe”53: „die in Korinth eingerissene Unordnung kann nicht geduldet werden”54. Daher der dekretale Stil in den Versen 27 ff, die Gerichtsdrohung v. 27 und der Aufruf zur Selbstprüfung55.

b) G. Bornkamm hat noch einige weitere Einzelheiten aufgehellt56. 1. Kor 11, 27 f ist ebenso „sakral-rechtlich stilisiert”57 wie 1. Kor 16, 22 und Did 10, 658. Hat das Anathema in der urchristlichen Abendmahlsliturgie „den Sinn, zu Beginn der Mahlfeier die Unwürdigen vom Genuß des Sakramentalen auszuschließen”59, so ist in der negativ gewendeten Formel 1. Kor 16, 22 implicite „die Aufforderung zum Bekenntnis enthalten”60. Das Amen tritt nicht als exorzistische Verstärkung zum Anathema61, sondern bekräftigt es; es „appelliert an den himmlischen Richter und verleiht dem Anathema drohenden Nachdruck”62. Die Formel 1. Kor 16, 22 gehört also „in die Sphäre des heiligen Rechtes”63. „Grund und Ursprung des heiligen Rechtes (ist) die Nähe des Herrn und damit des letzten Gerichtes, . . . unter dem Gottesdienst und eucharistische Feier stehen”64.

c) W. Maurer hat die Bedeutung der Sakramente der Taufe und des Abendmahls65 im Zusammenhang mit der Bekenntnisbildung verfolgt


50. Käsemann, ebd. 281.
51. ebd. 283.
52. ebd. 276.
53. ebd. 276.
54. ebd. 283.
55. ebd. 274.
56. Ende des Gesetzes 123-130.
57. ebd. 129.
58. ebd. 123.
59. ebd. 124. Die Drohformel bzw. Abwehrformel steckt auch hinter Hebr. 10, 29; 13, 10 (ebd. 130).
60. ebd. 125: Anathema bedeutet „die Aufforderung zur Selbstprüfung”.
61. So vermutet Peterson 130 f.; vgl. Kuhn ThW I, 474 f. und Bornkamm, Ende des Gesetzes 125.
62. ebd. 125.
63. ebd.
64. ebd. 127; vgl. ebd. 130 zu 1. Cl 34: Liturgie „proklamiert das Kommen des Kyrios als Weltenrichter”. So wird auch das unvermittelte Nebeneinander von Warnungen gegenüber Irrlehren und Abendmahlsliturgie bedeutsam, 1. Kor 16; Apk 2, 6 f., 16 f.; Did 12-14 (vgl. Bornkamm, ebd. 127, 129).
65. Maurer behauptet, daß die „eine Wurzel der christlichen Bekenntnisbildung im Sakrament der Taufe” liegt (Bekenntnis und Sakrament 4), wird doch durch das Taufbekenntnis „die wechselseitige Verbindung zu drei Größen, dem gekreuzigten und erhöhten Herrn, seiner Gemeinde und dem Täufling hergestellt” (ebd. 6). ➝

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und behauptet: „Bekenntnis schafft Recht”66. Dabei hängt die Rechtsbedeutung des Bekennens von der Interpretation des Begriffes ὁμολογία ab, den Maurer so erweitert, daß er auch die Liebestat mit umfaßt67: „indem . . . der ,communio-Charakter’ des christlichen Bekenntnisses sich durch den Tatbeweis der christlichen Liebe im praktischen Leben auswirkt, macht er sich auch geltend in der Sphäre des Rechts”68. „Die Kirche als Christusgemeinde ist universale Liebesgemeinschaft, als solche universale Bekenntnisgemeinschaft und als solche universale Rechtsgemeinschaft”69. Das beim Abendmahl gesprochene Bekenntnis bindet also den Bekenner wie an Christus so auch an den Christusleib.

d) Nun muß noch versucht werden, Wesen und Rechtscharakter des Sakraments zu bestimmen. Taufe und Abendmahl bezeugen und verkündigen Tod und Auferstehung Christi als Heilsereignis und machen es präsent. Sie gliedern in den Leib Christi ein und stellen die Empfänger in die Nähe und damit unter die Jurisdiktion des Herrn. In diesem Sinne sind sie konstitutiv für die Kirche.

Von da aus wird ersichtlich, daß bereits der Begriff der Ekklesia anders als der Sohmsche Begriff gefaßt werden muß. Es ist zweierlei, unter die Jurisdiktion des Herrn gestellt oder zur sittlichen Persönlichkeit zu werden. Im ersten Fall ist von dem „Recht im Wort” zu reden, von dem Recht Gottes, das im Wort verkündigt und damit aufgerichtet


➝ Vgl. damit Käsemann, Abendmahl 265: „Tatsächlich muß auch die paulinische Tauflehre von dem Motiv des Christusleibes her erklärt werden”. S. 266 verweist Käsemann auf 1. Kor 12, 13; vgl. auch Gal 3, 27. Nun hat Maurer zwar den Begriff der Homologie im Zusammenhang mit der Taufe nur kurz erwähnt und den des sakramentalen Rechtes weitgehend vom Bekenntnis beim Herrenmahl her entwickelt. Doch kann er — nach dem Hinweis auf Hbr 10, 23—25, einem Beispiel, „wie sich die Rechtsbedeutung des Bekenntnisses in der Einzelgemeinde auswirkt” (ebd. 15) — formulieren: „Indem die Taufe den Täufling in die Gemeinschaft mit dem erhöhten Christus aufnimmt, bindet ihn sein Taufbekenntnis ein für alle Mal an die irdische Gemeinde . . . Wie das Bekenntnis den Christen an den Rechtszusammenhang der Kultgemeinde bindet, so trennt es ihn von der ungläubigen Welt . . . Der communio-Charakter (des Bekenntnisses) setzt die Einheit des christlichen Gottesdienstes voraus und macht deren Wahrung zur Pflicht.” Zu der Frage von Sakrament und Ethik und der Verbindung von Taufakt und Paränese vgl. E. Dinkler, Rechtsverzicht 194-197; zur Frage von Taufe und Bekenntnis vgl. Käsemann, Taufliturgie 144.
66. Maurer, ebd. 11, der das Lobbekenntnis der ersten Christenheit in den Zusammenhang mit der alttestamentlichen Psalmendichtung rückt, definiert das christliche Bekenntnis als den „Lobpreis der Heilstaten Gottes durch Christus”, ebd. 8. Sein Inhalt ist der Dank für die Gemeinschaft mit dem erniedrigten und dem erhöhten Herrn (ebd. 11). Diese Definitionen sind von dem o. über Akklamation Ausgeführten nach der rechtlichen Seite hin zu ergänzen und zu präzisieren. Nach Maurer hat der „bekennende Lobgesang vornehmlich bei der Feier des Herrenmahles” seine Stätte, d.h. „im geschlossenen Sakramentsgottesdienst der Gemeinde” (ebd. 11).
67. ebd. 14, Anm. 2; vgl. O. Michel, ThW V, 199-220 setzt sich mit Maurer nicht auseinander; ebensowenig Bultmann, NTTh.
68. Maurer, ebd. 13.
69. ebd.

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wird. Im Sohmschen Sinne muß man vom Wort ohne Recht reden, von dem Wort, das nicht Gottes Recht über den Angeredeten aufrichtet. So enden denn Gottes Wege im Sohmschen System bei der frommen, sittlichen Persönlichkeit, die sich mit anderen Gleichgesinnten versammelt. Das Gottesrecht dagegen bezeugt, daß Gottes Wege bei der Gott unterworfenen, aller Autonomie entnommenen und dem Nomos Gottes unterstellten Welt enden.

 

5. Zusammenfassung

Wir haben gesehen, daß sich der religionsgeschichtlichen Forschung Rechtselemente des NTs erschlossen haben, ohne daß sie dabei einen modernen Rechtsbegriff für das NT zu unterstellen oder durch einen religionsgeschichtlichen Rechtsbegriff die Schwierigkeiten des modernen Rechtsbegriffes zu umgehen braucht. Wir haben uns damit begnügt, als solche Elemente die Akklamationen, die Handlungen und Sätze des heiligen Rechtes sowie das im Umkreis des Herrenmahles und der Taufe aufzuspürende Sakramentsrecht zu umschreiben. Ein umfassen¬der Versuch müßte neben sie das liturgische Gut des NTs stellen und auch ihren Rechtscharakter würdigen. Ihr Zusammenhang mit dem Kerygma und mit den genannten Elementen müßte bestimmt und ihr Verhältnis zur Paradosis geklärt werden. Auch ist in unserer Arbeit von den Qumran-Texten ganz abgesehen. Es ist also klar, daß unsere Folgerungen von einem Ausschnitt aus im Blick auf jene weiteren Gesichtspunkte vorläufigen Charakter haben. Die genannten Elemente bekunden, daß der heilige Geist den Menschen die Möglichkeit eröffnet, sein Funktionär zu sein. So darf man zusammenfassend von dem „geistlichen Recht” des NTs reden, wird doch damit begrifflich festgehalten, daß der Geist als der Erhöhte in seiner gegenwärtigen Macht Autor und Geber, aber auch Ziel und Grenze dieses Rechtes ist70. Freilich muß man darauf achten, daß hier unter Geist der Geist Jesu Christi, der Geist der Endzeit und der Sohnschaft verstanden ist71, also nicht der


70. Der Wert der älteren Arbeiten, die das Recht im NT, und zwar speziell staatliches, kodifiziertes Recht, aber nicht Kirchenrecht und seine Entstehung betreffen, bleibt unberührt.
71. Vgl. dazu H.D. Wendland, Geist, Recht und Amt im NT, 1938; zur Frage des Verhältnisses von Pneuma und Kyrios vgl. Dibelius, Botschaft und Geschichte II, 128 ff.; E. Schweizer ThW VI, 431-433.
Auch Sohm kannte schon im positiven Sinn den Begriff des geistlichen Rechtes. „Das kanonische Recht ist nicht ,kirchliches Recht’ im Sinne der herrschenden Lehre, sondern geistliches Recht . . . Der Begriff des geistlichen Rechtes ist der Schlüssel zur Geschichte des kanonischen Rechtes. Das altkanonische Recht unterscheidet sich dadurch von dem heute geltenden neukanonischen Recht, daß es in allen seinen Teilen göttliches . . . geistliches Recht in vollem Sinne des Wortes darstellt” (Gratian 94, Anm. 5).

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an das Lehramt gebundene und von ihm her regulierte oder der mit der religiösen Innerlichkeit verwechselte Geist der Kirche oder des frommen Einzelnen. Reden wir von geistlichem Recht, so halten wir damit den vollkommenen Gegensatz zu Sohm fest, sofern Sohm die rein geistliche Handlung und Versammlung gegen die formale, rechtliche setzte, wir aber mit der geistlichen Versammlung die durch den Geist als der machtvollen Gegenwart Jesu Christi, des Erhöhten, dem Recht Gottes unterstellte Ekklesia und mit der geistlichen Handlung das gottesrechtliche Regiment des Geistes meinen.