Scheuner, U.

Recht und Gerechtigkeit in der deutschen Rechtslehre der Gegenwart

1956

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Recht und Gerechtigkeit in der deutschen Rechtslehre der Gegenwart

 

Von Prof. Dr. Ulrich Scheuner, Bonn

 

I. Aufstieg und Ermattung naturrechtlicher Strömungen in der Nachkriegszeit

Die Frage nach dem tieferen Grunde der Rechtsgeltung und nach der inhaltlichen Beziehung des Rechtes zu den Geboten der Gerechtigkeit ist in Deutschland nicht erst das Erbe der staatlichen und moralischen Erschütterungen am Ausgang des zweiten Weltkrieges. Die Abwendung von der positivistischen Ableitung des Rechts aus der Willensmacht oder aus anderen sozialen Faktizitäten war schon von Rudolf Stammler1 vorbereitet worden, so sehr seine Ansätze sich in der Aufweisung von formalen transzendentalen Beziehungspunkten erschöpften2. Einen wichtigen Schritt weiter führte, nachdem die deutsche Entwicklung der zwanziger Jahren eher von der — Jhering’sche Gedanken weiterführenden — Schule der Interessenjurisprudenz bestimmt wurden, die Kritik Max Schelers3 an dem Formalismus der neukantischen Definition der Gerechtigkeit und seine Grundlegung einer materialen Wertethik, wie sie dann von Nicolai Hartmann4 aufgenommen und fortgebildet wurde. Unzweifelhaft aber hat die Suche nach höheren inhaltlichen Maßstäben des Rechts nach dem Ende des Dritten Reiches und auf Grund der in ihm gewonnenen Eindrücke entscheidend an Intensität zugenommen. Seit diesem Zeitpunkt machten sich vor allem die Neigungen geltend, zu naturrechtlichen, bleibenden Sätzen des Rechts zu gelangen, die für das Jahrfünft 1945-1950 geradezu charakteristisch sind. Ich weise hierfür auf die späte und tastende Umkehr Radbruchs hin, der an seinem ethischen Relativismus nach den Erfahrungen des Dritten Reiches zweifelnd wurde5 oder auf die Bemühungen von Helmut Coing6 um die Ausarbeitung einer Summe oberster Rechtsgrundsätze in


1 Die Lehre vom richtigen Recht 1902; Theorie der Rechtswissenschaft 2. Auflage 1911. Über ihn siehe C.J. Friedrich, Die Philosophie des Rechts in historischer Perspektive 1955, S. 96 ff.
2 Zum Formalismus Stammlers W. Friedmann, Legal Theory 3. Aufl. 1953, S. 104/105.
3 Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik 1913; 4. Aufl. 1954.
4 Ethik 1926; 3. Aufl. 1949.
5 Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht; Südd. Jur.-Z. 1946, S. 105 ff.; jetzt in: „Rechtsphilosophie”, herg. von Erik Wolf, 4. Aufl. 1950, S. 347 ff.; Fünf Minuten Rechtsphilosophie (1945), dort S. 335 f.
6 Die obersten Grundsätze des Rechts 1947; Grundzüge der Rechtsphilosophie 1950.

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Anlehnung an die materiale Wertethik und unter Heranziehung der wohl phänomenologisch verstandenen Strukturprinzipien aus der „Natur der Sache”7.

Inzwischen sind diese Bestrebungen unverkennbar ermattet. Kritische Einwendungen sind ihnen entgegengetreten. In einer vereinfachenden Kritik hat sich Eberhard Schmidt8 darauf berufen, eine sichere Feststellung naturrechtlicher Sätze sei nicht möglich und es bleibe, da man nicht an das subjektive Rechtsgefühl des Richters appellieren könne, die Aufgabe des Gesetzgebers, ein gerechtes Recht zu schaffen. Er hat sich vornehmlich in Betonung der Forderung der Rechtssicherheit und der sonst drohenden Überforderung der Richters zu einer Erneuerung des Positivismus bekannt. Die eindringendste Auseinandersetzung hat Hans Welzel gegeben9. Von dem Boden einer idealistischen Philosophie aus, ergänzt durch die phänomenologische Überzeugung von der Einsichtigkeit „sachlogischer Strukturen” im Gebiete der rechtskonstruktiven Begriffe, hält Welzel den Anschauungen der materialen Wertethik und ihrem Glauben an die Erkennbarkeit der Ranghöhe einzelner Werte und an die Gewinnung bestimmter inhaltlicher Wertgrundsätze die Unmöglichkeit entgegen, solche Werte unabhängig von geschichtlichen Lagen und Denkstilen zu entwickeln und weist auf den Abstand hin, in welchem Erkenntnisse allgemeiner Natur im Reich der Werte zu den Maßstäben für die Gewinnung einer konkreten Entscheidung notwendig verbleiben10. In der Tat wird man Welzels Hinweis auf die mangelnde Evidenz der auf der Grundlage der materiellen Wertethik entwickelten Grundprinzipien des Rechts sehr ernst nehmen müssen. In den auf diesem Wege gewonnenen Systemen grundlegender rechtlicher Sätze begegnen uns oft zeitgeschichtlich anerkannte Wertauffassungen, denen man indessen nicht eine bleibende Gültigkeit beizulegen vermag. Die Grundlagen moderner Naturrechtslehren erweisen sich als eine Zusammenfassung der modernen Anschauungen von Staat und Gesellschaft11. Welzel selbst beharrt nur bei einem Gedanken, den er als materialen Mindestgehalt jeder Ethik bezeichnet: der Anerkennung des Menschen als autonomer Person. Dennoch ist auch diese Basis der


7 Kritische Übersichten über die seit 1945 weithin einsetzenden Bemühungen um ein Naturrecht bei Wieacker, Südd. Jur.-Z. 1949, S. 295 ff.; Württemberger, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 38 (1949), S. 98 ff.
8 Gesetz und Recht. Wert und Unwert des Positivismus (Jur. Studiengesellschaft Karlsruhe, Heft 1) 1952.
9 Vom irrenden Gewissen 1950; Naturrecht und materiale Gerechtigkeit 1951 (2. Aufl. 1955); Naturrecht und Rechtspositivismus. Festgabe für Niedermeyer 1953, S. 280-294.
10 Naturrecht, S. 180/181.
11 Spranger hat im Hinblick auf diese Versuche davon gesprochen, sie ergäben „doch nur eine Landkarte des modernen abendländischen, stark christlich beeinflußten Wertbewußtseins”.

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modernen ethischen Anschauung, wenn wir ihr gegenüber auf die antike Institution der Sklaverei blicken, nicht eine zeitlose Grundlage ethischen Denkens, sondern sie würde ohne die christliche Lehre nicht bestehen. Die „sachlogischen Strukturen” des Rechts aber, die Welzel als dem positiven Recht immanente Bindungen darlegen will, stellen — da die Jurisprudenz ebenso wie in ihren Begriffen auch in ihren konstruktiven Formeln keine logische Notwendigkeiten im Sinne absoluter Verbindlichkeit, sondern werthafte Grundsätze kennt — rechtskonstruktive Gedanken dar, die ihrerseits auf ein anthropologisch bestimmten Vorstellungsbild zurückreichen. Sie sind keine unveränderlichen, in der Sache selbst gegebenen Linien, sondern vielmehr jeweils Bestandteile eines bestimmten gedanklichen Systems.

Wer aufmerksamer die heutige deutsche Rechtslehre beobachtet, wird allenthalben die Zeichen eines sich wieder kräftigenden Positivismus finden. Dazu hat sicherlich beigetragen, daß durch eine rasche und vereinfachende Berufung auf naturrechtliche Prinzipien, wie sie sich in der Rechtsprechung nach 1945 bisweilen fand12, Rechtslehre und Praxis auf den Weg der Treue zum positiven Recht zurückgewiesen wurden. In der gleichen Richtung dürfte wohl auch die Heranziehung naturrechtlicher Gedanken zur Stütze strafrechtlicher Verurteilungen gewirkt haben, wie sie in der Judikatur der Nürnberger Prozesse und in der Anwendung des Kontrollratsgesetzes Nr. 10 zur Anwendung gelangten. Es ist dabei weniger an die Aburteilung verbrecherischer Taten zu denken, die zur Zeit ihrer Begehung zwar nicht ausdrückliche Rechtsvorschriften, wohl aber die elementaren Rechtsvorstellungen verletzten, die zum gemeinsamen Rechtsbewußtsein der Völker gehören. Die rückwirkende Beurteilung früheren Handelns in Gegenüberstellung des damaligen positiven Rechtsgebotes und höherer Normen des Rechts berührt aber auch Fragen, in denen eine solche Evidenz des Unrechts weit weniger klar gegeben ist, oder gar eine sichere rechtliche Beurteilung nicht mehr gewonnen werden kann, sei es im Hinblick auf Pflichtenkollisionen, sei es wegen der Unsicherheit der anwendbaren Rechtsmaßstäbe13. Heute sehen wir jedenfalls weithin den nominalistischen Glauben an die begriffsbildende Allmacht des Gesetzgebers sich wieder ausbreiten. Und nicht weniger erneuert sich der unverändert stark ertönende Ruf nach der Gesetzgebung als des allgemeinen Hilfsmittels zur Lösung auftretender rechtlicher oder sozialer Fragen. Kennzeichnende Züge lassen sich für diese Wiederkunft der positivistischen Gesinnung anführen. Da sind die einfacheren Merkmale: die Überschätzung des gesetzgeberischen Willens in der Gestalt des Kultes der Gesetzgebungsmaterialien, die Vorstellung, es hänge vom Gesetzgeber ab, ob


12 Vgl. z.B. AG Wiesbaden, SJZ 1946, S. 36; LG Kassel, NJW 1948, S. 628; LG Bonn, MDR 1948, S. 153.
13 Vgl. z.B. die Begründung in dem Urteil des OGH B. Z. in MDR 1949, S. 305 und die kritischen Untersuchungen von Richard Lange, DRZ 1948, S. 155 ff.

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er überpositive Normen anerkennen wolle14. Schon bei Radbruch finden wir ferner den Gedanken, nicht jeder Richter, nur die höchsten Gerichte sollten gegenüber dem positiven Gesetz sich auf den Maßstab des Naturrechts berufen dürfen15. Als ob nicht gerade in der Zeit nach 1945 sich erwiesen hätte, daß jedem Richter und jedem Beamten im Konflikt mit einem gesetzlichen Unrecht die Anrufung des höheren Rechts offenstehen muß! Naturrechtliche Grundsätze gelten, sofern man sie anerkennt, überall mit gleicher aktueller Kraft; sie sind nicht ein Privilegium höherer Gerichte. Es ist endlich nur eine verfeinerte Form des positivistischen Gesetzesglaubens, wenn heute schwierige Rechtsfragen nicht der Legislative, sondern dem mit Gesetzeskraft ausgestatteten Spruch eines Gerichtshofes vorgelegt werden, dem hierbei die Hilfe bestehender sicherer Rechtsmaßstäbe nicht zur Seite steht. Denn dort, wo eine Verfassung nur allgemeine Formeln darbietet, wie das bei manchen ihrer Prinzipien und grundrechtlichen Sätze der Fall ist, verfügt der Richter über keinen sichereren Maßstab der Gerechtigkeit als der Gesetzgeber.

Nur in zwei Bereichen tritt uns der naturrechtliche Gedanke heute in weiter Entfaltung entgegen. Als Teil der katholischen Sittenlehre und in Verbindung mit der Idee der Grund- und Menschenrechte. Die katholische Lehre geht auf thomistischer Grundlage von einer Bindung des Menschen an die in Gottes Schöpfung angelegte natürliche Sittenordnung aus und gewährt damit der katholischen Moraltheologie und sozialen Theorie ihr festes und gesichertes Fundament. Zum größeren Teil gibt dieses naturrechtliche Denken der modernen katholischen Anschauung inhaltlich heute traditionell gesicherte Sätze und Auffassungen der moralischen Sphäre wieder. In der begrifflichen Fassung mögen dabei in der Gegenwart vielleicht in stärkerem Maße Tendenzen bestehen, die unveränderlichen Gebote des primären Naturrechts auf das Wesentliche zu beschränken und dem Bereich des abgeleiteten Naturrechts der Folgerungen, dessen Sätze mit der Zeit wandelbar sein können, einen weiteren Raum einzuräumen. Auf der anderen Seite freilich ist dieses Naturrecht leicht versucht, Forderungen der Zeit mit dem Pathos naturrechtlicher Postulate zu umkleiden. So wird etwa die im Bereich der Ehe und Familie gegründete Stellung der Eltern und ihre Aufgabe und Befugnis der Erziehung fortgebildet zu einem Begriffe des natürlichen Eherechts, der ganz bestimmte konfessionspolitische Forderungen deckt16. Solche Auffassungen, die politische Ziele der Gegenwart naturrechtlich stützen, lassen zuweilen die Einsicht außer acht,


14 Bezeichnend, wie Bachof (Verfassungswidrige Verfassungsnormen, 1951, S. 27) die positive Anerkennung der übergesetzlichen Normen in Art. 1, 3, 20 Abs. 3 des deutschen Grundgesetzes hervorhebt, infolge der Möglichkeit der Änderung oder des Wegfalls dieser positiven Bestimmungen aber besorgt, jene Geltung könne wieder dahinfallen.
15 Rechtsphilosophie, 4. Aufl., S. 355; ebenso Bachof, S. 53.
16 Zu diesen neueren Thesen siehe Maunz, Toleranz und Parität im deutschen Staatsrecht, 1953, S. 10 f.

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daß auch in der thomistischen Lehre nur die allgemeinen und fundamentalen Sätze des sittlichen Lebens zum Naturrecht gerechnet werden. Wenn der Kreis der naturrechtlichen Thesen zu weit ausgedehnt wird, verliert der naturrechtliche Gedanke an Gewicht und mag sogar als Ausdruck einer bestimmten politischen Richtung mißverstanden werden.

Ein zweites Feld naturrechtlichen Denkens begegnet uns im Umkreis der Grundrechte. Hier fehlt es freilich an einer geschlossenen philosophisch-anthropologischen Anschauung, aus der es sich ableiten ließe. Vielmehr ist meist einfach die Vorstellung „vorstaatlichen” oder „übergesetzlichen” Bestehens der Menschenrechte anzutreffen, nicht selten sogar in Verbindung mit dem positivistischen Argument, daß die Verfassungen selbst dieses Wesen der Grundrechte anerkennen. Daß die Idee der Grundrechte aus einer bestimmten historischen Anschauung von Staat und Gesellschaft erwachsen ist, bei der unzweifelhaft auch christlich-reformatorische Ansätze mitgewirkt haben, wird nur von solchen Betrachtungen der Grundrechte berücksichtigt, die sie in ihrer geschichtlichen Entstehung erfassen und damit auch den Wandel erkennen, dem Art und Umfang der Grundrechte unterliegen17. In der Praxis begnügt man sich weithin damit, die erhöhte Bedeutung der Grundrechte durch die Betonung ihres „überstaatlichen” Charakters zu unterstreichen18. Deutlicher wird schon erkannt, daß nur die Kernsätze der Menschenrechte, vor allem die Achtung der Würde und Freiheit des Menschen, ein überzeitliches Fundament besitzen, nicht aber die näheren positiven Ausgestaltungen im Verfassungsrecht der einzelnen Staaten19.

Wenn wir also in der Gegenwart auch mancherlei Unsicherheit und Zweifel bei der Annahme überpositiver Grundsätze des Rechts


17 Siehe zur Herkunft der Grundrechte aus bestimmten religiös-philosophischen Anschauungen Hans Huber, Ztschr. f. Schweiz. Recht, 1936, S. 5a ff.; Werner Kaegi, dort Bd. 72 (1952), S. 212 ff.; Gerhard Ritter, Histor. Ztschr. 169 (1949), S. 233 ff.; Stanka, Die Menschenrechte, ihre Geschichte und ihre Problematik, Wien 1954. Dabei wird zuweilen (z.B. bei Ritter oder bei Kipp, Die Menschenrechte in Geschichte und Philosophie in: Die Menschenrechte in christlicher Sicht, 2. Beiheft zur Herder-Korr. 1953, S. 30 ff.) der individualistische Charakter der Grundrechte, auch in ihrer historischen Ableitung, überbetont.
18 Die Rechtsprechung konstatiert in der Regel einfach den „vorstaatlichen” oder „übergesetzlichen” Charakter eines Grundrechts. Vgl. Bay. Verf.GHof in VerwRspr. 1 S. 2; 2 S. 5, 280; Bad. StGH dort § S. 375; 2 S. 133. Bundesgerichtshof dort 5 S. 642; ferner BGHZ 6 S. 275; 11 S. 84.
19 Eine besondere Tendenz zur Gewinnung eines weiteren Fundaments für die Grundrechte tritt auch bei Autoren hervor, die auf dem Boden einer positiven Rechtswissenschaft stehen. So bezieht Nawiasky (JZ 1954, S. 719 f.) auch die vorrechtlichen Ideen der Grundrechte in seine Interpretation ein, und Giacometti möchte aus der positiven Verbürgung von Einzelfreiheiten in der Verfassung die Folgerung ableiten, daß damit jede bedeutsam werdende individuelle Freiheit gesichert sei (Die Freiheitskataloge als Kodifikation der Freiheit, Zürich 1955, S. 13 ff.).

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feststellen können, so bleibt damit doch in allem Ernst die Frage nach den bleibenden inhaltlichen Maßstäben des Rechts gestellt, — nicht notwendig im Sinne einer Wiederaufnahme der älteren naturrechtlichen Tradition, wohl aber in dem Sinne, daß der Weg zu einer Fortführung oder Erneuerung des Positivismus mit seiner Hinnahme des Bestehenden und der Macht verwehrt ist. Die einfache Hinnahme aller Anordnungen des politischen Souveräns, ohne sie an einem über das eigene Land und den geschichtlichen Moment hinausgehenden Maßstab rechtlicher Grundanschauungen zu messen, kann nach den Erfahrungen der letzten Jahrzehnte, kann aber auch nach dem Stande der Rechtstheorie keine Geltung für die Gegenwart mehr besitzen. Es ist sehr bemerkenswert, daß selbst in dem klassischen Land der parlamentarischen Souveränität, in England, die Bindung allen Rechts an höhere Grundsätze heute stärker betont wird20. Die positivistische Gesinnung ist der Ausdruck eines ethischen Relativismus, der die Rückbeziehung des Rechts auf die Gerechtigkeit löst und an ihre Stelle die Entscheidungsmacht einer oberster irdischen Instanz setzt, sei dies nun ein politischer Souverän, eine zur Normativität erhobene faktische Situation oder ein soziales Interesse. Eine deutsche positivistische Theorie wird dabei veranlaßt sein, an die Lehre vom staatlichen Voluntarismus anzuknüpfen, die der ältere deutsche Positivismus des 19. Jahrhunderts ausgearbeitet hat. In einer Epoche, in der zwar die Macht des Staates noch immer gewaltig gesteigert erscheint, in der aber doch bereits deutlich wird, daß alle Staaten im Rahmen der internationalen Gemeinschaft rechtlichen Bindungen und Begrenzungen unterliegen, wäre eine solche Rückkehr zur Allmacht des staatlichen Gesetzgebers in vielen Richtungen im Widerspruch mit den Grundkräften der Zeit. Das Recht wird vielmehr heute als eine Erscheinung zu verstehen sein, das nicht allein der Macht seine Geltung verdankt, sondern vielmehr seinem Bestand aus den beiden Momenten der faktischen Annahme durch die Menschen seines Geltungsbereiches und der inhaltlichen Beziehung zu den Forderungen der Gerechtigkeit gewinnt. Sowohl nach der Seite der soziologischen Kräfte hin, die das Recht tragen und gestalten, wie nach der uns hier beschäftigenden Problematik seiner inneren Richtigkeit hin gilt es dem Wesen des Rechts nachzugehen.

Nicht weniger dringlich wie für die Rechtswissenschaft sind aber diese Fragen auch für die theologische Ethik. Ihr Gehalt ist freilich ein anderer als der der Gebote des Rechts. Aber es bestehen doch enge Beziehungen. Der nahe Zusammenhang zwischen Recht und Sittlichkeit weist dem Recht seine Stelle in einer religiös begründeten Sozialethik


20 A.L. Goodhart, English Law and the Moral Law 1953, S. 45 ff. Die Notwendigkeit der Anerkennung und Pflege bestimmter freiheitlicher Traditionen als Richtung und Grenze des modernen demokratischen Staates und der Willensbildung der Massen ist auch das Thema des Buches von Walter Lippman, The Public Philosophy 1955, S. 103 ff.

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an. Die Verbindung erscheint enger im Bereich der angelsächsischen Theologie, die von dem Gegebensein fester natürlicher Ordnungen ausgeht und deren Blick in einem sehr viel stärkeren Maße auf die Bewährung der christlichen Liebe in der Durchdringung der Welt gerichtet ist. Es ist gewiß notwendig, sich von den Gefahren einer natürlichen Theologie zu hüten, die bestimmte Formen weltlicher Ordnung als christliche Gebote bezeichnen und damit das Gesetz der Liebe in ganz bestimmte Forderungen umprägen möchte21. Aber die christliche Anschauung sieht sich dem Recht gegenüber vor zwei Grundfragen gestellt: Sie hat einmal die Frage nach der christlichen Begründung des Rechts zu erheben, nach der Beziehung zwischen Gottes Gerechtigkeit und der iustitia civilis. Zum anderen aber sieht sich die Christenheit auch zur Verantwortung gegenüber dem Inhalt des Rechts gerufen. So tief der Unterschied weltlichen Rechtes vor der nur dem gläubigen Christen möglichen Verlebendigung der lex charitatis ist, so weiß doch die Kirche zwischen gerechten und ungerechten Staatsgesetzen zu unterscheiden und ist damit auch vor die Frage der inhaltlichen Maßstäbe des Rechts gestellt22. Die beiden Fragen, die Erhellung des Wesens von Recht und Gerechtigkeit überhaupt und die Gewinnung von inhaltlichen Aussagen über die Gerechtigkeit, lassen sich grundsätzlich scheiden, hängen aber in ihrer Beantwortung eng zusammen. Aus der Art, wie die Grundlage des Rechts bestimmt wird, folgt notwendig auch die Stellungnahme zu der Existenz und Erkennbarkeit letzter Prinzipien des Rechts.

Was die Begründung des Rechts angeht, so überwiegen in der heutigen Theologie und Philosophie des Rechts zwei Richtungen. Die eine sucht die Grundlage des Rechts in soziologischen Gegebenheiten, denen sie normative Bedeutung beilegt. Sie hat vor allem in der modernen angelsächsischen und französischen Lehre eine weite Verbreitung und weist verschiedene Strömungen auf, die von einer Erhebung sozialer Fakten zu einem normativ-naturrechtlichen Maßstab (Duguit)23 bis zu weitgehender Ableitung der Rechtsinhalte aus den gesellschaftlichen Verhältnissen und sozialen Anschauungen in ihrer geschichtlichen Entwicklung reichen24. Die andere Richtung knüpft, wenn wir Anhänger


21 Hierzu Reinhold Niebuhr, Christian Realism and Political Problems 1954, S. 142, 146.
22 Über diese beiden Fragestellungen Ernst Wolf in „Kirche und Recht”, Ein vom Rat der EKD veranlaßtes Gespräch über die Begründung des Rechts, 1950, S. 11.
23 Über die Rechtslehre Duguits und ihre naturrechtliche Seite siehe Friedmann, Legal Theory, S. 171 ff.; Sir Ernest Barker, Principles of Social and Political Theory 1951, S. 112 ff.
24 Hier ist selbstverständlich die Stelle, wo die von Marx ausgehenden Ansichten stehen, obwohl deren idealistische Komponente nicht zu übersehen ist (vgl. Friedrich, Philos. d. Rechts 1955, S. 86 ff.). Zu neueren soziologischen Strömungen der Rechtstheorie siehe Friedrich S. 109 f.; Friedmann S. 187 ff.

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älterer idealistischer Schulen beiseitelassen, vor allem an die Phänomenologie und an die materiale Wertethik an und sucht von dort aus das Recht im Bereich der sittlichen Werte zu begründen und seine Grundstrukturen zu erkennen. Auf dem Boden der theologischen Lehre begegnen sich in der Auseinandersetzung die Anschauung derjenigen, die dem Recht in den Ordnungen der Schöpfung Gottes den Ursprung und zugleich die allgemeine bindende Richtung geben möchten mit der neueren Ansicht, die eine solche Anerkennung göttlich gesetzter irdischer Ordnungen als Annahme einer zweiten Quelle der göttlichen Offenbarung ablehnen und die streng die konkrete Natur jeder vom Christen zu fällenden ethischen Entscheidung betonen. Für sie ist die Quelle des Rechts der Zusammenhang des Staates und seiner weltlichen Gesetzgebung mit Gottes Gerechtigkeit. In den neueren deutschen Gesprächen über die Grundlagen des Rechts ist jene erstere Ansicht heute zurückgetreten und herrscht durchaus die Hervorhebung des situationsgebundenen Charakters der christlichen Haltung in dieser Welt, die allein der Freiheit des Christen entspricht25. Es bleibt freilich die Frage, inwieweit die Skepsis gegenüber allen verbindlichen Maßstäben christlichen Lebens nicht allein ein Zeugnis der Besorgnis vor dem Bekenntnis zu einer zweiten Quelle der Offenbarung, sondern auch eines von den Anfängen der neueren evangelischen Theologie her wirksamen existentiellen Ansatzes einer Wendung zum Konkreten und Persönlichen ist. In der neueren Anschauung der christlichen Ethik tritt aber noch ein anderes wichtiges Moment hervor. Gegenüber der strengen Scheidung der beiden Reiche in der lutherischen Lehre — heute gemildert durch die Betonung der Herrschaft Gottes in beiden Reichen — sucht die als „christologisch” bezeichnete Richtung nach einer unmittelbareren Beziehung des menschlichen Rechts zum regnum Christi, sei es daß sie vermittelt werde durch die Existenz der Gemeinde als lebendigen Zeugnisses, sei es vom Gedanken des Bundes her26.

Ob wir also im Bereich der profanen Rechtstheorie oder in der theologischen Auseinandersetzung um Recht und Gerechtigkeit umherblicken, wir stehen auf beiden Seiten vor einer tiefen Verschiedenheit der Richtungen und demzufolge vor weit auseinandergehenden Antworten. Wir wollen im Folgenden zunächst die juristische Lehre der Gegenwart kritisch betrachten.


25 Zur Konkretheit der christlichen ethischen Entscheidung siehe Karl Barth, Das Geschenk der Freiheit, 1953, S. 17 ff.; Ernst Wolf, Der Dienst des Einzelnen, 1953, S. 10 ff.; ders., Rechtfertigung und Recht, 1954, S. 34 f.
26 Zur Fragestellung gegenüber der Lehre von den beiden Reichen siehe Helmut Gollwitzer, Die christliche Gemeinde in der politischen Welt, 1954, S. 16 ff., und ferner Thielicke, Theologische Ethik, Bd. 1 (1951), S. 583 ff. Zur Bedeutung des Bundesgedankens und der aktuellen Verlebendigung christlicher Existenz in der Christengemeinde siehe Ernst Wolf, Kirche und Recht, S. 13 ff.; Gottesrecht und Menschenrecht (Th. Existenz heute, N.F. 42), 1954, S. 30 ff.

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II. Die Grundlagen des Rechts in der gegenwärtigen deutschen Rechtslehre

Wenn wir den Stand des Rechtsdenkens der Gegenwart ins Auge fassen, so tritt uns als ein entscheidender Zug der Auseinanderfall des theologischen Fragens nach Recht und Rechtfertigung auf der einen und der Vorstellungen der weltlichen juristischen Wissenschaft auf der anderen Seite entgegen. Diese Scheidung ist das Erbe der Säkularisierung der Rechtslehre. Man macht für diese Lösung der Rechtswissenschaft von den theologischen Zusammenhängen meist die Naturrechtslehre des 17. und 18. Jahrhunderts verantwortlich. In Wirklichkeit ist es doch erst das 19. Jahrhunderts, das sie endgültig herbeigeführt hat. In dem davor liegenden Zeitraum geht die Trennung stufenweise, aber nur allmählich vor sich. In einem weiteren Maße, als vielfach angenommen, liegen die Wurzeln der naturrechtlichen Anschauung der nachreformatorischen Zeit im theologischen Bereich27. Daß dies für die Spätscholastik in Spanien gilt, bedarf keiner näheren Begründung; ihr Einfluß auch auf die protestantische Lehre ist bekannt28. Auf dem Boden der lutherischen Unterscheidung von Gesetz und Evangelium hat Melanchthon im Rahmen des Lebens in dieser Welt den Geboten des natürlichen Gesetzes einen breiten Raum eingeräumt und auf ihrer Grundlage eine Pflichtenlehre entwickelt29. Diese christliche Pflichtenlehre, mit ihrer Unterscheidung der Pflichten gegen Gott und gegen den Nächsten, der wir auch in der Theologie Miltons begegnen30, ist ohne Schwierigkeit noch in der Lehre Pufendorfs und Christian Wolffs von den officia hominis erga se ipsum und erga alios wiederzuerkennen31. Während in der englischen Entwicklung eine Hinwendung zu dem Gedanken der natürlichen Rechte des Menschen sich vollzieht,


27 So mit Recht auch Welzel, Naturrecht, S. 105.
28 Vgl. Welzel, S. 150.
29 Loci theologici 1559 (Ed. Engelland in Mel. Werke II, 1, 1952, S. 302), Expositio Decalogi, Secunda Tabula: „Ita Lex facit exaequationem omnium, officia imperans, in quibus singuli singulis serivunt, ut omnes simus unius corporis membra, mutua dilectione, mutuis officiis coniuncti, ut Deo obediamus.” Als Grundzug der zweiten Tafel wird dann die „dilectio proximi” bezeichnet.
30 Gebote gegen Gott (erste Tafel) und den Nächsten (zweite Tafel) unterscheidet der Große Katechismus Luthers (zum 4. Gebot). Milton, De Doctrina Christiana (Ed. Sumner Braunschweig 1837, S. 459) kennt ebenso officia erga Deum und erga homines (erga proximum).
31 Vgl. Pufendorf, De Officio hominis et civis Cap. 3 § 13 und Cap. 4 (de officio hominis erga Deum), cap. 5 (de officio hominis erga se ipsum) und cap. 6 (de officiis quorumlibet erga quoslibet). Christian Wolff, Jus gentium methodo scientifica pertractatum Ed. 1764 cap. 1 und 2. Die Einteilung findet sich aber weithin, z.B. bei Nettelbladt, Systema elementare universale jurisprudentiae naturalis, 5. Aufl., Halle 1777, S. 161 ff.

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hat die deutsche Naturrechtslehre bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts immer sich von dem Gedanken der Pflichten des Menschen leiten lassen32, dessen Bedeutung wir so stark in der kantischen Ethik anklingen hören. Im Laufe dieser Entwicklung vollzieht sich eine fortschreitende Verweltlichung des Rechtsdenkens. Indem Pufendorf der Moral dem Einfluß auf den inneren Geist des Menschen, dem Recht aber die Regelung seiner äußeren Handlungen zuweist, vollzieht er jene Scheidung, die die Verselbständigung der Rechtslehre vonden theologischen Zusammenhängen einleitet33. Bei Kant ist dann der Begriff der libertas christiana zu der Idee der sittlichen Autonomie des Menschen geworden; das Recht wird menschliche Schöpfung, menschlicher Wille34. Den Weg zu der positivistischen Doktrin des 19. Jahrhunderts, in der das Recht nur mehr als innerweltliche Erscheinung aufgefaßt wird und seine tieferen Bezüge abgeschnitten sind, bereiten drei Kräfte: Der Idealismus, für den das Recht zu einer Selbstbezeugung des autonomen menschlichen Willens wird35, die Wendung des Historismus und der Romantik gegen die allgemeine Vernunft und damit der Übergang zu einer Ableitung des Rechts aus einer historischen Quelle, dem Volksgeist oder der Staatsautorität, und endlich die Preisgabe des Glaubens an überzeitliche Regeln des Rechts und damit der Übergang zu einer relativistischen Rechtsgesinnung, die das jeweilige Staatsgebot akzeptiert.

Sieht man den Positivismus nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Ablösung der naturrechtlichen Rechtsbegründung auf eine göttliche oder vernunftsgemäße Seinsordnung des irdischen Lebens, sondern würdigt ihn als eine Rechtslehre, die den Rekurs auf die Grundlagen des Rechts bewußt zugunsten einer inhaltlich hingenommenen gesetzten Ordnung abschnitt und in ihrem immanenten Glauben an eine wertfreie Rechtssystematik verharrte, so wird man von einem notwendigen Zusammenhang zwischen Protestantismus und Positivismus nicht


32 Auch die natürliche Gleichheit wird bei Pufendorf a.a.O. cap. 7 eher als eine Pflicht gegen die anderen, als ein Recht des einzelnen gedeutet. Auf die Zusammenhänge der deutschen Grundrechtsidee mit jenen Gegebenheiten der evangelischen Sozialethik weist auch Smend, Bürger und Bourgeois (jetzt in Staatsr. Abh. S. 316 f.) hin. Anklänge an eine Auffassung der lex naturae von der Pflichtenlehre her finden sich noch in der frühen (nie veröffentlichten) Arbeit Lockes: Essays on the Law of Nature (Ed. W. von Leyden, Oxford 1954, S. 194, 198) cap. 7 fol. 97 und 100.
33 De officio hominis et civis, Praefatio §§ 4, 5.
34 Karl Barth, Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert, 1947, S. 269, spricht hier von Ineinssetzung der Rechtfertigung mit dem guten menschlichen Willen.
35 Barth nennt Hegels Philosophie eine Philosophie des Selbstvertrauens (a.a.O., S. 355). Ruht das Recht auch für Hegel auf dem überindividuellen objektiven Geiste, so ist es doch durch der menschliche Geist, der sich in ihm manifestiert.

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sprechen können36. Man mag eine Fremdheit der lutherischen Lehre gegenüber allen rationalen Ansätzen eines Naturrechts annehmen und es bleibt richtig, daß Luther den im Mittelalter geknüpften Zusammenhang des göttlichen Rechts mit der lex naturae zerreißt37. Aber Luther hält daran fest, daß es im weltlichen und menschlichen Recht Maßstäbe der Gerechtigkeit gibt38 und bindet den Herrscher und seine Gebote an solche Grundlage gerechter Regierung39. Der Positivismus dagegen, wie er sich im 19. Jahrhundert entwickelt hat, leugnet die Gebrochenheit des Menschen und baut auf der Autonomie der menschlichen Willenssetzung auf.

Wenn wir die heutigen Ansätze zu einer Neubegründung einer Lehre von der materialen Gerechtigkeit auf philosophischer Grundlage betrachten, so stehen im Vordergrunde die Gedanken der materialen Wertethik. Es ist ihr Verdienst, den transzendenten Bestand der Werte außerhalb menschlicher Setzung zum Ausgang genommen und die ontologische Sphäre der Werte bestimmt zu haben. Eindringlicher als andere moderne Auffassungen vermag diese philosophische Richtung die Fruchtlosigkeit bloß formaler Definitionen zu erhellen und die Notwendigkeit einer inhaltlich erfüllten Grundlage von Prinzipien des Rechts darzulegen. Die Schwäche der Lehre liegt darin, daß sie die Werteinsicht nicht in ein umfassenderes metaphysisches Bild einbettet und daher bei der Bemühung um materiale Festlegung der tragenden Werte auf die Anlehnung an die traditionellen Werte der abendländischen Überlieferung angewiesen ist. So kann es im letzten Grunde dieser Anschauung nicht gelingen, die von ihr angenommenen Werte wirklich als allgemeingültig evident zu machen. Es bleibt auch für sie das schwierige Problem des historischen Wandels des Wertbewußtseins. Der Gedanke Nicolai Hartmanns, das Wertbewußtsein konzentriere sich zeitlich jeweils auf einen Ausschnitt der Werte und könne daher „wandern”40, bietet eine systematische Hilfe für dies Problem, aber keine volle Lösung41. Er führt folgerichtig zur Annahme einer zeitgeschichtlich begrenzten Geltung bestimmter inhaltlicher Grundwerte. Das hebt den absoluten Charakter der Wertgeltung an sich nicht auf42, aber


36 Auch gegen die vorsichtige Andeutung einer solchen Verbindung bei Ernst Wolf, Gottesrecht und Menschenrecht, S. 24, möchte ich daher Bedenken anmelden.
37 Johannes Heckel, Lex Charitatis (Abh. d. Bayer. Akademie der Wiss., Phil. Hist. Kl. N.F. 36, 1953), S. 88.
38 Heckel, a.a.O., S. 78, weist vor allem auf die Goldene Regel hin.
39 Heckel, S. 84f.; Gunnar Hillerdal, Gehorsam gegen Gott und den Menschen, 1955, S. 75 f.
40 Ethik, 3. Aufl. 1949, S. 158 f.
41 Es bleibt die Verbindung von zeitbedingtem Wertbewußtseins und Geschichtlichkeit des Menschen zu klären.
42 Vgl. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 1952, S. 356.

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verbindet den Gedanken höherer Werte des Rechts mit dem Phänomen der Geschichtlichkeit, ohne für diesen Wandel eine tiefere Erklärung zu geben.

Sehr viel weniger weitreichend ist der Versuch, bleibende Grundlagen des Rechts durch Aufweisung von immanenten ontologischen Gesetzlichkeiten der rechtlichen Beziehungen zu erhalten. In naher Berührung zur Wertethik, aufgebaut aber auf der Basis einer ontologischen Analyse, nimmt Welzel „sachlogische Strukturen” an, die er der Seinsstruktur der Rechtsbegriffe entnimmt. Er gelangt von da zu gewissen Aussagen über den Handlungs-, Zurechnungs- oder Schuldbegriff, die er als gesetzgeberischer Willkür entzogen ansieht. Versteht man diese Strukturen als die einer bestehenden Seinsgesetzlichkeit entsprechenden logischen Urteile, so könnte man Welzel folgen, sofern man in den von ihm zugrundegelegten Rechtsbegriffen wirklich Gegebenheiten der Seinsstruktur anerkennen kann43. Von diesen Seinsgesetzlichkeiten aber führen, wie Welzel auch betont, keine Wege zu materialen Rechtsinhalten44.

Weniger geklärt ist dagegen die Vokabel von der „Natur der Sache”, die in neuerer Zeit gern verwendet wird. Entweder wird hier auf eine natürliche Wertordnung Bezug genommen, die man unter der „bescheidenen” Bezeichnung eines Maßes und einer Ordnung der sozialen Dinge verbirgt, oder es werden soziale Strukturen zu normativen Werten erhoben. In beiden Fällen legt diese Wendung die Basis der Verbindlichkeit ihrer Maßstäben nicht hinreichend offen.

Kein Weg zur Erkenntnis höherer Werte des Rechts eröffnet sich vom Boden der Existenzphilosophie. Der Rückgriff auf das Sein und seine Kategorien löst die ethischen Gebote auf und läßt nur die existentielle Entscheidung des Handelnden als Ausdruck seines Wesens übrig. Der Selbstverwirklichung des Existentialismus ist eine wesenshafte Rechtsfremdheit zu eigen. Normative Maßstäbe haben kein Gewicht. Materiale Werte erscheinen freilich als objektive Gegebenheiten im Denken von Karl Jaspers. Doch auch sie treten nur im Sinne einer Spannung zwischen der Freiheit der individuellen Selbstbestimmung und der Freiheit aller anderen auf. Wo nur die Lage des Menschen in der Zeit anvisiert wird und keine echten normativen Fragen auftreten, dringt die Problemstellung nicht zu dem Bereich vor, in dem es um die Inhalte des Rechts und um die Erkenntnis des Gerechten geht45.


43 Man wird aber fragen müssen, ob hier nicht von Welzel der Bereich der logisch-ontologischen Entsprechung überschätzt ist. Vgl. dazu Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt, 1940, S. 141 f.
44 Vgl. Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, S. 122 ff.; Wieacker, a.a.O., S. 357.
45 Zum Rechtsdenken der Existenzphilosophie seihe Welzel, Vom irrenden Gewissen, 1949, S. 23 ff.; Thyssen, Arch. f. Rechts- und Sozialphilos. 4 (1954), S. 1 ff.

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Ich versuche, die Lage der gegenwärtigen Rechtswissenschaft in einigen Sätzen zusammenzufassen:

a) In Überwindung der positivistischen Ableitung des Rechts aus Fakten der Wirklichkeit allein (Staat, Macht, Willen, soziale Situationen) erkennen wir heute, daß alles Recht in Spannung steht zwischen einem Bezuge auf die Gerechtigkeit, aus dem es seine innere Verbindlichkeit, seinen Geltungsanspruch empfängt, und der ein materiales Kriterium inhaltlicher Art in sich schließt, und zwischen der tatsächlichen Verwirklichung in Zeit und Ort, die das zweite Moment der Geltung des Rechts, seine lebendige Anerkennung und Verwirklichung im sozialen Leben betrifft.

b) Aus dieser Spannung ergeben sich für die Rechtslehre mannigfache Aufgaben in der Untersuchung der tatsächlichen Momente der Rechtsgeltung, die sowohl die Akte der Rechtserzeugung, den Einfluß der sozialen Gegebenheiten auf den Inhalt der Rechtssätze wie das Studium der Interessen betreffen, die das Recht zum Ausgleich bringt. Diese Untersuchungen dürfen aber nicht zur normativen Umwertung von Fakten neigen; sie bekommen nur die eine Seite der Relation zwischen Wirklichkeit und innerer Richtigkeit des Rechts zu Gesicht. Jeder Versuch, aus sozialen Interessen, soziologischen Erfahrungen oder auch apriorisch gesetzten Zwecken (Nützlichkeiten) Rechtssätze abzuleiten, führt zu einer Vergesetzlichung der sozialen Verhältnisse zu absoluten Maßstäben. Es entsteht dann die Erscheinung eines an sozialen Feststellungen orientierten Naturrechts.

d) Der Bezug des Rechts auf die Gerechtigkeit darf nicht nur als formale Relation verstanden werden. Es handelt sich vielmehr um eine inhaltliche Qualität allen Rechts, von der seine bindende Verpflichtungskraft abhängt.

e) Jede Antwort auf die Frage nach den Grundlagen der Rechtsgeltung und nach den Maßstäben der Gerechtigkeit setzt ein metaphysisch gegründetes Bild des Menschen und der Gesellschaft voraus.

 

III. Zur Fragestellung in der theologischen Diskussion

Im Bereich der rechtswissenschaftlichen Arbeiten gehen heute weithin die Bemühungen dahin, gestützt auf die philosophischen Ansätze der materialen Wertethik und der phänomenologischen Erhellung gewisse Maßstäbe übergesetzlicher Art zu entwickeln. In der Überwindung der positivistischen Faktizität und in der Aufweisung der tieferen Probleme der Rechtsbegründung und der inhaltlichen Bestimmung der Gerechtigkeit ist dadurch ein wertvoller Ausgangspunkt gewonnen. Es erweist sich freilich als nicht möglich, ohne Heranziehung der Kategorie der Geschichtlichkeit und der historischen Erfahrung bestimmte inhaltliche Werte als für unsere Zeit verbindlich evident zu machen. Hier liegt eine noch nicht gelöste Schwäche dieser Theorien.

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Auf der anderen Seite haben eine Reihe von Autoren diesen Umstand zum Anlaß genommen, die Möglichkeit eines zeitlosen Wertsystems überhaupt in Frage zu stellen und den Gedanken einer historisch-existentiellen Wertordnung aufzugreifen. In einer der älteren Naturrechtslehre gegenüber verstärkten Betonung der Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit der menschlichen Existenz sucht dieser Richtung den höheren Maßstab des Rechts nicht in unwandelbaren Prinzipien, sondern in zeitgeschichtlich anerkannten Grundsätzen der Gerechtigkeit46. Wir werden im Feld der theologischen Erörterung verwandten Gedanken begegnen.

Die Diskussion im theologischen Raume hat sich im wesentlichen auf den Linien entwickelt, die in dem Gespräch von Göttingen (1949) und den beiden Studienkonferenzen von Treysa (1950) gezogen waren47. Der Begriff der Schöpfungsordnung als eines Grundelements evangelischer Sozialethik, gegen den sich der Angriff der dialektischen Theologie richtete48, ist heute im allgemeinen aufgegeben49. Die allgemeine Übereinstimmung darüber, daß das menschliche Recht allein aus der Herrschaft Gottes auch über die gefallene Welt und aus der Erlösungstat Christi begründet werden kann, hat man festgehalten, nicht weniger die Betonung des Liebesgebotes als des obersten und grundlegenden Elementes im Recht des Christenstandes50. Dagegen sind in der Aussprache die Unterschiede der einzelnen Richtungen bestehen geblieben. Der in Göttingen versuchte Ausgleich zwischen der


46 Entwickelt worden ist diese Vorstellung zunächst von Eduard Spranger (historisch-existentielle Standortbestimmtheit des richtigen Rechts) Universitas 3 (1948), S. 412 ff. Berührungen mit der Idee vom Wechsel des Wertbewußtseins (Scheler, Hartmann) zeigen sich hier, vgl. Wieacker, a.a.O., S. 356. Vom Boden einer hegelischen Denkweise aus hat in anderer Weise Gerhard Dulckeit die Geschichtlichkeit naturrechtlicher Maßstäbe zu entwickeln gesucht. Siehe seine „Philosophie der Rechtsgeschichte” 1950 und dazu Larenz in „Gerhard Dulckeit als Rechtshistoriker, Rechtsphilosoph und Rechtsdogmatiker”, 1955, S. 24 ff. In diesen Zusammenhang gehört auch die Hervorhebung der „Zeitgerechtigkeit” des Rechts in der kritischen Auseinandersetzung mit dem Naturrecht bei Adolf Arndt, Rechtsdenken in unserer Zeit, 1955, S. 17, 19.
47 Vgl. Übersichten der neueren evangelischen Äußerungen zum Naturrecht bei H.H. Schrey, Die Wiedergeburt des Naturrechts, Theol. Rundschau 19 (1951), S. 21-35, 154-186, 193-221; Helmut Simon, Der Rechtsgedanke in der gegenwärtigen deutschen evangelischen Theologie unter besonderer Berücksichtigung des Problems materialer Rechtsgrundsätze, 1952; Ernst Wolf, Gottesrecht und Menschenrecht, 1954, S. 9-35; Gunnar Hillerdal, Gehorsam gegen Gott und Menschen, 1955, S. 164 ff., 296 ff.
48 Grundlegend Karl Barth, Natur und Gnade, 1934; Rechtfertigung und Recht, 1938.
49 In eingehender Auseinandersetzung siehe jetzt Künneth, Politik zwischen Dämon und Gott, 1954, S. 118 ff. Ferner Thielicke, Theol. Ethik, Bd. I, S. 530.
50 Vgl. Göttinger Thesen Nr. 2 und 5; Treysa (Die Treysa-Konferenz 1950, herg. v.d. Studienabt. d. Oekumen. Rates d. Kirchen 1950), Bd. I, 1-5, 8.

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„heilsgeschichtlich-trinitarischen” und der „christologischen” Rechtsbegründung hat sich kaum als dauerhaft erwiesen51. Ebenso bleibt ein deutlicher Gegensatz der Anschauungen zwischen den strenger auf dem Boden der lutherischen Lehre stehenden Darlegungen und den Ansätzen einer in erster Linie auf die Heilstat Christi gegründeten ethischen Auffassung52. Zu diesen in den theologischen Bereich hinüberführenden Problemen soll in diesem Bericht keine Stellung genommen werden.

Es dürfte für die heutigen Auseinandersetzungen auch darin eine Übereinstimmung erzielt sein, daß die Theologie Luthers mit der mittelalterlichen Lehre der lex aeternae und lex naturae von Grund auf gebrochen hat und daß der Schlüssel zum Verständnis des Standpunktes des Reformators in diesen Fragen in seiner Lehre von der Rechtfertigung und von den zwei Reichen liegt. Es ist das Verdienst von Johannes Heckel53, in eingehender Untersuchung der Anschauungen Luthers vom Recht seine Gedanken über das göttliche und menschliche Recht entwickelt zu haben.

Die seinsgesetzliche Verbindung des Menschen mit der Ordnung des Naturgesetzes und die Fähigkeit des Menschen, kraft einer ihm von Gott gegebenen Anlage seines Wesens diese Gesetzlichkeit zu erkennen, wie sie der thomistischen Vorstellung zugrunde liegt, ist bei Luther radikal aufgegeben. Die völlige Perversion der Natur des gefallenen Menschen schließt die Anerkennung eines natürlichen, d.h. seiner gefallenen Natur eingeschriebenen Gesetzes ebenso aus wie dessen Erkennbarkeit54. Die Lehre von der ausschließenden Rechtfertigung aus der Gnade des Erlösers läßt jedes Zutun des Menschen in Erfüllung natürlicher Gebote des rechten christlichen Lebens entfallen55. Von der Lehre von den zwei Reichen aus wird es unmöglich, das in diesen Äon geltende Recht und seine materialen Grundsätze an die Lex Christi, an das dem Gläubigen allein sich erschließende Lebensgebot Christi anzuschließen56. Endlich aber steht auch Luthers Vorstellung von der Souveränität und dem freien Gestaltungswillen Gottes einem


51 Vgl. Göttingen, These Nr. 1.
52 Eine eingehende kritische Auseinandersetzung mit der christologischen Ethik jetzt bei Hillerdal, a.a.O., S. 241 ff. Es ist hier darauf nicht einzugehen.
53 Lex Charitatis (Abh. d. Bayer. Akad. d. Wiss. Phil.-Hist. Kl. N.F., Heft 36), 1953.
54 Heckel, a.a.O., S. 48/49; Wolf, Frage des Naturrechts bei Thomas v. Aquin und Luther, Jahrb. d. Ges. f.d. Gesch. d. Protestantismus in Österr. 67 (1951), S. 9f.
55 Franz Lau, Luthers Lehre von den zwei Reichen (Luthertum, Heft 9), 1953, S. 17.
56 Die Herausarbeitung der entscheidenden Bedeutung von Luthers Zweireichelehre mit der Rechtslehre des Reformators ist ein großes Verdienst Heckels. Vgl. a.a.O., S. 31 ff., 46 ff.

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Festhalten an dem rationalen Naturrecht der Scholastik entgegen57. Das göttliche Gesetz der Liebe, die Lex Christi, wird in Luthers Auffassung nur dem gläubigen Christen zugänglich; nur er kann kraft des Glaubens ihre Gebote vernehmen und erfüllen. In die gefallene Welt aber wirkt dies Gebot nicht hinein und vermag auch nicht ihren Erscheinungen als Maß und Ziel zu dienen; denn es ist nur im geistlichen Stand des Menschen gegeben58. Keineswegs aber überläßt damit Luther den Bereich der gefallenen Schöpfung menschlicher Willkür und lediglich positiver Satzung der Obrigkeit59. Auch das Reich Gottes zur Linken untersteht Gottes Herrschaft. In den Ordnungen dieser Welt und ihren so oft nur das Unrecht schützenden Gesetzen bleibt der verdunkelte Sinn des Menschen nicht ohne den Anhalt eines Rechtsbewußtseins, wie es sich ihm in den höheren Maßstäben des Rechts offenbart. Sieht Luther in dem in der Welt geltenden Naturrecht auch nur irdisches Recht, so bezeichnet er es nicht nur mit dem Namen des natürlichen Rechts, setzt er es nicht nur inhaltlich in Beziehung zum Liebesgebot und zur regula aurea, sondern es bleibt für ihn auch ein Zeichen des göttlichen Herrschaftsanspruchs auch in dieser Welt, der Christen und Nichtchristen umfaßt60.

In dieser Deutung des Anschauungen des Reformators vom Recht erfährt die Auffassung eine Bestätigung, daß vom Boden seiner Lehre aus kein Weg zum rationalen natürlichen Recht führt. Was Luther als Naturrecht in dieser Welt kennt, wird als menschliches Recht, wenn auch als ein höherer Maßstab des Rechts, ein gemeinsames Recht der allgemeinen Menschenliebe, erkannt. Von da aus lassen sich in dies natürliche Recht generis humani auch Züge der Geschichtlichkeit einzeichnen61. Hier mag sich eine Berührung ergeben zwischen dem früher berührten Gedanken der rechtlichen Grundwerte einer Zeitepoche und jenen Sätzen des natürlichen Rechts, für die Luther freilich, soweit die ursprünglichen Sätze in Frage stehen, an der Unabänderlichkeit festhält62. In dem Gebäude der Darlegungen Heckels bleiben gewiß Fragen. So mag es dahingestellt bleiben, ob die Benennung der Lex divina, der nur dem Gläubigen zugänglichen Lex Christi, als göttliches Naturgesetz diese Bezeichnung nicht auf einen Bereich anwendet, der wohl in Luthers weitem Sprachgebrauch der „Lex” noch der Rechtslehre zuzuzählen ist, aber heutiger Betrachtung als ein inneres sittliches Gebot erscheint. Es mag auch die Frage noch einer näheren Prüfung bedürfen,


57 Lau, a.a.O., S. 18; Heckel, S. 73f., 81.
58 Heckel, a.a.O., S. 70ff.
59 Mit Recht sagt Heckel S. 74: „Für den Säkularismus in der Rechtslehre kann man Luther nicht verantwortlich machen.”
60 Heckel, S. 71-99. Durch dies natürliche Gesetz wirkt Gott in verborgener Weise auch in diese Welt hinein. Vgl. Lau, a.a.O., S. 41/42, 44.
61 Heckel, S. 81, 83, Anm. 598.
62 Heckel, S. 83.

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ob in den Geboten des Dekaloges, die Luther zu den natürlichen Gesetzen des Menschen rechnet, nicht doch auch das Wort Gottes in einem höheren geoffenbarten Sinne hörbar wird63. Vor allem aber bleibt bedeutsam die Frage nach den von Gott gestifteten Ordnungen oder institutionellen Einrichtungen, Ehe, Staat, Kirche64.

Es möchte in diesem Zusammenhang von Wert sein auch zur Rechtslehre Calvins Stellung zu nehmen. Wenn wir uns das versagen, so trägt dazu bei, daß ebenso wie die nachlutherische Orthodoxie neue Wege betreten hat, so nicht minder die calvinisch beeinflußte westliche Welt ihr Naturrechtsdenken auf neuen Bahnen und zu neuen Zielen aktiviert hat. Es mag in diesem Zusammenhang nur eines hervorgehoben werden. Der reformatorischen Anschauung wird es nicht gerecht, wen — wie es heutiger Anschauung entspricht — Recht und Staat einander scharf entgegengesetzt werden. Für die reformatorische Anschauung ist das weltliche Recht ein Gebot der Obrigkeit, ist die Handhabung der lex humana ein Teil des Schwertamtes. Freilich bedeutet das nicht Überordnung der politischen Gewalt über das Recht; im Gegenteil, sie steht unter dem Gesetz. Aber Notwendigkeit und Funktion des Rechts wird doch von den Reformatoren in ganz verwandter Weise gedeutet wie die des Staates65.

Wenn wir hier auf die nachreformatorische Entwicklung hinweisen, so mag auch ein Wort zur angelsächsischen Rechtslehre und ihrem Festhalten an der Vorstellung eines natürlichen Gesetzes gesagt sein. Nicht selten wird hier von der Kritik, die dies Element natürliche Theologie tadelt, übersehen, daß diese Naturrechtslehre der Angelsachsen auf einer unmittelbaren Kontinuität vom Mittelalter her beruht. So wie


63 Vgl. zur Zurechnung zum menschlichen Recht Heckel, S. 78 f. — Lau, s. 44, spricht indes hier von geoffenbartem Gotteswillen. Bei Luther (Großer Katechismus, Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherische Kirche, herg. v. Dt. Evgl. Kirchenausschuß, 2. Aufl. 1952, S. 639, Nr. 311) heißen die zehn Gebote „ein Ausbund göttlicher Lehre”. Es liegt jedenfalls auf der Hand, daß der Dekalog in der Folge einen entscheidenden Ansatz für die Einführung naturrechtlicher Gedanken in die Orthodoxie bildet. Schon bei Melanchthon (Loci communes 1521, Ed. Engelland, Bd. II, 1, S. 46) werden die Gebote des Dekaloges den leges divinae zugerechnet.
64 Vgl. Heckel S. 99 ff.; Lau S. 71 ff. So lebhaft die Entwicklung dieses Gedankens zu einer Theologie der Ordnungen abgelehnt wird (vgl. Hillerdal a.a.O., S. 143ff.), so wenig können diese grundlegenden Stiftungen Gottes einfach dem Bereich der Welt allein überantwortet werden.
65 Vgl. Lau, S. 47f. Zum Amt der Magistrate gehört die defensio justitiae et pacis (Melanchthon Loci 1559 Ed. Engelland II, 2, S. 703), der ordo politicus ist eingesetzt damit „homines certis legibus coniuncti in societate civili vivunt” (dort S. 693). Calvin, Institutio 1559 (Ed. Barth-Niesel 1936, Bd. V, S. 474) Buch 4, cap. 20, § 3 in fine: Drei Teile der politischen Ordnung: „Magistratus qui praeses est legum ac custos; Leges, secundum quas ipse imperat; Populus, qui legibus regitur et magistratui paret.”

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die englische Kirche, soweit nicht neue Gesetze Änderungen brachten, das mittelalterliche kanonische Recht fortführte und heute noch fortführt66, so blieb auch in ihr der Gedanke der lex naturalis in Anknüpfung an die scholastische Tradition lebendig. Wenn man auch die Lehre von der Rechtfertigung allein aus dem Glauben annahm, so ist die Lehre von den zwei Reichen doch nicht eigentlich heimisch geworden. Die anglikanische Kirche hat sich bis auf diesen Tag wohl als Kirche der Reformation, aber ebensowohl als in der vollen Tradition stehende katholische Kirche empfunden67. Von hier aus wird es erklärlich, daß Richard Hooker in seiner Lehre vom Recht so weitgehend an Thomas Aquinas anknüpfen konnte68. Die spätere Naturrechtslehre ist in England unter puritanischem Einfluß sehr andere Wege gegangen und seit der Mitte des 17. Jahrhunderts wird auch sie säkularisiert69. Aber noch bei Hooker ist jedenfalls das natürliche Recht auf die unmittelbare Teilhabe des Menschen an der göttlichen lex aeterna gegründet.

Wenn die Auseinandersetzungen innerhalb der evangelischen Lehre in Deutschland die gekennzeichneten Ausgangspunkte und Einsichten gewonnen hat, so bleiben doch viele weitere Probleme offen. Die Grenzlinie gegenüber jeder natürlichen Theologie und allen Formen ihrer Erneuerung in der Gestalt von Schöpfungsordnungen ist gezogen, die Möglichkeit der Ausarbeitung von Grundsätzen des Rechts aus dem auch im irdischen Raum lebendigen Sinn der Gerechtigkeit im Rahmen menschlichen Rechts aufgehellt. Aber es bleiben noch Fragen einmal in der näheren Darlegung der Bezogenheit des menschlichen Rechts auf Gottes Gerechtigkeit — die zu lösen ein Anliegen vor allem der „christologischen” Lehre ist —, also Probleme der Begründung des Rechts, zum anderen aber auch Fragen nach der Möglichkeit, im Rahmen des christlichen Denkens doch auch Ansätze für materiale Richtlinien zu finden. In der letzteren Richtung liegen vor allem zwei neuere Bemühungen. Erik Wolf hat die Bedeutung der Schrift, vor


66 Siehe R.C. Mortimer (Lord Bishop of Exeter), Western Canon Law 1953, S. 62: „The canon law, then, of the Church of England is the old medieval law, except where it has been altered by subsequent Acts of Parliament.” Und ferner: „The Canon Law the Church of England, Being the Report of the Archbishop’s Commission”, 1947, S. 65 ff.
67 H.W. Montefiore in The Historic Episcopate, 1954, S. 126: „The Church of England is both catholic and reformed.”
68 Vgl. E.T. Davies, The Political Ideas of R. Hooker, 1948, S. 58 f.; und besonders die eingehenden Nachweisungen bei Peter Munz, The Place of Hooker in the History of Thought, 1952, S. 29 ff., 175 ff.
69 In diesem Prozeß spielt Locke eine führende Rolle. Nicht auf das dem Menschen eingeborene Gesetz, sondern auf Vernunft und sinnliche Erfahrung gründet er die lex naturae. Vgl. sein unveröff. Frühwerk zum Naturrecht (Ed. Leyden, 1954), cap. 3, 4.

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allem des Dekaloges als „Weisung”, d.h. als Maß des höheren Urteils über die Gerechtigkeit dargelegt, die dem Christen eine andere und sichere Richtschnur gewährt als dem Nichtchristen70. Ich möchte diese Linie hier nicht weiter verfolgen, sondern mich zum Abschluß nur eine zweiten weitschichtigeren Fragestellung zuwenden. Sie betrifft die von Gott geschaffenen grundlegenden Institutionen des menschlichen Daseins, in denen er dem Leben des Menschen einige wenige entscheidende Umhegungen des Daseins gesetzt hat. Auf diese „Ordnungen”, diese „Rechtseinrichtungen” göttlicher Einsetzung, diese „Institutionen” richtet sich heute von vielen Seiten her der Blick. Heckel hat sie als Einrichtungen positiver göttlicher Setzung bezeichnet, die auch in ihrer verweltlichten und entstellten Gestalt doch als göttliche Einrichtungen in dieser Welt fortdauern, nicht als ins Einzelne reichende Gesetzlichkeit, aber als überpositivem Recht zugehörender Stand und Rahmen menschlicher Entfaltung71. Als Schöpfungen Gottes, deren Form wechseln könne, deren Inhalt aber gleichbleibe, hat sie Ellul charakterisiert; er führt sie auf die Schrift, auf göttliche Offenbarung zurück72. Als „Erhaltungsordnungen” treten sie uns — wohl unterschieden von den Schöpfungsordnungen, bei Künneth73 entgegen. Er betont, daß es sich hier um positive geoffenbarte Gebote Gottes handelt, nicht um Schöpfungstatsachen. In ihnen wird der Mensch einem übergreifenden objektiven Lebenszusammenhang eingegliedert. Sehen wir uns weiter um, so entdecken wir Bezugnahmen auf den Gedanken institutioneller Grundlagen menschlichen Lebens aus göttlicher Stiftung an manchen Stellen der neueren Literatur74. Kirche, Staat, Ehe, aber auch Familie oder Volk werden als Institutionen genannt. Am eingehendsten hat sich Hans Dombois mit dem Wesen und der Begründung dieser Institutionen befaßt75. Eine eingehende Auseinandersetzung ist hier nicht möglich, und so muß ich mich mit einigen Anmerkungen begnügen. Es zeigt sich bei Dombois eine gewisse Tendenz, diese Institutionen aus menschlichen Gemeinschaftsbezügen abzuleiten, d.h. aus sozialen Gegebenheiten. Ein solcher Ansatz könnte sich auf gewisse soziologische Vorbilder stützen, aber er reicht nicht zu, um den Charakter der Institution als göttliche Stiftung zu begründen. Daher


70 Erik Wolf, Rechtsgedanke und biblische Weisung, 1948.
71 a.a.O., S. 68 f., 99 ff.
72 Ellul, Die theologische Begründung des Rechts. Dt. Übers., 1948, S. 56 ff., 78 f. Kritisch zu Ellul jetzt Dombois, Naturrecht und christliche Existenz, 1952, S. 8 ff.; Hillerdal, a.a.O., S. 194 ff.
73 Politik zwischen Dämon und Gott, 1954, S. 145 ff.
74 Max Schoch, Evangelisches Kirchenrecht und biblische Weisung, Zürich 1954, S. 61 ff.
75 Naturrecht und christliche Existenz, 1952, S. 43 ff.; Weltliche und kirchliche Eheschließung, 1953, S. 106 ff.; Familienrechtsreform, 1955, S. 82 ff., 132 ff.

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möchte ich vor einer Anlehnung der Institutionslehre an soziologische Vorbilder eher warnen. Als solche bietet sich aus neuerer Zeit die in Frankreich von dem bedeutenden katholischen Staatsrechtler Maurice Hauriou entwickelte „théorie de l’institution” an76, die später von seinem Schüler Renard weiter ausgebaut wurde. Die Theorie ist bestimmt, größere soziale Gebilde zu erklären. Sie werden als ein System beschrieben, das durch Individuen gebildet wird, und sich in seiner langsamen und einförmigen Bewegung (mouvement lent et uniforme) wie ein Organismus verhält. Kern dieser Institution ist die einem sozialen Milieu eingepflänzte Idee, die Gründung und Leitung trägt. Dazu treten Organe der Steuerung, die sich untereinander im Gleichgewicht halten und so dauerhafte Formen der Institution bilden. Im Ganzen eine interessante, wenn auch in ihrer organizistischen Linie etwas konservative Vorstellung, die Verwandtschaften mit dem organischen Gedanken Gierkes und dem „fait social” von Duguit aufweist. Das ganze Bild ist unbestimmt und vielfacher Verwendbarkeit offen. Es hat katholische Sozialtheorien anregen können, aber auch ständisch-korporativen Gesetzgebungen77. Wenn Ellul78 die Institution definiert als „ein organisches Gefüge von rechtlichen Vorschriften, das auf ein einheitliches Ziel ausgerichtet ist, ein beständiges und vom menschlichen Willen unabhängiges Ganze bildet und sich dem Menschen unter bestimmten Verhältnissen verpflichtend auferlegt”, so lassen sich hier die Verbindungslinien ebenfalls erkennen. Unterdessen ist der Begriff der Institution zu einem weithin verwendeten soziologischen Begriff geworden, der größere und kompliziertere Sozialgebilde kennzeichnet79. Alle diese Entwicklungen tragen indessen wenig zu unseren Fragestellungen bei.

Für die Aufnahme des Gedankens der Institutionen in den Zusammenhang der Erörterungen nach den Maßstäben der Gerechtigkeit wird es darauf ankommen, folgende Gesichtspunkte zu beachten:

a) Soziologische Bilder und Vorstellungen vermögen nicht zu helfen. Aus ihnen ist die im Ethischen verpflichtende Natur der göttlichen Stiftungen nicht abzuleiten. Anlehnung an soziale oder historische Strukturen legt die Gefahr einer Rückgriff auf die natürliche Theologie nahe.


76 Précis de droit constitutionnel, 2. Aufl. 1923, S. 71 ff.
77 Zur Kritik und Auswirkung der Ideen Haurious siehe Friedmann, Legal Theory, 3. Aufl., S. 183 ff. Gewisse Anregungen hat aus Hauriou auch Rudolf Smend für seine Integrationslehre gewonnen (vgl. Verfassung und Verfassungsrecht jetzt in Staatsr. Abh., 1955, S. 184). Er hat indes die methodische Unklarheit des H.’schen Ansatzes kritisiert.
78 S. 56.
79 Vgl. hierzu Schelsky, Über die Stabilität von Institutionen, besonders Verfassungen, Jb. f. Sozialwiss., 3 (1952), S. 1 ff.

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b) Institutionen können nur auf positiver göttliche Anordnung beruhen. Es bedarf daher des Nachweises ihrer Einsetzung aus der Schrift.

c) Die Institutionen durchziehen nicht das ganze menschliche Leben, sondern beschränken sich auf wenige auf göttlicher Stiftung beruhende Grundordnungen menschlichen Daseins.

d) Einer sorgfältigen Untersuchung bedarf die Scheidung derjenigen Momente dieser Einrichtungen, die als unveränderlicher Bestand die Natur der Institution bestimmt und den Erscheinungen, die jeweils zeitgeschichtlich-örtlich bedingt und gebunden erscheinen.