Wolf, Ernst

„Trinitarische” oder „christologische” Begründung des Rechts?

1956

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„Trinitarische” oder „christologische” Begründung des Rechts?

Das Göttinger Rechtsgespräch 1949 und seine Auswirkung

Ein Bericht von Ernst Wolf

 

Gelegentlich der Vorbereitung der Fortsetzung des Göttinger Rechtsgesprächs schrieb Dr. Dombois an den Referenten: „Ich glaube, wir könnten uns damit begnügen und es darauf abstellen, von der theologischen wir von der juristischen Seite die Fortentwicklung der Gedanken seit Göttingen-Treysa zusammenfassend darzustellen und dann eine umfassende Aussprache anzuschließen.” Dementsprechend beabsichtige ich, in folgender Weise vorzugehen:
1. gebe ich einen Bericht über das unmittelbare Echo (II A-C) und über das Material (III), aus dem eine Fortentwicklung seit Göttingen 1949 ablesbar ist;
2. greife ich Interpretationsprobleme von Göttingen-Treysa heraus, und zwar die Frage, was „trinitarische” Rechtsbegründung bedeuten könne, und was die Fragestellung Rechtfertigung und Recht (sog. „christologische” Rechtsbegründung) auch für die Institutionen austrägt (IV);
3. greife ich aus den Sachfragen das Problem der „Institutionen” (Frage von Schöpfungsordnung, Erhaltungsordnung, Mandat, Gebot und Berufung) heraus (V).

 

I.

Ausgeklammert werden bei der Berichterstattung folgende Gesprächsgänge:
a) die Diskussion um das Staatsproblem, die nach wie vor in den meisten neueren theologischen Ethiken im Vordergrund steht (Søe, Elert, Althaus, z.T. Brunner, de Quervain, Barth, Bonhoeffer, Thielicke, neuerdings Künneth), während das Rechtsproblem, abgesehen von Barth, de Quervain, Bonhoeffer und von den Erörterungen der Frage Gesetz und Evangelium (Thielicke) oder von seiner Verhandlung im Problemkreis „Schöpfungsordnung”, „Naturrecht” noch nicht als ein eigenes Thema in ihnen erscheint;
b) die mit dem Staatsproblem zusammenhängende Diskussion um das Widerstandsrecht;
c) die Diskussion um Menschenrechte, Eherecht, Eigentum und Grundlegung des Kirchenrechts. Es handelt sich lediglich um das Problem einer theologischen Begründung des Rechts, d.h. um die Frage nach jenem

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transzendenten Sollen, das für das Sein im Recht nicht nur konstitutiv, sondern auch irgendwie kritisch und normativ ist.

Zu a): Die neuere, vorwiegend lutherische Diskussion — auch zu Hemer — ist ausgelöst durch die Thesen von Berggrav (Der Staat und der Mensch, 1946; Staat und Kirche in lutherischer Sicht = Das lebendige Wort in einer verantwortlichen Kirche. Zweite Vollversammlung des Luth. Weltbundes, 1952, Hannover, 78-86). Gegenthesen von Klügel — „konditionales” Staatsverständnis — in „Exusia, Macht und Recht” (Informationsdienst der VELKD 1955/3), die nach dem kompetenten Urteil von J. Heckel „durch die Forschung überholt” sind und „Berggravs Position nicht richtig” erkennen; ferner noch die von der Presse mit der Tutzinger Bischofskonferenz, Sept. 1953, in Zusammenhang gebrachten Äußerungen gegen den angeblich der Aufklärung entstammenden Begriff des Rechtsstaats (vgl. dazu K.H. Becker, „Lutherische Demokratie”, DUZ 1953/24; zum Ganzen auch Theodor Heckel, Politische Predigt, 1952, und schließlich Künneth, Politik zwischen Dämon und Gott, 1954).
Zu b): Widerstandsrecht: Vgl. Berggrav, Der Staat und der Mensch, Anhang; Barth, Kirchliche Dogmatik III/IV, 1951, 513 ff.; Koch-Mehrin, Die Stellung der Christen zum Staat nach Röm. 13 und Apok. 13, Ev. Th. VII, 1947/48, 378 ff.; W.A. Schulze, Reformation und Widerstandsrecht, Ev. Th. VIII, 1948/49, 372 ff.; F. Loy, Das Widerstandsrecht und seine Grenze bei Luther und heute = Polit. Predigt 1952; Gutachten Iwand-Wolf im Remerprozeß, Junge Kirche XIII. H. 7/8, 1952, und in H. Kraus, Die im Remerprozeß erstatteten ... Gutachten ..., 1953 (Inst. f. Völkerrecht, Göttingen); J. Heckel, Widerstand gegen die Obrigkeit? Pflicht und Recht zum Widerstand bei M. Luther = Zeitwende/Neue Furche XXV, 1954, 156 ff.; zur lutherischen Sorge vor der „Dämonie” vgl. W. Künneth, Das Widerstandsrecht als theologisch-ethisches Problem, 1954, dazu Kirche in der Zeit IX/2, 35 ff., und K.H. becker, Das Problem des Widerstandsrechts in ökumenischer Sicht, Nachrichten der Evang.-Luth. Kirche in Bayern, X, Nr. 1, 1955, S. 5 ff.; E. Wolf, Art. Widerstandsrecht im Evang. Soziallexikon, 1955.

 

II.

Das unmittelbare Echo auf „Göttingen”. A. Rezensionen: Von den 16 Rezensionen, die mir bekannt geworden sind, sind 13 unerheblich; bemerkenswert ist lediglich, daß Hans Liermann (Jurist. Rundschau 1950/21) die Spannung von Göttingen auf den Nenner bringt: dialektisches Nein zum Naturrecht gegenüber dem Aristotelismus E. Brunners; nach seiner Auffassung mußte die jetzt vom Staat freigewordene Kirche sich dem Naturrechtsproblem stellen. — Von den drei restlichen Rezensenten stellt O. Bleibtreu (Ev. Lit. Beob., Nov. 1950) am Schlusse eines präzisen Referates fest, daß man hinsichtlich der Rechtsbegründung „auf eine ,trinitarische’ Lösung, jedoch mit deutlichem Akzent auf der Christologie” hinausgekommen sei; ferner daß man hinsichtlich der Inhaltsbestimmung des Rechts a) die Naturrechtsideologie verneint, b) die faktisch im menschlichen Rechtsbewußtsein festzustellenden Rechtsgrundsätze anerkannt und c) als für den Christen maßgebliches Grundelement jeder rechtlichen Ordnung die Achtung von dem Menschen herausgehoben habe.

E. Schott (ThLZ 1952, H. 1) fragt kritisch zu den Thesen 5 und 6: „Kann man dem Naturrecht seine metaphysische Würde nehmen, um

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es ausschließlich als geschichtliche Gegebenheit gelten zu lassen, und dann doch aus Gottes Offenbarung ein Grundelement rechtlichere Ordnung (nämlich die Achtung vor dem Menschen) ableiten wollen?” Hält nicht mit diesem Grundelement das Naturrecht „als ideal-axiomatischer Rechtsgrundsatz” wiederum seinen Einzug? Deutet nicht diese „Inkonsequenz” auf die Nötigung hin, „das Recht in der (wie immer formulierten) Idee der Gerechtigkeit metaphysisch verankert zu sehen”?

Die Herder-Korrespondenz IV/9, 1950 druckt die Thesen mit einer Vorbemerkung ab: „Es scheint gelungen, in Anlehnung an Vorarbeiten von Karl Barth und Jacques Ellul ansatzweise evangelische Rechtsgrundsätze zu finden, die nicht auf das vorchristliche Naturrecht, sondern auf die Rechtfertigung in Christus Jesus gegründet werden, womit zugleich die lutherische Lehre von den zwei Reichen überwunden wäre, der viel Schuld an der Überschätzung des politischen Rechtes zugeschrieben wird ... Eine christliche Begründung des Rechtes habe vom Doppelgebot der Liebe auszugehen.”

B. Auf die Bedeutung von „Göttingen” wiesen hin 1. die beiden auf breiterer Basis weiterführenden Naturrechts-Konferenzen in Treysa (I, deutsche Konferenz; II, ökumenische Konferenz). — 2. H. Dombois, Naturrecht und christliche Existenz, 1952, Vorwort wiederholt in dem vervielfältigten Vortrag: Bemerkungen zum Naturrechtsproblem. Versuch eines Grundrisses (Nord.-deutscher Kirchenkonvent, Lofthus, Juni 1954) Ev.-Luth. Kirchenzeitung 13/55. — 3. E. Wolf in G. Dehn/E. Wolf, Gottesrecht und Menschenrecht, Th.Ex. heute NF 42, 1954. — 4. Selbstverständlich auch die beiden Berichte von H.H. Schrey, Die Wiedergeburt des Naturrechts (ThR 1951, S. 219-221) und im I. Teil der Studie: Gerechtigkeit in biblischer Sicht (Stud.-Abt. d. Oekum. Rates 50 g/114 B, 1951), die wesentlich einen biblisch-exegetischen Kommentar zu Treysa II darstellt (S. 16). Ebenso H. Simon in seiner lehrreichen Bonner iur. Diss. von 1952: Der Rechtsgedanke in der gegenwärtigen deutschen evangelischen Theologie unter besonderer Berücksichtigung des Problems materialer Rechtsgrundsätze.

Die Ankündigung Schreys, „die Frage des Rechts wird auch eines der Probleme sein, die auf der nächsten Weltkirchenkonferenz in Evanston (USA) 1954 behandelt werden sollen” (ThR 221) ist trotz Treysa II und der einschlägigen Arbeiten der oek. Stud.-Abt. nicht in Erfüllung gegangen. Man hat — wie in Amsterdam — in Sektion III, Soziale Probleme, im Rahmen des Themas „Verantwortliche Gesellschaft” und in Sektion IV, Internationale Angelegenheiten, bei der Frage der Menschenrechte die Frage des Rechts lediglich gestreift.

Während Schrey mit Göttingen eine neue Phase des Gesprächs über Recht und Kirche beginnen läßt — im Rahmen der oekumenischen Diskussion — und E. Wolf auf die Bedeutung eines ersten zumindest halbamtlichen Versuchs zur Beschäftigung mit diesem Problem innerhalb der Geschichte des deutschen Protestantismus hinweist, stellt H. Dombois

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heraus, daß in Göttingen zwei Grundsätze, der „heilsgeschichtlich-trinitarische” und der „christomonistische” zu vereinen gewesen seien, in denen sich als in relativen Gegensätzen die Spannung von Luthertum und Calvinismus „von der Sache her” erneuere. Es habe sich dabei gezeigt, daß es keine Unionstheologie gäbe, aber eine im Consensus formulierte „weitgehende praktische Übereinstimmung”. Auch Treysa zeige nur das Nebeneinander eines (trinitarischen) Mehrheits- und eines (christologischen) Minderheitsvotums. Dabei sei man stehen geblieben. Der allgemein gegen Ellul erhobene Einwand, „daß er nicht verstanden habe, die Institutionen des Rechts mit seiner theologischen Darlegung zu verknüpfen”, bestehe generell gegen die ganze bisherige Arbeit; „man endet bereits, wo man gerade erst begonnen hatte, und begnügt sich mit ein paar recht fragwürdigen Nutzanwendungen. Eine wirkliche Konfrontation von Theologie und Rechtswissenschaft hat noch nicht stattgefunden. Tief verwurzelte Hemmungen der evangelischen Theologie machen sich hier bemerkbar” (Naturrecht u. chr. Ex., Vorwort). Wir kommen darauf zurück.

In summa: Das Echo auf „Göttingen” (und Treysa) ist nicht sehr erheblich. Immerhin möchte ich schon hier darauf hinweisen, daß mit der Formel „trinitarische Rechtsbegründung” gleichsam unter der Hand eine bislang neue Parole ausgegeben worden ist, freilich sozusagen als polemische oder überwiegend polemische Formel gegenüber einer „christologischen Rechtsbegründung”, die man doch wohl etwas voreilig als „christomonistisch”, oder als „Christomanie” abgewertet hat, ohne die Frage ihrer Tragweite theologisch zureichend zu prüfen. Sie war ja ihrerseits zunächst gegen die drohende Verabsolutierung von „Schöpfungsordnung” in der protestantischen Sozialethik gerichtet. Man hat die neue Parole „trinitarische Rechtsbegründung” rasch aufgegriffen, so etwa in Treysa; einige Beteiligte haben sie als Chiffre für ihre Position beschlagnahmt, so etwa auch Schrey (ThR 1951, 221 und in seinem Aufsatz „Naturrecht und Gottesgerechtigkeit”, Universitas V, 1950, S. 421 bis 433, auch in seinem Göttingen wesentlich reproduzierende Aufsatz „Gedanken zur evangelischen Theologie des Rechts”, DUZ X/12, 1953, 9 f.); auch L. Raiser meint in seiner schönen Kritik an Ellul (Z. f. ev. KR. I, 1951, S. 181-187): „Eine christliche Rechtslehre muß die ganze Breite unseres Glaubensbekenntnisses zum Fundament nehmen”. Es läßt sich nicht leugnen, daß die — im einzelnen freilich noch nicht geklärte — Formel „trinitarische Rechtsbegründung” seit Göttingen das Rechtsgespräch und auch sozialethische Entwürfe außerhalb seiner, wie etwa Künneths „Politik zwischen Dämon und Gott” an dieser Stelle bestimmt. Aber ebenso wenig läßt sich leugnen, daß „Göttingen” nicht deutlich gemacht hat, was diese Formel eigentlich meine, und daß es zum anderen das Problem der Institutionen offengelassen hat.

C. Die Konferenzen in Treysa, I (29. Juli bis 1. August 1950) und II (2./3. August 1950), galten den Themen: „Bibel und Naturrecht” bzw. „Was kann die Kirche auf Grund der Bibel zur Wiederaufrichtung des

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menschlichen Rechts sagen”, und zwar im Rahmen der Gesamtarbeit der Studienabteilung über den Weg von der Bibel zur Welt. Durch die voraufgegangene Arbeit der Oek. Stud.-Abt. waren 1. die Probleme des „Naturrechts” auf der Linie vom Thomismus über die angelsächsische Position bis zur neulutherischen Schöpfungsordnungslehre sowie zu Emil Brunners Naturrechtslehre und 2. die „biblischen Weisungen” Erik Wolfs in den Vordergrund gerückt worden. Eine Konferenz in Bossey hatte 1947 dazu bereits das Gegenüber von „christologischer Ethik” (Barth) und der Orientierung an der „biblischen Lehre von der Schöpfung und Erhaltung” (Nygren) in die Debatte gebracht. Der Bericht sagte zu der zweitgenannten Position etwas rätselhaft, man könne sie auch als „trinitarisch-heilsgeschichtliche Auffassung kennzeichnen” (Die Treysa-Konferenz 1950 über das Thema Gerechtigkeit in biblischer Sicht, Genf 1950, S. 8). Hierin wirkt sich wohl bereits die Parole von Göttingen aus. Auch eine Treysa unmittelbar vorangehende Tagung in Bossey vom 11. bis 17. April 1950 stand vor dem „Gegensatz der christologischen und der trinitarisch-schöpfungsbezogenen Auffassung vom Recht”, wobei die zweite Position sich in zwei Gruppen spaltete; die eine wollte die Gesetze „nur dem geoffenbarten Wort entnehmen”, stand also der Position der „biblischen Weisungen” nahe, die andere wollte die Gesetze als „den geschaffenen Dingen selbst eingeprägt” ansehen, kam also zum Naturrecht.

Die Referate von Treysa I suchten zu klären: 1. Die Frage von Naturrecht und altem Testament (Friedrich Horst, vgl. Evang. Theol. 1950, S. 253 ff.) mit dem ziemlich allgemein akzeptierten Ergebnis, daß das AT keine andere Begründung des Rechts kenne, „als den Willen des Gottes Israels, der der Schöpfer und König der Welt ist. Es kennt deshalb kein Naturrecht (Wesensrecht), das an Gott vorbeigehen könnte”, hat aber mit seinem Zeugnis einiges zu sagen zu den Anliegen, die im sogenannten Naturrecht laut werden, nämlich: a) Gott ist Herr und Schöpfer von Institutionen und obersten Rechtsgrundsätzen, die zu allen Zeiten für alle Menschen verbindlich sind; b) das AT „humanisiert” das Recht, sofern es den Menschen als „Rechtspartner” und darin also als Gottes Ebenbild ansieht.

2. Das neutestamentliche Referat (Wendland) galt der Begründung und Begrenzung der apostolischen Weisungen durch den Kairos der messianischen Erfüllung sowie dem ἐν Χριστῷ und der eschatologischen Erwartung. Es wies darauf hin, daß die von Gott gesetzten sittlichen Normen, die sich außerhalb der Kirche finden, „pneumatisch neu geprägt” würden; diese Umgestaltung offensichtlich anerkannter naturrechtlicher Normen in ihrer neutestamentlichen Rezeption (1. Kor. 9, 7; 11, 2 ff. Phil. 4, 8 ff.) bestätige so ihre Gültigkeit auch für Nichtchristen. In beiden Referaten wird also ein „nichtbiblisches” Naturrecht in einer es begründenden Beziehung zu Gott als Schöpfer und Herr der Welt vorausgesetzt.

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Das Gesamtergebnis faßt der Bericht dahin zusammen: „1. Was unter Menschen wirklich Recht ist, kommt aus dem Willen Gottes, der der Gott Israels und der Vater Jesu Christi ist; darum gilt alles Recht nicht PHYSEI, sondern THESEI (THEOU). 2. Die Schrift zeigt, daß der Mensch, wo immer er steht, nie aus dem Anspruch entlassen wird, unter dem er kraft seines schöpfungsmäßigen Ursprunges aus Gott steht.” Damit hat Treysa I jedenfalls nicht über Göttingen hinausgeführt. Die Ablehnung eines „biblischen Naturrechts” im engeren sinn ist verbunden mit einer Betonung der Verbindlichkeit des „schöpfungsmäßigen Ursprunges aus Gott”. Das dogmengeschichtliche Referat (Wolf) über Naturrecht bei Thomas und Luther wurde seitens der Oek. Stud.-Abt. nicht weiter verarbeitet; es ist darauf noch zurückzukommen.

Treysa II verweist im alttestamentlichen Referat (v. Rad, Göttliche und menschliche Gerechtigkeit im AT) auf die alles in sich ziehende Bedeutung und Wirkung des Bundes Jahves, auf die Prävalenz des Gottesrechtes: bürgerliche Gerechtigkeit und Gerechtigkeit vor Gott fallen zusammen. Keiner der bürgerlichen Rechtssätze wird naturrechtlich hergeleitet. Die übernommene orientalische Rechtsüberlieferung gilt als Sinai-Gesetz, ist in der Kultgemeinde Israels, im Gottesbund verankert. Durch die Prophetie, das Exil, den Individualismus des 6. Jhs. wird das selbstverständliche Sein im Bund und im Recht in Frage gestellt, wird Gottes Gerechtigkeit sozusagen von der Kultgemeinde getrennt, wird ihre Realisierung in die Zukunft verlagert. — Wichtig ist der Diskussionsbeitrag, daß die Voraussetzung der Übernahme fremden Rechts der Gedanke sein müsse, „daß Gott an alle Völker einen Rechtsanspruch habe und ihnen allen auch die Gabe des Rechts verliehen habe” (ontischer Tatbestand, durch das Wissen um den Bund Gottes mit Israel noetisch erhellt). „Daß SEDAQA niemals im Zusammenhang mit dem Gericht Gottes vorkomme”, sondern ausschließlich in soteriologischen Zusammenhängen, stellt vor die Frage, inwiefern Gottesrecht Evangelium sei und wie dann vom AT her „Gesetz” im Gegenüber zum Evangelium zu definieren sei.

Das neutestamentliche Referat (K.L. Schmidt) führte nicht über dasjenige von Treysa I hinaus. In Parallele zum alttestamentlichen wurde auch für das NT umformende, einschmelzende Rezeption „naturrechtlicher” Normen konstatiert, deren Vorläufigkeit ebenso wie ihre Stiftung durch Gott dem eschatologischen Glauben erkennbar sei.

Die Schlußthesen, die eine sehr verzweigte Diskussion zusammenzufassen suchen, enttäuschen dadurch, daß bewußt auf eine Auseinandersetzung mit den rechtsphilosophischen Problemen verzichtet wurde, an denen Göttingen nicht ganz vorbeigegangen war. Thesengruppe A stellt den Consensus fest über den Heilscharakter der in AT und NT bezeugten Gerechtigkeit Gottes, die als solche heilbringende Gerechtigkeit ist und sich als Rechtfertigung des Gottlosen in Christus und als seine Indienstnahme im Gottesbund zu einem Wandel in der Liebe auswirkt; und zwar mit dem Ziel der Herstellung eines Gottesvolkes, „in welchem die

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sozialen Beziehungen ihre rechte Gestalt erhalten und der Einzelne zu seiner gottgewollten Vollkommenheit geführt wird.” Eine in manchem problematische Kompromißformel — Thesengruppe B überrascht bei der Frage nach dem, das die Hl. Schrift über das menschliche Recht lehre, mit der Betonung des christologischen Moments in noetischer Hinsicht. Hier meinte man über „Göttingen” (These 2) hinausgegangen zu sein. Die Sorge des Christen für das menschliche Recht wird als integrierender Bestandteil der Heilsverkündigung und als notwendige Auswirkung der Liebe bestimmt in der Gnadenfrist bis zum zweiten Advent Christi. Soweit war man sich einig. Dann setzte die Trennung in die „trinitarische” und die „christologische” Untergruppe ein.

1. Die Gnadenfrist ist bestimmt durch die das irdische, zeitliche Leben erhaltenden „Anordnungen des dreieinigen Gottes”, die als solche nicht erlösen. Zu ihnen gehört das menschliche Recht. Jesus hat in der Niedrigkeit des leidenden Gottesknechts die irdischen Richterstühle nicht umgestoßen und dadurch die weltlichen Gewalten als „Anordnung des dreieinigen Gottes” noch in Kraft gelassen. Ihre Exousia „geht nicht aus dem pneumatischen Leibe Jesu Christi” hervor (was man augenscheinlich als Zentralthese der sog. „christologischen Rechtsbegründung” unterstellt1a. Sie „gründet in dem Wort des Schöpfers und Erhalters”, das Gott der Vater „auch im Werke seiner Schöpfung und Erhaltung durch den Sohn” spricht. Darum steht die Ausübung jener Exousia unter Gottes Gebot; darum ist ihre Erhaltungsfunktion teleologisch auf die Erlösung ausgerichtet; darum kann die Kirche aus den in der „Wiederherstellung des göttlichen Ebenbildes geschenkten Einsichten und Kräften” die geschichtliche Ausgestaltung jener Exousia „in einem kritischen Reinigungsprozeß” prägen; darum wird jene Exousia bei der Wiederkunft Christi aufgehoben.

In jenen „Anordnungen des dreieinigen Gottes” ist überall in der geschichtlichen Wirklichkeit der Wille Gottes „inmitten des Reiches der Sünde bald mehr und bald weniger wirksam geworden, z.B. in den altorientalischen Gesetzen oder in den hellenistischen Morallehren”, die „darum im AT und NT zur Veranschaulichung göttlicher Anordnungen benützt sind”, aber erst im christlichen Glauben als Gottes Wille erkannt werden! „Positive Ausgestaltungen des menschlichen Rechts haben ihre Gültigkeit zum Teil dadurch, daß sie bestimmten konkreten Situationen entsprechen!” Letzen Endes kehrt man bei diesem Versuch, die „trinitarische” Position zu formulieren, zu einem Naturrecht zurück, daß man als solches in sich trinitätstheologisch und darin christologisch rechtfertigt, bis hin zu seiner physei gegründeten Gültigkeit in positiven Ausgestaltungen. In der Diskussion der Rechtsbegründung bedeutet dies gewiß keinen Fortschritt.


1a Vgl. dazu jetzt die Ausführungen über die „Vorbildlichkeit” des Kirchenrechts für das weltliche Recht in K. Barth, Kirchl. Dogmatik IV, 2, 1955, S. 815 ff.; Sonderdruck: K. Barth, Die Ordnung der Gemeinde. Zur dogmatischen Grundlegung des Kirchenrechts, München 1955.

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2. Die Abgrenzung der „christologischen Position” ist daher auch völlig unklar und benützt, um zum Ziel zu kommen, sowohl sachlogische Widersprüche — daß aus dem Verständnis des Gotteswillens im Recht in Christus dieses Recht aus der Agape abzuleiten sei, das Recht, nicht der usus legis! — als auch aus analoger Vermischungen des Noetischen mit dem Ontischen gewalttätige Konsequenzen: daß z.B. das menschliche Recht in der Gnadenfrist, sofern es als Erweis der Herrschaft Christi in ihr in deren Verkündigung respektiert wird, darum als „Funktion seines pneumatischen Leibes verstanden” werden solle. Ich bedaure heute, hinterher nicht schärfer protestiert zu haben, als ich es damals brieflich tat (vgl. Treysa-Konf. S. 62 ff.). Auch hier hat also Treysa II nicht weitergeführt.

Dagegen können für die Fortführung der Diskussion die mehr praktischen Sätze zum Thema Kirche und menschliches Recht nützlich sein und ebenso jene teilweise Weiterführung, die der ausführliche „Kommentar” von H.H. Schrey, „Gerechtigkeit in biblischer Sicht”, zu den Schlußthesen von Treysa II, Teil A, bietet. Auf ein Referat muß hier verzichtet werden, da es zu weit in exegetische und exegetisch-systematische Probleme abführen würde. Ich hebe nur einen Satz heraus (zu Thesen 2 und 4): zu Gottes Gerechtigkeit als schöpferischer und richtender, die mit Ordnungen und Gesetzen Gemeinschaft stiften und Frieden sichern will, und ebenso zum vollen Mensch-Sein des Menschen im sozialen Gefüge meint Schrey: „Es läßt sich von hier aus eine biblische Definition des Rechts geben: es ist die von Gott gewollte Instandsetzung des Menschen. Dieser Stand des Menschen ist freilich total bestimmt durch die Tatsache des Bundes” (S. 29).

 

III.

Weiterführungen der Ansätze von Göttingen im einzelnen. Im Anschluß an das alttestamentliche Referat von Treysa II bemerkte H. Dombois, das Problem „Rechtfertigung und Recht” sei nicht „nur ein christliches Problem, sondern in gewissem Sinn das allgemeine Problem aller Rechtsgeschichte. Es sei eine Verengung, wenn man es nur mit der Christologie in Zusammenhang bringe.” So berechtigt der Protest gegen diese These von der Verengung war, der angemeldet wurde, so wurde doch gerade mit dieser Bemerkung, die leider nicht wirklich aufgegriffen wurde, zur rechtstheoretischen und rechtstheologischen Grundfrage zurückgelenkt (Treysa-Konf., S. 35).

Als bewußte oder hinsichtlich ihres Ertrags hierher zu zählende Versuche, „Göttingen” weiterzuführen, erscheinen mir:

1. Die einschlägigen Arbeiten von H. Dombois: Naturrecht und christliche Existenz 1952; Strafrecht und Existenz, Hochland 46/4, 1954; Bemerkungen zum Naturrechtsproblem, 1954, Ev. Luth.

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Kirchenzeitung 13/1955; Mensch und Sache. Zum Problem des Eigentums, Z.f.d. ges. Staatswiss. 110/2, 1954, 239 ff.; früher: Menschenrechte und moderner Staat, 1949, zuletzt: Das Problem der Institutionen und die Ehe, Glaube und Forschung VIII, 1955, 132-142.
2. Die neueren Studien zum Thema Naturrecht bei Luther, insbesondere die Arbeiten von J. Heckel.
3. H.H. Schrey, Die Bedeutung der Botschaft der Bibel für die Welt des Rechts, 1952.
4. G. Dehn/E. Wolf, Gottesrecht und Menschenrecht, Th.Ex.h. NF 42, 1954.

Sehe ich recht, so sind es im wesentlichen drei Erkenntnisse, um die es Dombois geht: 1. die strukturelle Einordnung der Rechtswissenschaft als dogmatische Wissenschaft in das durch systematische Theologie und theoretische Physik bestimmte Weltbild; d.h. es gibt keine autonome Rechtswissenschaft, oder anders formuliert: „Rechtsidee und konkrete Rechtsordnung folgen stets der religiösen oder pseudoreligiösen Rechtfertigungsidee, d.h. dem geglaubten Grundverhältnis des Menschen zu Gott oder dem an seine Stelle gesetzten geschichtsphilosophischen Prinzip.” Dies ist nach Dombois die „Glaubensbedingtheit des Rechts”. — 2. Daraus folgt für die Rechtswissenschaft heute, daß sie sich jener geistesgeschichtlichen Wandlung einordnen müsse, die für die Physik und Dogmatik durch den Satz von der Komplementarität von Subjekt und Objekt — in der Wendung gegen Descartes — bezeichnet sei, von Determination und Freiheit, normativer und existentieller Betrachtung ethisch strukturierter Normen und ontologisch vorgegebener Grenzen menschlichen Seins und Handelns usw. Am Strafrecht erläutert: „Die rein normative Betrachtung ist immer auf die autonome Satzung des Menschen zurückzuführen, die existentielle sieht in der Straftat die Überschreitung von den Menschen vorgegebenen Grenzen”, d.h. Existenzverfehlung in Verletzung des konkreten positiven Rechts des Nächsten. — 3. Der Dualismus von Physis und Thesis, menschlichem und göttlichem Recht, Gerechtigkeit und Recht in der Rechtsphilosophie, allgemein gültiger Gerechtigkeit und grundsätzlich „unvollkommenem” Recht, kurz „alles Rechtsdenken” ist „in seiner Struktur doppelschichtig”. „Alles Recht lebt von dem Gegenüber einer transzendenten Rechtfertigung. Recht ist gerechtfertigte Macht, gerechtfertigt durch die Übereinstimmung seines Trägers mit Sein und Willen Gottes” (Naturrecht usw. S. 28). Materiell entspricht dem formalen Dualismus, daß in den geschichtlichen Lösungen des Rechtsproblems in der abendländischen Philosophie sich nur zwei materiale Gründe für das Recht zeigen, der personale Gott und die unpersönliche Natur (allenfalls unter Einschluß eines deistischen Gottesbegriffes). Der zweite führt, isoliert, zur tödlichen Entpersönlichung und schließlich zum Terrorismus, der erste, isoliert in radikaler Trennung des deus actuosus

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von der Gesetzlichkeit der Natur, führt, „nur zu der je und je zugesprochenen Rechtfertigung des Sünders. Von da aus muß man freilich um der erfahrenen Barmherzigkeit willen dem zum Heil bestimmten Mitgeschöpf das gleiche Lebensrecht zubilligen”. Die rechtlichen Folgerungen von hier aus auf die subjektiven Freiheitsrechte eines individualistisch verstandenen Einzelmenschen sind das Ergebnis. „Göttingen” habe von da aus, von einer bloß allgemeinen Bejahung von Recht und Gerechtigkeit her, den Zugang zum Problem der Institutionen nicht gefunden, auch nicht finden können, und habe sich — wofür ich selbst als Beispiel angeführt werde — dem Sog zum Positivismus geöffnet. „Vollends bei strenger Durchführung einer christologischen Rechtfertigung des Rechts im Verständnis der kritischen Theologie muß sich der theologisch begründbare Rechtsbereich auf jenen engen Kreis beschränken1.” Daher seien Gott und Natur in Konjunktion zu bringen, wofür Dombois ein Moment einführt, „welches die Theologen wegen einer bestimmten Vereinseitigung der Rechtfertigungstheologie außer Betracht lassen und zugleich in seiner rechtlichen Tragweite nicht kennen” — nämlich das Moment der communicatio oder des Bundes. „Rechtsbruch ist immer zugleich Bundesbruch”, Normverletzung ist — wie es anderwärts wohl im selben Sinn gemeint ist — Existenzverfehlung (Bemerkungen zum Naturrechts-Problem).

Man sieht, jene beiden Extreme aus der isolierten Inanspruchnahme der beiden materiellen Gründe für das Recht, unpersönliche Natur und personaler Gott — wobei das zweite Extrem m.E. im Unterschied zum ersten bloße Konstruktion ist —, dienen dazu, gegenüber „naturrechtlicher” und „christologischer” Rechtsbegründung den Raum zu gewinnen für die auch von Dombois zunächst freilich gegen Ellul, geforderte „trinitarisch-heilsgeschichtliche” (S. 63). Zugegeben, daß „Göttingen” das Problem der Institutionen kaum angerührt hat, jedenfalls nicht in den Thesen, so hat das doch andere Gründe. Denn die Rechtfertigungstheologie, von der Dombois ausgeht, ist seine Rechtfertigungstheologie, gewiß in der Tradition einer rein forensischen, den christologischen Bezug außer Acht lassenden, idealistischen Rechtfertigungstheologie des Protestantismus. Nach biblisch-reformatorischer und auch „dialektischer” Auffassung setzt aber der Akt der iustificatio impii als solcher communio, communicatio, Einstiftung in das Bundesverhältnis


1 Vgl. dazu die etwas voreilige Behauptung Wehrhahns (Beiträge zur Frage christlichen Rechtsdenkens in protestantischer Sicht; Juristenzeitung 9, H. 23/24, 1954, S. 768 f.), daß in einer „weltentsagenden (!) Widerstandsstimmung” die „Theologie der Krisis” zu „zum Teil sehr schroff vorgetragenen theozentrischen Rechtslehren” angeregt habe. Die, für viele überraschend, inzwischen deutlicher zutagegetretenen weltbezogenen ethischen Intentionen jener Theologie sind ihr aber von vornherein eigen gewesen. Man hätte sie nicht so eilfertig leugnen sollen, um sich ein nur zu bequemes theologiegeschichtliches Schema und polemische Pauschalurteile zurechtzumachen.

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zu Gott und Einfügung in die Mitmenschlichkeit. Sanctorum communio, remissio peccatorum und ecclesia sind für Luther bekanntlich Synonyma! Und nicht von ungefähr folgt bei Barth „Bürgergemeinde und Christengemeinde” (1946) — wie immer man das Prinzip der analogia relationis in dieser Schrift beurteilen mag — auf und aus „Rechtfertigung und Recht” (1938). Und nicht von ungefähr redet er so nachdrücklich gerade in der Schöpfungslehre (Kirchl. Dogmatik III, 1) vom Bund und bei der Lehre vom Hl. Geist bzw der Gemeinde vom Recht (IV, 2). Es bedarf also nicht erst der von Dombois geforderten Hinzufügung der communicatio zur Rechtfertigung, „um diese Dinge ganz und vollständig” zu machen. Ein besonderes Verdienst ist es, daß Dombois schließlich in seinen beiden Arbeiten zum Naturrecht das Problem der Institutionen aufzeigt und es in derjenigen zum Eherecht verdeutlicht. Einzelheiten stelle ich für die Diskussion zurück.

Außer Betracht lasse ich die geistesgeschichtlichen Erwägungen, die die „trinitarische” Position auf das Luthertum, die „christologische” auf den Calvinismus aufteilen, so gewiß etwas Richtiges an dem Satz von Fr. Fischer (in: Europa in evangelischer Sicht, hrsg. v. F.K. Schumann, 1953, S. 42) ist, daß auch im 19. und 20. Jh. für die westliche, calvinische Welt „die sündhafte Möglichkeit des Menschen im Mißbrauch der Macht” liege, für die deutsch-lutherische „in der Auflehnung gegen die Macht”, was man auch auf die Stellung zur Frage des Rechts anwenden kann2.

Zum Naturrecht, soweit es z.B. in dem vielzitierten Aufsatz von Bundesgerichtspräsident Dr. H. Weinkauff, Das Naturrecht in evangelischer Sicht (Zeitwende, 1951, S. 95 ff.; vgl. auch Richtertum und Rechtfindung in Deutschland, Berliner Kundgebung des Deutschen Juristentages 1952), aus der Tradition in Anspruch genommen wird, bei der Herkunft des Interesses aus dem Bereich der Justiz und dem Fragenkreis des Richter-Rechts sehr begreiflich, habe ich in Treysa I und schon früher (vgl. die Literaturangaben in m. Beitrag „Rechtfertigung und Recht” in: Kirche und Recht, Göttingen 1950) mit der historischen Frage nach dem Naturrecht bei Luther indirekt Stellung genommen (Zum Naturrecht bei Thomas von Aquin und bei Luther, Peregrinatio, 1954, S. 183 ff.) und von da aus die These vertreten:

1. daß selbst die „biblischen Weissagungen” (Erik Wolf) des Naturrechts als Rezeptionshilfe für die Übernahme biblischer Gebote nicht entbehren können, und daß hier eine legitime Anwendung der Idee des Naturrechts erfolge. „Eine direkte, naive, formal-biblizistische


2 H. Simon bemerkt ausdrücklich (Rechtsgedanke, S. 85), „daß der Gegensatz der Richtungen keineswegs identisch ist mit dem Unterschied zwischen reformierter und lutherischer Theologie”, will aber eine relativ je größere Nähe zu der einen oder anderen konfessionellen Grundhaltung durchaus zugestehen.

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Benützung der Heiligen Schrift zur Gewinnung unveränderlich gültiger Rechtsgrundsätze oder gar Rechtssätze widerstreitet dem geschichtlichen Zeugnischarakter der Bibel und der Geschichtlichkeit jeder Rechtsformulierung. Die Botschaft der Bibel für die Welt des Rechts verlangt eine auf die geschichtliche Gegenwart lebendig bezogene Rezeption dieser Botschaft im Rahmen der zur Verkündigung hier und heute wirksamen Schriftauslegung. Diese Rezeption bedarf bestimmter Medien und Kriterien. — Als Medien deuten sich zunächst an: a) die Wirklichkeit der christlichen Gemeinde, die ja zugleich als solche legitime Inhaberin der Heiligen Schrift ist; b) ein zunächst formal zu fassender Begriff von ,natürlichem Recht’ samt der ihm zugeordneten, nicht rationalistischen, selbstherrlichen, sondern vernehmenden Vernunft3. — Als Kriterium erscheint die von Christus vorgenommene Auslegung des Dekalogs durch das Liebesgebot und damit all das, was die Schrift zu dem Problem Christus und Recht erkennen läßt. Nur dieses Kriterium ist in der Bibel enthalten. Dagegen kennt die Bibel auch im Alten Testament kein Naturrecht für sich, keine andere Begründung des Rechts, als den Willen des Gottes Israel, der der Schöpfer und der König der Welt ist; d.h. die Bibel läßt die Frage nach einem biblischen Naturrecht ohne positive Antwort” (Dehn/Wolf, Gottesrecht und Menschenrecht, S. 26; vgl. E. Wolf, Libertas christiana in H.E. Weber/E. Wolf, Gerechtigkeit und Freiheit, Th.Ex.h. NF 18, 1939, S. 35);

2. daß naturrechtliches Denken auch beim prinzipiellen Festhalten der theologischen Rechtsbegründung von der Rechtfertigung her als ein „Element der Besorgung des Rechts als Daseinsverfassung des Menschen in der Welt” (Menschenrecht und Gottesrecht S 35) zu gebrauchen sei. Gemeint ist damit, was auch z.B. H. Welzel in seinem Buch: Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 1951, fordert und H. Coing verschiedentlich versucht, nämlich die „Herausarbeitung der sachlogischen Strukturen, die im ganzen Rechtsstoff stecken und die jeder positiven Regelung vorgegeben sind”4 — und zwar gegen die Liermannsche Alternative: Neutralisierung der Kirche gegenüber dem Recht oder Anerkennung des ius divinum und damit des christlichen Naturrechts (Zur Gesch. d. Naturrechts i.d. evang. Kirche, Bertholet-Festschr. 1950, 294 ff.). Ich habe mich bei diesem „positivistischen” Naturrecht u.a. auch einer gewissen Übereinstimmung mit H. Coing gefreut: „Das Naturrecht ist kein Vollzug einer erkannten Schöpfungsordnung, keine Erfüllung der Gedanken Gottes über das Weltregiment, kein Wegweiser zu richtigen Tun vor Gott: nein, es ist nur die Verwendung irdischer Einsichten mit aller Begrenzung und ihrer Bedeutungslosigkeit vor Gott


3 In diesem Sinn ist die allem Anschein nach nicht auf den ersten Blick verständliche (H. Simon, S. 156) Formulierung in These 6 von „Göttingen” gemeint, in der vom „naturrechtlich aufgenommenen Dekalog” gesprochen wird.
4 Vgl. dazu jetzt auch H. Welzel, Naturrecht und Rechtspositivismus, Festschr. f. H. Niedermeyer, 1953; S. 279 ff.

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in brüderlichem Dienst an unseren Nächsten. Nur von hier aus hat das Naturrecht seine Würde” (Naturrecht als Problem der Juristen, verf. Vortrag S. 16, vgl. Protokoll der Dogmat. Sozietät Heidelberg 1946/47, Stud.-Abt. 50 G/120, 1950, S. 7; H. Coing, Die obersten Grundsätze des Rechts, 1947). Mir scheint das auch der Position Luthers zu entsprechen5.

Für Luther verweise ich, auch hinsichtlich der neuen Literatur, auf meinen Aufsatz: Zur Frage des Naturrechts bei Thomas von Aquin und bei Luther (Peregrinatio, 1954, S. 183 ff.). J. Heckel hat diese Sicht, daß die lex-aeterna-Lehre als das physei geltende Deutungsschema der „Welt” bei Luther entfällt, jede „organische” Verbindung von lex naturae und lex Christi aufgehoben ist, durch den von ihm herausgestellten „Dualismus” von „göttlichem Naturgesetz” und „weltlichem Naturrecht” sehr viel eingehender deutlich zu machen gesucht (vgl. die Zusammenfassung in: Widerstand gegen die Obrigkeit? Zeitwende 25/3, 1954, S. 158). Ich verweise auf seine Studien: Initia iuris ecclesiastici Protestantium, 1949; Naturrecht und christliche Verantwortung im öffentlichen Leben nach der Lehre M. Luthers = Zur politischen Predigt, 1952; vor allem: Lex charitatis, 1953; dazu meine Anzeige: Der christliche Glaube und das Recht, Z. ev. KR IV, 1955, S. 225 ff. Jener Dualismus entstammt wahrscheinlich zum Teil der ockhamistischen Trennung zwischen Heilsordnung und natürlicher Ordnung (vgl. G. Ott, Recht und Gesetz bei Gabriel Biel, ZRG 69, Kan. Abt. 38, 1952, S. 251 ff.); es bleibt freilich zu fragen, ob man das „göttliche Naturgesetz” überhaupt „Recht” nennen kann.

Bemerkenswert ist, daß Heckel in „Lex charitatis” ausdrücklich die Barthsche Fragestellung „Rechtfertigung und Recht” bei Luther nachprüft (S. 20). Er findet sie in Luthers „Rechtslehre der theologia crucis” — „Crux Christi est unica eruditio verborum Deo” (WA V, 217, 2) — bestätigt, nach einer Klärung des Rechtsbegriffs der Rechtfertigung. Dieser heißt „lex spiritualis”, als radikale Spiritualisierung des Begriffs „göttliches Gesetz” (Röm). Fraglich ist mir allerdings die von Heckel behauptete Identifizierung des lex divina oder Christi mit dem Naturgesetz. Aber das ist relativ gleichgültig, da die lex Christi (= fides, vgl. E. Wolf, Zur Frage des Naturrechts usw.) identisch ist mit der wirksamen Gerechtigkeit Gottes. Nach Heckel (S. 178) wird Barths Fragestellung „fast mit denselben Worten” von Luther bejaht: Die „göttliche Staats- und Soziallehre ... zeigt erstens Gott als die causa efficiens et finalis mundi, ... zweitens den ordo naturalis mundi als die von Gott im weltlichen Naturrecht festgesetzte Rechtsordnung des Reiches Gottes


5 Vgl. E. Wolf, Naturrecht und Gerechtigkeit, Ev. Theol. 1948, 233 ff., bes. 252 f.; Libertas christiana, Th.Ex.heute NF 18, 1949, S. 31 f.; Rechtfertigung und Recht in: Kirche und Recht, 1950, S. 25 ff. Zu dieser Aufnahme von „Naturrecht als Phänomen” der Rechtsgeschichte vgl. auch H. Simon, S. 116 ff., 174 f.

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zur Linken und die Stellung des Menschen als minister et cooperator Dei, drittens an dem regnum Christi in mundo, d.i. an dem Reich Gottes zur Rechten, wie das weltliche Naturrecht in der politia auf göttliche Weise gebraucht werden soll, nämlich im Gehorsam gegen das geistliche Naturgesetz, . . . viertens die iustificatio sola fide als persönliche Voraussetzung für solchen Gehorsam. Damit ist die Beziehung zwischen Rechtfertigung und Recht bei Luther hergestellt ... Ein usus legis spiritualiter et corporaliter legitimus ist allein dem gerechtfertigten Menschen möglich” (S. 179).

Gegenüber der im Blick auf diese Feststellungen möglichen Frage, wieweit man reformatorische Ansätze heute weiterdenken dürfe und solle, muß, so sehr Barths Rechtslehre als solches Weiterdenken durch Heckel ausgerechnet von Luther her legitimiert erscheint, doch darauf hingewiesen werden, daß sie bei Barth selbst ohne historische Anlehnung von der theologischen Sachproblematik her entfaltet worden ist. — Auch W. Schönfeld hat (Grundlegung der Rechtswissenschaft, 1951) wiederholt auf diese Übereinstimmung aufmerksam gemacht (303 f.), freilich ohne dabei in seiner idealistischen Grundhaltung auf eine geschichtliche Autonomie des Rechts zu verzichten. Für den Lutheraner mögen solche Feststellungen überraschend sein, weil seine postluthersche Tradition eben hier sich am weitesten von Luther entfernt hat.

 

IV.

Wir wenden uns Interpretationsfragen an die Göttinger Thesen zu: Was heißt „trinitarische Rechtsbegründung”? Die Thesen von Treysa II kamen über ein „trinitätstheologisches” Naturrecht im Grunde nicht hinaus, und diese Konstruktion war zu stark durch die Ablehnung der „christologischen” Rechtsbegründung motiviert, als daß sie hätte glücken können. Auch sonst ist die „trinitarische” Rechtsbegründung zumeist nur postuliert worden, etwa bei Dombois und bei Schrey, auch bei E. Schlink. Es fehlt bis jetzt noch immer ihre wirkliche Entfaltung. Ein Ansatz dazu, der sich bei Dombois findet, geht von einem dreifachen Rechtsstatus aus: ex creatione (Kind), ex praedestinatione (Bestimmung des Menschen), ex baptismate (Naturrecht, 34 ff.). — E. Schlink (Das theologische Problem des Naturrechts, Viva vox Evangelii, Meiser-Festschrift, 1951) verrät als ein Interesse an der „trinitarischen” Rechtsbegründung „die Unterscheidung zwischen dem Willen Gottes des Erhalters und dem Willen Gottes des Erlösers”, mit der Konsequenz, daß die Ordnung dieser Welt das „fremde Werk” der Kirche sei, ihre uneigentliche Aufgabe. Man muß dann freilich erfahrungsgemäß die Kirche sehr ermahnen, diese Aufgabe einerseits nicht zu vergessen, anderseits nicht als modische Angelegenheit wahrzunehmen. Auch Künneth (Politik zwischen Dämon und Gott, 1954) sucht aus dem „Sinn” und der „Bedeutsamkeit” der von ihm proklamierten

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Erhaltungsordnung ihre „trinitarische Bestimmtheit” zu erweisen (138 ff.): 1. als „gegenwärtige Gestalt der schöpferischen Wirksamkeit Gottes an der gefallene Welt” weist die Erhaltungsordnung von der conservatio über die creatio auf den creator; 2. als „Zornes- und Strafordnung” weist die Erhaltungsordnung auf Gottes Erlösungswillen und damit auf den Erlöser, das ist ihr „christologischer Sinn”, zugleich der „theologische Sinn” der Schöpfung; 3. als „Interimsordnung” bzw. „Notverordnung” weist sie auf die Vollendung als Neuschöpfung, und das gibt den „eschatologischen Charakter der Erhaltungsordnung” an! Das alles ist aber keine „trinitarische” Rechtsbegründung, sondern lediglich eine „trinitarische” Interpretation von Erhaltungsordnung!

Ein weiteres Interesse am trinitarischen Moment deutete noch vor „Göttingen” Fr. Delekat an (Kirche und Recht, ThLZ 1949, 599 ff.): das zum Wesen des Menschen gehörende normativ verstandene Recht sei theologisch auf den ersten Artikel zurückzuführen, sofern 1. die Personalität durch das „Du sollst nicht” von Ex. 2, 15 gegeben sei, 2. der Sündenfall die Voraussetzung der Notwendigkeit von Recht sei, 3. die Institutionen, so wenig sie als Naturrecht oder Schöpfungsordnung zu sanktionieren seien, auf die Natur des Menschen zurückzuführen seien. — Natur, nicht Wesen! Nach biblischer Anthropologie ist das Wesen des Menschen durch den Anruf Gottes, durch die Berufung zum Bundespartner, durch das Geschehnis der Rechtfertigung konstituiert und im Ecce homo enthüllt. Andernfalls landet man von der „Natur”-Anthropologie aus wieder beim thomistischen Naturrecht. Mir scheint nach alledem die Parole „trinitarische Rechtsbegründung” etwas zu eilig ausgegeben zu sein. Und das betonte Interesse daran, gegenüber einem vorgeblich einseitigen Ausgehen vom zweiten Artikel die Dreiheit der Artikel geltend zu machen, verfehlt auch die Mitte der reformatorischen Rezeption des Apostolikums — remissio peccatorum, „mein Herr” —, die genau der anthropologischen Definitionsformel Luthers entspricht: „hominem iustificari fide” (vgl. dazu neben den Katechismen Luthers auch die Anweisung in den Visitationsartikeln, CR XXVI, 2: „Quidam somniant credere esse id, quod tenere historiam de Christo, eaque cognita, iustificari homines. Verum hi longe aberrant. Nam ea demum fides iustificat, quum credit remissionem peccatorum. Ideo in enarratione symboli iubeant ad eum articulum respici [Credo remissionem peccatorum], ad illum omnes articulos superiores conferendos esse doceant”).

Es wiederholt sich hier bei dem Einspruch gegen die „christologische” Rechtsbegründung zuletzt der von der Position „Schöpfungsordnung — Volksnomos — Uroffenbarung” her erhobene Einspruch gegen den vorgeblichen „Christomonismus” der ersten Barmer These! Das ist begreiflich, sofern man zu rasch die Problemstellung „Rechtfertigung und Recht” Barths von den sehr gewagten „christokratischen” Thesen Elluls her interpretierte, statt umgekehrt diese von Barth aus zu korrigieren; damit hätte man dann zum Teil auch die „christologischeBegründung

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von Gebot und Mandat in Bonhoeffers „Ethik” erreicht und eine wirkliche Befreiung von den Gefahren der Chiffre „Ordnung” gewonnen6. Bund, Gebot, Berufung, Mandat, das ist eine m.E. theologisch sachgemäßere Reihe der hier maßgeblichen Kategorie. Sie führt hinüber zum letzten Abschnitt dieses Berichts.

 

V.

Von der Position „Rechtfertigung und Recht” aus öffnet sich auch ein Weg zu dem Problem der Institutionen. Das wurde bereits bei der Erwähnung des Zusammenhangs von iustificatio und communicatio angedeutet. Bei Ellul liegt hier allerdings eine immer wieder mit Recht bemängelte Schwierigkeit vor. Gott habe eine Ordnung geschaffen, in die sich der Mensch hineingestellt finde, damit ihm das Leben möglich sei. Sie sei nicht nur rechtlicher Art, enthalte aber rechtliche Elemente, nämlich a) Menschenrechte und b) Institutionen, „ein organisches Gefüge von rechtlichen Vorschriften, das auf ein einheitliches Ziel ausgerichtet ist, ein beständiges und vom menschlichen Willen unabhängiges Ganzes bildet und sich dem Menschen unter bestimmten Verhältnissen verpflichtend auferlegt”. Einige dieser Institutionen seien göttlichen Ursprungs: Ehe, Volk und Staat, Eigentum und Tausch. Warum nur diese Institutionen durch eine Art von Schöpfungscharakter ausgezeichnet wind, wird nicht begründet — übrigens auch nicht bei den sonstigen Erörterungen der Institutionen im Rahmen einer Schöpfungsontologie.


6 Etwas anders beurteilt H. Simon das Verhältnis beider Richtungen. Ihm erscheint die „heilsgeschichtlich-trinitarische” als „Versuch einer Fortbildung jener traditionell reformatorischen Richtung unter Assimilierung namentlich von Elementen der christologischen Lehre” (86). Simon meint etwa bei Althaus (102 f.), auch bei E. Brunner (145 f.) entsprechende Modifikationen ihrer früheren Auffassung und eine unstreitige, aber teils nicht bewußte, teils nicht zugegebene Annäherung an die Position von „Rechtfertigung und Recht” feststellen zu können. Mit Recht urteilt er S. 142: „Soweit ersichtlich, wird in der christologischen Lehre diese trinitarische Grundlage nirgends bestritten. Sie rügt ihrerseits mit gutem Grund, daß jedenfalls die traditionelle evangelische Rechtslehre gerade nicht trinitarisch war, sondern an der Christologie meist vorbeiging.” Andererseits hat Simon die hintergründige Tendenz einer bloß polemisch „trinitarischen” Position deutlich gesehen; sie ist heilsgeschichtlich-dualistisch (Versteifung der Lehre von den zwei Regimenten bzw. Reichen) und „sieht den gefallenen Äon stärker und betonter als nicht mehr Schöpfung und noch nicht Reich Christi und unterstellt daher Staat und Recht einem Interimsgesetz. Dieses Denken ist namentlich in Deutschland heimisch. Ihm wohnt — wie geschichtlich erwiesen — ein heimlicher Hang zur Flucht aus der dämonisierten Welt und deren Preisgabe an ihre Eigengesetzlichkeit inne. Nicht zuletzt aus diesem Grunde ist die Fortbildung der traditionellen Richtung in der trinitarischen Lehre durch ihren christologischen Einschlag besonders bedeutsam, denn dadurch erlangen alle Aussagen nicht nur größere Zuverlässigkeit, sondern auch ein erhebliches theologisches Gewicht und eine unausweichliche Verbindlichkeit für den Christen (146 f.).

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Man kann Ellul daher mit Recht fragen, ob er nicht seine Ablehnung der Schöpfungsordnungen bei den Institutionen praktisch widerrufe. Ich will eine m.E. dennoch mögliche Verteidigung seiner Anschauung beiseite lassen. Schwieriger noch ist die andere These Elluls, daß diese Institutionen „organisch” an Christus gebunden seien. Sie bleibt bei Ellul m.E. ein Postulat, dessen theologische Begründung ihm nicht geglückt ist. Neben dem Aufriß von Ellul für die Institutionen erinnere ich an die herkömmliche Schemata, welche die Institutionen entweder als supralapsarische, mit dem geschöpflichen Wesen des Menschen gesetzte Schöpfungsordnungen auffassen, oder als teils supralapsarische (Ehe), teils infralapsarische, wie es E. Brunner versucht, oder als „zwischeneingekommene”, mit der Qualität des Gesetzes ausgestattete Erhaltungsordnung in Folge des Sündenfalls (Künneth); hier wird das thetische und das dynamische Moment gegenüber der Statik einer Schöpfungsordnungsontologie betont und zugleich die schon erwähnte trinitarische Bestimmtheit der Erhaltungsordnung „begründet”. Ein differenziertes Schema entwirft H. Dombois (Naturrecht und christliche Existenz, S. 59), in dem er die Ordnungen unterscheidet als „Hierarchien von Institutionen, die entweder (a) der Heilstatsache der Schöpfung oder (b) derjenigen des Bundes nachfolgen und nachgebildet sind”; zu (a) gehören: Familie (Vater-Kind-Verhältnis), Staat (volkhaft-traditional, nicht souverän), Lehensverhältnis, sachenrechtliche Verfügungen über verfügbare Gegenstände; zu (b): Ehe, Staat als Willensverband, Gesellschaften des bürgerlichen Rechts und des Handelsrechts, der einfache Consensualvertrag über verfügbare Gegenstände.

Das ist zunächst ein Schema. Wesentlich darüber hinaus führen die m.E. entscheidend wichtigen Ausführungen zum Problem der Institutionen im Vortrag von H. Dombois von 1954: 1. Institutionen sind nicht zweckhafte Einrichtungen zur Ordnung irgendwelcher Lebensgebiete, sondern institutio ist „ein Akt des Setzens in einen bestimmten status”; 2. „der status ist ein Standort”, der eben gerade dadurch die Beziehung zu anderen Standorten einschließt und voraussetzt; 3. der Mensch befindet sich in einem Standortsverhältnis zu Gott (dem Schöpfer), zum Nächsten und zur Natur, und zwar vom Anbeginn an; 4. durch die Sünde ist diese vorgegebene Kommunikation gestört und sie harrt der endzeitlichen Wiederherstellung; 5. es ist die vorlaufende Gnade Gottes, die „im Blick auf die künftige Erlösung die zeitlichen Formen der Vergemeinschaftung auch in ihrer Gefallenheit noch ermöglicht”; 6. „in jede dieser Institutionen aber tritt man erst durch eine konkrete Intention ein. Sie sind weder in ihrem Bestande verfügbar und ablösbar, noch einfach in vollem Umfang determiniert” (S. 14).

Wichtig scheint mir zu sein, daß auf diese Weise unabhängig von der Chiffre „Ordnung” eine Grundlage der Institutionen gefunden ist, die sich ausbauen läßt, und zwar zunächst entsprechend den drei genannten Standortsbezügen für die Institutionen der Ehe, des Staats und der

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Sachherrschaft. Im Hintergrund scheint mir freilich immer noch ein irgendwie trinitarisches Schema zu stehen, das z.B. für den Staat auf den Schöpfer, statt auf den Herrn bzw. das Herrsein Gottes in Christus verweist. Ich selbst hatte in Thesen (1954) unter stärkerer Betonung des christologischen Moments Ähnliches umrissen, und zwar im Anschluß an Bonhoeffer und gegen ein Nebeneinander von „Ordnung” und „Gebot” Gottes. Ich stelle zunächst die aufschlußreichen Sätze Bonhoeffers (Ethik, 225 ff.) zusammen: „Alle möglichen Aussagen über die weltlichen Ordnungen sind begründet und müssen daher bezogen sein auf Jesus Christus als Ursprung, Wesen und Ziel alles Geschaffenen. Die Herrschaft Christi ist Ermöglichung und Sinn aller dieser Aussagen ... Der Dekalog ist das von Gott geoffenbarte Lebensgesetz alles unter der Christusherrschaft stehenden Lebens. Er ist die Befreiung von Fremdherrschaft und von eigengesetztlicher Willkür. Er enthüllt sich den Glaubenden als das Gesetz des Schöpfers und des Versöhners. Der Dekalog ist der Rahmen, innerhalb dessen ein freier Gehorsam des weltlichen Lebens möglich wird. Er befreit zum freien Leben unter der Christusherrschaft ... Christusherrschaft und Dekalog bedeuten für die weltlichen Ordnungen nicht Dienstbarkeit gegenüber einem menschlichen Ideal, ,Naturgesetz’, auch nicht gegenüber der Kirche ..., sondern die Befreiung zur echten Weltlichkeit, zum Staatsein des Staates usw. ... Nicht Vergöttlichung oder Verkirchlichung der weltlichen Ordnung, sondern ihre Befreiung zur echten Weltlichkeit ist Sinn und Ziel der Christusherrschaft ... Konkret wird die Befreiung der weltlichen Ordnung unter die Christusherrschaft nicht durch die Bekehrung der christlichen Staatsmänner ..., sondern durch die konkrete Begegnung der weltlichen Ordnungen mit der Kirche Jesu Christi, ihrer Verkündigung und ihrem Leben.” Für Bonhoeffer ist der Wille Gottes weder eine Idee, die Realisierung verlangt, noch identisch mit dem Seienden, sondern „nichts anderes als das Wirklichwerden der Christuswirklichkeit bei uns und in unserer Welt” (70). Die zweite Tafel ist daher von der ersten nicht zu trennen. „Die Ordnungen sind also nicht eine zweite göttliche Instanz neben dem Gott Jesu Christi, sondern sie sind der Ort, an dem der Gott Jesu Christi sich Gehorsam schafft; nicht um die Ordnungen an sich, sondern um den Glaubensgehorsam in ihnen geht es in Gottes Wort” (279). Daher führt „allein die Begründung der Obrigkeit in Jesus Christus ... über die naturrechtlichen Begründungen hinaus, auf die zuletzt die Begründungen aus dem Wesen wie aus der Sünde des Menschen hinauslaufen ... Naturrechtlich läßt sich der Gewaltstaat wie der Rechtsstaat, der Volksstaat wie der Imperialismus, die Demokratie wie die Diktatur begründen. Festen Boden unter den Füßen gewinnen wir allein durch die biblische Begründung der Obrigkeit in Jesus Christus. Ob und wieweit dann von hier aus ein neues Naturrecht gefunden werden kann, ist eine bisher noch offene theologische frage” (246). Bonhoeffer setzt daher an die Stelle der lutherischen Ständelehre die Lehre von den vier göttlichen Mandaten: Ehe und Familie, Arbeit,

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Obrigkeit, Kirche. Ihre Rechtfertigung ist, daß sie „positiv göttliches Mandat zur Erhaltung der Welt um Christi willen und auf Christus hin” sind. Sie scheinen ihr Urbild in der himmlischen Welt zu haben, sofern Ehe dem Verhältnis von Christus und Gemeinde entspricht, Familie dem Verhältnis von Gott Vater und Sohn und zugleich der Bruderschaft der Menschen in Christus, Arbeit dem schöpferischen Dienst Gottes und Christi an der Welt und dem Dienst des Menschen an Gott, Obrigkeit schließlich der Herrschaft Christi in Ewigkeit. Im Blick darauf stellt Bonhoeffer fest, daß „die Beobachtung, daß die weltlichen Ordnungen auch ohne die Begegnung mit dem Wort der Kirche Jesu Christi ihren Dienst tun können”, 1. „nur beschränkt richtig” sei — „echte Wirklichkeit gibt es nur durch Befreiung durch Christus” — und daß 2. die Kirche nur ihre geoffenbarte Wahrheit bestätige und zur Verkündigung der vollen Wahrheit dränge, zur Predigt des unbekannten Gottes als des bekannten, denn die Ordnungen seien hier und da möglich ohne gehörte Predigt, aber nicht ohne das Dasein Christi.

Mir scheint der Begriff der Mandate insofern wesentlich glücklicher zu sein als der der Erhaltungsordnung, den Künneth mit einem einschränkenden Hinweis auf Bonhoeffer wieder einführt, als Mandat eben Berufung, Gabe und Intention des geforderten Gehorsams entschließt, während „Erhaltung” von vornherein nur eine Modifikation von „Schöpfung” ist und das Herrschaftsmoment nicht deutlich werden läßt. „Mandat” führt hin zum Verständnis der Institutionen als durch konkrete Entscheidungen zu gestaltenden Aufgaben. In der neunten meiner oben erwähnten Thesen ist das so ausgedrückt: „Der Gedanke der Gabe Gottes weist zurück auf Gottes setzenden Willen, auf seine „ordinatio”, auf den ,Positivismus’ seiner Gebote und Mandata (oder Institutionen). Er verwehrt es zugleich, diese im Sinne eines schöpfungsimmanenten ,Naturrechts’ spekulativ oder ideologisch in die Verfügung des Menschen und seines jeweiligen Beliebens zu nehmen. Viel eher ist nach dem Urbild der Mandata — Ehe, Arbeit, Obrigkeit, Kirche — zu fragen.”

Von hier aus sind im einzelnen an Künneth und seine schon 1933 (Die bibl. Offenbarung und die Ordnungen Gottes — Die Nation vor Got, S. 21 ff.) vertretenen „Erhaltungsordnungen” 7 vier Fragen zu richten: die Erhaltungsordnung, in der Künneth Schöpfungsordnung und Naturrecht hinsichtlich ihrer Wahrheitsmomente zusammenfaßt, ist ihm die „entscheidende Wirklichkeit . . ., welche das Denken und Handeln in der Welt des Politischen bestimmen muß”, „Angelpunkt einer


7 Verwandte Gedankengänge vertritt auch Elert: Das christliche Ethos, 1949, S. 97, 100ff., 112f.; auch Thielicke, Theologische Ethik, vgl. die Zusammenstellung bei Simon, S. 120ff.

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,politischen Ethik’” 8. Sie ist dynamisch auf Gott als ihren Herrn in personeller Ausrichtung bezogen, nur offenbarungsmäßig erkennbar auf dem Grund rationaler Einsicht in das Daß von Ordnung. Unter dem „Offenbarungsaspekt” tritt die Erhaltungsordnung „an den Platz Gottes gleichsam stellvertretend, so daß demnach in der mit ihr gesetzten Verpflichtung direkt eine Begegnung mit Gott sich vollzieht” (138). In ihrer in der Welt „erfaßbaren” Gestalt hat die Erhaltungsordnung die „Qualität des Gesetzes Gottes”; inwiefern — und das ist die erste Frage —, wird aber trotz dem Hinweis, daß sie nicht „ursprünglicher Schöpfungswille”, sondern infolge des Falls „zwischen hinein gekommene” Institution sei (141), nicht recht deutlich. Ebenso scheint mir die Behauptung von einem „schicksalhaften Eingefügtsein” in die Erhaltungsordnung als in eine „Ordnungsgegebenheit” ihrem dynamischen Charakter zu widersprechen. Damit ist die zweite Frage angedeutet. Drittens: wie verhält sich die Erhaltungsordnung als Objekt menschlicher Verantwortung (143) bei ihrer Gestaltung (und


8 S. 136. Zum Ganzen von Künneths Buch dürfte G. Hillerdal in seiner Rezension in Svensk Teol. Kvartalskrift 1954, H. 4, S. 283f. das Wesentliche einer notwendigen Kritik kurz herausgestellt haben. Er bemängelt mit Recht den Verzicht auf wirkliche Analyse, nicht nur, was „verzeihlich” wäre, der historischen reformierten und neukalvinistischen Position, sondern auch der Sozialethik Luthers. Zum systematischen Mittelpunkt, dem Begriff der „Ordnungen”, bemerkt H. zutreffend, daß die Auseinandersetzung mit anderen Vertretern der Ordnungslehre „nur Wortdistinktionen” darstelle. Die Gefahr der gesetzlichen Orientierung der ganzen Sozialethik ist dadurch nicht gebannt. Die ganze Färbung des Buches als eine — gewiß auch verdienstlich — um eine Fülle von Einzelfragen mehr oder minder kasuistisch bemühte lutherische „Moraltheologie” des Politischen hat m.E. hier ihren eigentlichen Grund. „Gesetz und Evangelium als Ausgangspunkt der neutestamentlichen Ethik”, sagt H., „kann in einer Ethik, die von einer Analyse des Begriffs der Ordnung ausgeht, nur mangelhaft zum Ausdruck kommen, soweit nicht im Verlauf der Darstellung die ganze Problematik neu aufgerollt wird. Das geschieht bei Künneth nur teilweise. Die Mängel an Künneths Riesenwerk liegen also auf der Ebene des Grundsätzlichen. Man kann allerdings sagen, daß sie dem analog sind, was in evangelisch-lutherischer Ethik allzu oft wahrgenommen werden kann: verwunderlich genug findet man keineswegs immer eine Besinnung darauf, wie die vorgelegten Richtlinien von dem abgeleitet werden können, was in der Regel im Anschluß an Luther als das Zentrum im Neuen Testament vorausgesetzt wird, von der Rechtfertigung allein aus Glauben. Bei Künneth wird das Fehlen einer derartigen prinzipiellen Grundlegung der Ethik an mehreren Punkte erkennbar. So kommt es dazu, daß die ethischen Richtlinien, die er aufstellt, hie und da sozusagen in der Luft hängen oder an Thesen angeknüpft werden, die an und für sich zweifelhaft sind und näher begründet werden müßten.” Deutlich macht H. diesen Einwand an dem, was Künneth zum Problem der Todesstrafe, die er bejaht, vom Gedanken einer „metaphysischen Sühne” aus vorbringt, bei der es um den „theonomen metaphysischen (!) Begriff der Ordnung Gottes zur Erhaltung der Menschheit” (S. 265) geht. Nichts macht den zuletzt eben doch spekulativen weltanschaulichen Charakter jeder Ordnungslehre spürbarer.

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Erhaltung) dazu, daß sie Gottes selbst „vertritt”? Und viertens: was trägt die „Dialektik” der Erhaltungsordnung aus, daß sie als „Gottes gute, der Erhaltung dienende Ordnung zugleich die Stätte der Dämonie” (145) ist? Ist das nur die Überleitung dazu, daß Künneth später Recht wesentlich aus Macht ableitet, Staat als Satzung der Macht — nach Gottes Willen freilich als Macht-Ordnung — zum Urheber von Recht qualifiziert?

Hier schließt sich gleichsam wieder die Tür, die sowohl bei Bonhoeffer wie bei dem Versuch von Dombois, das Institutionenproblem anzupacken, sich dem Begriff der „Integration” im staatstheoretischen Denken des Juristen auch für den Theologen zu öffnen schien, der „Integration” als der permanente Realisierung des Gefüges von Regierten und Regierenden.

An dieser Stelle wird die Weiterarbeit unter dem Gesichtswinkel der Institution als Aufgabe und der Integration als der Modus ihrer Verwirklichung einzusetzen haben. Und hier muß sich zeigen, inwiefern die Position der Fragestellung „Rechtfertigung und Recht” weiter zu führen vermag als jedes „trinitarische” Schema, zumal sie allein vor der Frage, in einer bestimmten historischen Situation „das Rechte” zu finden und zu gestalten, zu wirklicher (und zu gutem Teil kontingenter) Entscheidung führt gegenüber der Utopie irgendwie „ewiger” Normen9.

Die Fragen schließlich nach dem Verhältnis von Macht und Recht sowie von Staat und Recht, nach ihrem Unterschied und nach ihrem Zusammenhang müssen zunächst offen bleiben, sofern einem Bericht über die Weiterentwicklung des Rechtsproblems in evangelischer Theologie seit Göttingen an dieser Stelle keinerlei Material vorliegt.

 

Nachtrag

Nach dem oben (II C) notierten Gegenüber von „christologischer Ethik” (Barth) und Orientierung an der „biblischen Lehre von Schöpfung und Erhaltung” (Nygren) auf der Konferenz in Bossey 1947 hat inzwischen Gunnar Hillerdal, Gehorsam gegen Gott und Menschen; Luthers Lehre von der Obrigkeit und die moderne evangelische Staatsethik, Göttingen 1955, eine breitere Ausführung nachgeliefert. Auf einen ersten Teil, der Luthers Lehre von dem weltlichen Regiment Gottes im wesentlichen auf dem Hintergrund des Kampfes zwischen Gott


9 Vgl. dazu auch H. Simon, S. 134: „Die christologische Lehre gelangt also ohne jenen Ausweg über eine doppelte Gerechtigkeit (nämlich der Schöpfung und der Erhaltung) zu einer eindeutigen transzendenten Bindung und Begründung des Rechts, welche dessen große Bedeutung gegenüber jeder sektiererischen Anarchie herausstellt, aber auch das Recht nicht zum Spielball der Macht werden läßt. Zugleich wird der unerträgliche Absolutheitsanspruch allen menschlichen Irrungen so sehr ausgesetzter Naturrechte gebrochen. Das Naturrecht behält lediglich als Phänomen Bedeutung. Es ist das besondere Verdienst Elluls, das Naturrecht in diesem Sinne in die evangelische Rechtslehre eingeführt zu haben . . .”

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und Teufel (der geradezu das als solches allerdings problematische Axiom einer bestimmten schwedischen Lutherdeutung darstellt) mit z.T. neuen Ergebnissen zu entwickeln sucht, folgt ein Referat über die Staatslehre in der gegenwärtigen evangelischen Theologie. Hillerdal analysiert zwei Ansätze dazu, denjenigen bei der Lehre von den zwei Reichen (Elert, Althaus, Gogarten) und denjenigen der „christologischen Ethik” (Barth, de Quervain, Ellul). Das auch in unserem Zusammenhang Wichtigste sind die Diskussionen der Frage nach der Richtigkeit der Einzelexegese (speziell und etwas einseitig bei Barth, de Quervain und Ellul), nach dem grundsätzlichen Verhältnis von Schriftverständnis und Christologie in seiner Bedeutung für die Grundlegung der Ethik sowie der abschließende Versuch, „Gesetz und Evangelium” als „hermeneutisches Prinzip in seiner Bedeutung für die Staatsethik” herauszuarbeiten.

Die relativ knappe Kritik an der durch Elert, Althaus, Gogarten und auch Künneth vertretenen deutschen lutherischen Staatsethik (andere Versuche werden von Hillerdal nicht weiter beachtet, auch Bonhoeffer völlig ignoriert) stellt mit Modifikationen im einzelnen deren unlutherische und unbiblische Gesetzlichkeit fest, die „gegen die neutestamentliche Perspektive der Nächstenliebe streitet”, betont ihre Bindung durch eine bestimmte, spekulative und nicht biblische Anthropologie oder Existenzanalyse und faßt das Ergebnis in dem Satz zusammen: „Gegen jede Konzeption einer Zweireichelehre, die die Aufgaben des Christen primär durch eine Analyse des Gesetzes und der Ordnungen zu bestimmen sucht, kann eingewandt werden, daß sie von der Lutherschen und neutestamentlichen Perspektive abweicht” (307). Mit dieser Kritik wird Hillerdal im wesentlichen im Recht sein.

Dagegen ist die sehr viel breiter durchgeführte und erheblich schwieriger zu vollziehende Kritik speziell an Barth doch mehr gewollt als gelungen. Nicht nur, daß Hillerdal mit seiner Argumentation gegen die deutschen Lutheraner dann doch wiederholt in unmittelbarer Nähe zu den entsprechenden Bedenken K. Barths steht, anscheinend ohne es zu merken, besonders gegenüber Althaus (303), sondern die Kritik an Barth selbst leidet darunter, daß das demonstrandum immer wieder als petitio principii erscheint, nämlich das „Kampfmotiv” (Gott wider Satan) als das Kriterium für die größere Schriftgemäßheit Luthers; ebenso das Verständnis der Sünde als ontischer Verderbensmacht gegenüber einem Barth’schen „Platonismus”, drittens die Interpretation des Deus absconditus vom Deus nudus her gegenüber Barths sogen. „Offenbarungspositivismus” und die mit diesen herkömmlichen Argumenten der Lunder Schule gegen Barth zusammenhängende Ausspielung des neutestamentlich-lutherschen Distinktion von „Gott” und „Christus” gegen Barth (und eben zuletzt auch gegen Luthers „Gott in Christus” oder „Christus, den Herrn Zebaoth”). Um der Festhaltung der zwei Regimente Gottes willen scheint Hillerdal gerade darauf nicht verzichten zu können. Dem für ihn bei der Interpretation der einschlägigen Schriftstellen maßgebenden Schema der beiden Reiche entspricht dasjenige von Gesetz und Evangelium als hermeneutische Grundregel: damit aber wird die christologische Mitte von Luthers Rechtfertigungsverständnis außer acht gelassen. Gerade hier steht Barth sicherlich näher zu Luther als Hillerdal und sein Lehrer Wingren. Es ist daher auch die Kritik Hillerdals an Barth viel zu eng und ausgesprochen „schulmeisterlich”: das zeigt sich z.B. an gewissen „logischen” Überspitzungen. Vgl. etwa den Satz: „Behauptet man, daß Christus die menschliche Rechtsetzung und das weltliche Recht legitimiert habe, so muß man zwangsläufig auch behaupten, daß er das menschliche Unrecht und die Willkür der Rechtsausübung legitimierte. Denn seine Hinrichtung vollzog sich ja, was auch Barth betont hat,

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als ein Rechtsbruch.” Es zeigt sich ebenso an dem apodiktischen Ton des Urteils, dessen Aussage dann doch nicht konsequent durchgehalten werden kann, z.B.: „Der Hauptfehler Barths . . . liegt in der einseitigen systematischen Auswertung der Berichte von dem Siege und der Herrschaft Jesu Christi bei gleichzeitiger Weigerung, diejenigen Berichte ernst zu nehmen, die bezeugen, daß die Welt, in der der Christ lebt, der alte Äon mit seinem Bösen, seiner Sünde und Not ist, gegen welche es immer anzukämpfen gilt” (285). Man ist versucht, eher jene Sicht als Einseitigkeit anzusehen, für die „der Kampf zwischen Gott und Teufel das Hauptthema der Bibel bildet und die Heilige Schrift ,das Buch der Kriege des Herrn’ darstellt”, aus der „ganz natürlich” folge, „überall eine dramatisch-dualistische Perspektive anzulegen” (239), und für die Röm. 13, wie man „mit absoluter Bestimmtheit” meint feststellen zu können, von den zwei Regimenten Gottes spricht (220).

Für die andere, „christologische” Position hingegen sei, so meint Hillerdal, alles schon entschieden mit jenem Verständnis der Schrift, nach dem „sie vor allem von dem einen Gott reden will, der die Welt geschaffen hat und sie trotz des Widerstandes der Menschen in seiner souveränen Macht behält”, woher die Gesamtdeutung „auf ein übergreifendes monistisch-ontologisches Schema” ziele. Barth und Luther stehen nach solcher Kritik im Verhältnis monistischer und dualistischer Schriftdeutung zueinander; dem entspricht dann der Christomonismus in der Ethik einerseits (wobei Hillerdal eine „christologische Begründung der Ethik” aber doch nicht abweisen möchte, S. 227), die Begründung der Ethik durch das Zweireiche-Schema bzw. das „Prinzip” von Gesetz und Evangelium andererseits (wobei Hillerdal zugleich zugeben muß, daß die Heilige Schrift keinen „prinzipiellen Dualismus” kenne, S. 382). Es ist kaum vermeidbar, daß eine Kritik, die so darum bemüht ist„ das Unlutherische und zugleich damit Unbiblische der Konzeption von Barths Dogmatik und Ethik nachzuweisen, sie sowohl unter exegetischen wie unter systematischen Gesichtspunkten als unhaltbar darzutun, nicht alsbald auch in Selbstwidersprüche gerät. Kurz, so wichtig das Unternehmen ist, so wenig überzeugt seine Durchführung, da man immer wieder die starren (Wingren’schen) Ausgangspositionen der Hillerdalschen Kritik merkt. Es ist nunmehr nach dem positiven Ertrag auf Grund und neben dieser Kritik zu fragen.

Erwartet man — und man erhofft es zunächst — die Entwicklung einer neuen, „dritten” Grundlegung der politischen Ethik, so wird man zuletzt doch ziemlich enttäuscht. Das Kapitel VIII, „,Gesetz und Evangelium’ als hermeneutisches Prinzip und seine Bedeutung für die Staatsethik”, das nach der radikalen „Erledigung” der „christologischen Begründung der Staatsethik” — Barths Versuch müsse „als Gescheitert angesehen und sein Programm abgewiesen werden” (287) — die Basis für die Kritik an den lutherischen Typen des Zweireichelehre bereitstellen soll, kommt über Andeutungen nicht hinaus. Hillerdal will Luther folgen. „Nach Luthers Ansicht ergibt sich mit aller Eindeutigkeit und Klarheit aus der Heiligen Schrift, daß Gott mit den Menschen auf zweierlei Weise handelt. Im weltlichen Regiment stellt Gott den Menschen unter das Gesetz, im geistlichen Regiment dagegen schenkt er ihm die Gnade des Evangeliums.” Dem entspreche in der Predigt, daß der Prediger, der „die Art seiner Verkündigung nach eigenem Ermessen wählen kann und soll” (!), „je nach der bestehenden Situation einmal Gericht und Zorn Gottes” — also „Gesetz”! —, „ein andermal seine Liebe und Gnade” — also „Evangelium”! — „stärker in den Vordergrund stellen wird”, wobei er freilich „nicht Herr des verkündeten Wortes und seiner Wirkung ist” (289). Das richtungsweisende Zentrum der Predigt ist „die Rechtfertigung allein aus Glauben”. Dieser Perspektive sind auch die ethischen Fragen untergeordnet,

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und zwar unter dem Doppelaspekt des von Christus geschenkten Glaubens, „der im Leben der Christen Gestalt gewinnt und sich in den Taten der Nächstenliebe wirksam erweist” (Evangelium), und des Gesetzes, wobei Christus „das Vorbild für den Christen bildet” (290).

Auch Hillerdal muß von da aus folgern, „daß die Ethik von dem eigentlichen Zentrum des Neuen Testaments her orientiert werden muß. Christi Heilstat oder — vom Standpunkt des Christen gesehen — die Vergebung der Sünden bildet danach das Fundament der Ethik” (291). Aber die notwendige Berücksichtigung des zweiten Aspekts bedeute dann die Anknüpfung an die alttestamentlichen Gebote und die neutestamentlichen Paränesen, wobei jene von Luther verstanden würden „als Ausdruck des natürlichen Gesetzes, als Gesetz der Schöpfung, dem der Mensch deswegen ständig begegnet, weil Gott ständig zu ihm spricht”. Hillerdal ist dabei der Ansicht, daß Gottes weltliches Regiment ebenso ständig Neuschöpfung in äußeren Dingen ist, wie das geistliche Neuschöpfung in geistlicher Hinsicht. Die für Luther selbstverständliche Verknüpfung der alttestamentlichen Gebote mit den neutestamentlichen Paränesen ergibt, meint Hillerdal, daß durch die Heilstat Christi das Gesetz „eine neue Motivierung” (291), daß „durch das Glauben an Jesus Christus der dienst am Nächsten einen neuen und tieferen Sinn erhält” (293), denn, „die geforderten Taten der Nächstenliebe sind Taten, wie sie Christus bereits vollbracht hat” (291). Zugleich aber soll gelten, daß „in dem gleichen Maße, wie das Evangelium neue Freude zum Dienen schenkt und eine spontane Nächstenliebe bewirkt”, es „das Gesetz, daß alle diese Taten fordert”, „durchbreche”. Aber der Christ lebt in einer sündigen Welt, der Versuchung zu sündigen ausgesetzt. „Das Dienen des Christen steht aus diesem Grunde weiterhin unter dem Gehorsam gegenüber dem Gesetz Gottes, das in Jesus Christus einen neuen und tieferen Sinn bekommen hat” (292).

Was ist damit für die Sozialethik an neuer Erkennung wirklich gewonnen? ,,Den eigentlichen Ansatzpunkt für die Ethik bildet nach dem Neuen Testament der Christusglaube” und als „an der Christusbotschaft orientiert” kann sie „mit Recht als ,christologische’ bezeichnet werden (291 f.), oder anders formuliert, Glaube und Nächstenliebe sind das „Fundament” des vom Menschen geforderten Handelns. Jene Reflexion auf das bleibende, aber durch Jesus Christus mit einem „neuen und tieferen Sinn” versehene Gesetz hingegen soll zu dem Satz führen, daß die Lehre von Gesetz und Evangelium „das Prinzip” für den Aufbau der Ethik sei. Die entscheidende „übergreifende” Perspektive aber bilde die Lehre von den zwei Regimenten Gottes (die die Rechtfertigungslehre als Zentrum der Schrift voraussetzte — das „Kampfmotiv” ist jetzt zurückgetreten!). Aus alledem folgert Hillerdal, daß jeder ethische Satz „zunächst” ein Ausdruck dafür sein müsse, „daß sich der Christ in der Nachfolge Christi befindet”; „sodann muß die konkrete Aufgabe des Einzelnen sehr sorgfältig unter dem Aspekt geprüft werden, was durch die spezielle Situation sowie durch den jeweiligen Stand und Beruf gefordert ist und welche Handlungen sich in unserer gefallenen und sündigen Welt realiseren lassen (!). Die Reihenfolge dieser beiden Forderungen ist jedoch nicht umkehrbar!” Das ist von Hillerdal zunächst gegen die Sozialethik in ihrer Konzeption bei Elert, Althaus und Gogarten gemeint, für die die Umkehrung dieser Reihenfolge die Voraussetzung ist. Gegen sie gilt: „Das Primäre sind nicht die ,Ordnungen’ und ,Stände’, und es ist auch nicht die rationale Bestimmung der Forderungen, die sich aus der Zugehörigkeit zu diesen Ordnungen für den Einzelnen ergeben”. Aber auch Hillerdals eigenes, durch die Zweireichelehre befestigtes Schema der Reihenfolge von Gesetz und Evangelium (gegen Barths „Evangelium und Gesetz”) ist hier auf einmal in Frage gestellt!

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Notwendigerweise von der Sache her! So überrascht es nicht, daß dann das „Prinzip der ,Nächstenliebe’” — und nicht mehr der Lehre von Gesetz und Evangelium — „richtunggebend für die gesamte Ethik” ist, eine Forderung, die sich „als eindeutige Konsequenz aus dem Zentrum der Schrift” ergebe; es überrascht dann auch nicht, daß, entgegen den Ausführungen zur Lehre Luthers von der Vernunft im weltlichen Bereich, nun doch die „Vernunft des Glaubens” als „Christiana et libera ratio” entscheidend ist für die ethische Zielsetzung (293); es überrascht ferner auch nicht, daß die neutestamentlichen Paränesen zumindest als Richtlinien ethischen Handelns kritisch aufgegriffen werden sollen, wobei Hillerdal sogar zu der Erkenntnis gelangt: „Es darf heute als fraglich erscheinen, ob die in Röm. 13, 1-7 und anderen Texten geforderte grundsätzliche Unterordnung unter die Obrigkeit auch in den komplizierten Situationen unseres modernen Staates eine absolute Verpflichtung sein kann” (293). Eine grundsätzliche Verwerfung des Widerstandsrechts „würde die Aufstellung eines absoluten Gesetzes und das Absinken in eine gesetzliche Kasuistik bedeuten”.

Hillerdal hat sich also eindeutig gegen die Sozialethik der „Ordnungen” und der zwei Reiche im deutschen Luthertum abgegrenzt, mit fraglos zutreffender Berufung auf Luther. Er hat sich noch nachdrücklicher gegen eine „christologische Staatsethik” absetzen wollen, allerdings ohne das wirklich überzeugend durchzuführen und mit dem Effekt, daß seine „dritte” Position zumindest ganz offen ist gegenüber derjenigen Barth und den entscheidenden Momenten seiner „christologischen” Ethik; Hillerdal hat bei der Darlegung des Grundansatzes dieser drittem Möglichkeit stillschweigend mancherlei angenommen, was er zuvor an Barth bekämpft hat, sogar bis dahin, daß er den Stand oder Beruf nicht im Sinne der Ordnungstheologie begreift, sondern — wie Barth oder Bonhoeffer — als den „Ort” der innerweltlichen Bewährung des Christen. Wenn Hillerdal gleichwohl sagt: „Der Platz, auf den den Mensch im Leben gestellt ist . . . ist ein Ausdruck für das ,Gesetz’, denn er fordert den Einsatz des Menschen, seinen Dienst am Nächsten” (202), so könnte dieses fatale „denn” besser und überzeugender, auch im Sinne von Hillerdal entsprechend einzelnen seiner Aussagen, auf den Glauben bezogen werden. Er fordert den ganzen Menschen in die Nächstenschaft, aber ist er, der Glaube, darum Gesetz? Bei Luther gewiß, aber eben als mit ihm identische „lex Christi” (vgl. E. Wolf, Peregrinatio, S. 201).

Für die Frage der theologischen Rechtsbegründung trägt im großen Ganzen das Buch von Hillerdal entgegen den geweckten Erwartungen zuletzt nicht viel aus, sieht man ab von seiner allerdings wichtigen Erledigung der Ordnungstheologie und dem m.E. mißglückten Versuch, den „christologischen” Ansatz der anderen Position zu widerlegen. Hillerdal kommt auch auf die Frage der Rechtsbegründung außer im Referat über Barth, de Quervain und Ellul nur noch bei Luther selbst gelegentlich zu sprechen, indem er einerseits (S. 57 Anm. 17) J. Heckel vorwirft, die Rolle der Regimentenlehre nicht zureichend bedacht zu haben, andererseits darauf verweist, daß nach Luther die „Wunderleute” — zugestandenermaßen ein Stück spekulativer Geschichtsphilosophie bei Luther! — es sind, die kraft besonderer Vernunftbegabung jeweils das Recht neu gestalten, als Werkzeuge des neuschöpferischen Handelns Gottes im weltlichen Regiment (61). Die „natürliche Vernunft”, d.h. die schöpfungsmäßige ursprüngliche Vernunft, die den „Wunderleuten” von Gott verliehen ist, setze so „gesundes” Recht anstelle von „krankem”. Das bezeichne Luthers Stellung gegen den Rechtspositivismus und seine Auffassung von der Weltlichkeit des Rechts zugleich. (Vgl. zu Hillerdal jetzt auch J. Heckel, Luthers Lehre von den zwei Regimenten, Z. ev. KR. IV, 1955, S. 253 ff.)