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3.
Wo heute in der Evangelischen Kirche vom Recht der Kirche gesprochen wird, gebraucht man mit Vorliebe den Ausdruck „Ordnung”. Er weckt reformationsgeschichtliche Erinnerungen und scheint sich dadurch zu empfehlen. Doch wird er gerade nicht in einem historisch-konservativen Sinne gebraucht, sondern in aktuell-reformerischer Absicht. Im Wort „Kirchenordnung” schwind ein neuer Gefühlston mit, der dem bisher üblichen Ausdruck „Kirchenverfassung” fremd war. Insofern ist dieser veränderte Sprachgebrauch ein Zeichen für neuartiges Verständnis der Sache, um die es hier geht. Auch viele Juristen sind dem Vorgang der Theologen gefolgt und reden statt von Kirchenrecht und Kirchenverfassung von Kirchenordnung. Obgleich die Juristen aus Gründen der Nüchternheit und Genauigkeit damit zurückhaltender sind, zeigt sich hier wie auch sonst eine unverkennbare Annäherung theologischen und juristischen Denkens. Freilich denkt niemand darin, die Verschiedenheit beiderseitiger Begriffsbildung, geistlicher und weltlicher Forschungsmethode zu leugnen. Aber es ist eine Gemeinsamkeit da, welche dem Gespräch über das Kirchenrecht eine ganz neue Wendung gegeben hat. Jede bekannten und immer wieder betonten Gegensätze, wie „Recht” und „Gnade”, „Gesetz” und „Evangelium”, „Gerechtigkeit” und „Liebe” stehen nicht mehr so hemmend im Wege. Es geht nicht mehr so ausschließlich um die Auseinandersetzung von Theologie und Jurisprudenz auf dem Felde des Kirchenrechts, als um ihre Zusammengehörigkeit. Die Frage Sohms, ob Kirchenrecht überhaupt möglich sei?, die Frage Kahls, wie es im modernen Staat möglich sei?, die Frage Günther Holsteins, wie es geistesgeschichtlich zu begründen sei? — diese und andere Fragestellungen der letzten Jahrzehnte, haben für uns
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die Dringlichkeit, wenn auch gewiß nicht die Bedeutsamkeit, verloren. Es sind heute andere Fragen gestellt: wie ein legitimes Kirchenrecht aussehen und funktionieren müsse, wodurch es von allem sonstigen Recht sich beispielhaft unterscheide, worin es die geistliche Rechtfertigung finde. Diese Fragen entstanden nicht aus dem Spiel grüblerischer Gelehrtenphantasie, sie wurden uns durch die Erfahrungen des kirchlichen Lebens selber gestellt.
Diese Erfahrungen haben mit dem neuen Begreifen des Wesens der Kirche auch einen neuen Begriff vom Wesen des Rechts zum Reifen gebracht. Gültiges Symbol für dieses erneuerte Verständnis der Kirche ist das Ereignis der Theologischen Erklärung der Bekenntnissynode von Barmen geworden (nicht als Denkmal einer „historischen Tat”, sondern als dauernd lebendige, auch inskünftig verpflichtende, geistliche Einsicht); ihr entsprechendes Symbol für das erneuerte Verständnis des Rechts (der Kirche und in der Kirche) wurde die Notrechtsdeklaration der Bekenntnissynode von Dahlem. Was folgt daraus heute?
Erstens die Erkenntnis, daß wir für das rechte Verständnis der Beziehung von Kirche und Recht uns frei machen müssen vom Zwang herkömmlicher Lehren. Dazu gehören vor allem steril gewordene Begriffsgegensätze, wie „sichtbare” und „unsichtbare” Kirche, „Geist”Kirche und „Rechts”Kirche, Jura „in” sacra und Jura „circa” sacra. Die Kirchenrechtslehre hat solche Unterscheidungen durchgeführt, um (zu bestimmter Zeit) bestimmte kirchliche Lebensverhältnisse ordnend zu fassen. Mit der fortschreitenden Entwicklung des kirchlichen Lebens verloren sie aber ihren Gehalt und wurden zuletzt unbrauchbar. Als tote Begriffshülsen behaupten sie heutzutage nur noch eine (gefährliche) Scheinexistenz; denn aus ihnen wird eine konstruktive Begriffsjurisprudenz entfaltet, die dem geistlichen Leben der Kirche nicht gerecht werden kann. Die ungute Folge ist dann ein noch weiteres Sichauseinanderleben von „Theologen” und „Juristen” in der Kirche mit all seinen üblen Wirkungen auf Gemeindeordnung und Kirchenleitung.
Zweitens das Bekenntnis, daß wir vom Recht in der Kirche und in Beziehung auf die Kirche nur sprechen können vom Wesen der Kirche aus, die wir selber sind und begreifen. Ein abstraktes
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Gerede von „dem” Recht und „der” Kirche bleibt immer unkräftig und unverbindlich. Damit soll nicht unbeachtet bleiben, daß es auch eine „allgemeine” und „neutrale” Aussage, eine soziologische oder religionsphilosophische, ja auch religionsgeschichtliche Begriffsbestimmung von „Kirche” „überhaupt” gibt, derzufolge man von „Kirchen” als einer in der Welt vorgekommenen und (erstaunlicherweise) noch immer vorkommenden menschlichen Gemeinschaftsform „objektiv” sprechen kann. Indessen geht gerade diese „vernünftige” Art von der Kirche zu reden an ihrem eigentlichen Wesen vorbei. Es ist damit nicht anders als mit der Rede von „den Göttern” oder von „dem Göttlichen” oder von dem „Gott in der eigenen Brust”, die ausnahmslos das Wesen Gottes umgeht und verfehlt. Es kann nur eine legitime Aussage von der Kirche geben und das ist die glaubensmäßig-theologische, durch welche dann freilich „Kirche” im Sinn der einen, offenbarten, christlichen Wahrheit geschieden und unterschieden wird von Sekten, Vereinen oder religiösen Gruppen jeder Art. Was im folgenden von Kirche und Kirchenrecht gesagt werden wird, steht also in Geltung nur für die Kirche der Reformation, welche sich als die durch Gottes Wort erneuerte allgemeine Kirche des Evangeliums von Jesus Christus versteht. Nicht anders ist aber auch vom Recht zu reden. Wir müssen begreifen, daß für den Ordnungsbereich, den das Wort „Kirchenrecht” meint, die sonst gewohnten und passenden allgemeinen Rechtsbegriffe nicht gelten. Kirche als Glaubensgemeinde ist eine von allen anderen menschlichen Gemeinschaften unterschiedene Gemeinschaft, weil sie nicht aus dem menschlichen Gesellungstrieb entstanden ist, sondern dem göttlichen Erwählungswillen ihr Dasein verdankt. Wir müssen ferner begreifen, daß ein „Recht” der Kirche seinen Grund und seine Grenze nur dort haben kann, wo die Kirche selber gründet und begrenzt wird: in der Heiligen Schrift. Das heißt aber nichts anderes, als: Kirchenrecht kann es nur geben in Übereinstimmung mit der Lehre der Kirche von der Gerechtigkeit und vom Gesetz Gottes, von der Rechtfertigung durch den Glauben und von der Herrschaft Jesu Christi über die Welt.
Damit ist drittens die Einsicht gewonnen, daß alles Kirchenrecht nicht anders beschaffen sein kann, als sonstiges Wesen der Kirche auch und das meint: es muß Zeugnis ablegen von der christlichen
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Offenbarungswahrheit; es muß ein bekennendes Recht sein; die von der Kirche gelebte Ordnung muß beispielhaft vorgelebt werden als ein Akt des kirchlichen Bekenntnisses.
Befreiung von überlebten Begriffsgegensätzen, Besinnung auf die einzigartige Stellung der Kirche in der Welt, Bekenntnis zu einem zeugnishaften Kirchenrecht: diese drei Erkenntnisse sind es, deren mehr oder minder deutliche Vorstellung vorschwebt, wo heute der überlieferte Begriff des Kirchen„rechts” durch den der Kirchen„ordnung” ersetzt und gesagt wird, daß die „Ordnung” einer Kirche ihrem „Bekenntnis” entsprechen müsse. Von ihnen aus wird der formale „positivistische”, „gesetzliche” Charakter des älteren Kirchenrechts bekämpft und seine Ersetzung durch eine „sozial-ethisch” und „geistlich” begründete Kirchenordnung gefordert. Wenn dabei, wie schon gesagt, die Juristen etwas vorsichtigere Formulierungen wählen als die Theologen, so hat das seinen Grund nicht etwa in mangelnder Bekenntnisbereitschaft der Kirchenjuristen, sondern in einer Besinnung auf die in jedem Versuch einer „geistlich” gestalteten Kirchenordnung liegenden Gefahren. Einmal könnte es nämlich bei oberflächlicher Erfassung der hier gestellten Aufgabe zu einem bloßen Ersatz des „juristischen” Positivismus im Kirchenrecht durch einen „theologischen” Dogmatismus kommen, z.B. wenn eine Kirche die formalen Sätze ihre Bekenntnisschriften zu rechtlich verpflichtenden Normen der Kirchenordnung erheben wollte. Zum andern könnte auf diese Weise ein ungeklärtes Verständnis des so außerordentlich vieldeutigen „Naturrechts”begriffs in das evangelische Kirchenrecht eindringen und es mit einem autoritativen kirchlichen Moralkodex verquicken, der nur in der Konsequenz römisch-katholischen Kirchendenkens legitim wäre. Drittens endlich könnte die „Vergeistlichung” des Kirchenrechts zu einer Vernachlässigung der nüchternen Aufgaben der Gemeindeverwaltung führen und einer von theologischer Romantik beeinflußten Übersteigerung des kirchlichen Amtsbegriffs Vorschub leisten. Ein derart falsch aufgefaßtes „geistlich” autoritäres „Leiten” der Kirche durch ein hierarchisch gegliedertes Ämterwesen könnte zuletzt in einen noch ärgeren Formalismus geraten, als wir ihn im „verweltlichten”, bürokratischen System der „juristisch” amtierenden Kirchen„regierungen” schon kennen gelernt haben.
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Um in dieser verwickelten und gefährlichen Lage der Diskussion des Verhältnisses von Kirche und Recht einen festen Standort zu fassen, soll hier einmal versucht werden, die Grundsätze des Evangelischen Kirchenrechts herzuleiten aus jener Erklärung über das Wesen der Kirche, in welcher sich die Kirche der Reformation selbst konstituiert hat. Wir meinen den Satz: Ecclesia est congregatio sanctorum in qua recte docetur evangelium et recte administrantur sacramenta. Er steht als siebter Artikel in der Augsburgischen Konfession. Die Augustana gilt zwar als Grundbekenntnis der Lutheraner. Aber es ist keine Verwechslung des reformatorischen Bekenntnisses mit einer speziellen Bekenntnisschrift, wenn wir glauben, in dem kirchenbestimmenden Artikel VII der Confessio Augustana den theologischen Ausgangsort für das evangelische Kirchenrecht überhaupt gefunden zu haben. Denn der Inhalt dieses Satzes steht nicht nur in der lutherischen, sondern auch in jeder anderen nach Gottes Wort reformierten Kirche in Kraft; es ist ein ökumenisch-evangelischer Satz, und in einem ökumenisch-reformatorischen Geiste sei er nun kirchenrechtlich interpretiert.
I. Der erste Wesenszug unserer Kirche, der alle anderen bedingt und mitbestimmt, der sie historisch, theologisch und soziologisch zur Erscheinung bringt und das raumzeitliche Kontinuum darstellt, in dem ihr geistliches „Ereignis” (Barth) geschieht, kennzeichnet die Kirche als Congregatio.
1. Das Wort bezeichnet in seinem lateinischen Ursprung keinen Zustand, sondern ein Tun, nichts Statisches, sondern etwas Dynamisches. „Congregatio” ist die um eine Mitte sich sammelnde Versammlung, das zielgerichtet gesellige Zusammentreten, das einigende Sichzusammenscharen von Menschen. „Congregatio” ist nicht die Versammlung, der Verein, der Bund als Ergebnis des Zueinanderfindens und Miteinandergehens, kein abgeschlossenes, unveränderliches, ein für alle Mal beendetes Versammeltsein. Kirche als Congregatio bedeutet ein fortwährendes Sichversammeln und Versammeltwerden. Die Gemeinde schließt nicht mit dem Hinzutritt des zuletzt angekommenen Mitgliedes ihre Türen und wird damit Kirche, vielmehr ist die Kirche als immer offener Raum, unabgeschlossene Zeit der „Congregatio”, welche ein immer neu werdendes, aus der Vergangenheit in die Zukunft übergehendes Ereignis ist. Die Kirche ist also keiner „historischen”
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einmal so und unwiederholbar gewordenen Versammlung zu vergleichen; weder im zeitlichen, noch im räumlichen Sinne menschlicher Weltgeschichte. Deshalb kennt sie auch keine soziologischen, psychologischen oder biologischen Schranken; sie setzt weder Rang noch Stand, weder Macht noch Herrschaft voraus und begründet auch all das nicht. Schon dadurch unterscheidet sie sich von Religionsgesellschaften oder religiöse Vereinigungen jeder Art. Die Kirche beruht aber auch nicht auf einer gruppenpsychologischen Stimmung, einem Erlebnis, einem seelischen Habitus irgendwelcher Art und fordert auch nichts dergleichen; man wird weder auf natürliche Weise in sie geboren, noch durch den Tod von ihr getrennt.
2. Die Congregatio der Kirche ist „grex” eines göttlichen Hirten, aber keine „Herde” menschlicher Pastoren. Auch ist sie kein Kollektiv im Sinne einer uniformen oder gar homogenen Masse. Ebensowenig kann sie im Bilde des „Organismus”, dessen einzelne „Glieder” unselbständig und unverantwortlich funktionieren, erfaßt werden. Keine „Idee” und kein „Gesetz” ihres Daseins als „Ganzes” gibt es, von dem aus den „Teilen” unveränderliche, untergeordnete, zweckbeschränkte „Aufgaben” zufielen. So wenig die Kirche eine Masse, ein Organismus, ein Kollektiv, eine Idee oder eine innerweltliche Notwendigkeit ist, so wenig ist sie ein spezifisches „neues” Sozialgebilde, in dem die einzelnen Menschen verschwinden. Die Menschen als aktiv an der Congregatio beteiligte Personen sind keine willenlosen Organe eines Gesamtwillens, sie empfangen nicht von ihrem Sein in dem Sozialgebilde „Kirche” her einen neuen „status”. Vielmehr ist ihr neuer „status” das Ergriffensein von Christus. Durch diesen Gnadenakt jenseitigen göttlichen Willens kommt der Mensch zum Glauben, und das ist die Voraussetzung für eine Mitwirkung an der Congregatio. Die Gemeinschaft der Kirche ist eben kein menschliches Willenswerk. Daß Congregatio geschieht, wo und wann es zu ihrem Ereignis kommt, ist eine freie (unberechenbare und unerzwingbare) Tat Gottes.
3. Die Menschen, welche sich in der Congregatio zusammenscharen, bleiben demnach auch in der Congregatio „Personen”; sie werden nicht Untertanen, Glieder, Organe, Funktionäre, Objekte, Atome eines Kollektivs, das alle ihre Lebensäußerungen
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regeln und aufsaugen, für „das Ganze” einsetzen und verbrauchen möchte. Das bedeutet aber: es gibt in der Congregatio persönliche Freiheit und persönliche Verantwortung; die erste wird durch die Kirche uns nicht genommen und die zweite niemand abgenommen, vielmehr kommen sowohl Freiheit als auch Selbstverantwortung eines „Christenmenschen” gerade in der Congregatio zur Auswirkung, ja in ihr erst eigentlich zur vollen Entfaltung.
4. Freilich setzt demzufolge Kirche immer eine Mehrheit von
Menschen, eine Gemeinschaft voraus: Kirche ist nur,
wo Congregatio und das heißt eben: wo Gemeinde ist.
Das Wesen der Kirche als Congregatio im Sinn der Gemeinde läßt
nun folgende Auffassungen als unrichtig erkennen:
a) erstens ein
individualistisches Christentum, das sich vom Nächsten isoliert
und in einer mystisch oder rationalistisch begründeten Haltung
eine nur persönlich-innerliche Beziehung des Menschen zu Gott
behaupten will;
b) zweitens ein
spiritualistisches Christentum mit seiner abstrakten Vorstellung
von „unsichtbarer” Geistkirche, wodurch die soziale Verantwortung
und beispielgebende Aktivität der Gemeinde verloren
geht;
c) drittens ein
traditionalistisches Christentum, das nur noch in
gesellschaftlichen Bräuchen fortlebt und nur äußere Kennzeichen
juristischer oder historischer Art über die „Zugehörigkeit” zur
Kirche entscheiden läßt. Wohl aber kann das Ereignis der
Congregatio dort, wo zwei oder drei im Namen Jesu Christi sich
versammeln, bereits verwirklicht sein. Die Kirche als Congregatio
bedarf nicht der imponierenden Masse, die doch immer in irgend
einem menschlichen Sinn „Macht” darstellen will.
5. Als Congregatio steht die Kirche im Gegensatz zur „institutio”, als Gemeinde zur Anstalt, als sich ereignendes dynamisches Geschehnis zur abgeschlossenen statischen Einrichtung. Aber ist sie dann noch in irgend einem möglichen Sinne Rechtsgemeinschaft, kann sie es dann noch sein? Gewiß. Man muß nur bei der Antwort auf diese Frage sich freihalten von jedem herkömmlichen Rechtsbegriff, sei er nun positivistisch oder historisch oder rationalistisch-naturrechtlich. Die Theologen werden sich von ihrer unkritischen, rechtsphilosophischen Halbbildung losmachen müssen und
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die Juristen müssen lernen, was Kirche im Sinne der lebendigen Gemeinde des lebendigen Herrn Christus ist. Dann werden beide im unvoreingenommenen Hinschauen auf den Sachverhalt, daß Gemeinde da ist, deren Charakter als Rechtsgemeinschaft daran zu erkennen ist, daß sie immer auch (irgendwie) „in Ordnung” da ist. Freilich gilt es dieses „irgendwie” näher zu bestimmen. Es besagt nicht, es sei gleichgültig, in welcher Art Ordnung die Gemeinde da sei und es besagt weiter nicht, daß sie, einmal in Ordnung gebracht, es für immer sei. Weder eine beliebige, von staatlichen Vorbildern abgeschriebene Kirchenverfassung, noch eine ideale, allen Anforderungen theologischer Dogmatik genügende Kirchenordnung entspricht dem Wesen der Kirche der Reformation. Auch die Ordnung der Kirche, das Kirchenrecht, nimmt teil an dem dynamischen Wesen der Kirche, das je und je vom lebendigen Verständnis des Wortes Gottes bestimmt wird, aber nicht ein für allemal auf historische Bekenntnisformeln festgelegt werden kann. Auch für das Kirchenrecht gilt der Satz: ecclesia reformata semper reformanda est. Aber eines steht freilich fest: die geistliche Lebensmitte, um die sich die Congregatio sammelt, muß auch die Ordnung dieser Versammlung bedingen und bestimmen. Worin zeigt sich das?
6. Die evangelische Glaubensgemeinde ist Taufgemeinschaft, Verkündigungsgemeinschaft und Abendmahlsgemeinschaft. Als Rechtsgemeinschaft kann sie nichts anderes sein; ihre Grundordnung ergibt sich demnach in dreifacher Gestalt: als Taufordnung, als Verkündigungsordnung und als Ordnung der Abendmahlsfeier. Diesen Grundriß evangelischer Kirchenordnung zeigt schon der apostolische Bericht, nach welchem die Urgemeinde im Brotbrechen und im Gebet ihre beständige Ordnung hatte. In einer Zeit, als viele Theologen diesen Ursprung aller Kirchenverfassung in der Verkündigungsordnung und Abendmahlsordnung der Urgemeinde vergessen hatten, hat ein Nichttheologe daran gemahnt. Es war Rudolf Sohm, dessen Buch nicht nur eine theologisch und rechtsgeschichtlich gleichermaßen fundierte Darstellung, sondern auch ein klar von geistlicher Substanze bekennendes Zeugnis für die lebendige Gemeinde des Herrn Christus ist. Seitdem sollten wir es unverlierbar wissen und festhalten: es kann keine rechte Ordnung der Congregatio geben, die nicht Ordnung einer Tauf-,
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Verkündigungs- und Abendmahlsgemeinschaft ist; von daher wird die normative Kraft allen Kirchenrechts autorisiert.
II. Aber diese Ordnung der Gemeinde ist so wenig wie die Gemeinde selbst „gemacht”, sie ist kein menschliches Willenswerk. Sie ist auch kein Gewächs der Natur des Menschen, das aus seelischen Urgründen nach immanenten Gesetzen hervorgebrochen ist. Die Congregatio ist endlich auch keine notwendige Folge historischer Ursachen. Sie ist keine Gemeinschaft Strebender, Genötigter oder Beliebiger; weder Produkt der Vernunft noch der Natur und der Geschichte, sie ist die Congregatio Sanctorum, die Gemeinschaft der „Heiligen”, der Erwählten und Erlösten.
1. Mitglieder der Congregatio sind also diejenigen, welche in der Gnade stehen allein durch den Glauben. Es sind die Begnadigten und Erlösten nach dem reformatorischen Verständnis der Heiligen Schrift, nicht in einem moralischen Sinn. Gemeinde der Heiligen meint also kein Konventikel „anständiger”, moralisch sauberer oder gar sündloser Menschen. Sanctus im evangelischen Sinne ist nicht der Träger einer besonders intensiven oder extensiven Herzens- oder Werkfrömmigkeit. Sancti gibt es nur in der Congregatio, als der Gemeinde jener Bedürftigen, die sic durch das Wort Gottes richten und heiligen lassen, die sich die Gnadengabe der Sakramente schenken lassen. Die Congregatio Sanctorum ist eine Wirkung des göttlichen, nicht des menschlichen Handelns. Sie ist eine von Gott heraugerufene, von ihm erwählte und erlöste, abgesonderte Menschengruppe, die ein einzigartiges Gemeinschaftsleben führt. Sie lebt es als Gemeinde unter dem Wort als eine Gemeinschaft des Gottesdienstes. Der innerste Kern ihrer Ordnung muß daher Gottesdienstordnung sein. Sofern es auch anderes Tun der Gemeinde gibt, muß es je immer von der Gottesdienstordnung her bestimmt und geregelt sein. Soweit die Gemeinde „im Recht” ist und sich darin wissen darf, ist sie es von Gottes Wort her und in gar keiner Weise kraft eigenen Willens. Von ihm empfängt sie ihre Ordnung; Kirchenrecht darf deshalb nicht (wie alles weltliche Recht) von Natur, Vernunft, Zwecksetzung oder Tradition her begründet sein.
Andererseits ist die Congregatio Sanctorum auch eine Versammlung sündiger Menschen wie jede andere Menschengemeinschaft und kann insofern der „Ordnung” im weltlichen Sinne von
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Leitung, Weisung, Normierung und Zucht nicht entraten. Sie muß aus diesem Grunde (auch) als eine Rechtsgemeinschaft im menschlichen Sinne erscheinen. Deshalb gibt es auch moralische, vernünftige, historische und im engeren Sinne juristische Fragen des Kirchenrechts.
2. Dieses Ineinander und Miteinander von göttlichem Rechtsursprung und menschlicher Rechtsgebarung in der Congregatio Sanctorum darf man nie aus den Augen lassen; denn allein aus dem rechten Verständnis dieses Paradoxons kann man dem Institutionalismus eines offenbarten Ius divinum einerseits und dem Schwärmertum einer pneumatischen Anarchie in der Kirche entgehen. Das Kirchenrecht kann auf dem Boden des theologischen Satzes vom Christen als „simul iustus simul peccator” bleiben. Nur aus dem Willen, daß die Kirche immer zugleich im Recht und im Unrecht ist, kann ein reformatorisches Kirchenrecht erwachsen. Wer diese Einsicht leugnet, gelangt unvermeidlich zu der (wesenswidrigen) Unterscheidung von „sichtbarer” „Rechts”kirche (deren „Recht” dann ganz weltlich begriffen wird und eben deshalb im „geistlichen” Sinne ein „adiaphoron” ist) und von „unsichtbarer” „Liebes”kirche, die der Rechtsordnung nicht bedarf. Die Kirche als die lebendige Gemeinschaft des lebendigen Herrn Christus wird von dieser Lehre gesprengt und zerteilt. Neben einer spiritualistisch-idealisierten „Geist”kirche oder „Wesenskirche” steht dann unverbunden und feindlich die institutionell aufgefasste, materialisierte „geschichtliche” Kirche im „soziologischen” oder sonst einem unbiblischen Sinn. Von dieser Entgegenstellung aus muß man dann freilich zu so unfruchtbaren Konsequenzen kommen, wie das traditionelle Fehlverständnis sie aus Sohms ersten Band (ohne Beachtung seiner spätern Lehren) entwickelt hat. Es wird dann die Rechtsordnung als dem Wesen der Kirche widersprechend bezeichnet und im Kirchenrecht geradezu der Sündenfall der Kirche erblickt. Unbefriedigend ist unter diesem Blickpunkt aber auch Günther Holsteins Lehre, wonach das Kirchenrecht infolge der doppelten „soziologischen” Funktion der Kirche aus zwei Strukturelementen, dem „herrschaftlichen” (amtlichen) und dem „genossenschaftlichen” (gemeindlichen) aufgebaut sein müsse. Denn dieser Aufbau führt letzten Endes zu einer Entwesung der geistlichen und rechtlichen Einheit der Congregatio Sanctorum.
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3. Es gilt nämlich zu beachten, daß alle Glieder der Kirche in den Wesenszügen, die sie als Sancti im theologischen Sinn haben, gleich sind: wir sind „allzumal Sünder”, und wir sind alle durch Christi Blut gerechtfertigt; wir sind alle Gottes Kinder durch eine Taufe, alle berufen, durch eine Verkündigung und als unterschiedslose Gäste des Einen Herrn Seiner Gegenwart im Abendmahl teilhaftig. Keiner ist deshalb mehr und keiner ist weniger „im Recht” als der andere. Die Congregatio Sanctorum ist also eine Gemeinschaft von Gleichen. Es mag unter ihnen verschiedene Funktionen und Dienste geben, aber im Grunde ist die Gemeinschaft der christlichen Gemeinde eine Gemeinschaft der (absoluten) Gleichordnung. Sie darf auch keine geistliche begründeten Über- und Unterordnungsverhältnisse unter sich aufrichten; denn einer ist Meister, die andern alle aber sind Brüder. Daß es auch in der Kirche Funktionen der Leitung und ihnen geschuldeten Gehorsam geben muß, folgt sowohl aus der Gottesdienstordnung als auch aus der Stellung der Gemeinde Christi in der Welt. Aber es kann solche Leitung immer nur weisenden, ordnenden, mahnenden Charakter haben. Wo sich im Lauf der Geschichte in das kirchliche Recht anstelle dienender Leitung herrschende Regierung, anstelle beweglicher Ordnung starre Verordnungen, anstelle der brüderlichen Mahnung Maßregeln obrigkeitlicher Zwangsvollstreckung, anstelle der gemeindlichen Aufgaben institutionelle Ämter, anstelle des einen Christenstandes eine Hierarchie kirchlicher Stände, anstelle der Lehr- und Sittenzucht ein kirchliches Disziplinar- und Strafrecht entwickelt hat, ist das Kirchenrecht auf einen Abweg geraten und am Ende dieses Abweges die Gemeinde erst recht in Unordnung gekommen.
4. In alledem zeigt sich, daß die rechte Ordnung der Congregatio Sanctorum die einer Gemeinde in der Freiheit und nicht unter dem Zwang und auch nicht aus der Willkür ist. Ihr Recht fällt weder unter die Kategorie des „ius strictum”, des zwingenden, vollstreckbaren, unbeweglich-starren, „Kompetenzen” absteckenden „Gesetzes”rechts, noch fällt es unter die Kategorie des „ius dispositivum”, des nachgiebigen, der individuellen Vereinbarung einzelner, „vertragschließender Interessenten” überlassenen „Billigkeits”rechts. Das Kirchenrecht ist eine Ordnung sui generis.
Das bringen die unterschiedlichen Dienste in der Congregatio
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Sanctorum deutlich zur Erscheinung. Im Charakter der kirchlichen Funktionen als Dienst und indem wir sie so bezeichnen, was vom Neuen Testament her geboten ist, kommt eine dreifache Unterscheidung zum Ausdruck, die sie von jedem politischen oder sonstigen weltlichen Amt, Stand oder Auftrag abhebt: eine Würde, eine Grenze und ein Beispiel. Die besondere Würde der gemeindlichen oder kirchlichen Dienste liegt darin, daß sie (in einem weiteren Sinn) Gottes-Dienst durch Dienst (an den Brüdern) sind. Die innere und äußere Begrenzung ihres Funktionierens geschieht nicht durch Abstecken von Kompetenzen, wie es bei weltlichen Ämtern sein muß; die Schranke jeden kirchlichen Auftrags ergibt sich aus dem biblischen Sinn des Dienens als einer Form des Verkündigens. Ein Beispiel endlich soll durch das Dienen den anderen gegeben werden, den politischen, wirtschaftlichen, kulturellen oder sonstigen Menschengemeinschaften. Es soll zeigen: So geht es auch, so kann man es machen, ja so muß man es machen.
5. Im übrigen müssen wir uns im Kirchenrecht frei machen von jener oberflächlichen aber zäh festsitzenden Anschauung, derzufolge die Wahrnehmung kirchlicher und gemeindlicher Dienste nur eine „praktische Notwendigkeit” sei, ohne geistlichen Sinn und vor allem ohne geistliche Ordnung, ohne biblische Weisung. Unter dem Zwang dieser leidigen Vorstellung hat sich der rein äußerliche Betrieb moderner Kirchen„regierung” und Kirchen„verwaltung” erst so richtig entwickelt. Seine theoretische Rechtfertigung fand er nur allzu leicht in dem (nicht von Luther, aber von der lutherischen Orthodoxie stammenden) Gedanken: die kirchliche Ordnung sei wie die politische Rechtsgemeinschaft eine bloße „Not”verordnung, die zu den Aufgaben der „Obrigkeit”, des „weltlichen Schwertes”, gehöre und mit dem Reich und Gesetz Christi nichts zu tun habe. Von da aus hat sich erst die tiefe Kluft zwischen dem angeblich nur „geistlichen” „Amt” der Wortverkündigung und Sakramentsspende und dem angeblich nur „äußerlichen” „Dienst” der Gemeindeverwaltung und Kirchenordnung aufgetan, über die hinüberzurufen heute so schwer und doch so notwendig ist. Es gibt nämlich keinen „äußerlichen” kirchlichen Dienst, der nicht auch Gottesdienst (also „geistlich”) ist. Es gibt keine „praktisch” notwendige kirchliche Ordnung oder Gemeinde-satzung,
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die nicht zugleich (als auf das Wort gegründete und unter dem Wort wirkende) Verkündigung aufgefaßt und getan werden muß. Das gilt auch für anscheinend äußerliche und geringfügige Dinge. Wenn beispielsweise eine Gemeinde ihre Rechnungsführung und die Verwaltung von kircheneigenen Grundstücken nicht so begreift und erfüllt, daß es in der Würde des Dienens an der Communio Sanctorum geschieht, in der Begrenzung durch die Heilige Schrift und unter ihrer Weisung, als ein Beispiel für die Welt — dann ist diese Aufgabe eben nicht recht getan. Dann ist diese Gemeindeordnungs- und Kirchenverwaltungspflicht nicht als eine Rechtspflicht im Sinne legitimen Kirchenrechts getan, mag sie auch bis ins einzelne den Vorschriften des kirchlichen Gesetzes oder Gewohnheitsrechts entsprechen.
III. Die Congregatio Sanctorum ist eine Gemeinschaft des Glaubens als eines bewußten Glaubens. Die evangelische Gemeinde darf singen: ich weiß, woran ich glaube. Es gibt ein Wissen von den Glaubenswahrheiten, das dogmatisch gelehrt werden kann und katechetisch gelernt werden muß. Ecclesia est Congregatio Sanctorum, in qua docetur. Was bedeutet das für die Ordnung der Kirche?
1. Erstens: Es bedeutet das Lehren oder Verkündigen der Kirche, das hier etwas inhaltlich Bestimmtes auf eindeutige und verbindliche Weise gesagt wird. Das geschieht aus Überzeugung in der Weise des gründlichen und gewissenhaften Überzeugens. Die Verkündigung der Kirche „ruht” also nicht nur auf ihrem Bekenntnis; sie geschieht bekennend, ist selbst Zeugnis. Als verkündigende Gemeinde ist die Congregatio Sanctorum bekennende Gemeinde. Ihre Ordnung steht demnach in einer zweifachen Beziehung zum Bekenntnis. Sie sollte sowohl geordnete Verkündigung als auch verkündigende Ordnung sein. „Geordnete Verkündigung” verlangt eine Ordnung des Bekennens, des bekennenden Verkündigens; deshalb gibt es kirchliche Lehrzucht und gehört diese notwendig zum kirchlichen Recht. So wie die gottesdienstliche und sakramentale Verkündigung „in Ordnung” geschieht und nicht anders geschehen kann, muß auch die lehrende Verkündigung ordnungsgemäß sich vollziehen. „Verkündigende Ordnung” aber verlangt noch etwas anderes, sie fordert von der Verfassung der Kirche, daß sie „bekenntnismäßig” sei. Sonst kann
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sie eben nicht Ordnung der Congregatio Sanctorum sein, die ja durch ihre bekennende Verkündigung als Kirche erkannt wird. Freilich gilt auch für die „verkündigende Ordnung” der Satz „Ecclesia reformata semper reformanda”. So wenig es jemals ein „endgültiges” „Bekenntnis” in Gestalt eines formulierten Glaubensdokumentes geben kann, weil jede Bekenntnisschrift immer wieder neu an der Heiligen Schrift geprüft und von ihr gerichtet werden muß, so wenig kann es eine „bekenntnismäßige Kirchenverfassung” geben, die für alle Zeiten und jeden Ort Geltung beanspruchen darf. Wohl aber muß jede Kirchenordnung das konfessionelle Zentrum des jeweiligen Standes der Glaubenserkenntnis zur eigenen Mitte haben, wenn anders sie das „Ereignis” der Kirche als der lebendigen Gemeinde des lebendigen Herrn Christus fördern und nicht hindern soll.
2. Zweitens: Es bedeutet das Lehren oder Verkündigen der Kirche ein wirkliches Kundmachen, ein Weitergeben der Frohen Botschaft an andere. Die Congregatio Sanctorum in qua docetur ist keine Geheimgesellschaft, in der man sich ein Geheimnis leise ins Ohr flüstert und sich damit vor den übrigen Menschen verschließt. Die Kirche soll vielmehr eine in der Öffentlichkeit wirkende Schar von Boten sein, die ihre offenbare Wahrheit bezeugen. Das Evangelium ist ja keine Geheimlehre. Die Kirche verkündigt deshalb nicht (sie soll es jedenfalls nicht) in der Abgeschlossenheit einer Gesellschaft solcher, die sich für erwählt halten (und eben deshalb es vielleicht nicht sind). In aller Offenheit, aus den Fenstern der Kirchenräume hinaus muß verkündigt werden. Die Schar derer, die Gott durch Sein Wort zu sich rufen will, darf nicht durch Unverstand der Menschen in ihrem Wachstum gehemmt werden. Die kirchliche Rechtsordnung hat dieser Aufgabe zu dienen. Starrer Institutionalismus und unduldsamer Perfektionismus versperren der Verkündigung die Wege zur Welt. Deshalb soll eine rechte Kirchenordnung sich allerlei Möglichkeiten der Gestaltung offenhalten, um welche die Congregatio sich versammelt. Fragen wie die des Gemeindeaufbaus und der Kirchenzugehörigkeit stellen sich dann in ganz neuer Weise. Es wird sichtbar, daß „Gemeinde” sich in mannigfaltigsten Formen bilden kann; die bisher anerkannten beiden Typen der Ortsgemeinde und der
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Anstaltsgemeinde sind durchaus nicht die einzig möglichen und biblisch legitimen. Es zeigt sich, daß die herkömmlichen kirchenrechtlichen Vorstellungen vom Erwerb und Verlust der „Mitgliedschaft” in der Kirche gründlicher Überprüfung und Erneuerung bedürfen. Kommt es auf den ein für allemal vollzogen sakramentalen Akt der Kindertaufe an? Kann es im besonderen Sinne zur Mitgliedschaft in einer Landeskirche genügen, als Getaufter eine Zeitlang im Lande zu wohnen und die Steuerzahlung nicht versäumt zu haben? Diesem Mißstand ist nun freilich nicht einfach dadurch abzuhelfen, daß man den positiv-juristischen Voraussetzungen der Kirchenmitgliedschaft noch einige „geistlich” gemeinte, aber nicht minder formale „Qualifikations”merkmale hinzufügt. Wirklich ändern kann dieses Unwesen sich nur durch die Einsicht, daß zur Gemeinde, zur Kirche nur gehören kann, wer an ihrem geistlichen Leben existentiell teilnimmt; das aber meint: wer in der Gemeinschaft des Worts und des Sakraments wirkliche steht. Das läßt sich nicht kirchenstatistisch erfassen, sondern allein in der Gemeinschaft selber bezeugen. Dienst und Opfer, Gebet und Beispiel geben Zeichen davon.
3. Drittens endlich folgt aus dem Lehren oder Verkündigen der Kirche für ihre Ordnung der Anspruch auf Verbindlichkeit. Denn die Lehre der Kirche, ihr „docere”, hat Autorität. Die kirchliche Verkündigung nimmt nicht nur als eine Lehre unter anderen an dem autoritativen Charakter jeder Lehre teil; sie ist vielmehr in einzigartiger Weise und in absoluter Andersartigkeit wie jede menschliche Wissenschaft autoritativ. Insofern nun die Ordnung der Kirche teilhat und teilnimmt an ihrer Lehre, kommt ihr auch etwas von der Lehrautorität der Kirche zu. Das meint freilich keine Autorität institutioneller oder individueller Art. Die Autorität der Kirchenordnung leitet sich weder von einem höchsten Amt oder einer obersten Einrichtung der Kirche her, noch kommt sie irgendwelchen „führenden Persönlichkeiten” zu. Das „Schlüsselamt” der Kirche ist nicht einer Behörde oder einer Person vertraut, es gebührt allein der Gemeinde. Eben deshalb besitzt daher die Ordnung der Gemeinde, sofern sie der Lehre, dem Bekenntnis entspricht, nicht nur formale Legalität; sie darf nicht nur äußeren Gehorsam beanspruchen, sondern kraft
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geistlicher Legitimität als Ausdruck des inneren Lebens der Kirche gelten.
IV. Das Lehren und Bekennen der Kirche ist nicht unfehlbar. Es kann, wie alles menschliche Tun, irren. Noch einmal sei hier erinnert: Ecclesia reformata semper reformanda. Aber die Offenbarung stammt von jenseits alles menschlichen Fürwahrhaltens und Sichirrens. Darum darf und kann eine christliche Glaubensgemeinschaft nur dort wahrhaft Gemeinde oder Kirche heißen, wo recht verkündigt wird: Ecclesia est Congregatio Sanctorum in qua recte docetur. Es ist uns eben nicht eine beliebige Weise des Verkündigens erlaubt, es muß die rechte sein. Theologisch bedeutet dieser Satz des Bekenntnisses, daß es auch unrichtige, falsche, verwerfliche Lehre geben kann und daß, wo solche sich durchsetzt, keine Congregatio Sanctorum mehr ist. In dieser Erkenntnis scheidet die Kirche sich von den Sekten, unterscheidet sich der wahre Glaube von den religiösen Ideen und die Gemeinde als Leib Christi von kultischen Vereinigungen. Indem Congregatio, die versammelnde Sammlung geschieht, vollzieht sich auch eine „disiunctio”, eine Trennung, Abschiebung und Aussonderung. Und die Grenzlinie wird hier eben durch das recte der Verkündigung bezeichnet.
1. Damit erstreckt sich die Scheidungs- und Unterscheidungsfunktion dieses recte aber auch auf die Ordnung der Kirche. Wenn es rechte und falsche Lehre, wahre und irrige Verkündigung gibt, dann muß es auch gute und verkehrte Ordnung, richtiges und unrichtiges Kirchenrecht, rechte und schlechte Verfassung der Kirche geben. Die Ordnung der Kirche ist also damit, daß sie als Verkündigungsordnung begriffen ist, noch nicht ohne weiteres recte begriffen. Freilich ist damit nicht gesagt, daß es nur eine Ordnungsgestalt der Gemeinde und Kirche geben könne, der das Prädikat recte zukommt. Wohl aber ist damit jene weit verbreitete Ansicht abgewiesen, die Kirchenrecht für „bekenntnisindifferent” hält. Nicht jede beliebige Satzung, heute dieser und morgen jener Art, kann der Kirche den Dienst der Ordnung tun. Wir behaupten, daß es Ordnungsgestalten gibt, die dem Wesen und Auftrag der Kirche gemäß sind und andere (mögen sie auch theologisch begründbar, juristisch einwandfrei und geschichtlich tatsächlich vorgekommen sein), die es nicht sind.
2. Wie es mehrere konfessionelle Ausprägungen des reformatorischen
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Christentums gibt, so gibt es auch mehrere Ordnungsmöglichkeiten der Kirche, denen das Prädikat recte nicht abgesprochen werden darf. Damit ist allerdings kein Prinzip ausgesprochen. Es wird nur eine Realität konstatiert, in der wir infolge unserer Sünde leben. Die Spaltung der Kirche der Reformation in einen lutherischen und einen reformierten Teil, ihre weitere Ausgliederung in unzählige Denominationen ist eine ständige Beunruhigung des christlichen Gewissens und darf deshalb nicht durch formal-juristische Konstruktionen verschleiert werden. Diese Not der Kirche ist vielmehr eine offen einzugestehende, dauernde Verlegenheit ihrer rechten Ordnung. Keine der reformatorischen Konfessionen und Unionen vermag der andern den Charakter der Congregatio Sanctorum abzusprechen. Wenn aber jede Kirche ihren Bekenntnisstand dem der anderen gegenüber nicht als allein gültigen behaupten darf, so kann auch die dem jeweiligen Einzelbekenntnis gemäße Ordnungsgestalt keine Alleingültigkeit für die ganze Kirche der Reformation beanspruchen. Ebensowenig gibt es ein uniformes evangelisches Verfassungsprinzip. In Deutschland bestehen also gegenwärtig nebeneinander die Möglichkeiten eines „richtigen”, bekenntnisgemäßen Kirchenrechts in lutherischer, reformierter oder unierter Gestalt. Aber es hat doch auch darüber hinaus in der Bekennenden Kirche wesenhafte Ansätze zur Ordnung einer kirchlichen Gemeinschaft gegeben, die quer durch alle Konfessionen und Landeskirchen hindurchging. Damit zeigte sich eine Möglichkeit am gemeinsamen Bekennen und zu gemeinsamer Ordnung innerhalb der deutschen Kirche der Reformation zu gelangen. Hieraus ergibt sich die ernste und aktuelle Frage: Gibt es Grundsätze kirchlicher Ordnung, die einen übergreifenden und gemeinsamen Lehr- und Bekenntnisstand der Congregatio Sanctorum erkennen lassen? Darauf kann nur die Antwort erteilt werden: wenn es ökumenische Gemeinsamkeit in der reformatorischen Theologie gibt (und es gibt sie), dann muß es auch ökumenische Richtschnuren für die kirchliche Ordnung geben. Freilich: so lange wir noch kein einheitliches reformatorisches Bekenntnis besitzen, dessen Formulierung wir in der Zukunft erhoffen, kann es noch kein einheitliches Kirchenrecht, keine für alle evangelischen Gemeinden und Kirchen gültige Musterverfassung geben. Aber derjenige Bekenntnisinhalt, der allen Denominationen geistlich gemeinsam ist,
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muß sich auch grundsätzlich in allen verschiedenen Ordnungsgestalten gleich ausprägen. In diesem Sinn läßt sich als recte docetur hinsichtlich des Kirchenrechts dreierlei feststellen:
Erstens: die aus der gemeinsamen theologischen
Grundlage der Kirche der Reformation, nämlich
a) dem
Schriftprinzip,
b) der Rechtfertigungslehre
und
c) dem allgemeinen
Priestertum gewonnene Erkenntnis der Ungültigkeit einer
kirchlichen Ordnung, welche
a) schriftwidrig,
b) auf Selbstrechtfertigung
des Menschen, sei es durch einen Volksnomos oder eine
weltlich-politische Idee irgendwelcher Art, oder
c) auf eine hierarchische
Stufenordnung geistlicher Ämter gegründet wäre. Diese negative
Bestimmung läßt erkennen, was im Gegensatz zum recte ein „falsum”
im Recht der Kirche bedeutet.
Zweitens: die geistliche Notwendigkeit der kirchlichen Ordnung. Die Congregatio Sanctorum, mag sie konfessionell verfaßt sein wie immer, ist eben doch stets (als solche und das heißt: als Gemeinde Christi) erbaut auf dem Wort der Heiligen Schrift, und nur dann „in Ordnung”. Nur ein auf die Heilige Schrift gegründetes, nach ihrer Richtschnur und Weisung gestaltetes Kirchenrecht kann dem Prädikat recte genügen; ist die Kirchenordnung aus der Wort- und Sakramentsgemeinschaft erwachsen und von daher geformt, so kommt ihr das recte immer zu, mag sie im übrigen Verfassung einer lutherischen oder einer reformierten oder einer unierten Kirche heißen.
Drittens: die Eigenart der kirchenrechtlichen Leitsätze und Begriffe. Kirchliche Ordnung ist an theologische Voraussetzungen gebunden, die nicht von den Grundprinzipien weltlicher Rechtslehre aus kritisiert werden können. Das Kirchenrecht ist nichts anders und kann nichts anderes sein, als die Entfaltung der Ordnungsprinzipien der Congregatio Sanctorum in qua recte docetur. Gewiß ist es methodisch aufzufassen nach den Regeln rechtswissenschaftlicher, wissenschaftlicher Begriffsbildung überhaupt. Aber die „causa” wie das „telos” des Kirchenrechts sind bedingt und
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begrenzt durch den Inhalt des recte docetur. Kirchliche Ordnung, Verfassung und Verwaltung läßt sich aus diesem Grunde niemals vom Bekenntnis und von der Lehre der Kirche trennen. Kirchenrecht ist deshalb kein Zweig des öffentlichen Rechts; es sei denn, man rede vom sogenannten „Staatskirchenrecht”, das freilich einen Teil des politischen Verfassungsrechts darstellt, aber eben deshalb kein Recht der Kirche ist, sondern gewisse Rechte und Pflichten von Staat und Kirche von Staats wegen statuiert.
V. Diese Einzigartigkeit und Unvergleichbarkeit des Wesens und der Aufgabe der Congregatio Sanctorum ruht im Grund auf ihrer göttlichen Stiftung und stetigen Erneuerung. Von ihr aus verbietet sich für das Kirchenrecht jene Orientierung an den drei antinomischen Grundwerten allen säkularen Rechts: Gerechtigkeit, Zweckmäßigkeit, Sicherheit. Eigenmächtige, rationale Zwecksetzung, Berufung auf eine natürliche Gerechtigkeit, Streben nach möglichst gründlicher und langdauernder Sicherung gegenüber den Wechselfällen geschichtlicher Existenz sind der Kirche geradezu verboten. Weil die Gemeinde Christi von Ihm erwählt ist, hat die Kirche eine irrationale Theologie, die aufs Eschaton ausgerichtet ist, bedarf sie der göttlichen Rechtfertigung und muß sie eine ihr wesensnotwendige Unsicherheit in der „Welt” bejahen. Schon deshalb ist sie ein Gebilde völlig anderer Ordnung als jede menschliche Rechtsordnung es ist. Die absolute Andersartigkeit aller kirchlichen Verfassung und gemeindlichen Ordnung muß nun weiter daraus erkannt werden, was im Tun der Congregatio Sanctorum als einem recte docetur zur Erscheinung kommt: es ist das Evangelium.
Indem die Kirche Congregatio Sanctorum est in qua recte docetur Evangelium, ist sie gekennzeichnet durch eine activitas, ein Verhalten, das in der Verkündigung des Evangeliums besteht. Evangelium aber ist die Frohe Botschaft beider Testamente der Heiligen Schrift, nichts anderes, aber dieses ganz und ungeteilt, unverkürzt, unabdingbar. Was folgt daraus für die kirchliche Ordnung?
1. Als erstes die Forderung, daß jede kirchliche Ordnung in allen ihren Stücken nicht nur die Verkündigung des Evangeliums nicht hindern darf, vielmehr zu ihrer Förderung beitragen muß, ansogst sie verfehlt wäre. Denn die Kirche entartet, wo sie
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institutionelle Selbstzweck ist, und nicht in steter Bereitschaft, all ihre „Habe” zu opfern, der Ausbreitung des Evangeliums dient. Immer wieder gerät die Kirche in ihrer historischen Entwicklung in die Versuchung, von ihr geschaffene Einrichtungen nur deshalb „behalten” zu wollen, weil sie nun einmal vorhanden sind. Leider ist nur allzu oft bei kirchlichen Körperschaften ein zähes Besitz- und Machstreben zu finden. Es wird dann in ungeistlicher Weise behauptet, es sei die Aufgabe des kirchlichen Rechts, den status quo der Kirche nach Möglichkeit zu erhalten. Ja, es wird von den in der Kirche mitarbeitenden Rechtsgelehrten erwartet, wenn nicht gar verlangt, ihr sachliches Wissen und Können dafür einzusetzen, den Besitzstand der Kirche, ihre traditionellen Anstalten und Einrichtungen, die herkömmlichen Ämter und Unternehmungen der Kirche zu konservieren. Die kirchliche Ordnung muß aber selber stets eine bewegliche, reformierende, geistlich lebendige Funktion haben. Es ist nicht Sache der Kirchenjuristen, die weltliche Klugheit der Kirche im weltlichen Sinne nutzbar zu machen. Auch gilt es, sich darauf zu besinnen, daß sogenannte „Reichsgotteswerke”, wie man kirchliche Heil- und Pflegeanstalten, Erziehungshäuser und Hilfsorganisationen aller Art gerne nennt, nicht schon durch ihren caritativen Zweck allein Ausdruck rechter kirchlicher Ordnung sind. Nur wo sie in Wahrheit Stätten der Verwirklichung der Congregatio Sanctorum in qua Evangelium recte docetur sind, das heißt aber nicht anderes als: wo sie selbst recht verkündigende Gemeinde sind und Gemeinde bilden, stehen sie „in der kirchlichen Ordnung”.
2. Des weiteren folgt aus dem Charakter der kirchlichen Lehre als „pure doctrina Evangelii”, daß die kirchliche Ordnung keiner anderen Botschaft Einblick gewähren und keiner anderen Lehre ihre Maßstäbe oder Richtlinien entnehmen darf. Der oft wiederholte Versuch, die Verkündigung des Evangeliums durch Anschluß an eine religiöse, kulturelle oder politische Zeitströmung irgendwelcher Art „zugkräftiger zu gestalten”, kann nie Erfolg haben. Die Annahme der Botschaft des Evangeliums wird dadurch niemand „leichter” gemacht. Das Bestreben, eine Harmonisierung von Gottesreich und Weltreich von menschlicher Vernunft aus mit menschlichen Willenskräften herbeizuführen, hat in keinem Falle mehr bewirkt, als eine vorübergehende illusionäre Selbstberuhigung.
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In gleicher Weise mißlingt jeder Versuch, die rechte kirchliche Ordnung durch „geistliche” Umstilisierung philosophischer, ethischer oder sozialer Ordnungsprinzipien herzustellen. Die unbefangene Bereitschaft zur Annahme der christlichen Botschaft verwandelt sich angesichts solcher Experimente in berechtigtes Mißtrauen und die zurr kirchlichen Mitarbeit bereiten „Laien” erleben daran eine glaubenserschütternde Enttäuschung. Unfruchtbar bleibt es auch, mit äußerlichen Verbrämungen, insbesondere mit herkömmlichen, rührseligen christlichen Formeln oder Symbolen eine „Beziehung” zwischen Kirche und Welt herzustellen. Die Unechtheit solcher „Verchristlichungen” zeigt sich schon darin, daß hier (mehr oder weniger bewußt) auf das einzige verzichtet wird, was die „Kirche” der „Welt” wirklich zu geben hat: die unverkürzte und unverblümte Verkündigung des Evangeliums. Es muß deshalb immer wieder gesagt werden, daß eine Monarchie um kein Gran christlicher wird, wenn sie mit der längst entleerten Formel, daß sie „von Gottes Gnaden” sei, ihren Machtanspruch „geistlich” legitimieren will. Ebensowenig wird der „christliche” Charakter einer demokratischen Verfassung damit gewährleistet, daß eine religiöse Präambel sie einleitet.
Die „Welt” wird eben nicht „christlicher”, wenn ihre rationalen Zwecksetzungen mit irrationaler Terminologie und religiösen Sprüchen verkleidet werden. Die „Kirche” ihrerseits wird nicht weltverbundener, wenn man ihre Botschaft mit optimistischer Aufklärungsphilosophie oder mit pessimistischer Geschichtsmetaphysik entwest. Der letztere Weg ist der Irrweg des „Christlichen Konservatismus” aller Schattierungen gewesen, der erste war der Irrweg des „Kirchlichen Liberalismus” in all seinen Spielarten bis hin zu den „Deutschen Christen”. Diese beiden extremen Fehlwege hat eine rechte Kirchenordnung vornehmlich zu vermeiden. Sie darf nicht zu einer mit Bibelsprüchen in der „Sprache Kanaans” tendenziös aufgeputzten religiösen Legitimation der bürgerlich-konservativen Staats- und Lebensauffassung werden. Der hier zu Grunde waltende Wille, die Formel „Thron und Altar” zu realisieren, läuft immer letzten Endes auf den zum Altar umgewandelten Thron und damit auf „Staatskirche” hinaus. Sie darf aber auch nicht zur Umwandlung der Communio Sanctorum in einen Verein, eine Genossenschaft oder ein Parlament führen, wo mit
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entsprechenden philosophischen Vokabular die religiöse Legitimation der bürgerlich-liberalen oder klassenmäßig-sozialistischen Staats- und Lebensauffassung versucht wird. Der dahinter stehende Wille, die Formel „Kirche für das Volk” zu realisieren, läuft immer letzten Endes auf einen religiös übersteigerten Volksbegriff oder auf eine zum politischen Erziehungsinstrument entweste Kirche hinaus. Beides aber ist vom Übel.
3. Drittens endlich ist in diesem Zusammenhang zu beachten, daß aus dem Evangelium als Grundlage der kirchlichen Ordnung notwendig die Forderung sich ergibt: es müsse die Ordnung der Kirche der Weisung des Evangeliums gemäß sein. Dabei gilt es vor Erwägung im einzelnen das weitverbreitete und anscheinend unausrottbare Mißverständnis auszuschließen: es handle sich dabei um eine Mißachtung des Unterschiedes von Evangelium und Gesetz oder um ein spezifisch „reformiertes” Anliegen, das der Lutheraner nicht kenne. Deshalb sei es deutlich gesagt: wir meinen mit dem Ausdruck „Weisung des Evangeliums” oder „Biblische Weisung” nicht eine „Vergesetzlichung” des Evangeliums, was freilich ein im geistlichen Sinne tödlicher theologischer Irrtum wäre. Wir meinen ferner nicht, daß aus der Heiligen Schrift sich ein Grundkodex von Rechtsnormen ausziehen läßt, der unveränderliche, abstrakte Regeln oder gar Anweisungen für jeden konkreten Fall enthielte. Es gibt aber noch ein zweites, in anderer Richtung mögliches Mißverständnis auszuschließen. Deshalb sei auch dies deutlich gesagt: Die Botschaft der Liebe und Gnade im Evangelium meint nicht eine „Entgesetzlichung” des Lebens in dem Sinne, daß die klaren sittlichen und rechtlichen Weisungen des Alten und Neuen Testaments unverbindlich oder mindestens unwesentlich seien; denn Christus hat das Gesetz nicht aufgehoben, sondern erfüllt. Die Botschaft des Evangeliums meint ferner nicht, daß christliche Lebensordnung nur in der persönlichen Gewissensentscheidung des einzelnen gemäß subjektivem Verständnis der Heiligen Schrift bestehen könne. Es kann uns nicht binden, wenn im einen oder andern Fall nachgewiesen werden konnte, daß doktrinäre Lutheraner dem zweiten Mißverständnis, doktrinäre Calvinischen dem ersten unterlegen sind. Es gilt vielmehr heute zu sehen, daß in der vom Evangelium her geglaubten und verstandenen biblischen Weisung eine objektive
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gesamtkirchliche Grundlage der Sozialethik gegeben ist. Diese Weisung besteht nicht in Moralgeboten und auch nicht in Rechtssätzen, wohl aber in sittlichen Forderungen und Rechtsgrundsätzen. Der evangelische Philosoph, Jurist, Nationalökonom oder Politiker ist deshalb nicht darauf beschränkt, lediglich das individuelle Gewissen, das rationale Naturrecht, eine historische Wirtschaftsordnung, ein positives Gesetzesrecht als Legitimation der ethischen Grundsätze seiner Arbeit zu behaupten. Die persönlichen Entscheidungen freilich sind ihm wie allen anderen Christen dadurch auch in keinem Falle abgenommen. Eine evangelische Sozialethik auf der Grundlage biblischer Weisung darf nicht mit einem System autoritativer Kirchenlehre verwechselt werden.
VI. Die Congregatio Sanctorum, in qua recte docetur Evangelium ist außer der Gemeinschaft des rechten Glaubens, die sich in der Verkündigung des Wortes Gottes durch rechte Lehre bezeugt, sie ist auch Gemeinschaft des rechten Glaubens in der Verkündigung des Wortes Gottes durch rechte Verwaltung der Sakramente.
1. Daraus ergibt sich für die kirchliche Ordnung eine weitere Aufgabe. Ihr Aufbau hat nicht nur die versammelte Gemeinde unter dem Wort, sondern auch die versammelte Gemeinde am Tisch des Herrn zum Grundriß. Weil diese Gemeinde zugleich die Gemeinschaft der Getauften ist, muß alle kirchliche Ordnung diese dreifache Gemeinschaft: die Wortgemeinschaft, die Abendmahlsgemeinschaft und die Taufgemeinschaft sein. Es kann niemand im rechtlichen Sinne als Glied der Communio Sanctorum gelten, der beharrlich versäumt, sich zur gottesdienstlich versammelten Gemeinde unter das Wort rufen zu lassen. Es kann aber auch niemand im Vollsinn Gemeindeglied sein, der die Tischgemeinschaft des Herrn beständig meidet oder die Taufe mißachtet. Taufordnung und Abendmahlsordnung sind integrierende Bestandteile der kirchlichen Gesamtverfassung. Daraus folgt, daß die Wahlordnungen und Ämterordnungen nach diesen Grundordnungen des Gemeindelebens ausgerichtet sein müssen.
2. Ist dem so, dann gilt es weiter zu bedenken, was Tauf- und Abendmahlsgemeinschaft eigentlich bedeutet. Alle reformatorischen Katechismen lehren, daß die Taufe das äußere Zeichen der
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Besitzergreifung durch Christus den Herrn ist; der Täufling erfährt im Bad der Taufe seine Wiedergeburt; sie ist das Zeichen der neuen Kreaturschaft in Christus. Die theologische Frage, ob der Glaube als Voraussetzung oder Wirkung der Taufgnade aufgefaßt werden muß, ist (diese im Blick auf die in der Kirche seit alters üblich gewordene Kindstaufe problematische Frage) für unsere Erörterung hier nicht entscheidend. Die kirchliche Ordnung als eine Gemeinschaftsordnung der Getauften und Taufenden muß jedenfalls etwas von dieser Wiedergeburt und neuen Kreaturschaft erkennen lassen. Unbeschadet dessen, daß es sich bei der kirchlichen Ordnung um eine Gemeinschaftsordnung von sündigen Menschen handelt, ist sie eben doch eine Ordnung solcher Menschen, die (durch die Taufe) Christen geworden sind. Die Taufgemeinschaft bietet zwar keine Gewähr, aber doch wenigstens ein Zeichen für subjektives Gesinntsein und Handeln, wenn auch nicht vollkommener, so doch in der Ausrichtung nach der biblischen Weisung verlaufender und eben damit in gewissem Sinne anderer Art als das Gesinntsein und Handeln der Nichtchristen. Damit ist keinerlei Aussage über den höheren oder geringeren Grad an Moralität, Anständigkeit, Tugend dieses „anderen” Handelns gemacht. Es ist nur nochmals (unter neuem Blickpunkt) konstatiert, daß die Gemeinschaft der Christen einmalig und besonders ist. Deshalb kann und darf ihre Ordnung mit anderen subjektiven Verhaltungsweisen und Verhaltungsnormen rechnen; ja, sie muß in anderer Weise darauf bauen, als es die die rationalen oder idealen menschlichen Ordnungen unter den Nichtchristen tun.
3. Von der Abendmahlsgemeinschaft aus gesehen zeigt sich das gleiche Phänomen. Im Sakrament des Abendmahls verbindet sich der lebendige Herr Christus mit seiner lebendigen Gemeinde, die durch die Teilhabe an Seiner göttlichen Gegenwart nicht anders wie durch Sein Wort immer wieder neu erbaut und in Ordnung erhalten wird. Der lebendige Herr ist in seiner lebendigen Gemeinde unsichtbar anwesend, und zwar nicht nur als der Gekreuzigte, sondern auch als der Auferstandene, nicht nur als der zukünftig kommende Herr des Gottesreiches, sondern auch als der gegenwärtige wirkende und erhaltende Herr der Welt. Etwas davon muß in den „Werken” der Gemeinde sichtbar werden und
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somit auch in dem Werk ihrer Ordnung. Wie kann sich das zeigen?
4. Es heißt von den Sakramenten, daß sie in der Congregatio Sanctorum verwaltet werden, administrantur. Es geschieht etwas, es wird etwas getan, die Gemeinde handelt. Das geschieht nicht beliebig, so wenig die Wortverkündigung (die „Lehre”) eine beliebige sein darf. Es geschieht recte, in einer Gestalt, die dem heiligen Gegenstand gemäß, die der evangelischen Weisung der Heiligen Schrift entsprechend ist. Für die kirchliche Ordnung folgt daraus, daß alles Tun und aktive Sichverhalten in der Gemeinde „das rechte” sein muß. Nun wird in der Gemeinde, in der Kirche nicht nur doziert, sondern auch administriert. Die Kirche hat eine Verwaltung. Indem wir alles kirchliche Verwalten auf seinen innersten Kern: die Sakramentsverwaltung, begründen und beziehen, binden wir das das sogenannte Kirchen„regiment”, die Gemeinde„verwaltung” in allen ihren Formen und Aufgaben bis ins kleinste an das Bekenntnis. Was bedeutet das?
Es will erstens, daß die Verwaltung (Regierung) oder Leitung der Kirche keine „Einrichtung” (Institution) ist, die um ihrer selbst willen erhalten und gepflegt werden soll, sondern eine „Ausrichtung” (Funktion), die im Dienst der Verkündigung steht. Nur dann ist die Leitung der Kirche recte, wenn sie als eine Hilfe für die Verkündigung funktioniert; sie wird verkehrt, sobald sie sich im Institutionalismus oder gar im Bürokratismus verhärtet. Etwas Fließendes, Offenes, Bewegliches muß sie von aller anderen „Verwaltung” unterscheiden; sie darf sich nie beständigen, abschließen und verselbständigen wollen. Kirchenleitung (Verwaltung) ist also zweitens kein Amt, sondern ein Dienst. Recte administrare heißt in der Congregatio Sanctorum immer nur dienen, niemals herrschen. Darin zeigt sich die Congregatio als eine Bruderschaft. Für die kirchliche Ordnung folgt aus diesem Verständnis des Bekenntnisses das Bruderschaftsprinzip als Grundsatz und Grundhaltung alles recte administrare. Die Grundordnung der Bruderschaft, welche durch die Taufe unter allen Christen begründet, durch die Teilnahme am Abendmahl sichtbar bezeugt und erneuert wird, bedeutet für die Ordnung der kirchlichen
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Leitung eine Begrenzung und eine Weisung. Jeder Versuch, sie auf ein Verhältnis der Über- und Unterordnung zu gründen, wäre eine Grenzüberschreitung, denn die Kirche ist eine Gemeinschaft der Zuordnung von Gleichen. Ihre Leitung darf deshalb in zwei Richtungen nicht zustande kommen: sie ist weder von einem als homogene Masse gedachten Kirchen„volk” nach den Grundsätzen einer weltlichen Korporations-Willensbildung zu wählen, noch von einer als Gegenspieler gegenüber dem Kirchen„volk” gedachten Kirchen„regierung” zu ernennen. Die Kirchenleitung darf den Grundregeln einer weltlichen Machtorganisation nicht nachgebildet werden. Weder ihr Auftrag von „unten”, noch ihre Macht von „oben” kann Kirchenleitung legitimieren, weil sie ihrem Wesen nach mit weltlicher „Obrigkeit” oder weltlicher „Volksvertretung” nicht vergleichbar ist.
VII. Nach alledem ist die Kirche keine ins „Geistliche” gewendete Einherrschaft, Mehrherrschaft oder Vielherrschaft, denn es gibt unter den Brüdern des Congregatio keinen Herrscher und keinen Geburts- oder Amtsadel, noch auch ein namenloses, als unpersönliches Kollektiv gedachtes Volk. Die Kirche als Gemeinschaft freier Persönlichkeiten, deren jede von Christus bei ihrem Namen gerufen wird, kennt nur Dienende, keine Herren, nur Dienstaufgaben, aber keine Standesansprüche. Sie ist eine Bruderschaft unvertretbarer aber auch untrennbar verbundener Personen, keine Körperschaft vertretbarer Untertanen oder in einem Kollektivwillen untergegangener Massenmenschen. Es gibt also nur eine Form der kirchlichen Ordnung: die Christokratie. Christokratie, Herrschaft des lebendigen Herrn in der lebendigen Gemeinde zeigt sich in drei Wesenszügen eben dieses Herrn: er ist der Erfüllet des Gesetzes, er ist das wahre menschliche Ebenbild Gottes des Vaters, er ist der König über die Welt. Daraus folgen für die kirchliche Ordnung und damit für das Kirchenrecht wie für die Kirchenverwaltung verpflichtende Weisungen.
1. Christokratie heißt Christus anerkennen als den Erfüllet und das meint zugleich als den Lehrer des Gesetzes. Calvin sagt: Christus est legis interpres, er ist der rechte Ausleger des Gesetzes. Christus ist zwar kein Gesetzgeber (legislator), denn das hieße die „lex Christi” in einer Weise verstehen, die dem reformatorischen
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Rechtfertigungsprinzip widerspricht. Aber er ist auch nicht der Auflöset des Gesetzes; vielmehr bekommt jede Weisung des Alten Testaments, wenn sie von Christus her und auf Christus hin verstanden wird, erst ihre volle Verpflichtungskraft. Christus als Erfüllet und Ausleger des Gesetzes bedeutet weiter für die kirchliche Ordnung und das Kirchenrecht: es muß die rechte Mitte zwischen anarchisch-schwärmerischer Liebesgemeinschaft und totaler, starr-gesetzlicher Zwangsgemeinschaft gesucht werden. Das aber heißt: wir haben die Möglichkeit, feste Grenzlinien und Richtschnuren für unsere Ordnungen aus dem Ganzen der Heiligen Schrift zu erfahren. Das geschieht, ohne uns in formaler Weise buchstäblich an einen historischen Wortlaut zu binden, aber auch ohne formlose, unfassbare, willkürlich-subjektive Schriftauslegung. Aus der Heiligen Schrift leiten wir keinen Kodex Juris Divini, noch eine ewig gültige kirchliche Musterverfassung ab; wohl aber erkennen wir die Grundsätze, nach denen eine kirchliche Grundordnung beschaffen sein muß und was nicht minder wichtig ist, wie sie nicht beschaffen sein darf.
2. Christokratie in der kirchlichen Ordnung heißt weiterhin: in Christus haben wir die wahre „imago Dei”, das menschliche Ebenbild Gottes vor Augen, und ihm als unserem Vorbild haben wir uns nachzubilden. Damit scheidet die Möglichkeit der Annahme eines dreistufigen, von unten nach oben aufsteigenden Baues der Rechtsordnung dergestalt, daß über dem positiven, historischen das unwandelbare Naturrecht und über diesem das geoffenbarte Gottesrecht steht, für uns aus. Denn dieser Aufbau der Rechtslehre beruht auf der theologischen Voraussetzung, daß der Mensch durch den Sündenfall seine gottähnliche Natur nicht völlig verloren habe, vielmehr noch in gewisser Weise am göttlichen Vernunftlicht teilhaben könne; aus welcher participatio eben die (auch für den Christen anzuerkennende) Verbindlichkeit des Naturrechts fließe. Lehnt man mit der reformatorischen Dogmatik dieser Lehre von der analogia entis ab, so fällt die Möglichkeit eines evangelischen (christlichen) Naturrechts dahin, und es bleibt nur die lex Christi einerseits, die lex humana andererseits. Diese aber sind nicht, wie manche älteren Lutheraner lehrten, hoffnungslos getrennt. Sie sind verbunden durch Christus selber, der als wahrer, sündloser Mensch uns das Vorbild der rechten, ursprünglichen „Schöpfungsordnung”
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Gottes darstellt. Es gilt also, die Gemeinde als den Leib Christi so auszurichten, daß sie in ihrem Wandel diesem Vorbild nacheifert und, wenn sie es auch infolge des Sündenstandes weder vollkommen erkennen, noch auch nur teilweise verwirklichen kann, wenigstens für andere erkennen lassen, wer ihr Vorbild ist.
3. Christokratie heißt schließlich, wie schon das Wort sagt, Herrschaft Christi über die Welt. Diese Weltherrschaft Christi darf nicht nur unter dem eschatologischen Aspekt der zukünftigen Wiederkehr des Herrn gesehen werden; sie ist zu begreifen als eine lebendige gegenwärtige Herrschaft in Seinen Gemeinden, in Seiner Kirche. Freilich ist diese Herrschaft eine unsichtbare, verborgene; aber der Gemeinde ist sie unzweifelhaft, denn sie wandelt nicht im Schauen, sondern im Glauben. Darum kann es auch nicht die Institution der Kirche selber sein, in der diese Herrschaft sich verkörpert; jedweder Versuch, in der Evangelischen Kirche einzelne Ämter, etwa die Vorsteher von Kirchenleitungen, mit einer besonderen „geistlichen Autorität” auszustatten, müßte in diese abwegige, unreformatorische Gedankenrichtung treiben. Niemals kann die Kirchenverfassung in ihren Einrichtungen das Reich Gottes herstellen wollen, wohl aber muß die Gemeinde in dem, was sie tut oder unterlässt, also in ihrer Lebensordnung, sich unablässig nach Christi Vorbild ausrichten. Wir erkennen dann, daß Christus sich in jeder Lage so verhalten hat, wie wir (von unserem Gewissen überführt) uns eigentlich auch verhalten sollten, es aber nicht können, weil wir als Knechte der Sünde nicht das Gute tun, das wir wollen, sondern das Böse, das wir nicht wollen. Wir teilen ja nicht unsere Kleidung mit dem, der keine hat; wir verurteilen die in unseren Augen und nach unserem blinden Rechtsverständnis Schuldigen nicht weniger geschwind, als es jene frommen Juden mit der Ehebrecherin taten; wir wollen ja immer und nicht zuletzt in der Kirche und mit der Kirche Recht behalten; und wo wir wirklich einmal der Gemeinde ein Opfer bringen, treibt uns (oft unbewusst) ein dem Begehren der Zebedäussöhne verwandter Wunsch. Aber im Blick auf Christi richtungweisende Worte und seinen beispielgebenden Wandel sehen wir einen Grundriß der Lebensordnung für die Gemeinde vor uns. Daraus folgt für unser heutiges Streben nach Erneuerung der Kirchenordnung und des Kirchenrechts: die Ordnung ist nicht aus den Bekenntnisschriften
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des 16. Jahrhunderts abzulesen und nicht von der menschlichen Autorität eines Kirchenführers, und sei es noch so klug, mächtig und angesehen, herzuleiten. Kirchliche Ordnung kann allein von der Autorität des in der Heiligen Schrift unmittelbar bezeugten Herrn Christus leben und sie muß nach den Erfahrungen der ersten Gemeinden: des Jüngerkreises, der Urgemeinde von Jerusalem und der paulinisch geprägten Missionsgemeinden, ausgerichtet sein. Kraft ihrer Aufnahme in die apostolischen Lehrbriefe dürfen die Ordnungsgrundsätze der frühen Gemeinden echten biblischen Weisungscharakter beanspruchen. Indessen geht es bei der Frage: was bedeutet die Herrschaft Christi über die Welt für die kirchliche Ordnung? garnicht nur um die rechten Grundsätze der Kirchenverfassung, -verwaltung und -gesetzgebung. Die Gemeinde Christi hat nicht nur sich selber zu ordnen, sie hat auch eine Ordnungsaufgabe gegenüber der Welt. Gewiß nicht in dem Sinne, als könne die Kirche dem Staat vorschreiben, was er zu tun und zu lassen habe oder als müsse alles soziale, wirtschaftliche und kulturell-zivilisatorische Leben seine Richtnormen von einer kirchlichen Ordnung entgegennehmen. Erst recht abzulehnen wäre jede Vorstellung eines kirchlichen Zwanges unmittelbarer oder auch nur Einflusses mittelbarer Art. Es geht bei dieser Frage allein um das christliche Ordnungs-Beispiel. Was könnte es für die Welt bedeuten, wenn die Kirchenordnung und das Kirchenrecht nicht bloß geistliche Umstilisierungen weltlicher Verfassungen und Gesetzbücher wären, sondern echte, ursprüngliche Zeugnisse der brüderlichen Gemeinschaft der Jünger Christi. Was könnte es bedeuten, wenn das Kirchenrecht nicht mehr eine positivistisch-juristische Ordnung auf dem Boden irgend einer historischen Staatsform oder eine positivistisch-theologische Ordnung auf dem Boden irgend einer historischen Bekenntnisschrift wäre, sondern ein wahrhaft bekennendes Kirchenrecht, eine lebendige Gemeinschaftsordnung, die für alle anderen Menschen ein Zeugnis ablegte für die Mitte und das Haupt dieser Gemeinschaft: Christus!
Kann eigentlich die Kirche glaubwürdig verkündigen, lehren und taufen, wenn sie nicht durch sich selbst sichtbar macht, wer an ihrem Anfang stand? Wenn die Kirche auf dem Felsengründe des Glaubens, daß Jesus Christus der gegenwärtig, wenn auch unsichtbar, aber allmächtig wirkende Herrscher der Welt ist, wirklich
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steht, dann muß sich das in der Art ihres Verhaltens zur Welt auch wahrhaft und überzeugend zeigen. Sie kann sich dann in ihrer Ordnung und in ihrem Recht weder an irgendwelche weltlichen Ordnungsgrundsätze binden, noch sich vor ihnen verschließen. Sie ist dann wirklich die unverborgene Stadt auf dem Berge, das nicht unter den Scheffel gestellte Licht. In ihrem Raum, der Gottes Raum ist, in ihrer Zeit, die „zwischen den Zeiten” ist, in ihrer Gemeinde, die nicht von Menschen gegründet ist, um willentlich einige ein- und andere auszuschließen, sondern auf Gottes verborgene Erwählungsgnade vertraut, ist dann Offenheit, Vertrauen, Freiheit, Wohlwollen, Brüderlichkeit — ist all das möglich und geboten, im strengen und besten Sinne in Ordnung und im Recht. Bekennendes Kirchenrecht gibt also der Kirche keine abschließende Form, es bedeutet nicht eine feste Marschroute für die Gemeinde zwischen den undurchlässigen Mauern von Rechtssätzen und Rechtsinstitutionen, es öffnet vielmehr den Lebensraum für ein freies Gemeinschaftsleben unter dem Wort. Seine Ordnung bedeutet die Einladung an alle Menschen, ohne Ausnahme, in der durch Taufe, Predigt und Abendmahl vereinigten Congregatio Sanctorum ein Exempel zu sehen und vielleicht das von ihnen so lange vergeblich gesuchte rechte Beispiel einer echten Ordnung menschlichen Zusammenlebens in ihr zu finden.