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1.

Vom Wesen der Gerechtigkeit

 

„Wenn die Gerechtigkeit untergeht, hat es keinen Wert mehr, daß Menschen auf Erden leben.” Dieser Spruch Kants ist so oft gedankenlos nachgesprochen oder gar phrasenhaft mißbraucht worden, daß mancher ihn wie eine Übertreibung empfand. Seitdem wir zwei große Kriege erlebt und dreimal einen radikalen Wechsel der Staatsverfassung erfahren haben, sind wohl alle von der Wahrheit dieses Satzes tief überzeugt: Sie ist tröstlich und erschreckend zugleich. Wie notwendig Gerechtigkeit ist, hat sich uns um so mehr gezeigt, je ferner wir von ihrer Verwirklichung waren und es noch immer sind.

Zwar hat es kein politischer Denker jemals bezweifelt und kein politisches System ausdrücklich zu verneinen gewagt, daß – wie das Wahre, Schöne und Gute – auch das Gerechte zu den unverzichtbaren Leitgedanken oder Werten eines menschenwürdigen Lebens gehört. Aber in der Randordnung der Lebenswerte hat man der Gerechtigkeit nicht immer denselben Platz gegeben 1). Ursprünglich trug sie göttliche Züge. Das frühe Griechentum verehrte in Themis und Dike zwei Gottheiten, in deren Wesen schon alles angelegt ist, was wir seither Gerechtigkeit nennen. Die ionische Philosophie bereits verstand das göttliche Wort δίκη


1 „Nicht konstant”... ist „das Denken über die Gerechtigkeit” (Emil Brunner, Gerechtigkeit, Zürich 1943, S. 5).

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im Sinne des „einem jeglichen seinem Wesen gemäß Zukommenden” und somit das Gerechte (τὸ δίκαιον) als Grundordnung oder Urmaß alles menschlichen Daseins, besonders aber der politischen Existenz; freilich stets unlösbar verbunden mit αἰδώς, der ehrfürchtigen Scheu: beide sind nach einem uralten, von Protagoras überlieferten Mythos den Menschen von Zeus, dem höchsten Gott, eingestiftet. In Platons „Dialogen” finden wir die Gerechtigkeit an die Spitze aller Werte gestellt und das Gerechte (τὸ δίκαιον) mit dem Guten (τὸ ἀγαθόν) gleichgesetzt. Δικαιοσύνη, die Gerechtigkeit, erschien ihm als die umfassendste Tüchtigkeit (ἀρετή) des Menschen; ἀνὴρ δίκαιος war nicht nur der Ehrentitel eines rechtlich denkenden Mannes, sondern Inbegriff aller männlichen  Tugend überhaupt. Aber auch in diesem Wort der griechischen Sprache liegt die Frömmigkeit mit darin, wie es Luther richtig verstanden hat, als er δίκαιος im Evangelientext mit „fromm” übersetzte. Aristoteles freilich, der Logiker, hat um der deutlichen Unterscheidung ihres jeweils besonderen Sinnes willen das Fromme und Gute vom Gerechten begrifflich abgetrennt. Aber auch sein auf das Rechtliche im Rahmen des Politischen begrenzter Begriff der δικαιοσύνη ruht auf dem Grunde des Sittlich-Guten und des Göttlichen (τὸ θεῖον). Bis auf den heutigen Tag ist es trotz allen Zerredend ein untrüglicher Gefühlsbesitz des menschlichen Herzens geblieben, daß vom Gerechten nur sprechen kann, wer zugleich das Göttliche ehrt und fürchtet.

Auch in dem engeren Sinn der Gerechtigkeit als oberstem Rechtswert hat sie zwar unterschiedliche Wertung erfahren, aber den Zusammenhang mit dem göttlichen Ursprung nie verloren. Freilich ordneten die späteren Griechen sie den Werten der Besonnenheit und Wahrheit ein und damit die Rechtskunde der Philosophie unter, aber auch das Denken dieser Philosophen war immer auf die Erkenntnis des Göttlichen als oberstes Ziel hin gerichtet. Die Römer wiederum erkannten dem Recht unter allen Gütern des Menschen den höchsten Rang zu und definierten die Jurisprudenz als „vera philosophia”, als die „omnia humanerem divinarumque rerum scientia”. Bei den Israeliten und anderen kleinasiatischen Völkern ging die Gerechtigkeit ganz in der Frömmigkeit auf; demgemäß erschien die Gesetzeskunde als

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Priesterweisheit. Das frühe Christentum verstand nach den Apostelweisungen und der Lehre der Kirchenväter, aber auch Aristoteles folgend, die Gerechtigkeit als selbständigen Wert, als eine unter den Grund- oder Kardinaltugenden des Menschen: Klugheit, Tapferkeit und Mäßigung. Wie es vom Boden des in der Reformation neu ans Licht getretenen Evangeliums erscheint, soll näher in unserem zweiten Vortrag entwickelt werden; hier genügt der Hinweis, daß auch die „iustitia civilis” für Luther wie für Calvin ihre Heiligung und Rechtfertigung vom Wort Gottes her bekommt. In der Neuzeit versuchte man, die Gerechtigkeit als Fundament der sozialen Ordnung aus dem Gedanken der „natürlichen Religion” zu entwickeln. Ihr metaphysischer Charakter ist auch vom modernsten Rationalismus nie geleugnet worden, ja sogar antichristliche Weltanschauungssysteme haben versucht, die Idee der Gerechtigkeit zur Legitimation ihrer Ideologien in Anspruch zu nehmen. Freilich – und das ist entscheidend – wurde in neuerer Zeit der Gerechtigkeit stets ein höherer Wert vorgeordnet; je nachdem man dem Geist, der Vernunft, der Natur, der Geschichte, der Kultur oder einfach der bloßen Macht den Primat zuerkannte.

Auf diese Weise geriet das Recht mitsamt seinem Grundwert in die totale Abhängigkeit von Kulturwerten des Staates, der Rasse, der Gesellschaft, der Tradition; und die Rechtslehre wurde von der Politik, Philosophie, Biologie und Historie übermachtet.

Auf diese Art entstanden und behaupteten sich immer neue Wertungen der Gerechtigkeit, die ihr Wesen mehr verdunkelte als ins Licht gestellt haben. Vielfach sind es geradezu entgegengesetzte Ideale, denen die Idee der Gerechtigkeit angepasst und untergeordnet wurde. So gab und gibt es eine Gerechtigkeitslehre des Nationalismus wie der Humanität, des Imperialismus wie des Pazifismus, des Liberalismus wie des Sozialismus, des Individualismus wie des Kollektivismus; Kirchenstaatstum und Staatskirchentum, Machtstaat und Rechtsstaat beriefen sich auf sie.

 

I. Dieser Pluralismus der Gerechtigkeitsideale hängt damit zusammen, daß wir es beim Rechtlichen mit einem Lebenssachverhalt zu tun haben, der, weil er alle Bereiche des Menschlichen durchzieht, gleichsam alle Menschen angeht. Infolgedessen

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beschäftigt die Frage nach der Gerechtigkeit nicht nur den Mann des Rechts, sondern auch den Arzt oder den Naturforscher, den Philosophen wie den Dichter, den Handwerker und den Künstler, den Lehrer wie den Schüler, den Unternehmer wie den Arbeiter und Angestellten, die Geistlichen und die Laien; alle Stände und Lebenslagen, alle „Weltanschauungen” die „Öffentlichen Meinungen” beteiligen sie, je nach ihrem Lebensgefühl in ganz verschiedener Weise, an der Such nach dem Begriff der Gerechtigkeit. Der Jurist freilich ist unter allen der unzuständigste. Das klingt paradox, ist aber darum nicht minder wahr. Auf den ersten Blick zwar möchte man glauben, vom Juristen werde das Bedürfnis nach einer Gerechtigkeitslehre am stärksten empfunden und sei eine tägliche Nötigung zum Nachdenken über das, was gerecht ist. So ist es aber nicht. Gerade die Juristen beteiligen sich am Wettkampf der Geister um die endgültige Formulierung und Realisierung der Idee der Gerechtigkeit nur zögernd, und viele von ihnen tun es gar nicht. Dafür gibt es manche Gründe. Viele Juristen sind, sei es durch Studien oder praktische Erfahrungen, zu einer lähmenden Einsicht in die Vielfältigkeit und Relativität der Rechtsideale gekommen; sie halten deshalb eine grundsätzliche Lösung des Problems der Gerechtigkeit für unmöglich und begnügen sich mit gesetzestreuen, dem Einzelfall mit Billigkeitserwägungen möglichst gerecht werdenden Entscheidungen 2). Andere lehnen aus einem dem Juristenberuf eigentümlichen Bedürfnis nach strenger intellektueller Redlichkeit und damit verbundene Phrasenscheu die einseitigen Schlagworte, billigen Gemeinplätze und fertiggekauften Definitionen ab, mit denen beschränkte Politiker oder Sektierer ihre Gerechtigkeitsideale zu stützen versuchen. In ihrer Mehrzahl schließlich stehen die Juristen der theoretischen Besinnung über das Wesen der Gerechtigkeit deshalb fern, weil sie spüren, daß die strenge Prüfung dieser Frage an ihre Existenz


2 Sie ersetzen also die „Gerechtigkeit” durch die „Billigkeit”, die schon seit Aristoteles, Nik, Eth. IV, 14 als „Gerechtigkeit des Einzelfalls” bestimmt, später von den römischen Juristen als „aequitas” dem „ius strictum” gegenübergestellt und so bis in die Gegenwart als individueller Härteausgleich nach Brauch, Gesinnung und Umständen der allgemeinen Regel Mäßigung und Milderung für den jeweiligen „Fall” abringt.

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rührt – wobei nicht in erster Linie an die Machtstellung, die sie einnehmen, gedacht ist oder an ihre wirtschaftliche Position, sondern an die geistig-sittlichen Grundlagen ihres Daseins. Jede Besinnung auf das Wesen der Gerechtigkeit nämlich stellt die Grundlagen des Juristentums irgendwie in Frage; sie bezweifelt die „Gegebenheit”, auf welcher die Arbeit des Juristen fußt, und unterwirft seine besondere Denkweise, die „Juristische Methode”, grundsätzlicher Kritik. Der Jurist ist dabei durchaus im Recht, denn so wenig der Naturforscher einem allgemeinen Naturbegriff nachfragt, vielmehr beobachtet, experimentiert, beschreibt und erklärt und dabei die „Natur” als Gegebenheit der Erfahrung voraussetzt, so verfährt auch der Jurist. Er muß, um überhaupt seine Arbeit leisten zu können, die Gerechtigkeit oder Richtigkeit des ihm gegebenen Rechts im Sinne eines Inbegriffes von Gesetzen, Einrichtungen und historischen Tatsachen (Verträgen, Vereinbarungen, Verfügungen, Verordnungen und dergleichen) voraussetzen. Eben diese Haltung verwehrt ihm den Zugang zum Wesen der Gerechtigkeit, die ja Grundordnung und Richtschnur alles dessen ist, was sie „für Recht ausgibt”, und sie hindert seinen Einstieg in das Problem der Gerechtigkeit: ihre Unbestimmtheit und Fragwürdigkeit. Es ist daher kein Zufall, daß die Römer in der älteren, klassischen Zeit ihres Rechtsdenkens das Gerechtigkeitsproblem nicht aufgeworfen haben, ja recht eigentlich gar nicht kannten. Denn sie waren die ersten „Juristen” in jenem bestimmten Sinn des Wortes, wie wir es noch heute verstehen.

Gerechtigkeit verhält sich eben zum Recht in einem kritischen Abstand der Überordnung und des Vorrangs. Ist sie doch das Richtmaß des Rechts, seine norma normans; nicht anders wie die Wahrheit für die Wissenschaft und die Schönheit für die Kunst Richtmaß ist. Und wie der Künstler oder der Forscher zu Philosophen werden – und in diesem Augenblick eben nicht mehr Künstler oder Forscher sind –, wenn sie das Problem des Schönen und Wahren „an sich” bemerken, so wird der Jurist, der über Gerechtigkeit grundsätzlich nachdenkt, den Maßstab dafür nicht in der Jurisprudenz finden können.

Damit haben wir einer ersten Ansatz für die Beantwortung unserer Frage gewonnen: Das Wesen der Gerechtigkeit kann niemals vom Recht her definiert werden; weder von dem, was Recht

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„ist” (Gesetz, Gewohnheit, Richterspruch), noch von dem, was Recht „setzt” (Staat, Korporationen, Verbände), noch von dem was Recht „fordert” (Interessenten, Ideologien). Vielmehr muß alles, was sich für Recht ausgibt, von der Gerechtigkeit abgeleitet sein und vor ihr sich rechtfertigen: „Est autem ius a iustitia, sicut a matre sua”, wie es der aus griechischer Quelle stammende Römerspruch 3) sagt. Der Jurist muß, will anders er etwas vom Wesen der Gerechtigkeit erfahren, aus dem Gehäuse seiner Wissenschaft und ihrer Methode, aus dem Bann seiner praktischen Erfahrung oder Wünsche heraustreten. Sonst kommt er nicht hinweg über jene viel gescholtene (innerhalb ihrer Grenzen freilich durchaus berechtigte) Einstellung, welche man „Positivismus” nennt. Das meint eine Gleichsetzung von Recht und Gerechtigkeit, die behauptet: Gerechtigkeit sei schon überall und nur da, wo Recht gesetzt, gesprochen, gefordert oder gelehrt wird gemäß den Satzungen, Regeln und Bräuchen, die in einer konkreten Lage für Recht gehalten oder ausgegeben werden.

Gerechtigkeit kann also ihrem Wesen nach niemals bestimmt sein: weder durch den Wortlaut noch durch den Sinn oder Zweck eines Gesetzes (ratio legis) oder sonstigen Rechtssatzes; auch nicht durch seinen Nutzen; ebensowenig durch die Geschichtlichkeit (Ursprung und Dauer) der Geltung von Rechtsnormen oder -einrichtungen; noch auch durch den Willen einer jeweils herrschenden politischen Macht, sozialen Ideologie oder wirtschaftlichen Interessenlage, insofern diese sich in einer bestimmten nationalen oder internationalen Rechtsordnung ausprägt oder diese gestalten will. Wenn Gerechtigkeit aber eine absolute Wertidee ist, die das Recht rechtfertigt, so kann auch keine andere Wertidee ihr den Inhalt, das Maß und die Richtschnur geben: weder die Idee der Geschichte noch die der Natur, weder das Ideal der Nation noch das der Menschheit, weder eine wirtschaftlich-liberale noch eine sozialistische Zwecksetzung noch irgendein Modell politischer Verfassung. Im letzten Grunde kann kein Rechtsideal die Rechtfertigung des Rechts wahrhaft leisten. Denn jede dieser das recht begründenden Wertungen bleibt gegenüber der andern von nur relativer Gültigkeit; jeder kann von der andern her radikal widersprochen


3 Glosse zu D 1, 1, 1, 1: „ergo prius fuit iustitia quam ius.”

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werden, und sobald eins dieser Ideale sich als die absolute Gerechtigkeit behauptet, ist seine Ungerechtigkeit offenbar.

Nun könnte freilich behauptet werden: die Pluralität der Gerechtigkeitsideale und ihre Widersprüchlichkeit schließe nicht aus, daß eines unter ihnen das richtige sei, so wie unter Nathans des Weisen drei Ringen einer der echte und rechte gewesen ist. Jedoch ist es gerade der Sinn der Lessingschen Fabel, daß dies verborgen bleibt; weil es letztlich gleichgültig bleiben soll, ob einer der Ringer der echte was. Es kommt den Dichter nämlich nur auf die Lehre an, daß, wenn jeder sich subjektiv so verhält, wie es die objektive Kraft des echten Ringes bewirken soll, diese Kraft selbst dann in Erscheinung tritt, wenn alle drei Ringe falsch sind. Wenn jeder gleichsam von sich aus leistet, was die objektive Kraft des Ringes schenken könnte, bedarf es dieser schenkende Kraft nicht mehr. Das würde für unser Problem bedeuten, daß es auf die objektive Verschiedenheit der Gerechtigkeitsideale gar nicht ankomme, wenn nur jeder den Blick fest auf den geglaubten Wert der Gerechtigkeit richte, der sich (vielleicht) irgendwo hinter all den einzelnen Wertungen verbirgt, und sich danach verhalte. Aber die Frage ist ja gerade die, ob sich einer „gerecht” verhalten kann, ohne zu wissen was „das Gerechte” ist, auch wenn er noch so fest daran glaubt, daß es irgendwo und irgendwie ist. Wer wissen will, was das Gerechte sei, darf nicht (wie das Reichsgericht es tat 4) der Inhaltsbestimmung mit einem Hinweis auf die Meinung der „gerecht und billig Denkenden” ausweichen, denn die Aussage, daß jemand ein Gerechter ist, setzt das Wissen um einen objektiven Gerechtigkeitsinhalt voraus.

Auch der Versuch, ein „materiales Rechtsapriori” zu behaupten, führt aus diesem verhängnisvollen Zirkel nicht hinaus. Sobald eine derartige These gewagt wird, setzt sie ganz bestimmte anthropologische Grundlagen im Rahmen einer systematischen Ontologie voraus, nicht anders wie jedes „formale Rechtsapriori” im Rahmen der Logik einer bestimmten Erkenntnistheorie hängt. Es ist nicht erkennbar, wie von hier aus die Frage nach der Rechtfertigung des ontologisch bestimmten Im-Recht-seins, Ins-Recht-setzen und Im-Recht-lassens wirklich befriedigend beantwortet werden könnte. Alle derartigen Versuche: aus dem Dasein des Volkes, der Rasse,


4 RGZ 80, S. 221; 128, S. 96.

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der Klasse, einer Gemeinschafts- oder Kulturganzheit das Wesen des richtigen Rechts phänomenologisch zu entfalten, ließen entweder die Rechtfertigungsfrage unbeantwortet, oder sie entwesten sie durch Ineinssetzung von Sein und Sollen, Freiheit und Notwendigkeit, Rechtfertigung und  Recht.

 

II. Zur Befestigung dieser Einsichten erinnern wir uns in kurzer Überschau der theoretischen Versuche, das Wesen der Gerechtigkeit „weltanschaulich” (wie man sagt) zu bestimmen. Es hat sich nämlich trotz der Wandelbarkeit des Inhalts der Idee der Gerechtigkeit und ihrer Einschätzung für das persönliche wie für da soziale Leben im Lauf der abendländischen Geistesgeschichte eine gewisse Konstanz der Ausgangspunkte und Frageweisen gezeigt, von denen aus man zu so verschiedenartigen Deutungen des Wesen der Gerechtigkeit gekommen ist. In ihnen offenbart sich ein immer gleich starkes Bedürfnis zu wissen, zu sagen und zu tun, was gerecht ist, und eine immer gleich große Not, es im Grunde nicht wissen, nicht sagen und nicht tun zu können.

Gemeinsam ist allen diesen Bemühungen die Tendenz der Zurückführung aller Rechtsordnung auf einen Grund oder Ursprung absoluter, angeblich weiterer Begründung oder Rechtfertigung unbedürftiger Wesensart. Es ist also gleichsam die „Unordnung” 5), welche man zu bestimmen sucht, weil das Bestehen irgendwelcher sozialer Ordnungen ohne Begründung durch eine Wandel der Wirklichkeiten und Wertungen entzogenen Unordnung unerträglich wäre. Dabei ist an einen geistigen Ursprung gedacht und zumeist nicht oder erst in zweiter Linie an eine „Quelle” im Sinne natürlicher oder geschichtlicher Entstehung. Denn es geht nicht um den „Ursprung” des Rechts im Sinne einer ursächlichen Erklärung, sondern einer es legitimierenden Rechtfertigung. Je nachdem diese Legitimation, dieses Richtmaß und diese Richtschnur alles Rechts in der Gesetzlichkeit (Ordnung) der Natur, der Vernunft, der Geschichte oder der Religion erblickt wird, erscheint die Gerechtigkeitslehre im Gewande des „Naturrechts”, „Vernunftrechts”, der „historischen” oder der „metaphysischen” Rechtsauffassung.

 

1. Der Gedanke des Naturrechts ist so vieldeutig wie der Naturbegriff selber, meint aber im Grunde immer das gleiche:


5 Diesen sehr treffenden Ausdruck gebraucht E. Brunner, a.a.O., S. 21/22.

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nämlich eine unveränderliche, unveräußerliche, dauernd gültige Ordnung oder Gesetzlichkeit innerhalb der Erfahrungswelt, der Wirklichkeit des Kosmos. Der Gedanke stammt von den Griechen, die jenes Urmaß, das allem und jedem Seienden eingestiftet ist, „φύσει δίκαιον” nannten. Von ihnen haben es die Römer als „ius, quod natura omnia animalia docuit” übernommen; und das Christentum hat dieses „ius naturae” anerkannt durch den Apostel Paulus als „lex, non in aere aut tabulis, sed in mentibus omniorum insita”, ordnete es aber dem offenbarten Gottesgesetz (lex aeterna sive ius divinum) unter und verstand es als Inbegriff der Ordnungen von Gottes Schöpfung. Freilich ergeben sich – und nicht erst in der Neuzeit, die einen vom Schöpfungsgedanken gelösten mechanistischen oder biologischen oder auch soziologisch eingeengten Naturbegriff hat, – innerhalb der Naturrechtsidee große Unterschiede. So hat schon das griechische Rechtsdenken die Herrschaft des von Natur Starken ebenso auf das φύσει δίκαιον begründet wie den Anspruch auf den Schutz des Schwachen. Die natürliche Triebhaftigkeit erschien auch den Römer nicht weniger als „Naturgesetz” als die natürliche Schamhaftigkeit oder Sittlichkeit. Innerhalb des christlichen Denkens hat man geschwankt, ob das Naturrecht des „status integritatis” oder das „relative” Naturrecht des Sündenstandes innerhalb der gefallenen Schöpfung maßgebend sei, und man hielt die eigentlichen Naturgesetze nicht minder für Naturrecht wie den Dekalog. Im Laufe der neueren Zeit hat man den fürstlichen Absolutismus so gut wie die unmittelbare Demokratie, das ius maiestatis so gut wie das ius revolutionis, das Recht auf Arbeit wie das Recht auf Zinsgenuß, den Individualismus wie den Kollektivismus, den Krieg wie den Frieden auf einen den „Naturgesetzen” entsprechenden Ur- oder auch Idealstand begründet. So birgt die Naturrechtslehre in sich unvereinbare Widersprüche. Sie kann im guten Sinne gebraucht wie im bösen mißbraucht werden, je nachdem es der zugrunde gelegte, schillernde Begriff der „Natur” erlaubt.

 

2. Darum sollte man glauben, daß der Gedanke des Vernunftrechts, das auf die unter sich übereinstimmenden Erkenntnisse und Sätze der menschlichen Ratio gegründet ist, mehr Aussicht auf Einheitlichkeit und eine sichere Grundlage für das

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Rechtsdenken biete. Aber auch hier zeigen sich bei näherem Hinblick große Schwierigkeiten.

Begreift man die Vernunft im Sinne der praktischen Verständigkeit oder Lebensklugheit des gesunden Menschenverstandes (common sense), so ergibt sich als Inhalt des Vernunftrechts und damit der Gerechtigkeit eine platte Nützlichkeit, ein ziemlich oberflächliches System von Verkehrsgrundsätzen und Klugheitsregeln, das einer tieferen Vernunftkritik nicht standhält und auf einen spießigen Moralismus hinausläuft.

Nicht minder als dieser Utilitarismus ist sodann der sogenannte Rationalismus unfähig, eine inhaltliche Gerechtigkeitslehre zu stützen. Denn die reine Logik vermag nur Denkformen herauszuarbeiten, nach denen begrifflich als „Recht” bestimmt werden kann, was sich für Recht ausgibt. Die Gerechtigkeit aber ist „Idee” und nicht „Begriff” des Rechts, und die formalen Möglichkeiten, unter denen etwas überhaupt als Recht gedacht werden kann, besagen nichts über seinen Wert und seine Rechtfertigung. Das rationalistische Vernunftrecht kommt deshalb mit seiner Gerechtigkeitsbestimmung nicht weiter als zu einem „Naturrecht mit wechselndem Inhalt” (Stammler); dieser Ausdruck umschreibt aber bloß die Forderung, daß es Gerechtigkeit als Richtmaß des Rechts geben müsse, ohne zu sagen, worin seine Richtschnur zu finden ist. Oder sie endet in der lauen Forderung formal widerspruchsfreien Aufbaus der Rechtsordnung (Kellen); dieses logisch befriedigende System verpflichtet aber zu nichts und niemand.

Versteht man schließlich unter „Vernunft” nicht praktische Verständigkeit oder formale Denkregeln, sondern den „Geist” selber, so vermag auch dieser Idealismus nicht mehr zu leisten, als der Gerechtigkeit im Rahmen eines auf bestimmten Voraussetzungen aufgebauten philosophischen Systems ihren Ort anzuweisen. Es ist dann ein gewisses Kulturideal gemeint, das dem Recht seine Rechtfertigung geben soll; etwa die „Freiheit” (Fichte), der „objektive Geist” (Hegel), die „Autorität” (Stahl) oder die „Humanität” (M.E. Mayer). Da kein idealistisches System den prinzipiellen Vorrang seiner Ethik vor der des andern oder eines erst zukünftig zu entwerfenden beweisen kann, bleibt jede

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idealistische Bestimmung der Rechtsidee (außerhalb des jeweiligen Weltanschauungssystems) unverbindlich.

 

3. Wer die Relativität der philosophischen Systeme einsieht und andererseits einem unkritischen Dogmatismus des „gesunden Menschenverstandes” sich nicht beugen will, wird vielleicht mit der Historischen Rechtsschule zu der Überzeugung kommen, daß das Recht als geschichtliche Erscheinung nur durch die Geschichte selbst begründet und gerechtfertigt werden könne.

Dieser Historismus versucht eine Gerechtigkeitslehre in drei Richtungen zu entwickeln. Die erste sieht in der Tradition den alleinigen Rechtfertigungsgrund des Rechts: nur das legitime Recht, nicht das bloß legale, sei gerecht. Dabei gedenkt man des „guten, alten Rechts”, wie es seit Vorväterzeiten geübt wurde und im Volksgeiste lebt. Für diese Auffassung ist Kennzeichen der Richtigkeit eines Rechts, daß es „organisch” gewachsen ist im Unterschied zu einer erdachten und planmäßigen Gesetzgebung. Folgerichtig wird von den Anhängern dieser Lehre das Vorbild des wahren und wirklichen Rechts in den primitiven Urzeiten des Menschengeschlechts oder wenigstens in den Anfängen der jeweiligen nationalen Kultur gefunden. Indessen spricht das höhere Alter eines Rechts nicht immer für seinen Wert: Vernunft kann Unsinn, Wohltat Plage werden, und die Aneignung einer fremden Rechtskultur kann auch einmal (unter besonderen Umständen) der Entfaltung der Rechtsidee dienen. Ganz anders wie dieser, der Romantik entsprungene, Historismus begründet eine entschlossen diesseitig ausgerichtete Geschichtsmetaphysik alles Recht auf das nackte Dasein und seine Selbsterhaltungstriebe. Recht erscheint dann alles, was die jeweiligen Umstände fordern, was der „Vernunft der Lage” (ragione di stato) gemäß ist. Die Gerechtigkeit fällt dann mit der Staatsräson zusammen, als ihr legitimierender Grund erscheint die bloße Macht eines Herrschenden. Diese Gerechtigkeitslehre lebt vom Idol einer sich selbst rechtfertigenden Gewalt, deren Kraft ausreicht, um ihren Willen für Recht auszugeben und als solches durchzusetzen. Diese Lehre setzt den sichtbaren Erfolg zum sinngebenden Prinzip der Geschichte und identifiziert recht eigentlich die Idee der Gerechtigkeit mit der des Staatsnutzens; denn nach der Idee der Staatsräson ist das

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größte Unrecht gerechtfertigt, wenn und solange es sich dem Staat als nützlich erweist. Freilich wird keine Rechtsordnung jemals ohne Nützlichkeitserwägungen und rein technische Bestimmungen auskommen; schon um der notwendigen Rechtssicherheit willen muß auf materielle Gerechtigkeit im Einzelfall da und dort verzichtet werden. Indessen wird man nie sagen dürfen6), daß wenigstens noch Rechtssicherheit herrsche, wo ein ungerechtes Normensystem sich als geltende Zwangsordnung zu behaupten vermag. Wer meint, es liege doch noch ein Ethos darin, weil auch die ärgste Ordnung immer noch besser sei als die völlige Anarchie, gebraucht einen formalistischen, für die Lenkung der sozialen Wirklichkeit unbrauchbaren, weil sittlich indifferenten, Ordnungsbegriff. Die dritte Möglichkeit endlich, das Wesen der Gerechtigkeit in einer Form des geschichtlichen Daseins zu suchen, ist die Rechtslehre der Revolution. Sie richtet den Blick in die Zukunft, die den Zustand wahrer Gerechtigkeit bringen soll, in der Weise, daß die bestehende Rechtsordnung auf Grund eines revolutionären Prinzips geändert wird. Die künftige Gesellschaftsordnung soll dann einen Idealzustand schaffen, ein irdisches Paradies, in dem volle Gerechtigkeit jedem und allem zuteil wird. Es leuchtet ein, daß eine Rechtfertigung des Rechts auch aus diesem Gedanken nicht gewonnen werden kann, weil jeder revolutionären Ideologie von einer entgegengesetzten widersprochen werden kann und keine den absoluten Gerechtigkeitswert für sich zu behaupten vermag. Die Revolution selbst aber, den unaufhörlichen Wechsel der Standorte, die „pure Aktion” zur Rechtsgrundlage machen, hieße, den Begriff des Rechts, dem der Anspruch auf dauernde Geltung wesenhaft innewohnt, in sich selbst aufheben.

 

4. Gegenüber allen diesen Versuchen, das Wesen der Gerechtigkeit immanent zu begründen und von Menschen her zu bestimmen, steht die Gerechtigkeitsauffassung des Christentums, das alles menschliche Recht unter die Leitung und Rechtfertigung einer


6 Diese Gleichordnung des Gerechtigkeitswertes mit der Rechtssicherheit bei G. Radbruch („Rechtsphilosophie”), 3. Auflage 1932. S. 70 f., erscheint auch deshalb unbefriedigend, weil die „Rechtssicherheit” eben nur dort einen „Wert”Charakter hat, wo sie einen gerechten Zustand erhält.

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jenseitigen, alle menschliche Wertsetzung überwindenden7) Ordnung stellt. Insoweit darf die christliche Lehre von der Gerechtigkeit nicht in diesem Zusammenhang der innerweltlichen Rechtsideale erörtert werden, denn sie ist kraft ihrer wertüberwindenden Grundlage keine Wertposition neben und unter andern. Es gibt aber eine religiöse Rechtsauffassung, der vorchristlicher oder widerchristlicher Art ist, weil von der biblischen Offenbarung her gesehen alle „Religion”, die von Menschen ausgeht, aufgehoben ist. Drei verschiedene Auffassungen einer derart „religiös” begründeten Gerechtigkeit sind möglich und auch geschichtlich in Erscheinung getreten. Die älteste geht von der Annahme eines unmittelbar von den Göttern gesetzten oder einem Stamm, einem Volk, einer Polis eingestifteten göttlichen Rechts aus. Man versteht darunter eine Summe von Rechtssätzen, die mit unbedingter Verbindlichkeit für die Menschen ausgestattet sind; sie gelten als unumstößliche Grundlage aller menschlichen Rechtssetzung und Rechtsprechung. Sie bilden einen Kodex „ewigen Rechts”, einen Thesaurus iustitiae, der erschöpfend und maßgebend zugleich ist. Göttliches Recht dieser Art findet sich in zahlreichen Bestimmungen des jüdischen Talmud, im Koran der Mohammedaner und in den indischen Quellen. Das Mosaische Gesetz darf man nur insoweit mitnennen, als es nicht vom Neuen Testament her, also nur soweit es unchristlich verstanden wird.

Schon die spätantiken Denker, besonders die Philosophen der Renaissance- und Aufklärungszeit, haben eine zweite religiöse Lehre vom Wesen der Gerechtigkeit entwickelt. Ihr Ausgangspunkt ist die Überzeugung von einem im Menschen lebenden „göttlichen Funken”, der ihn befähigt, die von seiner Vernunft erzeugten Gedanken vom Gerechten als göttlicher Art zu behaupten, insofern nämlich, als diese Gedanken einer von der Vernunft entwickelten und bewiesenen Idee Gottes oder des Göttlichen entsprechen. Inhaltlich fällt diese auf den Gedanken der natürlichen Religion begründete Gerechtigkeitslehre mit der des philosophischen


7 Diesen Gegensatz zwischen wertenden Kulturstandpunkten und der wertüberwindenden Haltung des Christentums hat zuerst G. Radbruch a.a.O., S. 1 ff., kritisch herausgearbeitet.

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Idealismus zusammen, weil die natürliche Gottesidee ein philosophischer Gedanke ist, der kein System begründet, sondern jedem an irgendeiner Stelle eingebaut wird oder wenigstens eingebaut werden kann. Von göttlicher Gerechtigkeit wird endlich bisweilen in einem Sinne gesprochen, den man mit der Bezeichnung Vergötzung am besten trifft. Denn hier geht es um den besonders in neuester Zeit gemachten Versuch, einem vom Staate gesetzten Recht oder dem in einem Volksbewußtsein lebenden Brauchtum „numinosen” Charakter zu verleihen. Man sprich dann von der „göttlichen Sendung” des gesetzgebenden Staatsmannes, der in einem „höheren Auftrag” gehandelt habe oder dem ein besonderes „Charisma” eigen gewesen sei. Man glaubt, daß es einen „Volksnomos” gebe, der als göttliche Einstiftung alle einzelnen unbedingt verpflichte. Ja, man vergottet schließlich den (historische vielleicht weit zurückliegenden) Urheber einer Rechtsordnung, um dieser die Weihe religiöser Verbindlichkeit, absoluter Gerechtigkeit zu verschaffen.

 

5. Es läßt sich leicht einsehen, daß alle diese so verschiedenartigen Versuche, den Rechtsgedanken an einer bestimmten Wertidee auszurichten, von den jeweiligen Zeitströmungen und gewissen nationalen Eigenheiten oder Schicksalen abhängen. Sie stehen aber auch in Beziehung mit Lebensart und Lebensgefühl derer, die sie aufstellen. Ein Naturforscher wird das Naturrecht in einem andern Sinn auffassen und bejahen als ein Dichter; ein Philosoph wird am leichtesten im Vernunftrecht, ein Priester in der Göttersatzung, ein Politiker in der Idee der Staatsräson, in einem Verfassungsmodell oder in einem revolutionären Grundsatz sein Gerechtigkeitsideal finden. So erweist sich, daß jedem Gerechtigkeitsideal ein Wunschbild zugrunde liegt; es ist die subjektive Spiegelung nicht nur einer Weltanschauung, sondern einer individuellen Lebenssituation. Wirft sie sich zum Richtmaß für alle andern auf, so fällt sie bereits mit diesem Anspruch vom Wesen der Gerechtigkeit ab.

 

III. Danach scheint es, als vertrage der Gedanke der Gerechtigkeit überhaupt keine inhaltliche Bestimmung, ohne entwest, entstellt, gefährdet oder gar aufgehoben zu werden. Dieser Einsicht ist man schon früh inne geworden, und aus ihr hat sich die Lehre

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vom ausschließlich formalen Charakter der Gerechtigkeit entwickelt.

Formal bestimmt sich die Gerechtigkeit als Idee, Prinzip oder Richtschnur des Rechts. Recht aber ist die Zusammenordnung der Menschen zu gemeinsamem Leben. Um gerecht zu sein, muß diese Ordnung nach den von Platon und Aristoteles erkannten Wahrheiten, die bis heute gültig geblieben sind, dreierlei leisten. Erstens muß die Rechtsordnung „jedem das Seine” zukommen lassen; das bedeutet einmal: „Jeder muß das Seine tun” (τὸ τὰ αὐτοῦ πράττειν)8); zum andern: „Jeder muß jedem das Seine geben und lassen” (suum cuique tribuere)9).

Zweitens muß die Rechtsordnung dafür sorgen, daß „Gleiches gleich” behandelt wird; das meint die sogenannte „ausgleichende Gerechtigkeit” τὸ δίκαιον διορθωτικόν = iustitia commutativa) — und sie muß dafür sorgen, daß „Ungleiches ungleich” behandelt wird; das meint die sogenannte „austeilende Gerechtigkeit” (τὸ δίκαιον διανεμητικὀν, iustitia distributiva)10). Drittens muß die Rechtsordnung von Menschen getragen sein, die eine Haltung verkörpern, die man als Rechtsgesinnung, Rechtsgefühl, Rechtlichkeit bezeichnet, welche die Griechen δικαιοσύνη nannten und der Römer Ulpian als ein beständiges und dauerndes Wollen (constans ac perpetua voluntas) definierte11), darauf gerichtet, innerhalb der Rechtsordnung die beiden objektiven Funktionen der Gerechtigkeit zu erfüllen; dies ist die Gerechtigkeit im subjektiven Sinn.

 

1. Was heißt das nun: „jedem das Seine” zukommen lassen? Was ist „das Seine”? Antwort darauf gibt die formale Gerechtigkeitslehre nur mit einem Hinweis auf die zweite Funktion der Rechtsidee, die sich damit als nähere Bestimmung der ersten enthüllt: das Gleiche ist nämlich das, was auch jedem andern (als das Seine) zukommt; das Ungleiche aber ein spezifisch Meines, das (als das Seine) keinem andern (so) zukommt. Das „Seine” im Sinne des Gerechten kann also sowohl das Gleiche als auch das Ungleiche sein, Gerechtigkeit ist nicht einfach mit Gleichheit


Platon, Politeia IV, 433b.
9 Cicero, De finibus V, 23.
10 Aristoteles, Nik. Eth. V, 7, 1131b.
11 Dig., 1, 1, 10.

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identisch. Darüber hinaus läßt sich nur noch sagen, daß sowohl das Gleiche wie das Ungleiche als das jeweils Zukommende ein wesensmäßig-gefügtes und -gefordertes, kein willkürlich-beliebig Zugeteiltes sein muß. Was aber jeweils das „Wesen” eines Seienden als ihm Zukommendes fügt und fordert, läßt sich formalster ohne vorherige verbindliche Aussage über das Wesen (Sein) des Menschen selbst nicht ausmachen. Hier stoßen wir an die Grenze der Leistungskraft der formalen Idee der Gerechtigkeit. Zunächst gilt es aber, näher einzusehen, was es überhaupt bedeuten kann, (wesensmäßig) für gleich und (wesensmäßig) für ungleich Erkanntes dieser Einsicht gemäß zu behandeln.

2. Zwei Gedankenreihen sind durchzuführen:

a) Die „absolute” Gerechtigkeit, die jedem das Gleiche gibt, nimmt oder läßt, setzt notwendig nicht nur Gleichheit der zu verteilenden Gegenstände, sondern auch der von der Verteilung betroffenen Personen voraus, denn ungleichen Menschen das Gleiche zuzuteilen oder gleichen Menschen Ungleiches würde dem (hier absolut geltenden) Grundsatz der Gleichheit widersprechen. Aristoteles hat diese Art von Gerechtigkeit als arithmetische Proportion bestimmt, daß heißt als zahlenmäßige Identität der zukommenden Teile, zum Beispiel: drei Kinder erhalten von sechs Kuchenstücken je zwei, zwölf Kinder je ein halbes. Er begriff daher das „Gleiche” (τὸ ἴσον) als das exakt bestimmte „Mittlere” (τὸ μέσον) zwischen dem zu wenigen und zu vielen. Die Funktion der Rechtsordnung, dieses Mittlere jeweils ausfindig zu machen, nannte er die „ausgleichende” Gerechtigkeit (τὸ δίκαιον διορθωτικόν). Diese einfache oder absolute Gerechtigkeit, die jedem (als das Seine) ein Gleiches gibt, hielt Aristoteles nur auf die Privatverhältnisse der Menschen untereinander für anwendbar. Diese privatrechtliche Gerechtigkeit gilt nach ihm ausschließlich für den Verkehr mit Gütern (Sachen). Nur bei Vermögensgegenständen lasse sich der Welt ziffernmäßig angeben und daher nur in Bezug auf Sachgüter wirklich jedem das Gleiche geben; dabei ging er von der Voraussetzung aus, daß im privatrechtlichen Verkehr alle einander gleich geachtet werden. Aber abgesehen von der Tatsache, daß es auch im Bereich des Öffentlichrechtlichen bisweilen um den Ausgleich von Vermögenswerten geht und zahlreiche

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Privatrechte außerhalb dieses Bereiches liegen, zeigt sich die Grenze und das Ungenügen dieser Unterscheidung schon bei den Fragen des Schadenersatzes, überhaupt des Deliktrechts, obgleich Aristoteles gerade an diese Fälle gedacht hat. Denn bei der Schadensverteilung, wie auch bei allen nicht auf bloßen Güteraustausch gerichteten schuldrechtlichen Verhältnissen, läßt sich absolute Gleichheit nie errechnen (etwa in Bezug auf Leistung und Gegenleistung in Dienst- oder Werkverträgen). Andererseits gibt es Fälle außerhalb des Privatrechts, wo der Grundsatz absoluter Gleichheit der Verteilung Anwendung findet und nur seine Anwendung wirklich gerecht erscheint, zum Beispiel im Wahlrecht, wo sich die Gleichberechtigung wirklich durchführen läßt. Der Grundsatz der absoluten einfachen Gleichheit hängt also einmal von seiner tatsächlichen Durchführbarkeit ab, nämlich von der Möglichkeit der Annahme einer Gleichheit des zu Verteilenden wie derjenigen, an die es verteilt wird; zum andern von einem Auswahlprinzip, das darüber entscheidet, ob im konkreten Fall etwas als gleich bewertet werden soll, obgleich es auch anders sein könnte.

Einem feineren Empfinden wird dieser Grundsatz deshalb nie völlig genügen, weil eine vollkommene Gleichheit nicht einmal zwischen Gütern, geschweige denn zwischen Menschen besteht. Indessen ist das kein Einwand gegen die Anwendung des Gleichheitsgrundsatzes in allen den Fällen, in denen es auf eine gewisse Schematisierung gerade ankommt: so soll beispielsweise das allgemeine und gleich Wahlrecht davon absehen, daß die Menschen ungleich sind. Die Rechtfertigung dieses Verfahrens liegt darin, daß man von jedem Gut und von jedem Menschen immer in gewisser Hinsicht sagen kann, daß sie einem andern gleich sind, in gewisser Hinsicht aber auch nicht. Es kommt also für die Entscheidung darauf an, ob die relative Gleichheit im gegebenen Fall wesentlicher und wichtiger erscheint oder die relative Ungleichheit.

 

b) Alles drängt demnach zur Ergänzung der grobmaschigen, allgemeinen, ausgleichenden Gerechtigkeit durch eine differenzierte, spezielle und austeilende. Sie geht davon aus, daß alle Beziehungen zwischen Mensch und Mensch solche unter (in bestimmter

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Hinsicht) Ungleichen sind und die Gerechtigkeit daher verlangen muß, daß sie (in Bezug auf diese Hinsicht) ungleich behandelt werden. Aristoteles hat versucht, diese Art der Gerechtigkeit als geometrische Proportion zu begreifen, das heißt als qualitative Identität der zukommenden Teile, zum Beispiel: A erhält im Verhältnis zu B das Doppelte, wenn er das Zwiefache leistet. Diese relative Gerechtigkeit, die jedem (als das Seine) ein Ungleiches gibt, nimmt oder beläßt, gilt nach Aristoteles für die öffentlich-rechtliche Stellung, die jedem in der Gesellschaft zukommt; sie ordnet die Wertverhältnisse der Menschen zueinander. Bedarf es zur Anwendung der einfachen Gleichheitsgerechtigkeit nur der vertraglichen Übereinkunft zweier Personen, die sich wechselseitig das absolut Gleiche versprechen, so setzt die Anwendung der relativen, differenzierenden Gerechtigkeit drei Personen voraus, von denen die eine das Verhältnis der beiden anderen zueinander bestimmt. Gemeint ist hier also die obrigkeitliche und richterliche, entscheidende Gerechtigkeit, nicht die privatrechtlich vertragliche; sie will festsetzen und danach zuteilen, nicht vergleichen und danach ausgleichen. Sie gilt stets im Verhältnis von Über- und Unterordnung, wogegen die einfache Gerechtigkeit eine Nebenordnung voraussetzt. Sie schafft eine Verordnung der Gleichberechtigten, von der die ausgleichende Gerechtigkeit ausgehen muß, wenn sie Gleichen das Gleiche geben will.

Aber nun fragt sich alsbald, ob nicht diese (im Ganzen des Gesellschaftsaufbaus notwendige) Ungleichheit der Menschen, die sich im Unterschied von Regierenden und Regierten, Bevorrechtigten und Minderberechtigten ausdrückt, wieder einer Korrektur bedarf im Hinblick auf das, worin eben alle Menschen gleich sind. Damit ist das Problem der sogenannten „Grundrechte” gestellt. Denn auch im öffentlichrechtlichen Bereich ist ein gewisses Maß von Gleichheit unerläßlich und das Rechtsgefühl fordert sie, zum Beispiel Gleichheit vor dem Gesetz. Auch das Prinzip der relativen Gerechtigkeit kann also für sich allein die Antwort auf unsere Frage nicht geben.

Überhaupt bleiben, wenn man sich auf dem Boden der formalen Gerechtigkeitslehre bewegt, stets folgende Fragen offen, ohne deren Beantwortung das Problem der Gerechtigkeit an entscheidender Stelle ungelöst erscheint: Wonach soll entschieden werden und wer

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soll entscheiden, wer und was als gleich, wer und was als ungleich zu gelten hat? Wenn und wie ist die trotz vorhandener Gleichheit in bestimmter Hinsicht bestehende Ungleichheit zu berücksichtigen oder für maßgebend zu halten; wann und wie die trotz bestehender Ungleichheit in bestimmter Hinsicht vorhandene Gleichheit? Wonach entscheidet sich, wenn Menschen ungleich behandelt werden sollen, die Art ihrer Behandlung?

Es ist unmittelbar einsichtig, daß diese Fragen nur dann eine Antwort finden können, wenn darüber Auskunft erteilt wird, wann und warum im einen Fall die Gleichheit, im andern Fall die Ungleichheit als gerecht erscheint; das will sagen: wann es dem „Wesen” von Menschen oder Dingen entspricht, sie im Verhältnis zu andern trotz relativer Ungleichheit absolut gleich, trotz relativer Gleichheit absolut ungleich zu behandeln. Das führt wieder auf die Frage, was jeweils jedem „das Seine” (nämlich das ihm wesengemäß Zukommende) ist, und damit stehen wir wieder vor der Notwendigkeit einer inhaltlichen Bestimmung des Gerechten.

Der Erkenntniswert der Lehre von der formalen Gerechtigkeit ist durch diese Überlegungen als ein begrenzter erkannt. Sie bietet uns das richtige Denkmodell, den formellen Maßstab, nach dem jede inhaltliche Gerechtigkeitslehre notwendig verfahren muß; mehr allerdings nicht. Sind wir damit am Ende unserer Möglichkeiten?

 

IV. Ein bloßer Rückgriff auf die durchgesprochenen Typen materialer Rechtsideale kann uns freilich nichts helfen. Denn die Entscheidung für eines von ihnen ruft sogleich den Widerspruch eines andern hervor und stellt damit das Problem der Gerechtigkeit nur auf einer neuen, höheren Ebene dar. So bleibt es bei dem Ergebnis: Selbstrechtfertigung des Rechts ist unmöglich, Fremdrechtfertigung führt zur Konkurrenz nur relativ gültiger Werte. Folglich kann das absolute Wesen der Gerechtigkeit inhaltlich nicht „weltanschaulich”, also nicht immanent bestimmt werden; es ist transzendent.

Es gibt für den „natürlichen” Menschen keinen Zugang zur absoluten Gerechtigkeit als in der Transzendenz, im „Übergang” ins Reich Gottes. Das geschieht freilich nicht vom Menschen selber

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aus, im Zuge einer approximativen Perfektion, die zuletzt in der Gottähnlichkeit gipfelt, vielmehr umgekehrt: Gott ergreift den Menschen und manch ihn durch die rechtfertigende Gnade gerecht. Eine „stückweise” Erkenntnis der absoluten Gerechtigkeit aus der Natur oder durch die Vernunft, welche nur mehr durch eine (im Grunde wesensgleiche) theologische Gerechtigkeitsbestimmung überhöht und vervollkommnet zu werden braucht, kann vom reformatorischen Verständnis der Offenbarung her nicht anerkannt werden; vielmehr fordert ihr evangelisches Verständnis die radikale Ausrichtung der natürlich-vernünftigen Rechtserkenntnis nach dem „Wort”. Das geschieht freilich nicht im Sinne einer logischen oder theologischen Abhängigkeit des Rechtsgedankens von einer kirchlichen Systematik, sondern in freier Forschung gemäß den grenzsetzenden und richtunggebenden Weisungen der Heiligen Schrift. Sieht man ein, daß der Gerechtigkeit (die schon genuin ein göttliches Wort ist!) eigentliches Wesen jenseitig ist, dann ist man damit auf die göttliche Offenbarung vom Wesen des Gerechten verwiesen. Aus ihrer Wahrheit erfüllen sich die formalen Schemata des Gerechtigkeitsgedankens mit eindeutig verpflichtendem Gehalt. Wir zeigen davon nur die Grundlinien auf.

 

1. Wenn der Grundsatz „Jedem das Seine” von der christlichen Offenbarung her verstanden und ausgelegt wird, so enthüllt sich seine dreifache Bedeutung nach der dreifachen Entfaltung des menschlichen Wesens: Der Mensch ist Geschöpf Gottes in einer gefallenen Welt; der Mensch lebt in den von Gott der Welt eingeschaffenen Ordnungen; der Mensch ist vor Gott verantwortlich und jedem Mitmenschen als seinem Nächsten verpflichtet. Daraus folgt:

 

a) Indem wir unserer Geschöpflichkeit inne werden, begreifen wir unsere radikale Unfähigkeit, jemals und irgendwo absolute Gerechtigkeit verstehen, lehren oder üben zu können; auch dürfen wir sie von niemand fordern. Nur Gott kommt das Attribut des Gerechten wahrhaft zu. Was wirklich Recht ist, wird uns erst im Endgericht kund, wenn Gott jedem das wesenhaft Seine zuteilt. Diese Einsicht zieht eine scharfe, unübersteigbare Grenze für jede menschliche Hybris oder Einbildung, die wähnt, selber ein ewig

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gültiges, unumstößlich feststehendes Recht setzen, sprechen oder für sich behaupten zu können. Der Grund für diese Unfähigkeit liegt in der Erbsünde, die uns nur mehr eine getrübte Erkenntnis des Wahren, Schönen und Guten, aber nicht minder auch des Gerechten ermöglicht.

Vor Gott ist unser Tun oder Unterlassen niemals gerecht, aber auch unserem Nächsten gegenüber sind wir nie voll und ganz im Recht; wir können ihn auch nie voll und ganz ins Recht setzen oder im Recht lassen. Das folgt nicht nur aus der Unerfüllbarkeit des neutestamentlichen Liebesgebots, es gilt nicht minder für die Unerfüllbarkeit des alttestamentlichen Gesetzes; beide setzen uns Grenzen und Ziele, aber keine Zwangsnormen. Wir kennen kein heiliges Recht, das den vor Gott gerecht macht, der es hält; wir wissen nur um die Gnade, durch die Gott uns gerecht machen kann.

 

b) Zwar ist die Verheißung des Vaters der Lüge: „Ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist”, nicht in Erfüllung gegangen, im Gegenteil! Die gefallene Menschheit hat mit ihrer Gottebenbildlichkeit auch die Unschuld des Daseins in vollkommener, göttlicher Gerechtigkeit für immer verloren. Aber es ist uns als Gottes Geschöpfen, auch soweit wir sein offenbartes Gesetz für die gefallene Welt nicht kennen, nach dem Zeugnis des Apostels Paulus die Weisung des Gesetzes „ins Herz geschrieben”. Diese „natürliche Gerechtigkeit”, von der wir alle wissen, ist weder in der kausalen Naturgesetzlichkeit noch in der Autonomie der Vernunft noch in der sich selber sinngebenden Geschichte oder Kultur begründet, sondern in der Ordnung der von Gott geschaffenen, auf die Zukunft der Erlösten hin geschaffenen Welt.

Nur in diesem Sinn ist der Gedanken des „Naturrechts” als einer Ur- und Grundordnung der Weltschöpfung christlich gültig. Freilich kann er für evangelisches Bewußtsein nicht darauf begründet werden, daß der Mensch nach dem Ebenbild Gottes geschaffen ist. Denn diese Ebenbildlichkeit ist durch die Erbsünde verloren, von Adam ist nur eine „schreckliche Entstellung” (Calvin) übrig. Aber belehrt durch das Wort Christi, der in seiner Sündlosigkeit das Ebenbild Gottes neu vor uns aufgestellt hat, vermögen wir über diese „natürliche Gerechtigkeit” hinaus oder, besser gesagt, in ihr mehr zu erkennen, als es dem Immanenzdenken möglich ist. So

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kann man etwa aus dem profanen Naturrecht wohl die Ordnung der Ehe ableiten, aber nicht die Einehe, hat ja sogar Pufendorf die naturrechtliche Zulässigkeit der Doppelehe eigens begründet! Daß Einehe uns geboten ist, erkennen wir erst im Licht des von Christus bestätigten Gottesgesetzes und der Weisungen der Apostelbriefe. Die Institution der Familie entspricht gewiß auch dem profanen Naturrecht, aber daß jede Familie, nicht nur die erbgesunde und kinderreiche, werthaft ist, lehr erst der christliche Persongedanke richtig begreifen. Auch aus dem profanen Naturrecht folgt der Gedanke des Eigentums; daß aber der Eigentümer es als Dienst am Nächsten gebrauchen soll, ist ohne den christlichen Grundsatz der (profitlosen) Nächstenliebe nicht einzusehen. Freiheit ist ein Naturrecht, aber Gottes Wort erst läßt sie uns als Freiheit, sich für ihn zu entscheiden, und nicht als bloße Freiheit von etwas einsehen. Obrigkeit muß auch nach dem profanen Naturrecht sein, daß aber eine totale Staatsgewalt ungerecht ist, macht — wie das Beispiel des sophistischen Stärkstenrechts zeigt — nicht schon die „Natur”, sondern allein Gottes Gesetz uns klar. Die Beispiele ließen sich bis zur Entwicklung eines Systems der biblischen Weisung im Unterschied zum System des bloßen Naturrechts vermehren. Aber wir kehren zu unserer Frage zurück.

 

2. Auch die beiden formalen Prinzipien des „Gleiches gleich” und „Ungleiches ungleich” behandeln, bekommen im Licht des christlichen Denkens eine eigentümliche Kraft und Bestätigung inhaltlicher Art. Nun enthüllen sich nämlich die sonst vergeblich gesuchten Richtpunkte, welche uns weisen, wann das Ungleiche wesenhaft gleich und das Gleiche wesenhaft ungleich behandelt werden muß und wann trotz wesenhaft vorhandener Ungleichheit die Gleichheit betont werden soll und wann trotz wesenhaft vorhandener Gleichheit die Ungleichheit. Der von Gott geschaffene Mensch ist nämlich insofern wirklich gleich, unterschiedslos, als er sich als Geschöpf erkennt; hier ist nicht Jude noch Grieche, weder Herr noch Knecht, weder Mann noch Weib12). Diese Gleichheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt, geht über die Gleichheitsidee der Griechen (die sich von Barbaren und Sklaven absetzten und ihnen keine Gleichheit zuerkannten) weit hinaus.


12 Gal. 3, 28.

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Aber wo die Spätsophisten, Euripides oder die Stoiker bereits den Gedanken allgemeiner Menschlichkeit vertraten, gibt ihm das christliche Verständnis erst die volle und rechte Würde; denn wir sind nicht nur, wie etwa Hippias lehrte, alle gleich, weil wir durch Mund und Nase atmen und durch den After ausscheiden, sondern als Kinder und Knechte Gottes.

Ebenso ist der Grundsatz der Ungleichheit: das unvertretbare unveräußerliche Im-Recht-Sein jedes einzelnen auf seine besondere und einmalige Weise, erst durch den Gedanken der christlichen Person in seiner Tiefe und Weite enthüllt worden. Person sein heißt, sich einsam vor Gott verantworten im letzten Gericht; der Leitung Gottes im eigenen Leben bewußt sein und sich ihr im Gebet anvertrauen; frei sein, sich für oder wider Christus in allem Tun zu entscheiden.

Damit wird der gleiche Gedanke der Freiheit zum eigentlichen Prüfstein der zuteilenden Gerechtigkeit, denn es darf niemals ein „Ungleich”-behandeln im Sinne der Willkür und des Beliebens geben. Der christliche Freiheitsgedanke meint mehr als die natürliche und auch mehr als die sittliche Freiheit des Gewissens. Beide können zu Willkür und Unordnung entarten. Aber „so euch der Sohn frei macht, seid ihr wahrhaft frei” und „Die Wahrheit wird euch frei machen”. Diese auf der Wahrheit der Offenbarung und nicht der Vernunft oder der Natur ruhende Freiheit ist diejenige, woraus erst wahrhafte Menschenwürde, echte Freiheit der Person und damit wirkliche „Grund”rechte des einzelnen erwachsen können.

 

3. Das so erkannte göttliche Wesen der Gerechtigkeit wird nicht nur von demjenigen eingesehen und anerkannt werden können, der die christliche Offenbarung in einem Glaubensakte bekennt. Es können die Grundzüge der Urordnung, die jedem das Seine bestimmt — wie die Heilige Schrift selbst bezeugt —, weithin auch von den Nichtgläubigen erkannt werden. Desgleichen ist die Einsicht in die Ideen der Menschenwürde als Inhalt des Gleichheitsprinzips und der sittlichen Person als Inhalt des Ungleichheitsprinzips jedem Vernünftigen zugänglich, wenngleich ihr eigentlichster und tiefster Sinn, ihre absolute Begründung nur vom christlichen Denken erfahren wird.

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Auch der in philosophischen oder historischen Kategorien denkende Mensch wird sich deshalb der Einsicht nicht verschließen können, daß die christliche Welt es gewesen ist, in der die Idee der Gerechtigkeit eine Überzeugungskraft, ein Pathos und eine sitiale Geltung erreicht hat wie in keinem andern Aion.

Für den Christen erwächst daraus die Frage, ob er sich dieser Übereinstimmung von Glaubenswahrheit und Vernunfterkenntnis bloß freuen und sich damit begnügen darf oder ob nicht das Dokument der christlichen Glaubensauffassung selbst, nämlich die Heilige Schrift, Weisungen enthält, die der forschenden Vernunft und der handelnden Politik Richtschnur geben und Grenzen setzen. Freilich ist das nicht im Sinnet einer spezifisch konfessionellen oder gar kirchlichen Gerechtigkeitslehre zu verstehen. Auch gibt es keine Zusammenfassung der politischen Weisungen der Bibel in einem Gesetzgebungs- oder Wohlfahrtsprogramm. Eine christliche Partei oder Gruppe im Staat ist daher keine notwendige Konsequenz der Bejahung biblischer Weisungen für die Rechtsordnung. Wohl kann eine solche Gruppe in bestimmten geschichtlichen Lagen sich bilden von auch von Nutzen sein; sie muß aber nicht sein, und es besteht keine Notwendigkeit für den einzelnen Christen, sich ihr anzuschließen. Die biblischen Weisungen haben erzieherische, nicht programmatische Funktion; sie leiten das Gewissen, aber sie übermachten es nicht; sie werden von Christen im Staat befolgt und verkündet, aber sie dürfen nicht durch ein Verfassungsmodell des christlichen Idealstaates juridifiziert und vergesetzlicht werden. Es geht bei diesen Gedanken überhaupt nicht um das Ziel, eine Herrschaft aufzurichten, sondern darum, eine Dienst zu tun — freilich einen notwendigen Dienst — auf den, wenn nicht viele Zeichen trügen, die Welt wartet.