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III.

Rechts- und Geistesgeschichte der Gnade

 

a) Antike

 

Von einer spezifischen Gnadenmotivation kann in vorchristlicher Zeit nur in einem Falle gesprochen werden: bei der „Philanthropie” des hellenistischen Gottkönigs. Ihr entspricht im römischen Reich die „indulgentia” des vergöttlichten Kaisers. Die Vermutung eines geistes-geschichtlichen Zusammenhangs zwischen dem Begnadigungsrecht, dem mittelalterlichen Gottesgnadentum und dem antiken Herrscherkult ist naheliegend. Sie wird durch präzise nachweisbare rechtshistorische Tatsachen bestätigt.

Das Gnadenrecht setzt eine Transzendierung der staatlichen Ordnung voraus. Es steht nur einem Staate zu, der eine metaphysische Weihe hat. Die Gnade ist ihrem tiefsten Grunde nach ein Einbruch des Göttlichen in die Welt. Nach der Auflösung der Polis als der ursprünglichen Einheit von Stammesverband, Kultverband und politischer Ordnung tritt an ihre Stelle der persönliche Kultus des großen charismatischen Herrscher-Individuums als Form einer universalen religiösen Herrschaftslegitimation. Die personale Herrschervergöttlichung bildet mit ihrer Identifizierung von Gott und Herrscher den eigentlichen Anknüpfungspunkt für ein transzendent begründetes Gnadenrecht.

Die antike Idee der Philanthropie steht in einer eigenartigen Verknüpfung mit dem hellenistischen Herrscherkult. Sie ist eines der spezifischen Attribute des Gottkönigs, die auf seine göttliche Qualität verweisen. Die Bestimmung ihres eigentlichen Inhalts wird durch einen vielfachen Bedeutungswandel des Wortes erschwert, der jedoch zugleich den Ablauf der politischen und geistesgeschichtlichen Entwicklung spiegelt.

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Obgleich die griechische Idee der Philanthropie und der römische Humanitätsgedanke in engstem Zusammenhang stehen, bilden sie doch keine kongruenten Begriffe. Das ist schon von Gellius ausgesprochen worden: „Qui verba Latina fecerunt quique his probe usi sunt, ,humanitatem’ non id esse voluerunt, quod volgus existimat quodque a Graecis „φιλανθρωπία” dicitur et significat dexteritatem quandam benivolentiamque erga omnes homines promiscuam, sed ,humanitatem’ appellaverunt id propemodum, quod Graeci „παιδείαν” vocant, nos eruditionem institutionemque in bonas artes dicimus. Quas qui sinceriter percupiunt adpetuntque, hi sunt vel maxime humanissimi1)”. Die Paideia, die „Erziehung des Menschen zu seiner wahren Form, dem eigentlichen Menschsein2)”, wird von der Philanthropie nicht — wie, jedenfalls zeitweilig, von der humanitas — einbegriffen; indessen wird der Bedeutungsgehalt der Philanthropie auch mit dem eigentlich „Humanitären”, der „benevolentia erga omnes homines promiscua”, dem Wohlwollen und Wohltun nicht erschöpfend angegeben3). Selbst in der Zeit, in der die Annäherung an diesen Bedeutungsgehalt am weitesten fortgeschritten ist, bleibt es der Philanthropie im Unterschied zur Humanität eigentümlich, daß sie „nicht die Liebe zwischen Gleichstehenden, sondern die Herablassung des Höherstehenden und auch das sie erweckende Verhalten des Niedrigerstehenden” bezeichnet4).

Der ursprüngliche Inhalt der Philanthropie ist vom Humanitären sehr weit entfernt und wurzelt vielmehr im Mythischen. Sie ist ursprünglich die Menschenliebe derer, die nicht Menschen sind, d.h. der Götter und Tiere. Das Wort „φιλάνθρωπος” ist von gleicher philologischer Struktur wie die Worte „φιλέλλην” und „φιλαθήναιος”, die ursprünglich nur


1) Noct. Att. XIII, 17.
2) W. Jäger, Paideia, Die Formung des griechischen Menschen, 1934, I. Bd., S. 13 f.
3) Es kann dahingestellt bleiben, ob die humanitas ursprünglich nur die engere Bedeutung (der Philanthropie) gehabt hat, wie Jäger meint, oder aber ob der umfassendere Wortsinn der frühere ist und die Bedeutung der „Bildung” (der Paideia) später eingebüßt hat, wie Reitzenstein, Wesen und Werden der Humanität im Altertum, 1907, S. 23, ausführt.
4) Heinemann, Art. „humanitas” in Pauly-Wissowa, Real-Enzykl. d. class. Alt. Wiss., Suppl., Bd. 5, 1931, S. 298 ff.

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den Nicht-Griechen und den Nicht-Athener bezeichnen1). Prometheus, dessen Menschenliebe der Ursprung aller menschlichen Kultur überhaupt ist, erscheint bei Aischylos als Θεὸς φιλάνθρωπος2). Er ist der erste Menschenfreund, den die Literatur unter diesem Namen verzeichnet3). In dieser ursprünglichen Bedeutung als Attribut der Götter und Tiere erscheint die Philanthropie noch bei Aristophanes4), Platon5), Xenophon6) und anderen Schriftstellern des vierten Jahrhunderts v. Chr.7). In der ersten Hälfte des vierten Jahrhunderts wird das Wort indessen nur selten gebraucht, so daß es z.B. bei Lysias gänzlich fehlt. Dagegen findet es sich mehrfach bei Xenophon, der es zugleich in einem neuen Sinne gebraucht; er überträgt es von den unsterblichen Göttern auf die sterblichen Götter der Erde, auf die Fürsten und insbesondere auf den Perserkönig Cyrus, sein Idealbild eines Königs, dessen Bildungsgeschichte er in seinem politischen Roman, der „Cyropädie”, beschrieben hat. Die Philanthropie erscheint hier als die vornehmste Herrschertugend des Königs. Sie ist jene spezifische Gesinnung des Wohlwollens, der Gunst und der vertraulichen Herablassung, die den Herrscher gegenüber seinen Mannen erfüllt, jene „Milde”, die noch im mittelhochdeutschen Sprachgebrauch die Freigebigkeit bezeichnet. Die Philanthropie befestigt das Band der Treue zwischen dem Herrscher und den Seinen. Sie wird mit den Worten φιλεῖν, εὐνοεῖν, εὐεργετεῖν näher umschrieben. Insbesondere bewährt sie sich auch in der Freigebigkeit und Gastlichkeit der königlichen Tafel. „Sofern Cyrus nicht hinreichende Mittel besaß, wohlzutun”, so berichtet Xenophon8), „so suchte er durch Vorsorge für seine Freunde, durch Bemühungen für sie, durch Beileid bei ihrem Unglück ihre Freundschaft zu erwerben; als er sich aber in den Stand gesetzt sah, durch Geld wohlzutun, so scheint er der Meinung gewesen zu sein, daß keine Wohltat, welche die Menschen einander


1) Lorenz, De progressu notionis φιλανθρωπίας, Leipz. Diss., 1914, S. 10.
2) Aisch. Prom. v. v. 11. 28.
3) R. Hirzel, Plutarch, 1907, Kap. 4.
4) Aristophanes Pac. v. 392.
5) Gastmahl, p. 189; Gesetze IV, 713.
6) Xenophon, Memor. IV, 3, 7.
7) Lorenz, a.a.O., S. 9.
8) Cyropädie, VIII, 2, 3.

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erweisen, bei gleichem Aufwände angenehmer sei als die Mitteilung von Speisen und Getränken. Er richtete daher vor allem seine Tafel so ein, daß von derselben Art Speisen, welche er genoß, immer noch viele Portionen aufgestellt würden: diese verteilte er dann an alle seine Freunde, denen er sein Andenken oder seine Freundschaft bezeugen wollte.” Eben dieser Gewohnheit wegen preist ihn Gobryas: er scheine sich durch Philanthropie noch mehr auszuzeichnen als durch Feldherrntalent1). Auch dem König Agesilaus erkennt Xenophon diese königliche Tugend zu: dieser habe die Städte, welche er mit Gewalt nicht einnehmen konnte, durch seine Philanthropie bezwungen2).

Der soziologische Hintergrund, auf dem diese Beispiele gesehen werden müssen, ist der eines ritterlich-kriegerischen Gefolgschaftswesens. Xenophon schildert am Anfang seines Buches die altpersische Verfassung, der er idealisierend dorische Charakterzüge verleiht und ihr Elemente der lykurgischen Verfassung zuschreibt. Er entwirft ein Bild einer nach Altersklassen streng gegliederten Volksordnung mit einer straffen hierarchischen Staatsverfassung, die das gesamte Volksleben erfaßt und leitet. Über einer kriegerischen Jungmannschaft, der jeder Jüngling zehn Jahre angehört und deren Aufgabe der Waffendienst und die Teilnahme an den Jagden des Königs ist, steht in dieser Rangordnung die Altersklasse der Männer, die fünfundzwanzig Jahre umfaßt und ihren Angehörigen den Waffendienst im Kriege und die Bekleidung untergeordneter Staatsämter zuweist, darüber endlich stehen die Ältesten, in deren Händen die eigentliche Herrschaft liegt — denn der König ist nur der erste unter Gleichen — und die eine nach vielen Auslesungen in jeder Altersklasse ausgesonderte Aristokratie bilden. In dem von Cyrus eroberten Reiche weicht diese Verfassung einem monarchischen Despotismus, aber innerhalb der herrschenden persischen Oberschicht bilden sich starke Züge eines ritterlich-kriegerischen Gefolgschaftswesens heraus, das zum Teil noch aus den Kräften der kriegerischen altpersischen Volksordnung gespeist wird.

Wenn man diese Verhältnisse berücksichtigt — abgesehen davon, wieweit sie der geschichtlichen Wirklichkeit entsprechen oder nur


1) Cyropädie, VIII, 4, 7.
2) Agesil. I, 22.

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romanhafte Ausschmückung der Erzählung sind —, so erscheint die Schlußfolgerung erlaubt, daß die Philanthropie bei Xenophon eine Herrschertugend bezeichnen soll, die in gewisser Weise der herrscherlichen Gnade im germanischen Sinne der Hulde entspricht. Das philosophische Thema der „Cyropädie” ist wohl mit Recht als die „Darstellung der siegreichen Macht, welche das wahre Wissen auf dem Gebiete des politischen Lebens im Conflikte mit jeder desselben beraubten Macht gewährt”, bezeichnet worden1), eines Wissens, das dem Grundgedanken der sokratischen Philosophie entspricht, eines ἐπισταμένως ἄρχειν, welches Xenophon am Anfang seines Werkes als das Geheimnis der wahren Macht bezeichnet. Die Philanthropie ist ein Bestandteil dieser Herrscherweisheit. Sie ist es hier noch in einem anderen Sinne als in der späteren hellenistischen Monarchie, in einem ursprünglicheren und einfacheren Sinne, wie er der germanischen „Hulde” am ehesten vergleichbar ist. Dieser Vergleich ist insofern von besonderer Bedeutung, als damit eine der im germanisch-deutschen Recht deutlich erkennbaren Wurzeln des Begnadigungsrechts und der Gnade überhaupt auch in der antiken Entwicklung angedeutet ist.

Daß die Idee der Gnade im deutschen Denken aus dem engeren Verband der germanischen Gefolgschaft ihre charakteristische Ausprägung erfahren hat, hat Konrad Beyerle in seinem schönen Vortrag über die „Gnade im deutschen Recht2)” gezeigt. Gnade des Herrn war der Zustand vertraulicher Herablassung gegenüber der Gefolgschaft, die eine enge Lebens- und Hausgemeinschaft bildet. Das Gefolgschaftsverhältnis gewährte dem Herrn Anspruch auf die Dienste der Mannen und ließ ihn den Rang der einzelnen bestimmen und sie in Zucht halten. Waffen und Unterhalt, Geschenke und Rang verdankten die Mannen der Gnade des Herrn. Geringere Pflichtverletzungen mochten leichtere Strafen zur Folge haben, wie sie in den zum Teil scherzhaften Trinkstrafen des norwegischen Dienstrechts noch spät begegnen. Für schwerere Taten, Beleidigung oder Verletzung des Herrn, Bruch seines


1) K. Hildenbrand, Geschichte und System der Rechts- und Staatsphilosophie, I. Bd., 1860, S. 247.
2) Von der Gnade im deutschen Recht, 1910, S. 5 ff.

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Hausfriedens durch Waffentat in seiner Halle, Unbotmäßigkeit und Verlassen des Dienstes, für alles dieses stand die Ungnade des Gefolgsherrn, der Huldeverlust, in Aussicht, was sich in der Ausstoßung aus dem Gefolge äußerte und den Verlust des darin bekleideten Ranges und Amtes bewirkte. Spätere Wandlung der Ungnade in Gnade war möglich und stand ganz in der Hand des Herrn. Im Rahmen der germanischen Gefolgschaft gehörte alles dies mehr einer privaten Rechtssphäre an; in der fränkischen Periode aber entwickelte sich auf dem Boden eines auf der Gefolgsmannentreue aufgebauten Königtums ein königliches Gnadenrecht, das ebenso wie die Strafgewalt auf der durch den Huldigungseid — einer Nachbildung des germanischen Gefolgseides — begründeten Treupflicht jedes einzelnen beruhte.

In der antiken Geistesgeschichte werden diese Wurzeln der Gnade noch früher als in der deutschen von anderen Entwicklungslinien verdeckt, vor allem von den Tendenzen der griechischen Aufklärung, die mit der Herausbildung eines eigentümlichen Herrscherideals die Herrschervergöttlichung vorbereitete.

Die Grundzüge dieses Herrscherbildes sind bereits in der Sophistik angelegt, die mit ihrem auf dem Gegensatz von „Natur” und „Satzung” aufgebauten Naturrecht den Boden für die Ausbildung individualistischer Machttheorien schuf. Der Sinn dieser Gegenüberstellung von Natur und Satzung ist im tiefsten Grunde die Verneinung des geschichtlich Gewordenen zugunsten einer „Natur”, die von dem Rechte des einzelnen ausgeht und die Grundbegriffe und Grundwirklichkeiten des griechischen Lebens, die Polis und ihren Nomos, zerstört. Ungeschriebene, überall und stets gültige Gesetze, die Idee eines allgemeinen Naturrechts, treten an die Stelle des Nomos. Dieses Naturrecht aber ist ein Recht des Starken: die Satzungen sind Schutzwälle der Majorität der Schwachen gegen die großen Individuen, dem Gesetz steht das natürliche „göttliche” Recht des großen einzelner; gegenüber. Zutreffend ist erkannt worden, daß damit bereits eine Quelle der überstaatlichen Legitimation des Individuums geschaffen war, deren Bedeutung für die Entstehung einer religiös verehrten persönlichen Herrschaft nicht zu verkennen ist: „Denn in diesem Naturrecht wird das starke Individuum

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rechtsschöpferisch, lebendiges Gesetz, und dies war bisher immer ein Privileg der Götter1).”

Im Kynismus ist dieses individualistische Herrscherideal auf die Spitze getrieben worden. Das kynische Tugendideal der Autarkie des Weisen als radikalste Form des Individualismus schließt die in der Sophistik anzutreffenden Ansätze zu einem kosmopolitischen menschheitlichen Gemeinschaftsbewußtsein aus; die Philanthropie des kynischen Weisen ist nicht auf eine Gemeinschaft der Menschheit bezogen, sondern ist eine dem einzelnen zugewandte Menschenliebe, die ihm den Weg zum wahren Glück weisen soll2). Mehrere geistige Strömungen mußten zusammenfließen, um das geistige Idealbild des hellenistischen Weltherrschers entstehen zu lassen. Das von den Sophisten verkündete Naturrecht des Stärkeren, wie es Platon im „Gorgias3)” dem Sophisten Kallikles in den Mund legt, das Idealbild des Herrscher-Weisen, wie es von Sokrates und Platon herausgebildet wurde, die Entfaltung der kosmopolitischen Menschheitsidee, die im Begriff der Ökumene die Unterschiede zwischen Hellenen und Barbaren verschwinden ließ, die Vorstellung vom Herrscher als einem Soter, einem Weltheiland, dieses alles und die Realität der makedonischen Eroberungspolitik mußten zusammenkommen, um jenes Bild zur Vollendung zu bringen.

Der Begriff der Philanthropie tritt in diesem geistigen Prozeß besonders bedeutungsvoll wieder bei Isokrates hervor. Der Gedanke des panhellenischen Zusammenschlusses, der bei Platon mit der betonten Entgegensetzung von Hellenen und Barbaren verbunden ist, wird von Isokrates ins Kosmopolitische gewendet, indem der ethnographische Begriff „hellenisch” zu einem Kulturbegriff erweitert wird: „Der Name der Griechen hat es dahin gebracht, daß er nicht mehr eine Abstammung bezeichnet, sondern vielmehr eine Sinnesart, und daß man Griechen eher diejenigen nennt, die an unserer Bildung, als die, welche an der


1) v. Borch, Das Gottesgnadentum, Historisch-soziologischer Versuch über die religiöse Herrschaftslegitimation, 1934, S. 42 f.
2) Mühl, Die antike Menschheitsidee, 1928, S. 20 f.; a.M. anscheinend Kaerst, Geschichte des Hellenismus, I. Bd., 3. Aufl., 1927, S. 87.
3) Gorg. 482 ff.

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gemeinsamen Abstammung teilnehmen1).” Schon in dieser Ersetzung des Volkstums durch eine Bildungsgemeinschaft verrät sich der Grundzug des zivilisatorisch-humanitären und kosmopolitischen Denkens, der für Isokrates charakteristisch ist. Die Philanthropie erscheint auch bei ihm als Herrschertugend, wird aber anders als bei Xenophon von diesem humanitären Pathos getragen und polemisch gegen die Macht und die Gewaltanwendung als Mittel der Politik kontrastiert. Insbesondere Philipp von Makedonien wird von ihm auf diese Herrschertugend verwiesen. Er soll den Griechen φιλανθρωπία καὶ εὔνοια καὶ πραότης widerfahren lassen. Wohlwollen und Philanthropie sollen leichter zu politischem Erfolg führen als Waffengewalt2). Nicht rohe Gewalt und Waffenerfolge seien die Mittel, mit denen Philipp sich eines wirksamen Einflusses auf die Griechen versichern könne, sondern in einem gegenseitigen Freundschaftsverhältnis müsse er das sichere und dauernde Fundament seiner Vorherrschaft in Hellas erblicken.

In der neueren Forschung ist von Mühl3) angenommen worden, daß die Ausbildung der antiken Humanitätsidee zu einem wesentlichen Teil auf die isokrateische Schule zurückzuführen sei. Die Tugend der Philanthropie als einer der ganzen Menschheit zugewandten freundlichen Gesinnung habe in der isokrateischen Schule und speziell bei Ephoros, dem Verfasser der Rede des Sizilianers Nikolaos, die bei Diodor erhalten ist, eine bewußte Deutung erfahren. — Eben in dieser Rede tritt der gegen die Idee der Gewalt gerichtete humanitäre Grundzug des Isokrates und seiner Schüler deutlich hervor. Schonung und Mitleid mit den Besiegten und Gefangenen ist die Forderung, mit der Nikolaos, der im Kampf gegen Athen beide Söhne verloren hat, für die Schonung


1) Isokr. IV, 150.
2) Isokr. V, 114, 116.
3) A.a.O., S. 39. Gegen Reitzenstein, der die Ausbildung des Humanitätsgedankens besonders auf Panaitios und dessen Kreis zurückgeführt hat. Die starken Ansätze zur Humanitätsidee in der isokrateischen Schule sind unverkennbar. Insbesondere hat Mühl in kongenialem Einfühlungsvermögen den penetrant „humanitären” Zug des Isokrates gespürt, der jedem durch die Phraseologie der Nachkriegszeit geschulten Ohr erkennbar ist. Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß trotz aller Ablehnung der Gewaltpolitik Isokrates den Gedanken einer griechischen Racheexpedition gegen Persien propagierte, die er als Kulturmission ausgab, weil sie den Barbaren „hellenische Fürsorge” zukommen lassen sollte.

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der kriegsgefangenen Athener eintritt. Weniger die ritterliche Achtung des Gegners als die humanitäre Wertschätzung des Menschenlebens überhaupt und der Menschenwürde spricht dabei aus seinen Worten. Der Gedanke humaner Herrschaftsausübung wird von Nikolaos in dem Satze ausgesprochen: „Wer nach einer Oberherrschaft strebt, der muß nicht sowohl mit den Waffen sich Macht erwerben, als eine milde Gesinnung beweisen; denn unter einer Schreckensherrschaft nehmen die Untergebenen die Gelegenheit wahr und rächen sich an den verhaßten Gebietern, menschenfreundliche Herrscher aber lieben sie treulich1).”

In Verbindung mit diesem gewaltfeindlichen „humanitären” Element findet sich bei Isokrates und seinen Schülern auch die „menschheitliche” Komponente des Humanitätsgedankens, das Bewußtsein der inneren Einheit und Zusammengehörigkeit des Menschengeschlechts, auf das sich letzten Endes der Humanitätsgedanke gründet2).

In der Forderung des Isokrates, Philipp von Makedonien solle ein Heiland (σωτήρ) der Griechen werden, kündigt sich bereits die Wendung des monarchischen Gedankens zur Herrschervergöttlichung an, für die auch Platon nicht ohne Einfluß geblieben ist3). Von den späteren Kynikern ist diese Vorstellung des Herrschers als eines Weltheilands und Menschheitsbeglückers weiter entwickelt worden4). Die stoische Schule hat es vollendet; während die kynische Herrscherkonzeption sich noch als Übertragung der persönlichen Souveränität des Weisen, seiner in der inneren Freiheit gewonnenen Gottähnlichkeit, auf einen Herrscher darstellt, beruht der stoische Gedanke der Weltmonarchie auf der Ableitung der Herrschaft aus dem allgemeinen Weltgesetz und trägt als göttliche Stellvertreterschaft notwendig institutionelle und universale Züge5). Die Weltmonarchie als beste und vollkommenste irdisch-staatliche Herrschaft ist ein Abbild der Weltherrschaft des Zeus, der die Verkörperung des


1) Diodor, XIII, 21, 8; XIII, 23, 1.
2) Kaerst, Die antike Idee der Ökumene, 1903, S. 15.
3) Mühl, S. 41; v. Borch, S. 45.
4) v. Borch, S. 42 ff.; Mühl, S. 53 ff.; Kaerst, II, S. 306 ff.
5) v. Borch, S. 44, 46.

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Weltgesetzes darstellt und als der „wohltätige und menschenfreundliche, das Weltall verwaltende Gott” bezeichnet wird1).

Wieweit das in diesen Anschauungen geistig vorbereitete hellenistische Weltherrscherbild zugleich auf orientalischen Einflüssen und Vorbildern beruht, ist im einzelnen vielfach umstritten. Einer Überschätzung des orientalischen Elements in dieser Vorstellungswelt ist besonders Kaerst entgegengetreten2). Die Zurückführung des Herrscherkults auf das orientalische Element des Gottkönigtums und das griechische Element des Heroenkultes verkenne die Wesensverschiedenheit zwischen der sakralen Herrscherverehrung des Hellenismus und etwa der ägyptischen Pharaonenverehrung3). In Ägypten sei es eine Institution, die durch die religiöse Autorität gedeckt und ausgeprägt werde, in der hellenistischen Herrschaft dagegen sei es die Person, die göttliche Verehrung erhalte. Im Orient handele es sich um ein Herabsteigen des Göttlichen zum Menschlichen, im Hellenismus dagegen um ein zu göttlicher oder wenigstens gottähnlicher Wirksamkeit gesteigertes menschliches Dasein, um ein Aufsteigen des Menschlichen zur göttlichen Sphäre, das auf der besonderen Kraft eines eigenartigen oder einzigartigen Individuums beruht4). Voraussetzung dieses Gedankens ist der Heroenkult, eine bestimmte Form des griechischen Unsterblichkeitsglaubens, der auf der Vorstellung beruhte, die Seele einzigartig mächtiger Individuen wäre fortexistierend an das Grab gebunden und übe von dort aus eine geheime und rituell zu beeinflussende Wirksamkeit auf das geschichtliche Geschehen aus5). Mit dem Heroenkult trat „zwischen Götter und Menschen eine dritte Klasse gewissermaßen als Verehrungswesen zweiter Ordnung6)”; übermenschliche Erhöhung eines Individuums auf Grund persönlicher Leistung und Verwischung der Grenzen zwischen Göttern und Menschen waren in dieser Vorstellung strukturell vorgebildet.


1) Kaerst, II, S. 307 f.
2) A.a.O., II, S. 377 ff.
3) A.a.O., II, S. 378.
4) v. Borch, S. 45.
5) Kaerst, II, S. 174.
6) Ed. Meyer, Geschichte des Altertums, Bd. II, S. 426.

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Das Bild des vergöttlichten Weltherrschers ist durch die tatsächliche Herrschaft Alexanders des Großen entscheidend beeinflußt und zur Vollendung gebracht worden. Alexander hat durch seinen Zug nach dem Orakel des Zeus-Ammon in der libyschen Oase Siva selbst aktiv auf seine Vergöttlichung hingewirkt. Die einzelnen Stufen dieses Vorgangs und die Formen des Herrscherkults im einzelnen sind hier nicht zu erörtern. Für die dieser Arbeit zugrunde liegende Fragestellung kommt es lediglich darauf an, den politisch-soziologischen und geistesgeschichtlichen Hintergrund deutlich zu machen, auf dem die antike Idee der Philanthropie sichtbar wird. Unter diesem Aspekt ergaben sich mehrere Stufen der ideengeschichtlichen Entwicklung. Die Philanthropie erwies sich als ursprünglich im mythischen Denken verwurzelt; sie bezeichnete dabei vor allem die göttliche Menschenliebe als Ursprung aller menschlichen Kultur. Von den Göttern wird die Philanthropie auf besonders ausgezeichnete Menschen übertragen, sie wird zu einer Herrschertugend, die, zunächst bei Xenophon, Züge einer ritterlich-kriegerischen Herrschergesinnung etwa im Sinne der germanischen „Hulde”, dann, besonders bei Isokrates, Züge einer gewaltfeindlichen, rational-zivilisatorischen Humanitätsauffassung trägt. Sie wird nunmehr — und zwar überwiegend in der letzteren Bedeutung — zu einem spezifischen Attribut des vergöttlichten Herrschers. Der wahre Herrscher soll alle Tugenden in sich vereinigen: die Weisheit, weil er über die höchsten Interessen der Menschheit zu befinden hat, die Gerechtigkeit, weil er über allen Gesetzen steht, die Besonnenheit, weil ihm alles erlaubt ist, die Tapferkeit, weil die Existenz der einzelnen wie der Gesamtheit von seiner Stärke abhängt. Seine helfende, rettende, Wohltaten und Segen spendende Tätigkeit, die innere Rechtfertigung seiner unumschränkten Gewalt, wird gepriesen. Seine väterliche, wahrhaft menschenfreundliche Fürsorge für seine Untertanen, die φιλανθρωπία, ἐπιείκεια, ἐπιμέλεια, πρόνοια, φροντὲς τῶν ἀρχομένων, seine Frieden, Eintracht und Ordnung stiftende Wirksamkeit werden immer wieder betont1). Es ist für unsere Untersuchung von besonderer Bedeutung, daß gerade in der Herrschaftsideologie des ägyptischen Ptolemäer-Reiches die


1) Kaerst, II, S. 321 f.

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Philanthropie eine große Rolle spielt. Denn gerade für das Ptolemäer-Reich läßt sich aus den Papyri mit einiger Sicherheit die Ableitung des Begnadigungsrechts aus der Philanthropie des Königs nachweisen.

Unter den Diadochen ist die Dynastie der Ptolemäer in der Ausbildung des staatlichen Herrscherkults vorangegangen. Ptolemäos der Erste hat die Leiche Alexanders nach Alexandria übergeführt und daran die Einrichtung eines Herrscherkults geknüpft, der zunächst die göttliche Verehrung des zu höherem Leben eingegangenen Alexander forderte. Ihm selbst ist, wahrscheinlich zuerst von den Inselgriechen, der Beiname eines „Soter” verliehen worden. Eine Anknüpfung an die orientalischen Erlöserideen, die mit dem Begriff des „Soter” messianisch-apokalyptische Heilserwartungen verbanden, wird damit in dieser Zeit noch nicht verbunden gewesen sein1). Die Verschmelzung der orientalischen und griechischen Elemente des Herrscherkults ist erst für spätere Zeit anzunehmen. Bereits bei den Begründern der ptolemäischen und seleukidischen Dynastien findet jedoch eine gewisse Vergöttlichung des lebenden Herrschers in der genealogischen Herleitung der Dynastien aus göttlichem Ursprung (Dionysos und Apollon) statt. Dem ersten Ptolemäer ist nach seinem Tode von seinem Sohn, Philadelphos, ein glänzender Kult eingerichtet worden, in den auch seine Gemahlin mit einem besonderen Kult der Berenike einbezogen wurde. Zum Kult des lebenden Herrschers kam es nach dem Tode der Schwester-Gemahlin des Philadelphos, der Arsinoe, die im Jahre 271 v. Chr. starb. Ptolemäos III. und seine Gemahlin sind sogleich nach ihrem Regierungsantritt als θεοὶ Εὐεργέται verehrt worden.

Die soziologische Entsprechung findet die Herrschervergöttlichung des Ptolemäer-Reiches in der „Verwendung einer zentralistisch-bürokratischen Staatsstruktur als Apparat einer rein persönlich-dynastischen patrimonialen Herrschaft2)”, in der der Herrscher als lebendes Gesetz gilt. v. Borch hat diese Entsprechung als generelle soziologische Regel formuliert: „Die bürokratische Struktur eines Staates ist prädisponiert für die absolutistische Herrschaftsgestaltung, weil in der Bürokratie ein


1) Kaerst, II, S. 311 ff.; v. Borch, S. 62 f.
2) v. Borch, S. 65.

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Herrschaftsmittel gegeben ist, das strukturell besonders geeignet ist, einen zentralen Willen zu verwirklichen; daher wird der Grad der Herrschervergöttlichung immer dann am höchsten sein, wenn eine weitgehend bürokratische Herrschaftsstruktur sich verbindet mit einer in bestimmter Weise magisch-rituell orientierten Religiosität1).

Dem in dieser Weise vergöttlichten Herrscher wird das Attribut der Philanthropie zugeschrieben, und er nimmt es selbst für sich in Anspruch. Ptolemäus Philopator erwähnt in einem seiner Briefe dreimal seine Philanthropie2). Sie gehört zu den vielen „zum Hofstaat des Begriffes König gehörenden Einzelwörtern3)”.

Die mit diesem Worte bezeichnete wohlwollende und milde Gesinnung des göttlichen Herrschers, dessen Wille Gesetz ist, läßt die Entstehung einer Begnadigungsgewohnheit begreiflich erscheinen. In der Tat finden wir im ptolemäischen Ägypten zum ersten Male Gewohnheiten und tatsächliche Vorgänge, die im genauen Sinne des Wortes als „Begnadigung” verstanden werden müssen, und wir finden sie aufs engste mit dem Wort und dem Begriff der Philanthropie verknüpft4).

Amadeo Peyron hat in seinem Kommentar zu dem Turiner Papyrus 1 VII (Z. 13) das Wort „Φιλάνθρωπον” als „Gnadenerlaß” gedeutet6). Die römischen Gnadenerlasse (Indulgenz-Dekrete) seien in späterer Zeit von griechischen Schriftstellern als „φιλάνθρωπα” bezeichnet worden. Im Sprachgebrauch Justinians seien συγχώρησις und φιλανθρωπία gleichbedeutend. Συγχώρησις sei aber lediglich ein griechischer Ausdruck für Indulgenzen, was aus dem 64. Titel im LX. Buch der Basiliken „de abolitionibus et de generali indulgentia” ebenso wie aus der Justinianischen Novelle „De indulgentia reliquorum publicorum” hervorgehe. In den Glossen werde Συγχώρησις für concedentia, concessio, indulgentia gebraucht. Auch unmittelbar gehe aus dem justinianischen


1) A.a.O., S. 67.
2) Lorenz, a.a.O., S. 44.
3) Deißmann, Licht vom Osten, 1908, S. 256, N. 11.
4) Abolition und Amnestie sind im ptolemäischen Ägypten bereits „zu geläufigen, wenn auch nicht juristisch voneinander abgegrenzten Rechtsbegriffen geworden zu einer Zeit, in der diese Institute im republikanischen Rom noch unbekannt oder doch äußerst selten waren”. L. Wenger, Arch. Pap., Bd. II, S. 487.
5) Amadeo Peyron, Papyri Graeci, I, Turin, 1826, S. 167 f.

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Sprachgebrauch hervor, daß die Philanthropie dort eine Umschreibung für die Indulgentia, die humanitas Imperatorum, liberalitatis Augustae humanitas, sei. Auch die in den Papyri vorkommenden, als Philanthropa bezeichneten Anordnungen seien daher als Gnadenerweise zu verstehen. In der neueren Forschung hat Ulrich Wilcken bestätigt, daß „solche Gnadenerlasse als φιλάνθρωπα bezeichnet wurden, während φιλανθρωπία die in ihnen zum Ausdruck kommende menschenfreundliche Gesinnung ist1)”. Die in den Papyri erwähnten Vorgänge und Anordnungen stellen sich ihrer rechtstechnischen Form nach zumeist nicht als Einzelbegnadigungen, sondern als Abolitionen und Amnestien dar. Sie erfolgen durch königlichen Erlaß und sind gewöhnlich verursacht durch „besonders glückliche Ereignisse2)”, durch „bedeutende politische Vorgänge, durch Regierungsantritte und dergleichen3)”. Glückhafte Ereignisse, zumeist politischer Art, veranlassen den König, seine Phil-anthropie zu bezeugen. Diese Motivation tritt nicht immer rein und ausschließlich auf; sie wird häufig von politischen Zweckmäßigkeitserwägungen begleitet. Manche Erlasse müssen als politische Amnestien im engeren Sinne, d.h. als Aussetzungen der Rechtsverfolgung aus Gründen der Staatsräson, sei es wegen Undurchsetzbarkeit der Strafvollstreckung oder wegen einer Gefährdung der Autorität des Königs, sei es, daß die Amnestierung als Preis in die Friedensverhandlungen der sich bekämpfenden innerpolitischen Bürgerkriegsparteien mit eingebracht worden ist, angesehen werden. Ein Beispiel der letzteren Art ist das Amnestiedekret des Königs Euergetes II. vom Jahre 118 v. Chr. (52. Jahr seiner Regierung)4). Es befindet sich in der erhaltenen abschriftlichen Sammlung königlicher Dekrete des Euergetes II. und der beiden Königinnen Kleopatra aus der Kanzlei des Dorfschreibers von Kerkeosiris5). Dieser Erlaß ist Bestandteil einer großen Friedenskundgebung,


1) U. Wilcken, Urkunden der Ptolemäer-Zeit (UPZ.), I, 1927, Nr. 111. — Vgl. Wenger, Arch. Pap., Bd. II, S/483 f.; Taubenschlag, Das Strafrecht im Rechte der Papyri, 1916, S. 67 f.
2) Taubenschlag, S. 67 f.
3) Wilcken, Nr. 111.
4) Tebt. 1 (Z. 1-5).
5) Wenger, Arch. Pap., Bd. II, S. 483.

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die eine Reihe wohltätiger Verfügungen enthält und auf dein historischen Hintergrund eines noch nicht völlig beendeten dreizehn-jährigen Bürgerkrieges zu verstehen ist. An der Spitze der Empörer hat die eigene Schwester des Königs, Kleopatra II., gestanden. Im Jahre 118 v. Chr. war die Ruhe und Ordnung noch nicht völlig wiederhergestellt. Die Versöhnung und der Friedensschluß mit den noch nicht ganz niedergerungenen Feinden wird durch eine Amnestie für diejenigen Bewohner Ägyptens bekräftigt, die Parteigänger der am Friedensschluß beteiligten Parteien, d.h. Untertanen des Königs, der Königin-Schwester oder der Königin-Gemahlin sind. Die noch kämpfenden Parteigänger sind von der Amnestie ausgeschlossen1). Es handelt sich, wie aus den Begleitumständen hervorgeht, bei diesem Philanthropon um einen typischen Fall der politischen Amnestie.

Andere Philanthropa dagegen werden durch glückhafte öffentliche Ereignisse ausgelöst, die den König veranlassen, seine Philanthropie zu bezeugen. Zwei von Wilcken kommentierte Papyri können hier als Beispiel angeführt werden. In einem Briefe vom 22. September des Jahres 163 v. Chr. fordert Philometor seinen Strategen Dionysios auf, eine schon vorher erlassene Amnestie strikt durchzuführen, damit der König bei seiner beabsichtigten Reise nach Memphis, dem Gau des Dionysios, in seinen Audienzen nicht von Bittstellern überlaufen werde, die sich womöglich mit Recht darüber beschweren könnten, daß die Amnestie noch nicht ausgeführt worden sei2). Das Ereignis, das den Anlaß zu


1) Preisigke, Die Friedenskundgebung des Königs Euergetes II., Arch. Pap., Bd. V, S. 301 ff. Wenger, S. 486, schlägt folgende Übersetzung des Dekrets vor: „Der König Ptolemaios und die Königin Kleopatra, die Schwester, und die Königin Kleopatra, die Gemahlin, erlassen eine Amnestie an sämtliche königliche Untertanen wegen fahrlässiger und absichtlicher Delikte, mögen sie noch in Verhandlung stehen oder mag bereits die Aburteilung erfolgt sein, und zwar wegen aller Strafsachen, die bis zum 9. Parmuthi des 52. J. vorgefallen sind. Ausgenommen hiervon sind jene Personen, die wegen Mordes oder Tempelraubs verfolgt werden.” (Über diese Ausnahme vgl. unten, S. 72 fr.) Dieser Erlaß ist also zugleich generelle Abolition wie auch Amnestie.
2) UPZ., Nr. in. Die Übersetzung von Wilcken lautet: „Der König Ptolemaios grüßt den Dionysios. Nachdem wir alle, die in gewisse unabsichtliche oder absichtliche Straftaten bis zum 19. Epiph. verwickelt waren, befreit haben, halten wir es für angebracht, Euch zu beauftragen, dafür zu sorgen, daß den Leuten ihr Recht werde und daß sie nicht, wenn wir an Ort und Stelle kommen, als solche, die in ➝

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dieser Amnestie bot, war die mit Roms Hilfe im Sommer 163 erfolgte Rückkehr Philometors auf den ägyptischen Thron, nachdem sein jüngerer Bruder nach Kyrene verwiesen worden war. Eine ähnliche Amnestie erging, als der König Ptolemaios Auletes im Jahre 59 v. Chr. von Rom anerkannt worden war1). Bei diesen Straferlassen ist die Philanthropie als ausschließliche Motivation deutlich erkennbar2). Daß es völlig außerrechtliche Erwägungen sind, die diese Straferlasse herbeiführen, daß es sich auch nicht um Äquitätsjustiz, um Billigkeitsentscheidungen, handelt, ist offensichtlich.

Freilich beginnt der Begriff der Philanthropie in der Phraseologie der attischen Rhetoren derart zu verschwimmen und in allen möglichen Sinnfarbungen zu schillern, daß es einen Sprachgebrauch gibt, in dem ἐπιείκεια, δικαιοσύνη und φιλανθρωπἰα eng aneinanderrücken. Aber gerade die Vieldeutigkeit des Ausdrucks in diesem Milieu und die phrasenhafte Unscharfe der Terminologie lassen sichere Schlüsse nicht zu. Die Philanthropie erscheint hier in der attischen Demokratie zunächst da, wo das Volk am offensichtlichsten die Stelle des Königs einnahm: im richterlichen Urteil3). Von einem spezifischen königlichen Attribut wird die Philanthropie zu einer besonderen Tugend der Richter, dann aller staatlichen Amtsträger, endlich zu einer allgemeinen staatsbürgerlichen Tugend. Die Richter sollen Philanthropie üben, fordert Demosthenes4). Nicht nur εὔνοια, πραότης, ἔλεος sollen das Urteil erfüllen, sondern auch die Philanthropie wird mit diesen Worten verbunden oder an deren Stelle gesetzt5). Demosthenes, der das Wort Philanthropie besonders häufig verwendet6), berichtet, daß diejenigen, die jemanden mit Absicht erschlagen hatten, hart bestraft, dagegen diejenigen, die jemanden


➝ Wahrheit verletzt sind, sich an uns wenden, denn wir werden im Interesse solcher Leute [dort?] gegen die Schuldigen vorgehen, wie sich gebührt. Lebe wohl! Im 18. Jahre am 4. Peritios, am 25. Mesore.” — Hier wie in der Friedenskundgebung des Euergetes ergreift die Amnestie sowohl ἀγνοήματα wie ἁμαρτήματα.
1) BGU. IV, 1185. Wilcken, Arch. Pap., Bd. VI, S. 405 f.
2) Weitere Begnadigungsvorgänge vgl. Taubenschlag, a.a.O., S. 67 ff.
3) Lorenz, S. 20; Tromp de Ruiter, S. 284.
4) Dem. XIII, 17.
5) Lorenz, S. 20.
6) Tromp de Ruiter, S. 287.

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wider Willen erschlagen hatten, aus höchster Philanthropie rehabilitiert wurden1). Dementsprechend spielt die Philanthropie besonders in der Äquitätsjustiz der Epheten eine bedeutende Rolle, d.h. an jener Stelle, an der das jus strictum zuerst durch Billigkeitsentscheidungen durchbrochen wurde, weil die von den Epheten zu prüfende Frage, ob eine Tötung mit Vorbedacht oder im Affekt verübt war, wie Maschke zutreffend bemerkt2), nach jus strictum und formaler Beweistheorie nur schwer zum Austrag gebracht werden konnte, weil es sich hier um rein innerliche Vorgänge des Seelenlebens handelt. Philanthropie und Billigkeit berühren sich hier eng. Bei jenen typischen Grenzfällen, bei denen es auf die Berücksichtigung des konkreten Falles unter Absehung von der allgemeinen Vorschrift des Gesetzes und auf die Berücksichtigung innerer psychologischer Willensmomente ankommt, und die im allgemeinen zu Billigkeitsentscheidungen fuhren, wird auch die Philanthropie herangezogen. Die Gerechtigkeit soll nicht genügen, um eine Sache richtig zu entscheiden, es bedürfe auch der Philanthropie. Im allgemeinen überwiegt die Bedeutung der Milde im Urteil, die bereits im fünften Jahrhundert allgemein gefordert wurde3). In dieser Beziehung gebraucht es Demosthenes synonym mit εὔνους, πρᾶος und ähnlichen Ausdrücken, jedoch in Unterscheidung von δίκαιος, obgleich Philanthropie und Gerechtigkeit häufig nebeneinander gebraucht werden4). Stets behält er dabei einen gewissen Nebenton der Herablassung: „Man liebt diejenigen Menschen, zu denen man erfreulicherweise selbst nicht gehört5).” Die Philanthropie wird zu einem Schlagwort der Rechtssprache, das zur Billigkeit in einem ähnlichen Verhältnis steht, wie die römische humanitas zur aequitas.

Daneben entwickeln sich zahllose abgeleitete Bedeutungen des Wortes, denen allen die spezifisch propagandistische Struktur des Begriffes eigentümlich ist. Der volksverbundene Mann ist φιλάνθρωπος. Zusammenstellungen wie φιλάνθρωπος καὶ κοινός, καὶ δημοτικός, καὶ


1) Dem. XXI, 43.
2) Die Willenslehre im griechischen Recht. 1926. S. 49.
3) Tromp de Ruiter, S. 286.
4) Wie Heinemann, S. 298, gegen Lorenz, S. 21, aus Dem. VI, 1 entnimmt.
5) Heinemann, a.a.O.

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μέτριος bei Demosthenes deuten darauf hin1). Philanthropie ist jene Popularität, die durch ein rücksichtsvolles, uneigennütziges, nicht auf strengen Rechtsansprüchen bestehendes Verhalten erworben werden soll. Auch die Freigebigkeit gehört dahin; v. Wilamowitz-Moellendorff betont gelegentlich ganz ausdrücklich, daß diese Humanität etwas so sehr Ungriechisches sei, daß die Sprache nicht einmal ein Wort dafür habe. Humanität sei eine Übersetzung von Philanthropie, ein Wort, das, vom Menschen gesagt, der klassischen Zeit fremd sei; bezeichnenderweise bedeute τὰ φιλάνθρωπα, die Bezeugung der Humanität, sehr bald den Bakschisch2). Später werden auch Gaben, die einer mehr oder weniger unfreiwilligen Freigebigkeit entstammen, als Philanthropa bezeichnet. In den Papyri heißen gewisse Zwangsbeiträge für bestimmte Zwecke, die in der propagandistisch-offiziellen Sprache als „Liebesgaben” gelten, aber faktisch den Steuerzahlern zwangsweise auferlegt sind, wie ordentliche Abgaben, und dementsprechend einkassiert werden, Philanthropa3).

Weitere abgeleitete Bedeutungen sind: Vergünstigung, Vorrecht, Ehrung, Privileg, Sold; im allgemeinsten Sinne die Ehre, das Ansehen (honos; τιμή). Durchgängig ist die Tendenz der Milde, Schonung, Nachsicht. Im Verhältnis von zwei Staaten zueinander bedeutet Philanthropie ein politisches Freundschaftsverhältnis, Bundesgenossenschaft, Bündnis. Auch Friedensbedingungen heißen Philanthropa4). Bei Polybios, Philon, Plutarch kommt das Wort in allen diesen Bedeutungen vielfach vor.

Gleichwohl steht im hellenistischen Zeitalter wiederum im allgemeinen jener Sprachgebrauch im Vordergrund, der die Philanthropie als vornehmlich göttliche und königliche Eigenschaft begreift5). Der soeben geschilderte, zum Teil abweichende und jedenfalls außerordentlich verschwommene, vornehmlich attische Sprachgebrauch beeinträchtigt die Deutung der ptolemäischen Philanthropa als Betätigungen einer spezifischen Gnadengesinnung des vergöttlichten Herrschers daher nicht.


1) Dem. XVIII, 268; XXIV, 24; XXI, 128, 185.
2) Griechische Tragödien, II, 1900, S. 27, Anm. 1.
3) Wilcken, Griechische Ostraka, S. 409, 402.
4) Tromp de Ruiter, S. 289, 292; Lorenz, S. 33.
5) Lorenz, S. 46.

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Daß die Begnadigung mit dem Herrscherkult zusammen in das römische Recht übergegangen sei, ist nunmehr eine naheliegende Vermutung. Daß es im römischen Recht der republikanischen Zeit keine Begnadigung gibt, kann mit einiger Sicherheit angenommen werden. Wenn seit alters in der Literatur immer wieder auf den sakralrechtlichen Brauch hingewiesen wird, daß der Verurteilte, der auf dem Wege zur Hinrichtung einer Vestalin begegnete, freigelassen wurde1), so hat das mit Begnadigung im eigentlichen Sinne nichts gemein, sondern gehört zu jenen Fällen sakralrechtlicher Lösung des Verbrechers, wie sie als „Ordalien" in den meisten jüngeren Rechtskreisen begegnen2). Das Asylrecht, das gleichfalls nicht in den Zusammenhang des Begnadigungsrechts gehört, ist in Rom ursprünglich unbekannt. Tiberius hat es für die griechischen Tempel, für die es von jeher galt, abgeschafft. Mit der Entwicklung des römischen Kaiserkults kam ein beschränktes Asylrecht der Kaisertempel und -statuen auf. Für die christlichen Tempel wurde es zuerst im Westen von Honorius, im Osten von Theodosius II. anerkannt3). Die politische Amnestie kommt selbstverständlich auch in der republikanischen Zeit vor. Mommsen spricht von einer exzeptionellen Befreiung von der Strafverfolgung bei inneren Unruhen und Bürgerkriegen. Häufig werde in diesen Fällen die Rechtsordnung undurchführbar, so daß die Beteiligten durch einen Staatsakt außer Verfolgung gestellt würden. Im übrigen seien ἀμνησία und ἄδεια griechische Rechtsbegriffe, den Römern fehle die Sache nicht ganz, aber völlig das technische Wort4). Diese Ausdrucksweise läßt deutlich erkennen, daß es sich hierbei um völlig politische Vorgänge der Rechtsaussetzung handelt, die nicht als Begnadigung angesehen werden können5).


1) Plochmann, Das Begnadigungsrecht, 1845, S. 16; Mommsen, Römische Gesch., S. 150, Bd. I.
2) Vgl. oben S. 14 f.
3) Mommsen, Strafrecht, S. 458 ff.; v. Hippel, Strafrecht, S. 40; allgemein vgl. v. Woess, Das Asylwesen Ägyptens in der Ptolemäerzeit und die spätere Entwicklung, 1923 (Münchener Beiträge zur Papyrusforschung und antiken Rechtsgeschichte, Heft 5).
4) Mommsen, Strafrecht, S. 458.
5) Kleinfeller, R.E. 18. Hlbbd, 1916, S. 1378 ff., hält sogar die Annahme für naheliegend, daß die von den Geschichtsschreibern, z.B. Liv. III, 54; VII, 41; Appian. bell. Hann. 61; Cass. Dio XLIV, 43 erwähnten Amnestiefälle unter dem ➝

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Unter den übrigen, anscheinend begnadigungsähnlichen Institutionen der älteren Zeit sind die abolitio ex lege und die abolitio privata rein verfahrensrechtliche Einrichtungen. Die abolitio ex lege bewirkte lediglich, daß der Name des Angeklagten in der Anklageliste gelöscht wurde. Sie trat ein, wenn der Strafrichter oder der Ankläger durch Tod, Rücktritt vom Amte oder andere gesetzliche Ursachen an der Akkusation gehindert war. Der Wiederaufnahme des Prozesses durch einen anderen stand jedoch kein Hindernis entgegen. Ebenso stellte die abolitio privata nichts anderes als einen Rücktritt des Anklägers von der Akkusation dar. Den magistratischen wie den magistratisch-komitialen Prozeß der republikanischen wie das Kognitional-Verfahren der Kaiserzeit konnte der betreffende Beamte jederzeit fallen lassen. Auch in diesen Fällen konnte der Prozeß von anderen wieder aufgenommen werden1).

Niederschlagungen rechtshängiger Strafprozesse im modernen Sinne kommen im republikanischen Recht nicht vor. Seit dem Ende des ersten Jahrhunderts n. Chr. kommt eine allgemeine Niederschlagung — abolitio publica — auf, die durch kaiserlichen Erlaß oder Senatsbeschluß ergeht, veranlaßt ursprünglich durch besonders glückliche Ereignisse, später, in der christlichen Zeit, als Steigerung der jährlichen Osterfreude. Durch sie wurden die Gerichte angewiesen, die rechtshängigen Prozesse als nicht eingebracht zu behandeln. Ausgenommen waren regelmäßig die gegen verhaftete Sklaven sowie die wegen eines Kapitalverbrechens anhängigen Prozesse. Hiervon wird es nur vereinzelte Ausnahmen gegeben haben. In allen diesen Fällen aber ist, im Unterschied zur modernen Abolition, die Wiederaufnahme des Prozesses innerhalb von dreißig Tagen möglich2). Man wird annehmen können, daß die abolitio publica in der Kaiserzeit zu einer rechtstechnischen Form wurde, mittels deren Gnadenentscheidungen verwirklicht wurden, obgleich sie möglicherweise aus anderen Ursprüngen entstanden ist3).


➝ Einfluß der Erinnerung an Vorgänge der griechischen Geschichte ohne tatsächliche Grundlagen in die römische Geschichte hineingetragen worden seien.
1) Mommsen, Strafrecht, S. 455 f.; Plochmann, S. 12 ff.
2) Mommsen, S. 455 f.
3) Plochmann weist auf die in den ältesten Zeiten der Republik während der Dauer der öffentlichen Supplikationen und Lektisternien vorgenommenen ➝

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Man wird hier vor allem den häufig anzutreffenden Fehlschluß vermeiden müssen, mit dem aus rechtstechnischen Verfahrenseinrichtungen auf das Bestehen eines Begnadigungsrechts geschlossen wird. Solche Rechtsformen können möglicherweise in der späteren Zeit juristische Ausdrucksformen des Gnadenrechts werden, beweisen aber allein noch nichts für das Bestehen eines solchen in früherer Zeit. Das gilt z.B. von der Interzession des römischen Staatsrechts und der Appellation des Verfahrensrechts. So hat Kohler den Ursprung des römischen Begnadigungsrechtes in dem Oktavian zu den übrigen tribunizischen Befugnissen verliehenen Recht gesehen, „gleichsam kraft calculus Minervae verurteilende Erkenntnisse aufzuheben”, von dem Dio Cassius1) berichtet. Dieses Recht ἐκκλητόν τε δικάξειν, das Kohler im Auge hat2), führte neben der gebräuchlichen kassatorischen die reformatorische Appellation ein3). Diese hat zunächst an sich mit dem Begnadigungsrecht nichts zu tun. Richtig ist jedoch, daß der durch den Prinzeps kassierte Spruch nicht nur durch einen neuen Rechtsspruch, sondern ebenso durch einen Gnadenerweis ersetzt werden konnte. Insofern konnte die kaiserliche Gnade sich dieser Befugnis bedienen. — Mommsen wollte dagegen in der komitialen Provokation ein Begnadigungsrecht erkennen. Indessen handelt es sich hier vielmehr um ein jedem römischen Bürger zustehendes Rechtsmittel, um eine Appellation an eine letzte, höchste Instanz, die zumeist über Schuld oder Nichtschuld befand, das Urteil im ganzen aufheben oder bestätigen konnte, die aber keine Gnade übte.

In der Kaiserzeit entwickelte sich ein Begnadigungsrecht des princeps auch als vom Senat unabhängiges Majestätsrecht4). Restitutio und indulgentia sind die gebräuchlichen Ausdrücke für diese kaiserlichen


➝ Entfesselungen der gefangenen Verbrecher hin, für die sich übrigens auch ältere griechische Parallelen anführen lassen.
1) 51, 19, 6.
2) Kohler, Shakespeare vor dem Forum der Jurisprudenz, 1893, S. 169.
3) Mommsen, Strafrecht, S. 260, Anm. 2, S. 276 f., S. 469. Siber, Zur Entwicklung der römischen Prinzipatverfassung, 1933 (Nr. III d. XLII. Bds. d. Abhandl. d. phil. hist. Kl. d. sächs. Ak. d. Wiss.), S. 4, Anm. 4 sagt dazu: „Das konnte sich als Ausfluß oder Kollorar des tribunischen Rechts nur auf Strafsachen beziehen.”
4) Kleinfeller, a.a.O.

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Gnadenerweise. „Indulgentia” wird dabei in einem doppelten Sinne gebraucht. Im weiteren Sinne ist indulgentia ein Ausdruck von inhaltlicher Fülle, der in Verbindung mit verschiedenen konkreten rechts-technischen Begnadigungsformen auftritt. In diesem Sinne wird es synonym mit venia, gratia, concedentia1) angewandt und bedeutet eine Gesinnung der Milde, Nachsicht und Güte2), deren ethische Qualität ähnlich bestimmt ist wie die der Philanthropie und die als Ausfluß der clementia und der humanitas im späteren, vulgarisierten Sinne des Wortes empfunden wird. — Unter Zugrundelegung dieses weiteren Begriffes kann daher von „indulgentiae restitutio3)” gesprochen werden, womit alsdann eine gnadenweise gewährte Restitution gemeint ist. — Im engeren Sinne bezeichnet „indulgentia” dagegen zugleich eine technische Begnadigungsform, die als solche von der restitutio unterschieden ist, und zwar im wesentlichen dadurch, daß durch die indulgentia lediglich die Strafe aufgehoben wird, alle übrigen Folgen der Verurteilung und die infamia aber bestehen bleiben. Indulgentia specialis und generalis unterscheiden sich darin nicht. Dagegen bewirkt die restitutio — ebenso wie die restitutio in integrum bei unschuldig Verurteilten — eine vollständige Herstellung der früheren Rechtsstellung und unter Umständen Vermögensrückgabe4). Sowohl indulgentia als auch restitutio können vom Richter nicht gewährt werden5).

Die Gnadenerweise der römischen Kaiserzeit, die auf die indulgentia des Kaisers zurückgeführt werden, beruhen prinzipiell auf dem gleichen geistesgeschichtlichen und soziologischen Zusammenhang, aus dem sich auch die ptolemäischen „Philanthropa” entwickelt haben. Läßt es sich doch überhaupt zeigen, daß die Ausbildung der absoluten Herrschervergöttlichung und Herrschergewalt bis zur vollkommensten Ausprägung bei Diokletian ein Teil der gesamtstrukturellen Entwicklung


1) Kleinfeller, a.a.O. Über die Unterscheidung gegenüber der aequitas vgl. unten S. 66f.; Plochmann, S. 13, Anm. 9.
2) Indulgere = nachsichtig oder willfährig sein, nachgeben, begünstigen, sich hingeben, für etwas sorgen, (trans.) gewähren, bewilligen.
3) L. 13 § 4 C.
4) Plochmann, S. 19 ff.; anders, aber unwahrscheinlicher Kleinfeller, a.a.O.
5) Kleinfeller, a.a.O.

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ist, an deren Ende das römische Reich eine Sozial- und Herrschaftsstruktur aufweist, die eine typische Verwandtschaft mit den hellenistischen Staatsbildungen zeigt, damit die soziologische Typik der religiösen Herrschaftslegitimation bestätigend1). Darüber hinaus ist festzustellen, daß die Ausbildung des römischen Kaiserkultes dabei nicht nur der Gesetzlichkeit eines typischen soziologischen Ablaufs folgte, sondern auch immer wieder bewußte Formelemente der hellenistischen Herrschafts- und Kultverfassung rezipierte. Die ersten bedeutenden Ansätze des römischen Herrscherkults, die der Person Cäsars gegenüber festzustellen sind, fallen zusammen mit seiner bewußten geschichtlich-politischen Konzeption, die darauf gerichtet war, das Erbe des Hellenismus anzutreten und mit der hellenistischen Form der persönlichen Herrschaft auch die östlichen Formen der religiösen Herrschaftslegitimation zu übernehmen. Kleinasiatische Städte begrüßten Cäsar im Jahre 48 als Göttersohn, Gott auf Erden und allgemeinen Heiland des Menschenlebens2). Zahlreiche weitere Vergöttlichungsphänomene lassen sich aufweisen, deren Gegenstand Cäsar ist3). In noch stärkerem Maße wurde Augustus zum mindesten im Osten Gegenstand an hellenistische Traditionen anknüpfender göttlicher Verehrung. Augustus selbst förderte im Osten zwar diese Stimmungen und ließ den Kaiserkult mit der Verehrung der Göttin Roma, des personifizierten Genius des römischen Imperiums4) verbinden, übte aber in Rom vorsichtige Zurückhaltung, indem er prinzipiell nur Nichtrömern die Vergöttlichung des lebenden Herrschers gestattete, im übrigen die Konsekration des Herrschers erst nach dem Tode in der eigenartig konstitutionellen Form eines Senatsbeschlusses vollziehen ließ, endlich die Vergöttlichung auf die Erhebung zum Divus — nicht zum Deus — beschränkte, eine dem griechischen Heroenkult ähnliche abgeschwächte Form der Konsekration5). In Rom selbst wurde nur der Kult des konsekrierten Reichsgründers, Cäsar, zugelassen (49 v. Chr.). Als wesentliches Moment tritt


1) v. Borch, S. 93.
2) Lietzmann, Geschichte der alten Kirche, Bd. I, 1932, S. 172.
3) Heinen, Zur Begründung des römischen Kaiserkults, Klio, XI, 1911, S. 129ff.
4) Wissowa, Religion und Kultus der Römer, Bd. II, S. 341.
5) Kornemann, Zur Geschichte der antiken Herrscherkulte, Klio, I, S. 97.

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unter Augustus die Verbindung apokalyptisch-messianischer Erlösungserwartungen mit dem Herrscherkult hinzu. Weltherrschaft und Welterlösung vereinigen sich in der Person des Kosmokrators1). Vergils vierte Ekloge, mit ihrer messianischen Prophetie von dem Heiland, der als göttliches Kind auf die Erde niedersteigen, die Sünden der Vergangenheit tilgen und das goldene Zeitalter heraufführen werde, ist das berühmteste Dokument dieser neuen Wendung2). Diese Prophetie ist bald auf Augustus bezogen worden.

Nach Tiberius führt die Ausbildung des Kaiserkults immer näher an die hellenistischen Formen heran: Etwa seit Vespasian setzt sich die allgemeine — nicht mehr auf Nichtrömer beschränkte — göttliche Verehrung des lebenden Herrschers durch. Domitian proklamiert sich zu seinen Lebzeiten als Gott, Deus. Im Zeitalter Hadrians und der Antonine tritt der Herrscherkult der legitimierenden Kraft der kynisch-stoischen Philosophie gegenüber noch einmal zurück. Mit dem verfassungsrechtlichen Übergang vom Prinzipat zum Dominat fällt die Vollendung der absoluten Vergöttlichung des lebenden Kaisers zusammen, die als die spezifische Legitimität des Dominats verstanden werden muß. Die Zusammenstellung „Dominus et Deus” wird üblich, von Aurelian zuerst angewandt und von Diokletian förmlich vorgeschrieben3).

Alle wesentlichen politischen, soziologischen und kultischen Voraussetzungen, die für die Entstehung der Begnadigungsgewalt im hellenistischen Diadochenreich der Ptolemäer von Wichtigkeit waren, werden somit auch in der römischen Kaiserzeit aufgefunden: unbeschränkte monarchische Gewalt und Herrscherkult auf der Grundlage einer zentralistisch-bürokratischen Herrschaftsstruktur und einer magisch-rituell orientierten Religiosität. Die gleiche Übereinstimmung besteht in dem geistigen und philosophischen Weltbild dieser Epochen, sofern wir es unter dem beschränkten Aspekt der für diese Untersuchung wichtigen Züge betrachten.


1) v. Borch, S. 88.
2) v. Borch, S. 88; Kampers, Vom Werdegang der abendländischen Kaisermystik, 1924, S. 56; Mühl, S. 80; Ed. Norden, Die Geburt des Kindes, 1924; Lietzmann, S. 171.
3) v. Borch, S. 92.

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Die humanitär-zivilisatorischen und pazifistischen Grundstimmungen, wie sie in der geistigen Entwicklung des Griechentums seit Isokrates besonders auffällig hervortreten, werden in dem vom Hellenismus weitgehend bestimmten Kulturkreis der römischen Kaiserzeit übernommen und weiter fortgebildet. Der Begriff der „humanitas” in dem umfassenden, ein bestimmtes Idealbild des Menschentums bezeichnenden Sinne wird besonders unter dem Einfluß des griechischen Philosophen Panaitios von Rhodos in der aristokratischen Oberschicht der römischen Gesellschaft, in dem Kreise des jüngeren Scipio geprägt und von Cicero weiteren Kreisen vermittelt1). Die auch bei Panaitios und Cicero unverkennbaren spezifisch „humanitären” Elemente des Humanitätsbegriffs — im Unterschied zu der „humanistischen”, im Sinne der παιδεία verstandenen Komponente — erfüllen immer ausschließlicher den vulgären und populären Bedeutungsinhalt des Wortes.

Die indulgentia als spezifische Gnadengesinnung des Kaisers ist zwar zweifellos in späterer Zeit in eine enge Beziehung zur „humanitas” des Kaisers gebracht worden2). Ursprünglich fließt sie jedoch aus besonderen, speziell dem vergöttlichten Kaiser vorbehaltenen oder eigentümlichen Herrschertugenden, insbesondere aus der „clementia Caesaris”. Die clementia ist eine Tugend, die seit Cäsar im ausgezeichneten Sinne als römische Herrschertugend galt und zu einem „stehenden Epitheton des römischen Herrschers” geworden ist3). Nach seinem letzten spanischen Siege wurde Cäsar vom Senat durch Errichtung eines Tempels der clementia Caesaris geehrt, in dem die clementia als Göttin Hand in Hand mit Cäsar dargestellt wurde. Unter seinem Einfluß übernahm Augustus die clementia als Inbegriff der wahren Kaisertugend, deren Bewährung geradezu zum Kriterium des politischen Werturteils erhoben wird, wie sich aus der Gegenüberstellung von clementia und saevitia bei Sueton und Tacitus ergibt.

Die clementia hat von vornherein — der Begriff hat wesentliche Wandlungen, wie sie für die Philanthropie feststellbar waren, nicht


1) Reitzenstein, a.a.O.; Mühl, S. 60, 62 ff., 76 ff.
2) Peyron, S. 167 f.
3) Dahlmann, Clementia Caesaris, Neue Jahrb. f. Wiss.u. Jugdbildg., 10. Jahrg. 1934, H. 1, S. 17, 26.

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erfahren — eine enge Beziehung zum Straferlaß. Plautus gebraucht das Wort adjektivisch in dem Zusammenhang: clementi animo ignoscet1), für Terenz ist der begriff gleichbedeutend mit Freundlichkeit im Handeln, wohlwollender Güte. „Man zeigt sich als mild, wenn man trotz des formalen Rechts zur Strafe auf sie verzichtet, wenn man in seiner ganzen Handlungsweise nicht zur Strenge, sondern zur Güte neigt. In der Tätigkeit des ignoscere vollzieht man die clementia . . .” Auch Cicero setzt die clementia mit ignoscere und dieses wiederum mit sceleris poenam praetermittere, die Bestrafung eines Vergehens unterlassen, gleich. Die clementia erscheint bei ihm als Unterglied des Hauptbegriffs der temperantia in der Reihe der vier Tugenden: prudentia, iustitia, fortitudo und temperantia, neben continentia und modestia als die Qualität, durch die der Geist, der unbeherrscht zur Bestrafung eines anderen neigt, zu freundlichem Maßhalten bestimmt wird. Seneca unterstreicht die Berechtigung zum Strafen, auf die verzichtet wird, und versteht im übrigen gleichfalls unter clementia das Maßhalten bei der Möglichkeit, Rache zu üben, oder die Milde des Stärkeren gegen einen Schwächeren in der Bestimmung der Strafe (clementia est temperantia animi in potestate ulciscendi vel lenitas superioris adversus inferiorem in constituendis poenis)2). Bei Cicero wird deutlich, daß die clementia nicht im Zusammenhang mit der iustitia, sondern selbständig neben ihr steht. Die clementia bezeichnet das Nachgeben über das, was recht ist, hinaus. Insoweit deckt sie sich trotz naher Verwandtschaft nicht mit der aequitas. Freilich ist der Sprachgebrauch gerade bei Seneca nicht überall ganz scharf, so daß sich clementia und aequitas zeitweise zu decken scheinen: „Clementia liberum arbitrium habet: non sub formula, sed ex aequo et bono iudicat”3). Als Forderung der clementia erscheint es, besserungsfähiges Alter bei der Strafzumessung, Irrtum oder Trunkenheit bei der Beurteilung des Tatbestandes und bei der Verurteilung von Landesfeinden die Ehrenhaftigkeit der Sache oder die Lauterkeit der Motive zu berücksichtigen. Die clementia kommt


1) Miles, 1252; vgl. — auch im folgenden — Dahlmann, S. 17 ff.
2) De clementia, II, 3, 1.
3) De clementia, II, 7.

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nicht nur bei Schuldigen, sondern gerade auch bei Unschuldigen zur Anwendung; sie ist daher auch im höchsten Maße gerecht. — Die Lösung dieser Widersprüche scheint darin zu liegen, daß die clementia in einem umfassenden Sinne verstanden wird, der einerseits indulgentia, Gnadengesinnung, andererseits aequitas, Billigkeit, fordert.

Von der humanitas unterscheidet sich die clementia vor allem dadurch, daß sie ein genuin römischer Begriff ist und nicht jenen engen Zusammenhang mit der griechischen Bildung aufweist, der für die Entstehung der Humanitätsidee maßgebliche Bedeutung besitzt1). In den Übersetzungen griechischer Schriftsteller wird die clementia mit ἐπιείκεια, πραότης, εὐγνωμοσύνη, φιλανθρωπία wiedergegeben. Nach dem bisher Ausgeführten erscheint die Übersetzung durch φιλανθρωπία am angemessensten.

Der Begriff der clementia ist für die Geschichte des Begnadigungsrechts deshalb von besonderem Interesse, weil er den spezifischen Beitrag römisch-lateinischen Geistes zur Ausbildung des Gnadenrechts bezeichnet. Neben dem auf griechisch-hellenistischen Grundlagen beruhenden Humanitätsbegriff ist es die Clementia Caesaris, die in der indulgentia zu einer eigenartigen und besonderen Gnadengesinnung des römischen Weltherrschers führt.

 

b) Christentum

 

Dem Wesen der alttestamentarischen Gerechtigkeit ist die Gnade fremd2). E. Forsthoff hat auf die in keinem literarischen Zeugnis anderer Rechtskreise anzutreffende und anscheinend spezifisch jüdische Verbindung von Gerechtigkeit und Sicherheit hingewiesen, die in einem


1) Dahlmann, S. 18. Diese römische Wurzel tritt in der Schrift von A. Elias, De notione vocis clementia apud philosophos veteres et de fontibus Senecae Librorum de clementia, 1912 (Königsb. Diss.) nicht deutlich hervor.
2) K. Holl, Urchristentum und Religionsgeschichte, Die Antike, 1925, 1. Bd., S. 168: „Trotz allem, was auch im Alten Testament über die Langmut, die Barmherzigkeit, die Gnade Gottes zu lesen war: wenn Gottes Gesetz überhaupt einen Sinn haben sollte, so mußte es bei dem bleiben, was schon die einfache Vernunft lehrte und was dasselbe Alte Testament auf all seinen Blättern verkündigte, daß Gott denjenigen anerkennt und nur den anerkennt, der gerecht handelt.”

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charakteristischen Wort des Alten Testaments, Jesaias 32, V. 17, 18, zum Ausdruck kommt: „Der Gerechtigkeit Frucht wird Friede sein und der Gerechtigkeit Nutzen wird ewige Stille und Sicherheit sein, daß mein Volk in den Häusern des Friedens wohnen wird, in sicheren Wohnungen und in stolzer Ruhe1).” Shakespeare hat diese Eigenart des jüdischen Rechtsdenkens bemerkt und im „Kaufmann von Venedig” eindrucksvoll dargestellt2).


1) E. Forsthoff, Über Gerechtigkeit. Deutsches Volkstum. 1. Dez.-Heft, 1934, S. 971.
2) Das Thema des „Kaufmanns von Venedig” ist m.E. eine Parodie dieses Rechtssicherheitsdenkens, das bei Shylock in der Tiefe des jüdischen Rassebewußtseins, bei den Venezianern in dem rationalen Geiste der kapitalistischen Verkehrswirtschaft wurzelt. Der soziologische Hintergrund des Spiels wird gebildet durch die Anfänge der frühkapitalistischen Entwicklung in den oberitalienischen Handelsstädten. Die Voraussetzung des modernen rationalen Kapitalismus ist, wie Max Weber gezeigt hat, eine Rechtsordnung, die auf Berechenbarkeit, auf formaler Technizität beruht und nicht durch unberechenbare, rituell-religiöse und magische Gesichtspunkte gestört wird. Nicht materiale Gerechtigkeitsprinzipien, sondern das Postulat der „Rechtssicherheit” steht in dieser Epoche an erster Stelle. Es entwickelt sich ein eigentümliches Pathos der Rechtssicherheit, das die resignierende Unterwerfung des Richters unter die Verbindlichkeit des inhaltlich möglicherweise ungerechten, aber durch die „Vernunft der Positivität” sanktionierten Gesetzes und Urteils preist.
Antonios Anschauungen sind durch diese Vorstellungen entscheidend bestimmt. Nur unter dieser Voraussetzung kann die mißliche Situation verstanden werden, in die er durch den Verfall der Schuld, für die er sich in jenem merkwürdigen Schein verbürgt hat, gerät. Shylock übt ein bisher geltendes Recht, das unsittlich geworden ist. Er beruft sich auf die Rechtssicherheit, und die Venezianer können sich diesem Argument nicht verschließen. Sie müssen den Formalismus und die strenge Buchstabengläubigkeit, mit der Shylock auf der wörtlichen Erfüllung des Scheins besteht, hinnehmen, obgleich ihnen nicht wohl ist dabei. Formuliert wird das Prinzip der Rechtssicherheit von Antonio selbst, gegen den es sich richtet:

„Der Doge kann des Rechtes Lauf nicht hemmen,
Denn die Bequemlichkeit, die Fremde finden
Hier in Venedig, wenn man sie versagt,
Setzt die Gerechtigkeit des Staats herab,
Weil der Gewinn und Handel dieser Stadt
Beruht auf allen Völkern.” (III, 3.)

Freilich entstammt diese Überzeugung einer ganz anderen Wurzel, als Shylocks formalistische Rechtsverfolgung. Eben dadurch, daß zwei verschiedene Motivationen, aus grundverschiedenen Welten geboren, in diesem Prinzip der Rechtssicherheit zusammentreffen, vollzieht sich die dramatische Zuspitzung, die dem Shylock das Messer in die Hand drückt, um dem Antonio mit eigenen Händen das geschuldete Pfund Fleisch auszuschneiden. Die parodistische Absicht kommt in dieser grotesken ➝

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In einem vom Geiste der Rechtssicherheit in diesem Sinne getragenen Rechtssystem ist die Gnade notwendig ein Fremdkörper, ein Faktor der Unsicherheit, der unberechenbaren persönlichen Entscheidung und grundlosen Willkür. Das Mosaische Gesetz fordert die Bestrafung des Verbrechers ohne Gnade1). Hierfür wird zumeist auf Ep. ad Hebr. 10, 28 hingewiesen: „Wenn jemand das Gesetz Moses’ bricht, so muß er sterben ohne Barmherzigkeit auf zwei oder drei Zeugen hin.” Die israelitischen


➝ Situation deutlich zum Ausdruck. Der Eifer, mit dem Shylock nach „Recht und Gericht! . . . Gesetz!” ruft, mit dem er starrsinnig auf seinem Schein besteht, hat eine andere Wurzel als die Überzeugung der Venezianer von der Notwendigkeit eines störungsfreien rationalen Rechtsvollzugs: Es ist jener spezifische Formalismus, mit dem sich das Pariavolk eine garantierte Schutzsphäre schafft und ausbaut, jene Argumentation, unter der sich stets die Judenemanzipation vollzieht. Für Shylock ist die Rechtssicherheit die Grundlage seines wucherischen Geldhandels sowohl wie seiner rechtlichen Existenzbehauptung in der Welt der Artfremden überhaupt. Der jüdische Paria-Kapitalismus, wie ihn Max Weber beschreibt, trifft in diesem Prinzip mit dem rationalen abendländischen Kapitalismus zusammen. Eben weil die Rechtssicherheit für Shylock eine Waffe im Kampf mit den Fremden ist, kann sie zu jener Übersteigerung kommen, in der sie sich durch Porzias klugen Spruch einfach ad absurdum führen läßt dadurch, daß sie konsequent zu Ende gedacht wird:

„Wart’ noch ein wenig, eins ist noch zu merken:
Der Schein hier gibt dir nicht ein Tröpfchen Blut.
Die Worte sind ausdrücklich ein Pfund Fleisch.
Nimm den Schein und nimm du dein Pfund Fleisch.
Allein vergießest du, indem du’s abschneidst,
Nur einen Tropfen Christenblut, so fällt
Dein Hab und Gut nach dem Gesetz Venedigs
Dem Staat Venedigs heim.”

Das Unrecht, das dem Antonio dabei geschieht, ist den Venezianern bewußt. Aber der Doge wagt es nicht, dieses Rechtsbewußtsein der formalen Logik der Rechtssicherheit entgegenzusetzen. Am Ende spielen die guten Venezianer keine ganz glückliche Rolle: eine verkleidete Frau muß den Widersinn ihrer Rechtsentscheidung aufdecken, indem sie ihr formales Denken auf die Spitze treibt.
Rationalismus und technischer Formalismus sind konstitutive Elemente jeder modernen Rechtsordnung. Nicht ihnen gilt die parodistische Absicht Shakespeares. Getroffen wird vielmehr jene Rechtssicherheitsideologie, die sich diesem notwendigen technischen Element des Rechts so weit unterwirft, daß sie die gerechte Entscheidung kampflos der berechenbaren preisgibt, mit der Rechtfertigung: es komme mehr darauf an, daß dem Streit ein Ende gesetzt werde, als daß ihm ein gerechtes Ende gesetzt werde.
1) Joh. Merkel, Die Begnadigung am Passah-Feste, Ztschr. f. d. neutestamentl. Wissensch. u. die Kunde des Urchristentums, 6. Jahrg. 1905, S. 295.

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Könige besaßen ein Begnadigungsrecht nicht1). Anlaß zur Erörterung dieser Fragen bildete in der älteren Literatur besonders die von den Evangelisten berichtete Begnadigung des Barrabas an dem Passah-Feste, an dem Jesus Christus hingerichtet wurde. Die Evangelisten stimmen darin überein, daß eine Sitte bestanden habe, nach welcher der römische Prokurator von Judäa bei festlichem Anlaß dem Volke einen Gefesselten freizugeben pflegte nach einer vom Volke selber getroffenen Auswahl2). Seit alter Zeit ist strittig, ob es sich dabei um eine einheimische jüdische Sitte oder aber um eine dem römischen Prokurator als solchem zustehende, auf dem römischen Rechte beruhende Befugnis gehandelt habe. Hugo Grotius hat zuerst behauptet, daß es sich nicht um einen jüdischen Brauch, sondern um eine auf römischen Einflüssen beruhende Gewohnheit gehandelt habe, die vor der römischen Herrschaft in Judäa noch nicht bestanden habe3). In der neueren Forschung wird festgestellt, daß weder ein jüdisches Gewohnheitsrecht der Gefangenenfreilassung an hohen Festtagen erweislich ist, noch eine dahingehende Übung der prokuratorischen Regierung, daß ferner die Beschränkung eines solchen Brauches auf einen einzigen Gefangenen ohne Beispiel sein würde; die Berichterstatter in den Evangelien hätten dagegen recht, wenn sie sich des dem römischen Volke bekannten Gebrauchs vor dem Gerichte eines römischen Beamten erinnerten und die Akklamationen des Pöbels als das Mittel schilderten, um eine Einzelbegnadigung in die Wege zu leiten4).

Auch ein ägyptischer Parallelvorgang, den der Florentiner Papyrus Nr. 61, 59 ff. vom Jahre 85 n. Chr. schildert, läßt die gleiche Frage offen. Der Papyrus zitiert das Protokoll einer Gerichtsverhandlung vor dem


1) Merkel, S. 302, u. dort zit. Lit. Die in der ältesten Literatur auftretenden Versuche, einzelne Vorgänge der alttestamentarischen Geschichte als Begnadigungen zu deuten, sind unhaltbar. Gans, Erbrecht, S. 11 ff., wendet sich gegen J.D. Michaelis, Mosaisches Recht, I. Teil, 1770, S. 38 f., VI, S. 42 ff., der die Tatsache, daß David die Strafe an der Bathseba nicht vollzieht und daß er dem Absalon verzeiht, als Begnadigungen verstehen will. Besonders erörtert wird die „Begnadigung” des Jonathan 1. Sam. 14, 45. Andere Fälle bei Petrus Theodoricus, Judicium criminale practicum, Jenae 1671, cap. X, aph. VII, § 11.
2) Matth. 27, 15; Marc. 15, 6; Luc. 23, 17; Joh. 18, 39.
3) Grotius, Opera omnia theolog., 1732, Bd. II, S. 266.
4) Merkel, S. 311.

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Statthalter von Ägypten, G. Septimius Vegetus, der folgende Worte an einen gewissen Phibion richtet, der eigenmächtig einen anständigen Mann, seinen angeblichen Schuldner, und Frauen eingesperrt hatte: „Verdient hättest du, daß du Geißelhiebe erhieltest . . . ich will dich aber dem Volkshaufen schenken . . .” Wenn man versucht, aus diesem Vorgang Rückschlüsse für die Begnadigung des Barrabas zu ziehen1), so scheitert das nicht nur daran, daß auch hier die Frage offenbleibt, ob es sich nicht um römische Einflüsse gehandelt habe, sondern weiter auch daran, daß sich unter den besonderen Bedingungen des ptolemäischen Diadochenreiches, die mit den jüdischen Verhältnissen nicht zu vergleichen sind, tatsächlich am frühesten ein echtes Begnadigungsrecht entwickelt hat, das jedoch ebenfalls an ältere ägyptische Kulturüberlieferungen nicht anknüpft.

Die christlich-theologische Gnadenlehre verbindet in gewissem Umfang das moderne mit dem antiken Begnadigungsrecht. Das moderne Begnadigungsrecht, wie es insbesondere von den Naturrechtslehrern des siebzehnten Jahrhunderts entwickelt wurde2), ist vielfach beeinflußt von theologischen Vorbildern und Parallelen aus der Lehre von der Gnade und der Barmherzigkeit Gottes, von der Vergebung der Sünden und dem kirchlichen Bußwesen. Diese christlichen Lehren stehen aber selbst wieder in engem Zusammenhang mit hellenistischen Gedankengängen, wie ja überhaupt das Evangelium zuerst in einer geistig durch den Hellenismus bestimmten Welt verkündigt wurde und die christliche Dogmatik sich daher vielfach der Sprache und des Begriffsschatzes dieser geistigen Welt bediente. Deißmann hat auf den besonders interessanten Vorgang aufmerksam gemacht, daß der in die Mittelmeerwelt hinaustretende Christuskult schon früh das Bestreben zeigte, die dieser Welt geläufigen und jetzt eben auf die vergötterten Kaiser übertragenen oder im Kaiserkult vielleicht auch neugeschaffenen Kultworte für Christus zu reservieren. „So entsteht ein polemischer Parallelismus zwischen Kaiserkult und Christuskult, der auch da empfunden wird, wo die vom


1) Deißmann, Licht vom Osten, Das Neue Testament und die neuentdeckten Texte der hellenistisch-römischen Welt, 1908, S. 193.
2) Z.B. von Grotius, Pufendorf, Theodoricus, Carpzov u.a.; vgl. unten S. 82 ff.

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Christuskult bereits mitgebrachten Urworte aus den Schatzkammern der Septuaginta-Bibel und des Evangeliums mit ähnlich oder gleichklingenden solennen Begriffen des Kaiserkults zusammentreffen1).” In diesem Zusammenhang wird auch die Philanthropie als spezifisches Attribut des vergöttlichten Herrschers auf Christus übertragen. Die Philanthropie als eigentümlich göttliches Attribut begegnet im Alten Testament gar nicht, im Neuen nur einmal, unendlich häufig dagegen bei den Kirchenvätern2). Die einzige im Neuen Testament in Betracht kommende Stelle befindet sich in dem Briefe des Paulus an Titus 3, 4: „Da aber erschien die Freundlichkeit (χρηστότης) und Leutseligkeit (φιλανθρωπία) Gottes unseres Heilandes.” Die Worte leiten einen Zusammenhang ein, in dem die Barmherzigkeit und die Gnade Gottes geschildert und gepriesen wird3). Bei Origines und Eusebius ist zu lesen, daß Christus aus Philanthropie den Tod für die Menschen erlitten habe, daß die Philanthropie des Vaters den Menschen das Heil gebracht habe4). Sofern es der Sinn dieses „polemischen Parallelismus” ist, die Göttlichkeit des Kaisers und die daraus abgeleiteten spezifischen Befugnisse in Frage zu stellen, ist in der urchristlichen Auffassung kein Raum für ein weltliches oder sakral begründetes Begnadigungsrecht des Herrschers. Infolge des urchristlichen Indifferentismus in allen staatlich-politischen Angelegenheiten gibt es kaum ausdrückliche Äußerungen darüber. Dagegen werden Gedanken des weltlichen Begnadigungsrechts rezipiert und ins Theologische übersetzt. Dafür hat Ulrich Wilcken5) interessante Belege erbracht. In dem Papyrus Teb. 5 sind vorsätzlicher Mord und Tempelfrevel von der Amnestie ausgeschlossen (φόνοι ἑκοὐσιοι u. ἱεροσυλία) Lenel und Partsch haben diese Delikte den res capitales gleichgesetzt, die auch nach römischem Recht von Gnadenakten ausgenommen waren6). Hierfür nun findet sich eine bedeutsame theologische Parallele bei


1) Deißmann, S. 265, Anm. 11, S. 247.
2) Lorenz, S. 42 f.
3) V. 5: „Nicht um der Werke der Gerechtigkeit willen, die wir getan haben, sondern nach seiner Barmherzigkeit machte er uns selig durch das Bad der Wiedergeburt und Erneuerung des Heiligen Geistes.”
4) Lorenz, S. 43.
5) Urkunden der Ptolemäerzeit, I, 1927, Nr. 111.
6) Wilcken, a.a.O.

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Eusebius von Caesarea, der die Sünden in ἀγνοήματα und ἁμαρτήματα scheidet. Diese Terminologie bezeichnet einen feststehenden und grundlegenden Gedanken des ptolemäischen Strafrechts, die Einteilung der Straftaten in ἀγνοήματα und ἁμαρτήματα. Das erstere ist das aus Irrtum oder Unwissenheit, das sine dolo malo begangene Delikt, während das letztere das absichtliche, das dolo malo begangene Delikt darstellt1). Die Unterscheidung des absichtlichen von dem fahrlässig-zufälligen Delikt ist dem älteren griechischen Recht von einer bestimmten Stufe an — zum mindesten seit den Unterscheidungen des drakontischen Mordrechts — geläufig2). Der Amnestieerlaß in Teb. 5 zeigt, daß sie auch im hellenistischen Recht gilt. Eine allgemeine Klassifizierung der Delikte in ἀγνοήματα und ἁμαρτήματα ist indessen nirgends im älteren Recht zu finden. Es ist sehr wahrscheinlich, daß diese Terminologie auch im Recht des Seleukidenreiches Geltung gehabt hat. Wilcken hält daher diese Klassifikation für einen spezifischen und grundlegenden Gedanken des hellenistischen Rechts.

Er findet diese begriffliche Unterscheidung nun in der Kaiserzeit nur noch an einer einzigen Stelle, nämlich in der Demonstratio evangelica des Eusebius3). Bei dieser Stelle, die man auf den ersten Blick hin für einen Hinweis auf eine Amnestie (ἄφεσις) halten könnte, handelt es sich um die Vergebung der Sünden durch Christus, wie von Eusebius nicht anders zu erwarten war. Nach dem Muster jener heidnischen Terminologie des griechischen Rechts sind hier die Sünden in unabsichtliche und absichtliche eingeteilt, so wie die kirchliche Dogmatik später zwischen peccata involuntaria, unvorsätzlichen, Schwachheits- oder Übereilungssünden, und peccata voluntaria, vorsätzlichen, Bosheitssünden, unterscheidet. Auch den Begriff der Todsünden als der Sünden, für die es keine Vergebung gibt (peccata irremissibilia sive


1) Ebenso Wenger, Urkunden aus Tebtynis, Arch. Pap. II, S. 484. Unrichtig dürfte die Deutung von Preisigke, Arch. Pap. Bd. V, S. 303, sein, der als ἀγνοήματα diejenigen strafrechtlichen Verfehlungen bezeichnet, die aus Unkenntnis der Gesetze begangen sind, dagegen als ἁμαρτήματα diejenigen, die auf Unachtsamkeit oder Übereilung beruhen.
2) Vgl. Maschke, a.a.O.
3) IV, 10, p. 163 A: λύσιν τε καὶ ἄφεσιν τῶν πρὶν ἀγνοημάτων καὶ ἁμαρτημάτων ὑπισχνούμενος.

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mortalia, Tertullian), glaubt Wilcken auf jene profane Rechtsanschauung zurückführen zu können, wonach die μείζω ἁμαρτηματα, Mord und Tempelfrevel, von der Amnestie ausgeschlossen waren1). Todsünden im Sinne der kirchlichen Dogmatik waren ursprünglich Mord, Idolatrie und Unzucht. Hinsichtlich des Mordes ist die Übereinstimmung unzweifelhaft, in der Idolatrie könnte eine christliche Umbildung der Hierosylie gesehen werden, die Unzucht endlich könnte eine speziell christliche Zugabe in diesem Deliktskatalog sein. Auch der Ausgangspunkt dieser Lehre, die ἁμαρτία εἰς θάνατον, um deren Vergebung man nicht bitten soll2), lasse sich von jener heidnischen Rechtsanschauung aus verstehen: wie es dort Delikte gebe, die zum leiblichen Tode führen, weil sie nicht unter die Amnestie fallen, so gebe es hier Sünden, die zum geistigen Tode fuhren, weil es keine Vergebung für sie gibt.

Wiederum begegnen die gleichen theologischen Gedanken in der Begnadigungslehre der naturrechtlichen Epoche. Ihr Katalog der nicht begnadigungsfähigen Delikte ist ebenfalls gruppiert um die drei Haupttatbestände: idolatria, homicidium, adulterium3). Die Lehre Carpzovs, die dank seiner hohen juristischen Autorität lange Zeit vorbildlich blieb, entwickelte das Begnadigungsrecht aus dem Gesichtspunkt des Regals, das ausschließlich dem Kaiser und dem Landesherrn zugesprochen wurde4). Den nicht mit Landeshoheit ausgestatteten Gerichtsherren soll nur ein Milderungsrecht, kein Strafwandlungsrecht, zustehen. Die Landesherren aber sind in ihrem Gnadenrecht durch den unbedingten Ausschluß der delicta juris divini beschränkt. Als solche gelten: homicidium, adulterium, blasphemia, sortilegium, sodomia. Hier sei der Grund der Strafe Gottes Wille, ihre Handhabung eine so heilige religiöse Pflicht, daß die Begnadigung eines Mörders dem Fürsten nicht erlaubt sein könne, sondern eine Versündigung gegen Gottes Gebot darstelle5). Theodoricus betont gleichfalls, daß nicht bei allen Verbrechen die Strafe gnadenweise erlassen werden könne, wenn es auch gewohnheitsmäßig


1) Wilckens Vermutungen sind, wie er mitteilt, durch Karl Holl angeregt worden.
2) Joh. 1, 5, 16.
3) Plochmann, S. 34, Anm. 2.
4) Practica nova imperialis Saxonica rerum criminalium. Vitemb. 1635. Pars III.
5) quaest. 142-151.

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immer wieder geschehe. Ausgenommen seien insbesondere Verbrechen, bei denen die Strafe göttlichen Rechts ist, sowie besonders gotteslästerliche Verbrechen (quae . . . Majestatem Divinam principaliter laedunt) wie blasphemia, execrationes in Deum, sortilegium u.a., oder besonders gesellschaftswidrige (quae societatem humanam maxime dissolvunt) wie homicidia dolosa voluntaria et proditoria, depraedationes, latrocinia, raptus, adulteria, incendia und ähnliche1). Auch hier wird das Hauptgewicht auf blasphemia, homicidia, adulteria gelegt2). Struvius meint, daß das Begnadigungsrecht regelmäßig aufhöre gegenüber Delikten wie: Blasphemia in Deum commissa, sortilegium, homicidium deliberatum, adulterium stricte ita dictum, bigamia, incestus, sodomia, parricidium, latrocinium, rapina, incendium, aliaque eius generis delicta3). Später wurde in allen diesen Fällen nur bei besonders wichtigen Gründen Begnadigung zugelassen. Erst am Anfang des achtzehnten Jahrhunderts räumte man das Begnadigungsrecht auch bei den Strafen ein, die als a jure et lege divina dictatae angesehen wurden4). — Wenn auch in allen diesen Fällen der Gesichtspunkt eine Rolle spielt, daß der Landesherr zwar nicht an seine eigenen, wohl aber an die göttlichen Gesetze gebunden sei, von diesen infolgedessen nicht dispensieren könne, so ist doch in der Auswahl der Delikte der Einfluß des theologischen Vorbilds unverkennbar.

Ähnliche Zusammenhänge werden im kirchlichen Bußwesen des Mittelalters anzunehmen sein. K. Beyerle hat darauf hingewiesen, daß


1) Petri Theodorici Judicium Criminale Practicum, Jenae 1671 (1. Aufl. Collegium Criminale 1618). Cap. X Aphor.VII. Nr. 9. Schaffstein, Die allgemeinen Lehren vom Verbrechen in ihrer Entwicklung durch die Wissenschaft des gemeinen Strafrechts, 1930, S. 211, bezeichnet Theodoricus als den ersten Deutschen, der das Wesen der Gnade wissenschaftlich genauer untersucht habe.
2) Nr. 10: tum quod inferiori superiores legem tollere fas non sit: tum quod nemo liberalis et benignus esse possit de alieno remittendo poenam, quae Deo, cujus judicia magistratus exercet Psalm 82 debetur: tum denique quod mandata Divini numinis de blasphemis, homicidis, adulteris aliorumque graviorum criminum reis, ut isti de medio tollantur ne eis parcatur, ne Judex eorum misereatur, neve abscondantur praecipientis Deut. 13 versic. 8. 9. & cap. 22. v. 21. 24. Cap. 24. v. 7. & c. praecise sint custodienda 1. Sam. 15. v. 22.”
3) Georg Adam Struvii Dissertationes Criminales, 1671, Thes. IX, S. 264.
4) Plochmann, S. 34.

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es für die Ideengeschichte des Gnadenrechts vor allem wichtig wurde, daß im kirchlichen Bußwesen ein dem juristischen analoges Gebiet rein geistlicher Richtertätigkeit, das forum internum, erstand1). So unzweifelhaft richtig diese Bemerkung ist, so bezeichnet sie doch nur eine Seite des Problems: denn zweifellos ist die kirchliche Dogmatik auch hier nicht unbeeinflußt geblieben vom spätantiken, insbesondere römischen Begnadigungsrecht. Daraufhin deutet zunächst eine terminologische Übereinstimmung: die indulgentia, der technische Ausdruck des römischen Rechts, der zugleich die inhaltliche Motivation als auch eine juristische Form des Gnadenrechts bezeichnet, kehrt in der theologischen Fachsprache wieder. „Indulgentia peccatorum” bezeichnet allgemein die Vergebung der Sünden, sodann aber auch in einem engeren technischen Sinne den Ablaß2). In dieser engeren Bedeutung ist der Zusammenhang mit dem Begnadigungsrecht besonders naheliegend. Ist doch der Ablaß ursprünglich — d.h. seit seiner Entstehung im elften Jahrhundert — nichts anderes als der Nachlaß kirchlicher Bußstrafen, und zwar zunächst die teilweise Ermäßigung von Bußleistungen (relaxatio secundae, tertiae, septimae partis de in juncta poenitentia), dann noch im Laufe desselben Jahrhunderts der Erlaß des gesamten Bußwerkes, der tota poenitentia, wie z.B. der Kreuzzugablaß Urbans II. im Jahre 10963).

Das Ablaßwesen durchläuft alsdann eine Entwicklung, zu der sich im Begnadigungsrecht deutliche Parallelen aufweisen lassen. Die ursprüngliche Bedeutung des Erlasses kirchlich auferlegter Bußstrafen (Satisfaktionen) wandelt sich im dreizehnten Jahrhundert dahin ab, daß nunmehr der Ablaß den Erlaß von Gott verhängter zeitlicher Sündenstrafen bedeutet. Die Satisfaktionen hatten ihre alte Bedeutung durch das Vordringen der Absolution verloren. Um ihnen einen neuen Wert zu verleihen, wurde ihnen in der scholastischen Theologie eine neue


1) Von der Gnade im deutschen Recht, S. 9.
2) Brieger, Real-Enzykl. f. prot. Theologie u. Kirche, 3. Aufl., Bd. 9, 1901, Art. „Indulgenzen”.
3) Harnack, Dogmengeschichte, 4. Aufl., 1910, Bd. III, S. 327, Anm. 2, erklärt gegen Brieger, die Entstehung der Ablässe wurzele in der Praxis der Redemtionen, reiche daher noch weiter zurück.

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eigenartige Bedeutung beigemessen. Während in der Taufe die Sünde samt der Strafe ohne alle Genugtuung vergeben wird, wird der Sünder in der Buße dagegen zwar seiner Sündenschuld und damit zugleich der ewigen Strafe ledig, es bleiben ihm aber die zeitlichen Sündenstrafen auferlegt. Die Satisfaktionen werden nun als Abbüßung dieser zeitlichen Sündenstrafen verstanden und der Ablaß bedeutet Erlaß der Satisfaktionen in diesem Sinne. Sie befreien den von Gott begnadigten Sünder von den zeitlichen Strafen des Diesseits und des Jenseits, die Gott über ihn verhängt hat, und die ihm nur erlassen werden können, wenn die Schuld und die ewige Strafe ihm bereits vergeben sind; daher hilft der Ablaß dem Todsünder nicht1).

Die praktische Handhabung des Ablaßwesens beruhte dogmatisch auf der Lehre von dem thesaurus meritorum, dem Schatz überschüssiger Verdienste, die von Christus und den Heiligen geleistet worden sind, der von der Kirche verwaltet wird2). Diese überschüssigen Verdienste werden dem Sünder zugewendet, wobei ein eigentümliches System von Vertauschungen, Ablösungen und Stellvertretungen ausgebildet wird.

In den letzten Jahrhunderten des Mittelalters hat die kirchliche Ablaßlehre eine letzte Steigerung erfahren, die von katholischer Seite bestritten zu werden pflegt. Im vierzehnten Jahrhundert bis in die Zeit Luthers breitete sich eine Auffassung aus, die in dem Ablaß eine indulgentia a poena et a culpa, einen „Ablaß von Pein und Schuld”, erblickt, ihn damit zur unmittelbaren Versöhnung mit Gott übersteigert. Benedikt XIV. hat diese Ablaßbriefe als falsch bezeichnet und sie den Almosensammlern zugeschrieben, die vor der Synode von Trient Ablässe verkündigten und dabei Almosen einsammelten. Bellarmin und Suarez haben dagegen die Echtheit dieser Erlasse anerkannt. In einem amtlichen Erlaß des Papstes Bonifaz IX. kommt die ausdrückliche Wendung „a poena et culpa vel plena indulgentia omnium peccatorum” vor. Der Protest Luthers richtete sich nicht zuletzt gegen diese Verflechtung


1) Brieger, S. 80 f.
2) Daß eine außerordentliche asketische Leistung nicht nur ein besonderes Verdienst bei Gott einträgt, sondern auch zum Ausgleich für etwa begangene Sünden verwertet werden kann, ist nach Holl, S. 174, ein jüdischer Gedanke. Vgl. auch Harnack, S. 514-16, N. 1. (1. u. 2. Aufl., III. Bd.).

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der göttlichen Gnade in ein sacrum negotium. Seine Thesen suchen den Ablaß auf seine ursprüngliche Bedeutung der relaxatio poenae canonice imposita zurückzufuhren (5; 20; 34). Man wird — schon aus der terminologischen Übereinstimmung — schließen dürfen, daß die kirchlichen Ablaßtheorien nicht unbeeinflußt von dem römischen Gnadenrecht entstanden sind. Die besondere Problematik, die in der Entwicklung der Ablaßlehre in der Frage: Auslöschung der Schuld, Vergebung, oder bloßer Straferlaß, eingeschlossen war, war auch den römischen Schriftstellern geläufig. In der stoischen Philosophie wird zwischen verzeihen und schonen, ignoscere und parcere, scharf unterschieden. Seneca stellt die clementia der nach der stoischen Ethik schwächlichen venia gegenüber und prägt eine bekannte, für das stoische Rechtsbewußtsein charakteristische, bis in die neuere Zeit oft wiederholte Formel: „Ei ignoscitur, qui puniri debuit. Sapiens autem nihil facit quod non debet, nihil praetermittit quod debet1)”.

Grotius hat die Unterscheidung zwischen schonen und verzeihen für einen leeren Begriffsstreit erklärt2). Ebenso wie Pufendorf gebraucht er für die Begnadigung durchgängig das Wort „ignoscere3)”. Gegenüber der stoischen Auffassung, die aus einem Fragment des Stobaeus unter dem Titel „De magistratu”, aus Ciceros Rede „Pro Murena” und aus dem Schluß von Senecas Buch „De clementia” hervorgehe, sucht er darzulegen, weshalb es bisweilen erlaubt sei, zu vergeben oder zu entschuldigen. Die stoischen Gründe gegen die Begnadigung seien trivial. Verzeihung sei nach ihrer Auffassung Erlaß einer verdienten Strafe. Der Weise aber tue, was er solle. Nach Grotius liegt das Mißverständnis hier in dem Worte „verdient”. Wenn man darunter verstünde, daß der, welcher gesündigt habe, in dem Sinne Strafe verdient habe, daß er ohne Verletzung der Gerechtigkeit bestraft werden könne, so würde daraus noch nicht folgen, daß derjenige, der es unterläßt, ihn zu strafen, damit etwas Unerlaubtes tue. Die Strafe sei nicht in dem Sinne verdient, daß sie unter allen Umständen vollstreckt werden müsse, ihre


1) De clem. II, 7.
2) Cap. XX, § XXIII.
3) L. II, cap. XX. Pufendorf, Libri VIII, cap. III, §§ 15-17; auch häufig venia.

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Vollstreckung sei lediglich erlaubt. Vor und nach der Setzung des Strafgesetzes sei noch Verzeihung möglich.

Nach Hegel ist die Begnadigung Erlassung der Strafe, die aber das Recht nicht aufhebt. Dieses bleibe vielmehr, und der Begnadigte sei nach wie vor ein Verbrecher; die Gnade spreche nicht aus, daß er kein Verbrechen begangen habe. Diese Aufhebung der Strafe könne durch die Religion vor sich gehen, denn das Geschehene könne vom Geist im Geiste ungeschehen gemacht werden1). Daneben kennt Hegel merkwürdigerweise — ohne daß die Abgrenzung klar würde — ein Majestätsrecht der Gnade, das in grundloser Entscheidung die Macht habe, das Verbrechen ungeschehen zu machen und im Vergeben zu vernichten2). Der tiefere Grund für diese zwiespältige Auffassung des Gnadenrechts wird in der Zwiespältigkeit der Hegelschen Schuldlehre3) zu suchen sein: Wo die Schuld des Rechtsbrechers in der Gesinnung, in einem Willensfehler gefunden wird, nimmt die Begnadigung den Charakter der Verzeihung an, die bei einem gleichzeitigen Gesinnungswandel des Täters — der Reue — die Verfehlung aufhebt. Soweit die Schuld dagegen auf die äußerlich in Erscheinung tretende und äußere Folgen auslösende Tathandlung bezogen wird, kann durch die Begnadigung zwar die Strafe erlassen, aber nicht die Tat ungeschehen gemacht und die Schuld getilgt werden4).


1) Rechtsphilosophie, Zus. Nr. 173 zu § 282.
2) § 282: „Aus der Souveränität des Monarchen fließt das Begnadigungsrecht der Verbrecher, denn ihr nur kommt die Verwirklichung der Macht des Geistes zu, das Geschehene ungeschehen zu machen und im Vergeben und Vergessen das Verbrechen zu vernichten.” Zus. Nr. 173 zu § 282: „Insofern dieses in der Welt vollbracht wird, hat es seinen Ort aber nur in der Majestät und kann nur der grundlosen Entscheidung zukommen.”
3) S. unten S. 106 ff.
4) § 9 II 13 ALR. stellt nebeneinander die Rechte „aus erheblichen Gründen Verbrechen zu verzeihen”, und „Verbrecher ganz oder zum Theil zu begnadigen”. Aus der weiteren Aufzählung geht jedoch hervor, daß damit eine begrifflich scharfe Unterscheidung nicht gemeint sein kann. Die Regelung der Rechtsfolgen der Begnadigung durch das ALR. weist mehr auf die Auffassung hin, daß die Begnadigung lediglich Straferlaß sei; § 10: Durch dergleichen Aufhebung eines Verbrechens oder durch die erfolgende Begnadigung des Verbrechers sollen aber die aus der That selbst wohlerworbenen Privatrechte eines Dritten niemals gekränkt werden. — § 11: Vielmehr bleibt diesem, wenn auch die peinliche Untersuchung gegen den ➝

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Von praktischer Bedeutung sind diese Auffassungen über die Wirkung der Begnadigung vor allem für die Regelung ihrer Rechtsfolgen. Eine als Verzeihung aufgefaßte Begnadigung muß folgerichtig zur vollständigen Restitution des Begnadigten führen. Darin stimmt sie überein mit der modernen, Gnade und Billigkeit identifizierenden Auffassung, zu der sie überhaupt ihrer geistigen Struktur nach einen Übergang bildet.

Neben diesen in der Lehre von der Sündenvergebung und im kirchlichen Bußwesen liegenden Parallelen spiegelt sich naturgemäß das Zentralproblem der christlichen Dogmatik, die eigentliche Gnadenlehre, in den Auffassungen über das Gnadenrecht wider. Die christliche Dogmengeschichte kann in ihren entscheidenden Fragestellungen geschrieben werden als eine Geschichte der augustinischen Gnadenlehre und ihrer Anfechtung. Die Gnadenlehre Augustins gipfelt in dem Begriff der gratia gratis data, d.h. der frei, ohne Ansehung sittlicher Verdienste geschenkten Gnade: Gratia vero nisi gratis est, gratia non est. Die Menschheit ist eine massa peccati. In Christus dem Erlöser und Befreier ist die Gnade Gottes, die gratia Dei per Christum, erschienen und wirksam geworden. Durch die Gnade ist aus der massa perditionis ein certus numerus electorum gerettet worden, und zwar deshalb gerettet worden, weil Gott ihn prädestiniert hat1). Im Gnadenstand des Glaubens bedarf es vor Gott keiner äußerlichen Bestätigung durch die Werke des Gesetzes.

Die Höhepunkte dogmatischer Kämpfe sind stets zugleich Anfechtung oder Bestätigung dieser Lehre: Der Grundbegriff der pelagianischen Theologie, die natura, schließt den augustinischen Gnadenbegriff aus. Die menschliche Natur ist unzerstörbar gut, die Sünde ist lediglich eine momentane Selbstbestimmung des Willens — der als liberum arbitrium zur natürlichen Ausstattung des Menschen gehört — sie kann niemals in die Natur übergehen, d.h. zur Erbsünde werden. In dem Satze:


➝ Angeschuldigten niedergeschlagen worden, dennoch frei, die Richtigkeit der Tatsache, soweit es zur Begründung seines Rechts erforderlich ist, im Wege des Civilprozesses nachzuweisen.
1) Harnack, Dogmengeschichte, 5. Aufl., 1914, S. 311 ff., Lehrbuch der Dogmengeschichte, 1. u. 2. Aufl., III. Bd., 1890, S. 184 ff.

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homo libero arbitrio emancipatus a Deo, wird die jegliche Gnade ausschließende Selbstherrlichkeit des Menschen verkündigt1). Zwischen diesen beiden Polen, der augustinischen und pelagianischen Lehre, entwickelt sich das kirchliche Dogma. Luther knüpft an Augustinus an und wendet sich gegen die schon bei Thomas angelegte Lehre, daß Gott mit den Menschen nach ihren Verdiensten handle. Die Gnade ist für ihn Gottes Huld oder Gunst, die väterliche Gesinnung Gottes, die um Christi willen den schuldigen Menschen zu sich ruft; gegen die magische Fassung der Gnade in der katholisch-kirchlichen Lehre als einer durch die Sakramente eingegossenen Kraft, die durch einen geheimnisvollen physischen Akt mitgeteilt wird, wird dadurch der persönliche Charakter der Gnade als einer lebendigen Gesinnung wiederhergestellt. Diese Gnade wird ohne Ansehung der Werke wirksam; sola fide, allein durch den Glauben erfolgt die Rechtfertigung. — Gegen Calvinisten und Moli-nisten hat Pascal in seinen „Lettres sur la grâce” die augustinische Lehre verteidigt. Gegen katholische Werkgerechtigkeit und eine schwärmerische Innerlichkeit hat Kierkegaard die lutherische Rechtfertigungslehre behauptet2): bis in die moderne Theologie bleibt damit die Gnade der Mittelpunkt der Dogmatik und ihre Anerkennung der „Anfang alles Christentums” (Kierkegaard).

Wiederum ist der Zusammenhang mit dem Begnadigungsrecht schon durch die übereinstimmende logische Struktur der Begriffe vorgezeichnet. Entsprechend ihrer theologischen Lehre von den mitwirkenden Verdiensten beim Erwerb der Gnade, die sich auf dem augustinischen Begriff der gratia cooperans aufbaut, verlangen die Scholastiker


1) Harnack, a.a.O.
2) „Zwischen Gott und Mensch besteht ein unendlicher, gähnender qualitativer Unterschied. Das heißt oder der Ausdruck dafür ist: der Mensch vermag gar nichts, Gott gibt alles, er ist es, der dem Menschen erst das Glauben usw. gibt. Das ist die Gnade, und hier liegt der Anfang alles Christentums. Obwohl natürlich nichts, überhaupt nichts Verdienstliches an irgendeinem Werke sein kann, . . . so gilt es doch, den Mut zu haben, sich kindlich mit Gott zu stellen . . . Das Mißverständnis an der Religiosität unserer Zeiten besteht darin, daß man jetzt den Glauben dermaßen zu einer Innerlichkeit macht, daß er eigentlich ganz verschwindet, so daß sich das Leben ohne weiteres rein weltlich gestalten darf, und daß man an die Stelle des Glaubens eine Versicherung seines Glaubens setzt.” Kierkegaard, Sämtl. Werke (1901-1906), Bd. X, 1, A, S. 59.

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als Voraussetzung der Begnadigung eine iusta causa, z.B. daß der Verurteilte ein bene meritus sei. Als Anlaß kann freilich auch eine occasio publicae laetitiae dienen. Ein Fürst, der ohne Grund begnadigt, sündigt schwer1). — Später ist dann besonders von den Naturrechtslehrern systematisch eine Lehre von der justa causa aggratiandi als notwendiger Voraussetzung der Begnadigung entwickelt worden. Grotius unterscheidet innere und äußere Gründe der Begnadigung; innere sind nach seiner Meinung dann gegeben, wenn die Strafe im Verhältnis zur Tat nicht ungerecht, aber hart ist. Äußere Gründe sind irgendwelche Verdienste, mildernde Umstände oder Erwartungen für das künftige Verhalten; besonders kommt hier als wirksamer Grund auch in Betracht, daß die ratio legis wenigstens teilweise den Tatbestand nicht trifft. Denn wenn auch der allgemeine Zweck des Gesetzes ausreiche, um die Wirksamkeit des Gesetzes aufrechtzuerhalten, so könne es doch mit geringerer Autoritätseinbuße suspendiert werden, wenn der besondere Zweck nicht gegeben sei. Insbesondere würden hier jene Verbrechen in Betracht kommen, welche durch Unwissenheit (per ignorantiam) begangen werden, sogar wenn diese nicht ohne weiteres zu entschuldigen sei, oder die in einer fast unüberwindlichen geistigen Schwäche (per animi infirmitatem) ausgeführt werden. Diese Umstände sollten besonders von einem christlichen Herrscher (Christianum hominum rector) beachtet werden, auf daß er dem Beispiel Gottes folge, welcher im Alten Testament zum Ausdruck gebracht habe, daß viele Verbrechen dieser Art durch Opfer gesühnt werden sollen, und der im Neuen Testament durch Wort und Tat gezeigt habe, daß er bereit sei, jene Taten denen zu vergeben, die bereuen. So sei — nach dem Berichte des Johannes Chrysostomus — in der Tat Theodosius der Große bewogen worden, den Männern von Antiochia mit den Worten Christi zu vergeben: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun2).”

Pufendorf knüpft auch in dieser Frage an Grotius an3). Auch Carpzov geht von dem Erfordernis der justa causa aus und hält z.B. die


1) Kohler, S. 171.
2) De jure beli ac pacis, L. II, cap. 20, §§ 24-26.
3) De jure naturae et gentium, L. I, cap. VI, § 17.

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culpa bei der Tötung für einen Begnadigungsgrund1). Im übrigen tauchen als Begnadigungsgründe im allgemeinen jene Umstände auf, die — teils schon damals, teils in einer späteren Strafrechtstheorie — als subjektive Schuldausschließungsgründe bereits im Urteil Berücksichtigung finden, wie infantia, furor, ebrietas, culpa sine dolo2). Auch findet sich die Unterscheidung, das grundlose Begnadigungsrecht gebühre nur dem Herrscher, während der Richter nur aus einem triftigen Grunde begnadigen dürfe, wobei man sogar erörterte, ob dieser Grund im richterlichen Erkenntnis aufgeführt werden müsse3). Der Übergang zur Billigkeit wird in dieser Lehre von den Begnadigungsgründen ganz deutlich. Sogar eine Verpflichtung des Herrschers zur Begnadigung beim Vorliegen eines Begnadigungsgrundes wird schließlich angenommen und die Abgrenzung zu den im Urteil zu berücksichtigenden Rechtsgründen darauf zurückgeführt, daß es sich hierbei lediglich um eine moralische, nicht erzwingbare Pflicht handele4).

Wenn sich in dieser Fragestellung auch unmittelbare Bezugnahmen auf die theologische Gnadenlehre kaum nachweisen lassen, so stimmen doch die Denkfiguren so weitgehend überein, daß ein zum mindesten unbewußter und mittelbarer Zusammenhang nicht bestritten werden kann. Für die Analyse des Gnadenrechts wäre schon die Feststellung eines systematisch-begrifflichen Zusammenhangs mit der Struktur des theologischen Gnadenbegriffs von Bedeutung. Nach den dargelegten engen Verbindungen in der Sündenvergebungs- und Ablaßlehre wird man jedoch auch hier eine weitergehende, ganz konkrete, bildliche Übertragung theologischer Vorstellungen annehmen müssen.

In der geistesgeschichtlichen Entwicklung des Gnadenrechts tritt damit das christliche neben das antike Geistesgut. Trotz der engen formgeschichtlichen Zusammenhänge zwischen Christentum und Antike, die sich gerade an der Frage des Begnadigungsrechts deutlich nachweisen ließen, darf die durch das Christentum bewirkte radikale


1) Practica nova usw. P. III, qu. 142-150.
2) Plochmann, S. 35.
3) Carpzov, a.a.O.; Plochmann, S. 36.
4) Plochmann, S. 57 f. — Die Hegelsche Unterscheidung zweier Begnadigungsrechte ist wahrscheinlich von dieser Theorie beeinflußt; vgl. oben S. 79.

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Verwandlung aller Begriffe und Vorstellungen nicht verkannt werden. Christliche Barmherzigkeit und antike Humanität sind schlechthin verschieden. Die antike Humanität, für die der Mensch das Maß aller Dinge ist, ist die Rechtfertigungsideologie einer dekadenten Oberschicht, die innerlich unsicher geworden ist und die Naivität des echten Herrschaftsbewußtseins verloren hat; sie ist eine ausschließlich aristokratische Tugend. Die Barmherzigkeit ist die Bewährung der unterschiedslosen, allumfassenden christlichen Liebe, geboren nicht aus einem abstrakten Idealbild des Menschlichen, sondern aus der Erbarmung Gottes mit dem Elend der Menschen1). Die neuzeitlichen Begnadigungslehren haben ohne ideologische Folgerichtigkeit antike und christliche Elemente miteinander verbunden. Die moralisch-humanitäre Entleerung des Christentums im neunzehnten Jahrhundert hat die Verschiedenartigkeit dieser Vorstellungen vollends verdeckt. Es ist nur ein Gebot einer methodischen Sauberkeit der geistesgeschichtlichen Forschung, wenn dem gegenüber die völlige Verschiedenheit christlichen und antiken Denkens betont wird.

Zu diesen beiden Wurzeln des Gnadenrechts, der antiken und der christlichen, tritt als dritte eine germanisch-deutsche hinzu.

 

c) Deutsches Recht

 

Dem germanischen Recht ist die Begnadigung ursprünglich ebenso unbekannt wie dem älteren griechischen und römischen Recht. Solange die germanischen Todesstrafen einen sakralen Charakter tragen2), finden sich auch hier begnadigungsähnliche Rechtsphänomene, in denen vielfach älteste Formen des Begnadigungsrechts gesehen werden3).


1) Augustinus, De civitate Dei, 9, 5: „Misericordia est alienae miseriae in nostro corde compassio, qua utique, si possumus, subvenire compellimur.”
2) Vgl. darüber K. v. Amira, Die germanischen Todesstrafen. Untersuchungen zur Rechts- und Religionsgeschichte. Abhdlg. d. Bayer. Akad. d. Wiss. Philos. philol. und hist. Klasse, 31. Bd., 1922.
3) K. Beyerle, a.a.O., S. 5, bezeichnet sie als „Begnadigung kraft Sakralrechts”. Ursprünge des modernen Begnadigungsrechts sieht hier Schröder-Künßberg, Deutsche Rechtsgeschichte, S. 81. Auch Kohler, a.a.O., S. 165, ist durch diese Erscheinungen veranlaßt worden, einen ursprünglich sakralen Ausgangspunkt der Gnade anzunehmen, wobei er allerdings erklärt, daß sich diese ganze Seite des ➝

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Tatsächlich handelt es sich hierbei im wesentlichen stets um Ordalien, von denen bereits festgestellt worden ist1), daß sie nicht in den Sinnzusammenhang des Begnadigungsrechts gehören, sondern nur aus den eigentümlichen Gesetzlichkeiten des magischen Denkens verstanden werden können2), oder um Formen des sakralen Strafvollzugs, besonders um die sog. ,,Zufallsstrafe”, die die Herrschaft der Gottheit über den Strafvollzug zum Ausdruck bringt3). Der maßgebliche Gesichtspunkt ist hier wiederum nicht die frei waltende Gnade, sondern ein magischer Zwang; die Hinrichtung des Missetäters, die als Sühnopfer verstanden wird, kann nicht erfolgen, wenn die Götter das Opfer ablehnen. So findet sich nach Brunner4) bei den Westgermanen der Brauch, daß dem Opferakt die Anwendung eines Ordals voraufgeht, das den Willen der Götter erkunden soll, ob ihnen der bereits überführte Verbrecher als


➝ Begnadigungswesens in geschichtlichen Einzelheiten verlaufen habe; aus ihr sei die Begnadigung unserer Kulturvölker nicht hervorgegangen, wenn sie auch auf Motiven beruhe, die unserer Gnade nahestünden. Die sakrale Form der Gnade beruhe auf dem gleichen Gedanken wie das Asyl: „Der Gottheit und den göttlichen Instituten widerstreben gewisse Gewalttaten; und wie der Streit und Hader nicht in das Heiligtum dringen dürfen, so sollen auch Tötung und Verstümmelung seiner Nähe fernbleiben, sofern nicht etwa die Tötung den Charakter eines Opfers und der Tod den Charakter eines Opfertodes haben soll, was aber nur in gewissen, sakralen Fällen zutrifft. Allerdings würde dies nur zu einem zeitweisen Aufschub der Strafausübung führen; allein die aufgeschobene Vollstreckung wird zu einer erlassenen: wen die Gottheit berührt hat, dessen Leben soll auch fernerhin geschont bleiben, mindestens gilt dies, wenn nicht wie bei dem Asyl das Institut seiner Natur nach bloß eine zeitweise Bedeutung hat . . .”
1) S. oben S. 14 f.
2) Über germanische Ordalien als prozessuale Beweismittel vgl. F. Beyerle, Das Entwicklungsproblem im germanischen Rechtsgang, I. Sühne, Rache und Preisgabe in ihrer Beziehung zum Strafprozeß der Volksrechte, 1915, S. 411 ff.; C. Frh. v. Schwerin, Rituale für Gottesurteile, Sitzungsberichte der Heidelbg. Akad. d. Wiss. Philos. hist. Kl., 1933.
3) v. Amira, S. 222. Brunner, Zum ältesten Strafrecht der Kulturvölker. Fragen zur Rechtsvergleichung, gestellt von Th. Mommsen. Abhandlungen zur Rechtsgeschichte. Gesamm. Aufs, von H. Brunner, herausg. v. K. Rauch, Bd. II, 1931, S. 530: „Manche Todesstrafen sind schon von vornherein derart gestaltet, daß sie schon durch die Art des Vollzugs den Tod des Missetäters dem Willen der Götter anheimgeben. So z.B. das Aussetzen in leckem oder steuerlosem Schiff und ähnliche Strafen ordalienhaften Charakters. Auf denselben Grundgedanken führt der weit verbreitete Volksglaube zurück, daß dem Verbrecher, dessen Hinrichtung dem Henker nicht gelingen will, das Leben gebühre.”
4) A.a.O., S. 530.

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Opfer genehm sei1). Von einem Begnadigungsrecht der Landsgemeinde, des Things, kann ebensowenig die Rede sein, wie bei der Anrufung der römischen Volksversammlung, der comitialen Provocation2).

Übereinstimmend und mit Recht wird dagegen in der Literatur die Ausbildung eines Königrechts der Gnade mit der fränkischen Periode angenommen3). Die Wurzel dieses Königsrechts der Gnade ist im deutschen Recht eine dreifache: die dem germanischen Gefolgschaftswesen entsprungene Vorstellung der herrscherlichen „Hulde”, das mittelalterliche Gottesgnadentum des Herrschers und endlich der Einfluß christlich-theologischer Gedanken.

Daß in Gestalt der „Hulde” ein spezifisch germanisches Element für die Entstehung und Ausdeutung des Begnadigungsrechts von größter Bedeutung war, ist insbesondere von K. Beyerle hervorgehoben worden4).

Ohne die Vermittlung dieser germanischen Gedanken dürfte es für die geistige Welt des deutschen Frühmittelalters kaum einen Zugang zum Verständnis der Gnade gegeben haben. Mußten doch die antiken Gnadenmotivationen der Philanthropie und der Indulgentia in ihrem humanitär-zivilisatorischen Charakter dieser Welt notwendigerweise mehr oder weniger fremd und unverständlich bleiben.

Die Gnade im Sinne der Hulde als ein besonderes Band vertraulicher Herablassung, das den Gefolgsherrn mit seinen Mannen verbindet, erlangt in der fränkischen Zeit eine maßgebliche Bedeutung für die Begründung der Strafgewalt. Die Strafgewalt des Königs wurde auf einer mehr oder weniger abstrakten Treupflicht der Rechtsgenossen aufgebaut,


1) Gegen diese Hypothese v. Amira, S. 43.
2) v. Amira, S. 42, erklärt es für eine petitio principii, wenn man das Begnadigungsrecht des Herrschers für eine Erbschaft der germanischen Landsgemeinde ansehen wolle. Es gebe Gründe, aus denen gerade in dieser Hinsicht die Allmacht der germanischen Landsgemeinde entschieden bezweifelt werden müsse.
3) Kohler, a.a.O.; Beyerle, S. 6; Schröder-Künßberg, S. 125.
4) Keinesfalls kann dieser wichtige Zusammenhang mit der bei Schröder-Künßberg, S. 125, zu findenden Bemerkung abgetan werden, die Entziehung derköniglichen Gnade, die den Abbruch aller persönlichen Beziehungen zum Hofe und den Verlust alles dessen bedeutete, was der von der Ungnade Betroffene an Ämtern und Gütern vom König empfangen hatte, sei „verschieden” von dem Königsrecht der Gnade als einer Macht, die Strafe zu erlassen.

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die aus dem — seit den Söhnen Chlodwigs üblichen — Huldigungseid des Gesamtvolkes hergeleitet wurde. Immer neue Rechtspflichten wurden als im Huldeschwur enthalten aufgestellt; ihre Übertretung wurde als Infidelität, als Treubruch gegen den König bestraft. Diese Vorstellungen sind zweifellos dem Rechtskreise der Gefolgschaft entliehen. In dem Huldigungseid wird eine Nachbildung des germanischen Gefolgseides zu sehen sein1). Die königliche Ungnade, die in der karolingischen Zeit in den Fällen der infidelitas eintritt, hat ursprünglich rechtliche Bedeutung nur im Verhältnis des Königs zu seinen Gefolgsleuten und Beamten gehabt2). Nachdem sich auf der Grundlage des Infidelitätsbegriffes eine weitgreifende arbiträre Strafgewalt ausgebildet hat — ganz im Gegensatz zu den Volksrechten mit ihren festen Bußsätzen — gewinnt die königliche Unhuld oder Ungnade die Bedeutung einer abgeschwächten Friedlosigkeit als Rechtsfolge der Infidelität, die von den Königen in der allgemeinen Formel: „Si gratia nostra optatis habere” angedroht wurde. Sie hatte alsdann die Entfernung aus der Volksgenossenschaft, die Verbannung vom Hofe und aus der Umgebung des Königs, endlich den Verlust der vom König verliehenen Ämter und Güter zur Folge3).

Das Institut des Huldeverlustes spielt in der merowingischen und fränkischen Zeit bereits eine beträchtliche Rolle, seit dem zwölften Jahrhundert treten dann besonders häufig Formeln auf wie gratiam nostram demerere, gratia nostra carere, gratiam amittere, unsere Hulde verlieren, die alle auf diese besondere Form arbiträrer Strafgewalt verweisen. Dabei beschränkt sich die Drohung des Huldeverlustes nicht mehr auf königlichen Ausspruch, sondern auch Fürsten, Herren und städtische Obrigkeiten drohen damit4). Zum anderen konnte die Hulde des Herrn erkauft und die Strenge der arbiträren Strafgewalt durch Bußzahlungen abgewendet werden. Die bedenkliche Verwilderung des mittelalterlichen Gnadenwesens ist hier ebenfalls bereits angelegt. Die


1) K. Beyerle, a.a.O., S. 6.
2) H. Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte, II. Bd., 1892, S. 66.
3) Brunner, S. 66, 79.
4) R. His, Das Strafrecht des deutschen Mittelalters, 1920, S. 350 f.

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Formeln vom Verlieren und Wiedergewinnen der Huld wurden im Laufe der Zeit mehr und mehr als bloße Formeln gebraucht, bei denen man sogleich an die Zahlung einer Lösungssumme dachte1).

Auch neben einer bestimmten Strafe konnte der Huldeverlust eintreten; er trat dann subsidiär an die Stelle einer nichtgeleisteten Buße, oder er konnte durch Leistung einer von vornherein festgesetzten Buße abgewendet werden2).

Huldeverlust und -wiedererlangung bereiten mit der Ausbildung der arbiträren, von jedem Gerichtsherrn geübten Strafgewalt und eines Systems der Ablösung der Strafe durch Geldbußen die Grundlagen des mittelalterlichen Richtens nach Gnade. In der Vorstellung der Hulde stellt sich der besondere germanisch-deutsche Beitrag zu der rechts- und geistesgeschichtlichen Entwicklung des modernen Gnadenbegriffs dar.

Der geistesgeschichtliche Zusammenhang, der in der Antike zwischen Herrscherkult und Begnadigung besteht, wird in der deutschrechtlichen Welt durch das mittelalterliche Gottesgnadentum hergestellt. Trotz dieser Entsprechung darf nicht verkannt werden, daß sich damit in der metaphysischen Begründung des Begnadigungsrechts eine grundlegende Veränderung vollzogen hat. Denn wenn auch die Zusammenhänge mit dem spätantiken Herrscherkult unverkennbar enge sind, so hat sich doch das metaphysische Prinzip sowohl wie das soziologische Strukturgesetz der Herrschaft im mittelalterlichen Gottesgnadentum entscheidend gewandelt3). Geschichtlich stellt sich dieses


1) Osenbrüggen, Das alamannische Strafrecht im deutschen Mittelalter, 1860, S. 116 f. Das Colmarer Recht bestimmte: „Wer die Huld des Herrn durch eine Missetat verloren hat, der soll 3 Tage und 6 Wochen an Leib und Gut Frieden haben in und außer der Stadt, und kann mit allem seinem Gute schaffen, was sein Wille ist, ohne mit seinem Hause und seinem Gute, das im Banne von Colmar liegt. Gewinnt er aber in dieser Frist die Huld des Herrn nicht wieder, so soll man ihn zwingen zur Besserung mit dem Hause und dem Gute, das in diesem Banne ist. Wollte ihm aber der Richter des Herrn zu strenge sein, so mag er Haus und Gut ledigen und lösen mit 10 Pfund Basler und gewinnt dadurch die Huld wieder.”
2) His, S. 352. „Bei dieser Anwendung des Huldeverlustes kann es dazu kommen, daß die Androhung der Ungnade zur leeren Formel wird.”
3) Über die Nachwirkungen der antiken Herrschervergötterung vgl. Fritz Kern, Gottesgnadentum und Widerstandsrecht im frühen Mittelalter. Zur Entwicklungsgeschichte der Monarchie, 1914, § 4.

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Verhältnis seinem allgemeinen Verlauf nach so dar, daß die überlebenden Reste antik-heidnischen Herrscherwesens bis zum zwölften Jahrhundert unbewußt im Gemenge mit christlichen und germanischen Vorstellungen zu ruhen scheinen, dann aber unter den Staufern „eine Art humanistische Lösung dieser antiken Elemente aus dem Verband der kirchlichen Weltanschauung” einsetzt, die wohl unter Friedrich II. ihren Höhepunkt erreicht1).

Für die Verbindung der spätantiken mit der mittelalterlichen Welt dürfte das byzantinische Kaisertum eine hervorragende Rolle gespielt haben. Hier entwickelten sich formgeschichtliche Übergänge zwischen Christentum und Herrscherkult, die der mittelalterlich-deutschen Welt die Rezeption antiker Formelemente erleichterten und vorbereiteten. Die Rechtsstellung des byzantinischen Kaisertums beruhte zu stark auf heidnisch-sakralen Anschauungen und Riten, als daß diese durch die Annahme des Christentums ohne weiteres verdrängt werden konnten. Mit vielen kultischen Bestandteilen blieben die Spiele zu Ehren des Kaisers, blieb der Titel des Divus für den verstorbenen Kaiser, blieb der Majestätsbegriff, die Adoration des lebenden Herrschers und die Verehrung seiner Bilder, bis in das byzantinische Mittelalter hinein2).

Die Rezeption antiker Formelemente durch das mittelalterlich-christliche Gottesgnadentum bezieht sich vorwiegend auf Formeln und Riten, deren Sinn sich tiefgreifend gewandelt hat. Die seit Karl dem Großen gebräuchliche Formel Dei gratia bezeichnet das eigentümliche und besondere, metaphysische und soziologische Strukturprinzip der mittelalterlichen Herrschaftsform, durch das sie sich der antiken gegen-über prinzipiell unterscheidet: nicht die unmittelbare Herrscherver-göttlichung, sondern der göttliche Herrschaftsauftrag bildet die Grundlage der Herrschaftslegitimation, d.h. theologisch gesprochen: der Gedanke der von Gott eingesetzten Obrigkeit, soziologisch gesprochen: ein institutionalisiertes Amtscharisma, das ablösbar ist von der konkreten Person des Amtsträgers. Weniger der Charakter des Göttlichen oder Heiligen, als vielmehr der des „Geweihten” haftet dem Herrscher an.


1) Kern, S. 124.
2) Kern, S. 125, N. 229; 126 f.; v. Borch, S. 94 ff.

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Es bleibt ein Unterschied zwischen der sancta Ecclesia, der wirklich heiligen Kirche, und dem sacrum Imperium, dem „geweihten” Reich.

Der christliche Amtsgedanke bleibt für die Substanz der mittelalterlichen Herrschaft entscheidend, wenn er auch ständig konkurriert mit an die Antike anklingenden Elementen unmittelbarer Herrschervergöttlichung. Schon in der karolingischen Hofsprache hatte man sich nicht auf die Sacerdät, auf den geweihten Charakter des Kaisers beschränkt, sondern ihm die Bezeichnungen divus, sanctus, sanctissimus zugeschrieben. Wenn in der staufischen Epoche eine noch viel weiter greifende Wiederaufnahme heidnisch-antiker Wendungen stattfand, so ist diese Erscheinung im politischen Gesamtzusammenhang des Zeitalters zu verstehen: es handelt sich dabei weniger um Wandlungen des politischen und metaphysischen Weltbildes als um konkrete, gegen die Suprematie des Papsttums gerichtete Polemik. Es kann gar kein Zweifel bestehen, daß Reinald von Dassel, der die Formel „sacrum Imperium” einführte, damit einen politischen Programmpunkt formulierte, nämlich den Primat der Reichspolitik gegenüber weltlichen Herrschaftsansprüchen der Kurie1).

Für unseren Zusammenhang wesentlich ist die Tatsache, daß ein Begnadigungsrecht im eigentlichen Sinne wiederum erst zu einer Zeit nachweisbar wird, in die auch die Anfänge der Ausbildung des Gottesgnadentums fallen, nämlich während der Regierung Karls des Großen. Ein Capitulare von 809 regelt gesetzlich, wie es mit denen, welchen das Leben geschenkt ist, in rechtlicher Beziehung gehalten worden soll. Sein gesamtes Besitztum bleibt verwirkt, dagegen kann er neues Eigentum erwerben. Er kann weder Schöffe noch Zeuge sein, und wo sich einer sonst mit einem Reinigungseid verteidigen kann, soll er stets dem Gottesurteil unterliegen. Bei der Begehung eines neuen Verbrechens kann sich der Begnadigte nicht damit entschuldigen, daß er rechtlich als tot zu betrachten sei, sondern er hat sich voll zu verantworten und auch die früher erkannte Strafe zu erleiden. Wird er aber von jemandem verletzt, so darf er klagend gegen denselben auftreten2). — Diese


1) Kern, S. 134, spricht von einer „ansprechenden Vermutung”.
2) G. Waitz, Deutsche Verfassungsgeschichte, IV. Bd., 2. Aufl., 1885. S. 505.

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Regelung der Rechtsfolgen weist den typischen Grundgedanken der echten Begnadigung auf, den bloßen Straferlaß, ohne daß das Verbrechen als solches mit seinen sonstigen Nebenwirkungen aufgehoben würde. Das von Karl und seinen Nachfolgern zahlreich geübte Recht, eine mildere Strafe an die Stelle einer schwereren zu setzen, zum Tode Verurteilte zu verbannen, in ein Kloster zu sperren und ihre Güter zu konfiszieren, oder auch die Strafe ganz zu erlassen, stellt sich als ein echt königliches Gnadenrecht dar1). Die Motivierung der Gnadenerweisung bedient sich häufig noch antiker Formeln2); insbesondere die clementia des Kaisers wird häufig genannt3). Dennoch wird man annehmen müssen, daß diese Gnadengesinnung inhaltlich von der antiken sehr verschieden ist. Das humanitäre Element fehlt, an seine Stelle treten Vorstellungen der herrscherlichen Hulde. Christliche Gedanken, die zum Teil bereits der Konzeption des Gottesgnadentums zugrunde liegen, treten hinzu. Die Gnade fließt nicht mehr aus der eigenen göttlichen Substanz des Herrschers, sondern wird aus der göttlichen Gnade abgeleitet. Die Formel Dei gratia, die dem Volke gegenüber das göttliche Eigenrecht der Herrschaft begründet und sie von dem Mandat des Volkes unabhängig macht, ist Gott gegenüber zugleich eine Demutsformel, die die Abhängigkeit und Ableitung der Herrschaftsgewalt von Gott, dem auctor gratiae, betont. Dementsprechend wird das Begnadigungsrecht in der christlichen Auffassung stets im Hinblick auf die göttliche Gnade und Barmherzigkeit geübt4). Unter Berufung auf die göttliche Gnade und Barmherzigkeit forderte die Kirche Milde bereits im Urteil und wandte sich gegen die Unsühnbarkeit schwerer Verbrechen nach germanischem Recht,


1) Waitz, S. 499 ff.
2) Dem geständigen Missetäter sichern westfränkische Kapitularien die Gewährung einer rationabilis indulgentia, die Anwendung einer rationabilis misericordia zu. Brunner, S. 66.
3) Capit. Francof. 794 c. 9, S. 75: „clementia tarnen regis nostri praefato episcopo gratiam suam contulit et pristinus eum honoribus ditavit,” Ann. Lanresh. 786, S. 32: „Eos autem, qui innoxii in hac conjuratione reducti sunt clementer absolvit.” (Zit. nach Waitz, a.a.O.).
4) Brünner Schöffenbuch, c. 219: in hoc (judex) imitabitur Deum, qui cum solus sit iustus iudex remunerat ultra meritum et punit citra condignum. His, S. 359, N. 8.

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der die Erinnerung an den heidnischen Opfertod anhaftete1). Diese Tendenz, die sich insbesondere auch gegen eine weitgehende Anwendung der Todesstrafe richtet, ist weniger eine genuin christliche, als vielmehr eine kirchliche und kirchenpolitische; sie erklärt sich aus dem Kampf der Kirche gegen das heidnische Sakralrecht. Das Christentum als solches kann auf eine grundsätzliche Gegnerschaft gegen die Todesstrafe nicht festgelegt werden. Die christliche Auffassung von dem unendlichen Wert der einzelnen menschlichen Seele unterscheidet sich von der humanitären Wertschätzung des Menschenlebens gerade dadurch, daß sie sich auf die Seele und nicht auf Leib und Leben bezieht2).

Der kirchliche Ruf nach Milde hat nun besonders jene eigentümliche Entwicklung des Gnadenrechts im späten Mittelalter gefördert, die durch eine Verschiebung der Gnade in den Richterspruch zu einem völligen Verfall des Gnadenwesens und damit zu einer bedenklichen Verwilderung der Strafjustiz beitrug. Mit der Auflösung der Reichsgewalt zugunsten zahlloser territorialstaatlicher Gewalten und mit der der politischen Struktur des mittelalterlichen Staatswesens eigentümlichen Zersplitterung der Staatsgewalt in ein Bündel subjektiver öffentlicher Rechte des Landesherrn wurde auch das Begnadigungsrecht als zur Gerichtsbarkeit gehörig in die landesherrlichen Befugnisse einbezogen. Die Auslegung des Gnadenrechts als einer zur Gerichtsbarkeit gehörigen Befugnis wird dabei als politisch-juristische Hilfskonstruktion zur Erlangung des Gnadenrechts durch die Landesherren gedient haben3).


1) Beyerle, S. 8.
2) Vgl. auch Matth. 26, v. 52-54: Wer das Schwert nimmt, soll durchs Schwert umkommen.
3) Diese Auffassung bleibt daher auch nie unangefochten. Kaiser Sigismund verlieh durch eine Urkunde vom 22. Dezember 1433 dem Rate von Luzern für Stadt und Gebiet das Recht, nach Gnade zu richten, als ein besonderes Hoheitsrecht, nachdem Luzern schon 1390 den Blutbann erlangt hatte. Osenbrüggen, S. 179 f. „. . . aber es lag in der allgemeinen Vorstellung, daß dasselbe schon in der Criminaljurisdiction enthalten, mit dem Blutbann verbunden sei.” (S. 183.) Auch zwischen den Landes- oder Gerichtsherren und ihren Richtern wurde die Ausübung des Gnadenrechts vielfach streitig. Die Landrichter von Kyburg begnadigten im Jahre 1530 einen Verbrecher, indem sie ihn nur zum Schwert verurteilten. „Lavater, der Vogt zu Kyburg, beschwerte sich darüber bei dem Burgermeister und Rath der Stadt Zürich, weil das Recht zu begnadigen nur der ,Oberhand’, nicht den Richtern ➝

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Die Begnadigung kann dem Urteil nachfolgen, sie kann aber auch bereits im Urteil zum Ausdruck kommen. Soweit das letztere der Fall ist, die Gnade also vom Richter geübt wird, spricht man von einem „Richten mit Gnade” oder „nach Gnade” und stellt es dem „Richten nach Recht” gegenüber. In diesem Sinne sagt das kleine Kaiserrecht: „Wer die tat richten sol, der hat gewalt gnade zu tun.” Und im Regensburger Friedgerichtsbuch heißt es: „So rieht der richter nach dem gesworn frid oder er tue gnad daran1).” Das Richten nach Gnade dient keineswegs ausschließlich der Strafmilderung. Im Stadtrecht des ausgehenden Mittelalters, in dem sich das Richten nach Gnade zuerst in größerem Umfang entwickelt, kündigt es vor allem die Handhabung einer unbeschränkten, diskretionären Strafgewalt an, die bei Verletzungen der bürgerlichen Genossentreue und Vergehen gegen die städtischen Poli-zeigesetze zur Anwendung gelangt. Es ist also zugleich ein Richten nach Ungnade und erweist damit seinen Zusammenhang mit dem Gedanken des Huldeverlustes2).

Soweit die Gnade dem Urteil nachfolgte, blieb sie regelmäßig der dem Gericht übergeordneten Obrigkeit, dem Gerichts- oder Landesherrn, in Städten dem Rate vorbehalten. Die Veranlassungen zur Gnadenerweisung sind in beiden Fällen die gleichen, nämlich besondere Umstände, die das Verbrechen in einem milderen Lichte erscheinen lassen, ferner Jugend oder weibliches Geschlecht des Täters, Fehlen des Vorsatzes, Notwehr oder Affekt, auch wohl ein vom Recht in gewissem Umfang anerkanntes Rachebedürfnis, freiwilliges Geständnis, Fehlen eines Anklägers, Rücksicht auf besondere Kunstfertigkeiten und frühere Verdienste des Täters oder seiner Vorfahren; dann auch die charakteristischen Gnadenveranlassungen, die mit der Person des Verbrechers in


➝ zustehe. Die Herren von Zürich entschieden natürlich zugunsten ihres Vogts dahin, daß die Landrichter hinfüro richten und ertheilen sollten ,nach Inhalt unserer Grafschaft Kyburg Offnungen, Briefen und nach Reichsrecht’, daß aber nach Gnad zu richten nicht ihnen, sondern den Züricher Vögten zustehe”. (S. 184.)
1) His, S. 389.
2) Über die gleichen Voraussetzungen des Huldeverlustes im Freiburger und Breisacher Stadtrecht vgl. F. Beyerle, Das älteste Breisacher Stadtrecht, SZ., Germ. Abt., Bd. 39, S. 335.

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keinerlei Zusammenhang stehen: festliche Ereignisse, insbesondere kirchliche Feiertage1), Mitleid mit den Angehörigen und Gedanken an die göttliche Barmherzigkeit2). In den Fürbitten werden zumeist nicht spezielle Milderungsgründe angeführt, sondern es wird eine Rührung und milde Stimmung des Richters erstrebt, indem hervorgehoben wird, wie die Gnade den ziere, dem die Gewalt gegeben sei, und indem auf die Allbarmherzigkeit Gottes verwiesen wird3).

Soziologisch von Bedeutung ist vor allem die Verknüpfung des Gnadenrechts mit der Ableistung einer Vermögensbuße4). Es kann kein Zweifel bestehen, daß die finanzielle Ausbeutung des Gnadenrechts von maßgeblicher Bedeutung für die praktische Handhabung der Begnadigungen wurde. Die Ablösung und Umwandlung peinlicher Strafen wurden vielfach um des privaten Vermögensvorteils willen vom Richter gewährt. Für die Gestaltlehre des Richtertums ergibt sich hier die wichtige Erfahrungstatsache, daß die Einbeziehung einer ursprünglich dem Richter so wesensfremden Funktion wie der Gnade in den Bereich des richterlichen Aufgabenkreises den Ansatzpunkt für Korruptionstendenzen innerhalb der Rechtspflege bildet. Diese Folge ist naheliegend, wenn man sich vergegenwärtigt, daß alle charakteristischen Gnadenmotivationen auf die Person des Herrschers bezogen sind und zur Gestalt des Richters als solchen keinen wesensmäßigen, in der richterlichen Funktion begründeten Zugang haben können.

Am Ausgang des Mittelalters kehrt das richterliche Gnadenrecht — wiederum nicht zuletzt unter dem Gesichtspunkt seiner finanziellen Nutzbarkeit, die nun allerdings einen mehr fiskalischen als privaten Charakter trägt — in die Hand des Landesherrn zurück. Maßgeblich


1) Am Karfreitag 1427 begnadigt Herzog Philipp von Burgund einen Verbannten „om des goets heylichs tyts willen”.
2) His, S. 394 f.
3) Osenbrüggen, S. 181.
4) „Im Jahre 1368 bezeugt ein Heini Rauff in Bern in einer Urphede, daß Graf-Hartmann von Kyburg, Landgraf zu Burgund, auf seine und seiner guten Freunde Bitten ihn aus der Gefangenschaft gelassen, daß ihm an dem Leben nichts geschah ,umb ein Theil Gutes’, . . . In Basel bat ein Knecht, der jemand verwundet hatte, den Propst, daß er ihn begnaden möchte; ,also begnadet er ihn und nahm zwei Hühner für die Besserung.” Osenbrüggen, S. 191.

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gefördert wird diese Entwicklung durch die Rezeption des römischen Rechts, das ein richterliches Gnadenrecht nicht kennt1). Seit dem Ende des sechzehnten Jahrhunderts gelingt es den Landesherren mit Hilfe ihrer romanistisch geschulten Juristen, das Gnadenrecht wieder ausschließlich in ihrer Hand zu vereinigen. Schon die Bamberger Halsgerichtsordnung untersagt den Richtern das Ledigen peinlicher Strafen durch Geld aufs bestimmteste zugunsten des Landesherrn2). Am Abschluß dieser Entwicklung steht der § 9 II 13 ALR.: „Das Recht, aus erheblichen Gründen Verbrechen zu verzeihen; Untersuchungen niederzuschlagen; Verbrechen ganz oder zum Teil zu begnadigen; Zuchthaus-, Festungs- oder andere härtere Strafen in geringere zu verwandeln, kann nur von dem Oberhaupt des Staats unmittelbar ausgeübt werden, soweit er nicht dasselbe, für gewisse Arten von Verbrechen oder Strafen, einer ihm untergeordneten Behörde ausdrücklich übertragen hat.”

Mannigfache eigentümliche Spielarten des Begnadigungsrechts finden sich weiterhin am Rande dieser Entwicklung: Das Recht des Scharfrichters, den zehnten Hinzurichtenden freizugeben, das Mißlingen der Hinrichtung als Freilassungsgrund, das Losschneidungsrecht hoher Frauen, die Begnadigung nach dem Heiratsanerbieten eines Unbeteiligten sind hier aufzuführen3). Bei dem überwiegenden Teil dieser Fälle — besonders deutlich beim Mißlingen der Hinrichtung — wird man Nachwirkungen des magischen Denkens anzunehmen haben. Eine grundsätzliche Bedeutung wird man diesen Erscheinungen für die Geistesgeschichte des Gnadenrechts nicht beimessen können.

Mit dem Überblick über das germanisch-deutsche Recht erfährt das historische Bild des Begnadigungsrechts einen gewissen Abschluß, der nunmehr eine generelle Aussage über den historischen Sinn des echten Gnadenrechtes zuläßt. Der auffälligste durchgängige Zusammenhang ist der zwischen dem Gnadenrecht und der religiösen Herrschaftslegitimation, wobei diese die Form antiker Herrschervergöttlichung oder mittelalterlichen Gottesgnadentums annehmen kann. Herrschertugenden


1) S. oben S. 62.
2) K. Beyerle, S. 19.
3) His, S. 392; K. Beyerle, S. 16 ff.

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sind es, dir die Begnadigung motivieren; freilich Tugenden, die in den verschiedenen Kulturkreisen ein durchaus eigenartiges Gepräge tragen. Die hellenistische Philanthropie und die römische clementia und indulgentia sind geistige Ausdrucksformen ausgesprochener kultureller Spätzeiten und einer dementsprechenden Sozialverfassung zugeordnet. Die germanische Hulde dagegen entspringt einer jungen, noch nicht ausdifferenzierten Kultur mit urtümlichen volkhaften Ordnungen und Gliederungen ohne technisch-zivilisatorische Grundlagen. In vorchristlicher Zeit ist die Gnade Ausdruck einer ursprünglich eigenen göttlichen Substanz des Herrschers. In der Welt des Christentums ist sie abgeleitet aus der reinen Transzendenz der göttlichen Gnade und spiegelt diese in der durch die Grenzen des menschlichen Vermögens bedingten Abschwächung und Verdunkelung wider. Stets sind die Gnadenmotivationen der Person des Herrschers als solchem zugeordnet1); zur Gestalt des Richters haben sie schon deswegen keine innere Beziehung, weil sie die Person des zu Begnadigenden und seine konkrete Rechts- und Unrechtslage unberücksichtigt lassen oder nur zum äußeren Anlaß einer Betätigung der Gnadengesinnung nehmen.

Mit der Rezeption antiken Geistesgutes und mit der gegenseitigen Durchdringung christlicher und germanischer Gedanken gewinnt das Begnadigungsrecht schon im deutschen Mittelalter, vollends in der modernen Rechtsentwicklung seit dem Naturrecht einen überaus komplexen Charakter, in dem außerordentlich verschiedenartige kulturgeschichtliche Bildungen aufbewahrt sind, eingeschmolzen freilich durch die Kraft der Kontinuität der abendländischen Geschichte und dadurch verselbständigt zu einer Idee, die sich aus diesen verschiedenen geschichtlichen Momenten gebildet hat, ohne mit einem einzelnen derselben noch identisch zu sein.


1) Dabei wird nicht verkannt, daß das Richten ursprünglich eine herrscherliche Funktion und der Herrscher zugleich oberster Richter ist. Eine idealtypisch überspitzte Formulierung kann hier aber in Kauf genommen werden. „Der ptolemäische König war selbst Gerichtsherr und oberster Richter seiner Untertanen, (der) aber offenbar nur selten persönlich Recht sprach”: Semeka, Studien zur ptol. Gerichtsverfassung und zum Gerichtsverfahren, H. 1, 1913, S. 20. Gleichwohl bleibt die Philanthropie eine spezifische Herrschertugend.