|28|
Die Unzulänglichkeit des modernen, durch juristische oder moralische Normativierungen entarteten1) Begriffs der Gnade wird vor allem an drei systematischen und konstruktiven Schwierigkeiten deutlich.
Erstens. Wenn das Begnadigungsrecht lediglich die „Remedur des Strafrechts im Sinne der Gerechtigkeit2)” wäre, so müßte man mit logischer Konsequenz auch zur Zulassung einer „gnadenweisen Strafschärfung” gelangen. So evident uns der Widersinn dieser Vorstellung heute erscheint, so hat sie doch praktische Bedeutung erlangt3). Sie konnte an Traditionen des mittelalterlichen deutschen Strafrechts anknüpfen, das neben der ordentlichen, fest normierten Strafgerichtsbarkeit eine besondere arbiträre Strafgewalt kannte, die in Gestalt des Richtens nach Gnade oder aber auch nach Ungnade die festen Strafsätze über- oder unterschreiten konnte4). Köstlin hat sich eingehend mit dieser Folgerung beschäftigt5). Wäre die Begnadigung nur das Mittel, für außerordentliche Fälle die von der Gesetzgebung vermöge ihrer Endlichkeit nicht erzielbare, vollkommen angemessene Vergeltung herbeizuführen — so stellt er ausdrücklich fest — so müßte ihr auch ein Recht des Staatsoberhaupts, in solchen Fällen die der gesteigerten Strafbarkeit nicht gemäße gesetzliche Strafe zu schärfen, entsprechen. Dann aber wäre die Gnade nichts Spezifisches, sondern stünde mit der
1) C. Schmitt, Die drei Arten des
rechtswissenschaftlichen Denkens, 1934, S. 26.
2) Berolzheimer, a.a.O., Bd. V, S. 265.
3) Hälschner, Geschichte des
brandenburgisch-preußischen Strafrechts, S. 184 ff.;
Plochmann, Das Begnadigungsrecht, 1845, S. 34.
4) S. unten S. 87 f. 93.
5) A.a.O., § 145.
|29|
Gesetzgebung und Rechtsprechung auf gleichem Boden und würde sich nur quantitativ von diesen unterscheiden. Da aber die Gnade nicht nur adäquate rechtliche Vergeltung sei, sondern den absolut sittlichen Standpunkt geltend machen solle, falle daher der Grund für ein analoges Schärfungsrecht hinweg, in welchem zudem ein schlechthin unzulässiger Eingriff der Zentralgewalt in das Gebiet der gesetzgebenden läge.
Wo man auf das von Köstlin betonte sittlich-außerrechtliche Element der Gnade verzichtet und einen reinen Rechtsbegriff zur Korrektur des Gesetzes annimmt, hilft man sich mit allgemeinen rechtsstaatlichen Erwägungen, um der Konsequenz des Schärfungsrechts zu entrinnen, insbesondere mit dem Grundsatz nulla poena sine lege. Klassisches Beispiel dafür sind die Ausführungen von Brauer in Bluntschli-Braters Staatswörterbuch1): „Wenn das formelle Recht, welches der menschliche Richter, an die Vorschriften positiver Gesetze gebunden, in seinen Straferkenntnissen darstellt, oft dem materiellen Rechte, wie es der Idee absoluter Gerechtigkeit gemäß ist, widerspricht und widersprechen muß, so bedürfen wir eines vermittelnden Elements, welches diese Widersprüche auszugleichen vermag. An sich kann diese Ausgleichung nach beiden Seiten gedacht werden, die erkannte Strafe kann als zu hart gemildert, oder als zu gelind verschärft werden. Aber eine Strafschärfung über das Gesetz hinaus wäre, selbst auf Gründe einer höheren Gerechtigkeit gestützt, in der Hand einer menschlichen Behörde Willkühr, weil keine genügende Bürgschaft geleistet werden kann, daß die ausgesprochene Schärfung der höheren Gerechtigkeit besser entspreche als die richterliche Entscheidung, und der Staatsbürger aus der Strafdrohung des positiven Gesetzes ein wohlerworbenes Recht ableitet, mit keinem härteren Übel belegt zu werden, als mit der gesetzlichen Strafe. Dagegen ist eine solche Vermittlung dann unbedenklich, wenn die gesetzliche Strafe, vom höheren Standpunkte betrachtet, zu hart erscheint, denn der Nachtheil, welcher aus dem Vollzug einer materiell ungerechten Bestrafung entspringt, wird hier nicht aufgewogen durch den möglichen Schaden, welcher aus einer ungerechtfertigten Milde entstehen kann.”
1) A.a.O.
|30|
Ganz ähnlich spricht noch v. Bar1) davon, daß ein vom Staatsoberhaupt geübtes Strafschärfungsrecht mit der Rechtssicherheit, welche nach moderner Auffassung das Strafgesetz dem einzelnen zu garantieren hat, völlig unvereinbar wäre und das Begnadigungsrecht herabziehe, welches dann gewissermaßen zu einer obersten richterlichen Instanz werde: „In unserer Zeit ist davon nicht mehr die Rede.” Einen abweichenden Standpunkt hat in dieser Frage Ihering eingenommen. Er betont, daß es die „reine Gesetzlosigkeit” sei, die sich in dem Begnadigungsrecht auf den Stuhl des Rechts setze, die „prinzipielle Anerkennung der Willkür in der Strafrechtspflege2).” Aber es brauche nicht notwendigerweise so sein; die Aufgabe des Grundsatzes der ausschließlichen Herrschaft des Gesetzes in der Strafrechtspflege könne auch einer über dem formalen Recht stehenden materiellen Gerechtigkeit dienen. Um das zu erreichen, schlägt Ihering die Einsetzung eines höchsten, über den Gesetzen stehenden Gerichtshofes (!), eines „Gerechtigkeitshofes” vor. Ihm soll nicht nur die Ausübung des Begnadigungsrechtes im Namen des Souveräns oder die Beantragung der Begnadigung bei letzterem überwiesen werden, sondern er soll auch zugleich die Fälle aburteilen, bei denen das Raffinement neue Verbrechen ersonnen habe, welche im Gesetz nicht vorgesehen seien und für deren Bestrafung das vorhandene Recht wenn auch irgendeine Handhabe, so doch keine der Schwere des Verbrechens entsprechende Strafe darbiete. Der Satz „nulla poena sine lege” habe nur bedingte Berechtigung: „Er ist gemeint als Garantie gegen die Willkür, und diese Aufgabe löst er. Aber das höchste Ziel des Rechts ist nicht die Fernhaltung der Willkür, sondern die Verwirklichung der Gerechtigkeit, und soweit jener Satz dem in den Weg tritt, ist er unberechtigt3).”
Ihering ist sich darüber klar gewesen, daß es nicht angängig ist, den ordentlichen Gerichten das gefährliche Instrument eines generellen Strafschärfungsrechtes in die Hand zu geben. Auch sein merkwürdiger Plan, es einem besonderen höchsten Gerichtshof anzuvertrauen, hat
1) A.a.O., III. Bd., S. 465, Anm. 244.
2) A.a.O., S. 427.
3) S. 429.
|31|
verständlicherweise keinen Anklang gefunden. Ein völlig unabhängig über den Gesetzen stehendes Richtertum ist im modernen Staat undenkbar; es würde dem Wesen der richterlichen Funktion nicht entsprechen und würde die Einheit und Geschlossenheit der politischen Führung durchbrechen.
An der Problematik des Strafschärfungsrechtes, die mit dem Wegfall des Grundsatzes „nulla poena sine lege” infolge der modernen politischen und strafrechtlichen Entwicklung besonders aktuell geworden ist, wird bereits deutlich, daß der Ausgangspunkt jener „Billigkeit” und „Gnade” identifizierenden Lehre verfehlt ist.
Zweitens. In die größte Verlegenheit gerät man bei der Erörterung der Rechtsfolgen der Begnadigung. Obgleich es die Funktion der Gnade sein soll, materielle Gerechtigkeit, richtiges Recht zu verwirklichen, soll der verbrecherische Charakter der Tat gleichwohl nicht aufgehoben, vielmehr nur ein persönlicher „Strafaufhebungsgrund” gegeben sein1). Die Tat wirkt stets rückfallbegründend, sie kann zur Begründung gewerbs- und gewohnheitsmäßigen Verhaltens herangezogen werden, die Strafbarkeit von Teilnehmern bleibt unberührt2), die von Rechts wegen eintretenden Ehrenfolgen der Verurteilung werden nicht beseitigt, sofern der Begnadigungsakt nicht ausdrücklich und besonders auch auf diese Nebenfolgen erstreckt wird3). Die Begnadigung beseitigt grundsätzlich nicht das Urteil, sondern nur einen Teil seiner Folgen4).
Alle diese Konstruktionen sind jedoch sinnlos, wenn dem Betroffenen im Gnadenwege lediglich sein wahres Recht geworden wäre. Die Begnadigung müßte dann folgerichtig als ein besonderes, außerordentliches Rechtsmittel aufgefaßt werden und dementsprechend die volle
1) Eb. Schmidt, a.a.O., S. 570.
2) RGSt. 50, 388.
3) Eb. Schmidt, a.a.O., S. 569 f., mit
weiteren Literaturnachweisen.
4) W. Jellinek, Verwaltungsrecht, 1928: „Wenn
z.B. die Gewerbeordnung im § 57 die Versagung des
Wandergewerbescheins vorschreibt, falls der Gewerbetreibende
wegen Landfriedensbruchs zu einer Freiheitsstrafe von mindestens
drei Monaten bestraft worden ist, so muß der Wandergewerbeschein
auch nach Begnadigung des Gewerbetreibenden versagt werden. —
Braunschw. VGH., 17. V. 22. Br. Z. 69 (1924), Beil. S. 9 f. Bay.
VGH., 20. VI. 19. Reger 40, S. 33.” Esmein, Eléments de droit
const., I, S. 548.
|32|
Restitution der früheren Rechtsstellung des Begnadigten bewirken — eine Konsequenz, die jedoch offenbar aus einer dunklen Vorstellung von dem wahren Wesen der Gnade nicht gezogen wird. Die Einzelheiten der Lehre von den Rechtsfolgen der Begnadigung stellen daher ein unklares und umstrittenes Gebiet des öffentlichen Rechts dar.
Drittens. Problematisch ist endlich die juristische Konstruktion des Begnadigungsaktes.
In der Staatsrechtslehre bereitete es die größten Schwierigkeiten, die Begnadigung in das Gewaltenteilungsschema des konstitutionellen Rechtsstaats einzugliedern. Besonders interessant sind die Diskussionen, die bereits in der Französischen Nationalversammlung von 1791 über diese Frage geführt worden sind. In klassischer Reinheit werden hier die Argumente des rechtsstaatlich-liberalen Denkens für und gegen das Begnadigungsrecht vorgebracht. Der entscheidende, immer wiederholte Gesichtspunkt ist der, daß durch die Begnadigung das Gesetz in einem speziellen Einzelfall aufgehoben wird, daß ein königliches Begnadigungsrecht infolgedessen den König über die Gesetze erheben und damit die ihm zugedachte Bindung an die Gesetze vereiteln würde. In der Rede des Abgeordneten M. Pétion de Villeneuve am 4. Juni 1791 heißt es1): „Demander si l’on accordera au roi le droit de faire grâce, c’est demander, en d’autres termes, si lorsque les juges auront regardé comme cer-tain, si lorsque l’accusé sera convaincu, si lorsque le juge aura appliqué la loi, alors il est libre au pouvoir exécutif de s’élever au-dessus de cette loi, de mettre sa volonté particuliere au dessus de la volonté générale: c’est là en définitive où doit se réduire cette grande question, qui vraiement n’en est pas une.” Bei dem gleichen Abgeordneten heißt es an anderer Stelle2): „Dans un gouvernement bien organisé, nul homme ne doit se mettre au-dessus de la loi; car enfin, Messieurs, qu’est donc le despotisme, si ce n’est le droit qu’a un homme de se placer au-dessus de la loi et de ne point obéir. C’est la definition exacte du despotisme. Lorsque la loi a prononcé, nul ne doit avoir, sous le prétexte de clémence,
1) Arch. parl. XXVI p. 734. Zitiert (auch im
folgenden) nach Redslob, Die Staatstheorien der
Französischen Revolution von 1789. 1912. S. 347 ff.
2) P. 734.
|33|
le droit de l’enfreindre, car c’est ainsi que les abus s’introduisent: la clémence d’une nation est d’être juste!” — Da die Begnadigung im Einzelfall das Gesetz durchbricht, eine solche Gewalt jedoch dem pouvoir exécutif nicht zugestanden wird, so könnte nur die Legislative Begnadigungen vornehmen. Nun kann jedoch nach der klassischen Revolutionslehre die gesetzgebende Gewalt nur generelle Normen, nicht jedoch einen speziellen Einzelakt wie die Begnadigung, aussprechen1). Das Gnadenrecht kehrt daher zur souveränen Nation zurück: „Le droit de faire grâce appartient au souverain. La souveraineté appartient à la nation, source de tout pouvoir: donc ce droit de faire grâce appartient à la nation; vous n’avez pas le droit d’ôter à la nation un droit, un pouvoir politique qui lui appartient2).” Auch die Nation kann indessen das Begnadigungsrecht nicht ausüben, da die volonté générale nur Regeln generellen Charakters ausspricht: folgerichtig wird es überhaupt abgeschafft. Am 4. Juni 1791 wird beschlossen: „L’usage de tous actes tendant à empêcher ou à suspendre l’exercice de la justice criminelle, l’usage des lettres de grâce, de rémission, d’abolition, de pardon, et commutation de peine, sont abolis3).”
Andere Verfassungen, die nicht minder betont auf ein Gewaltenteilungssystem abzielten, haben diese von der Assemblée Constituante vertretene Auffassung von der Unvereinbarkeit der Gewaltenteilungslehre mit dem Gnadenrecht nicht geteilt: so hat z.B. die Verfassung der Vereinigten Staaten von 1787 das Begnadigungsrecht dem Präsidenten zuerkannt, während es in den Einzelstaaten den Gouverneuren zustand4). Der Code pénale von 1791 schaffte in I tit. 7 a 13 das Gnadenrecht für die von Geschworenengerichten abgeurteilten Verbrechen ab, während er es in anderen Fällen den Gerichten übertrug. Mit dem Konsulat auf Lebenszeit wurde jedoch durch Senatuskonsult vom 16. Thermidor des Jahres X das souveräne Begnadigungsrecht wieder eingeführt5).
1) C. Schmitt, Verfassungslehre, 1928,
S. 139 ff.
2) Arch. parl. XXVI, p. 735.
3) Arch. parl. XXVI, p. 738.
4) Esmein, Eléments de droit constitutionel, Bd. I, S.
548.
5) Delaquis, Wtb. d. Dt. St. V. R. 1910, S. 375;
Esmein, Bd. II, S. 155. Sénatusconsulte du 16 thermidor an X,
art. 86: „Le Premier Consul a le droit de faire grâce. ➝
|34|
Die Regelung des Code pénale bringt zugleich eine andere vielfach vertretene Meinung zum Ausdruck, welche in der Begnadigung einen Richterspruch sieht. Auch diese Theorie ist in der Französischen Nationalversammlung vertreten worden. Der Abbé Maury benutzte sie, um in Verbindung mit einer Lehre von einer Zweiteilung der Gewalten dem König das Gnadenrecht zu erhalten: „La loi ne connait que des principes généraux de tous les temps et de tous les lieux; mais souvent la loi generale n’est pas la justice particulière; et cette justice particulière qu’on appelle souvent, et avec raison, clémence, doit être mise en depot dans les mains du roi . . . II est de l’intérêt de la nation, Messieurs, que son roi puisse quelquefois remédier aux erreurs des jurés, et aux erreurs des lois elles-mêmes, car les lois ne sont pas infaillibles . . .1).” Maury vertritt hier die erwähnte Idee von der Gnade als Korrektur der Gerechtigkeit. Von diesem Standpunkt aus ist es nur konsequent, die Begnadigung als Richterspruch zu konstruieren. Da der König Träger der vollziehenden, d.h. der administrativen und richterlichen Gewalt ist, steht ihm dieses Recht zu2). Die ordentliche Gerichtsbarkeit überträgt er auf die Gerichte, die außerordentliche, d.h. insbesondere das Gnadenrecht, übt er selbst aus3).
In neuerer Zeit betont besonders Redslob in seiner Darstellung der Staatstheorien der Französischen Nationalversammlung mit besonderer Schärfe die Lehre von der Begnadigung als Richterspruch. Die Gnade ist nach seiner Meinung Anwendung des Gesetzes, sie ist wie der Richterspruch eine „logische Tätigkeit”, durch welche aus der allgemeinen
➝ II l’exerce, après avoir entendu dans un Conseil privé,
le grand-juge, deux ministres, deux sénateurs, deux conseillers
d’Etat et deux juges du Tribunal de Cassation.”
1) Arch. parl. XXVI, p. 727.
2) So auch der Abg. Toulongeon am 4. Juni 1791, p.
736.
3) Daß er nicht beide Funktionen ausüben kann, betonte
bereits Montesquieu ausdrücklich: „Dans les Etats monarchiques,
le prince est la partie qui poursuit les accusés, et les fait
punir ou absoudre: s’il jugeait lui-même, il serait le juge et la
partie. Dans les memes Etats, le prince a souvent les
confiscations: s’il jugeait les crimes, il serait encore le juge
et la partie. De plus il perdrerait le plus bei attribut de la
souveraineté, qui est celui de faire grâce: il serait insensé,
qu’il fit et il défit ses jugements; il ne voudrait pas être en
contradiction avec lui-même. Outre que cela confondrait toutes
les idées, on ne saurait, si un homme est absous, ou s’il
recevrait sa grâce.”
|35|
Gesetzesregel die Norm für den Einzelfall entnommen wird, sie ist en Richterspruch von größerer Freiheit. Anders als der Abbé Maury geht er jedoch von der Dreiteilung der Gewalten aus und erklärt, daß die Gnade als Akt der richterlichen Gewalt eben nicht vom König, dem Haupt der Exekutive, geübt werden könne.
In der neueren Literatur ist diese Lehre, insbesondere unter dem Einfluß der Entwicklung des positiven Rechts, immer mehr aufgegeben worden1).
Während im mittelalterlichen Gerichtsgebrauch ein „Richten nach Recht” und ein „Richten nach Gnade” unterschieden wird, die Gnade durch Richterspruch gewährt und als Attribut der Gerichtsbarkeit verstanden wird2), hat sich das Gnadenrecht mit der Herausbildung der landesherrlichen Territorialgewalt, etwa seit dem 16. Jahrhundert — z.B. in der Regelung der Carolina — in der Hand der Landesherren konzentriert — eine Entwicklung, die mit der Regelung des Preußischen Allgemeinen Landrechts prinzipiell als abgeschlossen gelten kann3). Im Gewaltenteilungssystem des konstitutionellen Rechtsstaats bleibt das Gnadenrecht in den Händen des Monarchen, der indessen wesentlich nur noch als Chef der Exekutive gilt und von der richterlichen Gewalt getrennt ist. Dementsprechend beläßt auch die Verfassung der liberal-demokratischen Republik das Gnadenrecht beim Chef der Exekutive (dem Reichspräsidenten, Art. 49 Abs. I Weim.RVerf.; dagegen wird die Amnestierungsbefugnis vom Gnadenrecht gelöst und der Legislative übertragen, Art. 49 Abs. II Weim.RVerf.).
Die positivistische Rechtswissenschaft suchte infolgedessen die Begnadigung als Verwaltungs- bzw. Regierungsakt zu verstehen. Die charakteristische Definition lautet: „Die Begnadigung ist ein Verwaltungsakt, durch welchen entweder die Fortsetzung eines Strafverfahrens verboten oder die Folgen eines strafrechtlichen Urteils aufgehoben,
1) Laband, Staatsrecht des Deutschen
Reiches, 4. Aufl., 1901, III. Bd., S. 482 f.
2) S. unten S. 92 ff. — K. Beyerle, Von der
Gnade im deutschen Recht, 1910, S. 10 ff.
3) Meyer-Anschütz, Lehrbuch des Deutschen
Staatsrechts, 7. Aufl., 1919, III. Teil, S. 747 f., und dort
aufgeführte Literatur. — Beyerle, a.a.O., S. 19
f.
|36|
insbesondere die Strafvollstreckung untersagt wird1).” Die der rechtsstaatlichen Logik eigentümliche Unterscheidung „formeller” und „materieller” Rechtselemente führt darüber hinaus zur Konstruktion merkwürdig komplizierter und problematischer Rechtsfiguren. „Formell” soll es sich um einen „Regierungsakt”, einen „Verwaltungsakt” oder genauer, um einen „Justizverwaltungsakt2)” handeln. Inhaltlich sucht eine neuere Lehre den Rechtsnormcharakter des Begnadigungsaktes nachzuweisen3). Eine andere Theorie endlich glaubt, mit der Bezeichnung „Akt der Rechtspflege” etwas Wesentliches über den materiellen Gehalt des Gnadenaktes ausgesagt zu haben4). Dazwischen finden sich Äußerungen, die die Erkenntnis zum Ausdruck bringen, daß der Begnadigungsakt im Grunde mit Hilfe der Gewaltenteilungslehre nicht systematisch zu erfassen ist. Merkwürdig widerspruchsvoll sind in dieser Beziehung die Ausführungen Labands5). Während er die Begnadigung zunächst als eine „Regierungshandlung, die Ausübung der obersten staatlichen Macht, durch welche in den geordneten Gang der Rechtspflege eingegriffen wird”, dann als „außerordentlichen, im Verfassungsrecht zwar zugelassenen, aber im Prozeßrecht nicht geregelten Verwaltungsakt” bezeichnet, erklärt er sie späterhin als „Äußerung eines jus eminens des Staates, welches weder durch Gesetz noch Richterspruch gebunden ist”, als einen staatlichen Akt, „bei welchem die Trennung der staatlichen Funktionen in Gesetzgebung, Gerichtsbarkeit und Verwaltung verschwindet, und der deshalb unmittelbar aus dem Centralpunkt der staatlichen Gewalt hervorgeht”. Wie diese letztere Bemerkung innerhalb einer Staatstheorie zu verstehen ist, welche einen „Centralpunkt der staatlichen Gewalt” nur in der Fiktion einer juristischen Staatsperson zu denken vermag, bleibt unklar.
Endlich hat es nicht an Theorien gefehlt, welche das Begnadigungsrecht aus der gesetzgebenden Gewalt herleiteten und seine Ausübung als
1) Meyer-Anschütz, S. 749.
2) v. Bar, a.a.O., S. 465.
3) Eb. Schmidt, a.a.O., S. 566.
4) Anschütz, Verfassung des Deutschen
Reiches, 14. Aufl., 1933, Art. 49, Nr. 1 u. 2.
5) Laband, Staatsrecht des Deutschen Reiches,
4. Aufl., 1901, III. Bd., S. 482 f.
|37|
lex specialis oder als Privileggesetz verstanden. Diese ältere Theorie hat eine prinzipielle staatstheoretische Problematik wenn nicht gelöst, so doch erkannt und beachtet. Sie setzt sich mit der grundsätzlichen systematischen Schwierigkeit auseinander, daß durch den Gnadenakt eine individuelle Ausnahme vom Gesetz gemacht, daß von der generellen Norm in einem speziellen Fall und zugunsten einer bestimmten Person abgesehen wird. Diese Schwierigkeit wird alsdann in der alten, oft wiederholten1) These aufgelöst, daß derjenige, dem die Gesetzgebung zustehe, auch die Befugnis habe, Ausnahmen vom Gesetz zuzulassen. Soweit der absolutistische Gesetzesbegriff dabei zugrunde gelegt wurde, trat die Fehlerhaftigkeit dieser These nicht deutlich hervor. Es ließ sich dann sagen, daß der Regent im nämlichen Maße, wie er seinen Willen als Gesetz bekanntmache und die allgemeine Regel bestimme, auch von dieser Norm wieder abweichen und ohne Bedenken festsetzen könne, wann diese allgemeine Bestimmung wieder aufhören solle. Zu diesen Ausnahmen vom gemeinen Recht gehörten aber nicht nur Privilegien, sondern auch solche persönlichen Verordnungen, die nur von einem einzelnen Falle gelten, constitutiones personales, und zu den letzteren sei Begnadigung i.w.S. zu rechnen2). Der rechtsstaatliche Gesetzesbegriff (Gesetz als generelle vernünftige Norm) hätte bei folgerichtiger Durchdenkung nur zu dem Ergebnis führen können, zu dem auch die Französische Konstituante von 1791 gelangte, daß nämlich in der Gewalt, Gesetze zu geben und sie in jedem Augenblick wieder aufzuheben, keineswegs die Macht des Gesetzgebers, die Anwendung des Gesetzes in einem konkreten Fall auszuschließen, einbegriffen ist3). Diese Feststellung gilt indessen nicht nur für den gewaltenteilenden Rechtsstaat, sondern für jede Staatsform, welche verschiedene Staatsfunktionen wenn nicht voneinander trennt und gegeneinander ausspielt, so doch in ihrer Verschiedenartigkeit unterscheidet. Die Staatslehre Thomas von Aquins (die auf der aristotelischen Lehre von der
1) Carpzov, Practica qu. 150, n. 16; Grotius,
De jure belli ac pacis, II, 20, § 24.
2) Kleinschrod, Systematische Entwicklung der
Grundbegriffe und Grundwahrheiten des peinlichen Rechts, Bd. II,
1799, S. 281.
3) Was nach Plochmann, Das Begnadigungsrecht,
1845, S. 40, „keinem Zweifel unterliegt”.
|38|
Unterscheidung, nicht aber der Teilung und Entgegensetzung der Gewalten beruht) hat die rechtslogisch richtige Lösung präzisiert: Der Richter hat nicht die Befugnis, einen Angeklagten entgegen den Gesetzen, die ihm von einem Höheren gegeben sind, von der Strafe zu lösen; das kann nur der princeps, „qui habet plenariam potestatem in republica1)”. Im Einzelfall von der Anwendung des Gesetzes dispensieren kann nur derjenige, der es geben, aufheben und ändern kann kraft der Fülle der Staatsgewalt, die in ihm vereinigt ist und ihn zum Herrn der Gesetze macht. Der über den Gesetzen stehende princeps handelt also nicht als legislator, sondern als dispensator, wenn er im konkreten Fall von der Ausführung des Gesetzes absieht und begnadigt.
Diese Lehre von der Begnadigung als Ausfluß der Dispensationsgewalt des Staatsoberhauptes ist erst im neunzehnten Jahrhundert völlig in Vergessenheit geraten, nachdem im System des bürgerlichen Gesetzesstaates kein Raum für den Dispensationsbegriff blieb. Es wird im folgenden zu zeigen sein, daß mit der Beseitigung des legalitären Staatssystems und mit der Aufrichtung eines Führungsstaates mit personalistischer Herrschaftsstruktur der Rechtsbegriff der Dispensation einer neuen staatstheoretischen Würdigung bedarf und daß der Begnadigungsakt nur mit Hilfe dieses Begriffes juristisch richtig zu erfassen ist.
Bei dieser Untersuchung kann eine der scheinbar wichtigsten Fragestellungen der neueren Zeit als überholt und im Grunde unfruchtbar und gegenstandslos außer Betracht bleiben: nämlich die immer wieder erörterte Streitfrage, ob die Begnadigung ihrem Wesen nach ein staatlicher Befehl sei, der eine „Handlung oder Unterlassung zum Inhalt hat2)”, oder ob sie als „Verzicht auf den staatlichen Strafanspruch” aufzufassen sei3). Die letztere Auffassung ist schon dadurch unhaltbar
1) S.th. 2, 2 qu. 67 a. 4.
2) So Laband, a.a.O., S. 484;
Gerland, HdRW., I. Bd., 1926, Art. „Begnadigung”.
3) Georg Jellinek, System, 1905, II, S. 333;
Eb. Schmidt, S. 567; Delaquis, S. 375;
Anschütz, Art. 49, Anm. 1, 4; W. Jellinek, S.
215; Poetzsch-Heffter, Kom. Reichsverf., Art. 49, N. 2,
3, 6; Binding, Hdb., Bd. I, S. 860;
Liszt-Schmidt, S. 425; M.E. Mayer, Allg. Teil,
S. 529; RGSt. Bd. 33, S. 204-208, 210 ff.; Bd. 54, S. 54; Bd. 59,
S. 54; Bd. 50, S. 388; abweichend: Bd. 28, S. 419.
|39|
geworden, daß die heutige Strafrechtstheorie bereits ihre Voraussetzung, die strafrechtliche Lehre vom staatlichen Strafanspruch aufgegeben hat. Diese in den umfassenderen Zusammenhang der Lehre von den subjektiven öffentlichen Rechten des Staates gehörende Auffassung von der Strafe als einem „Rechtsverhältnis zwischen Staat und Verbrecher”, wie sie zuerst von Adolf Merkel und Binding entwickelt und dann insbesondere von den Klassikern aufgenommen worden ist, und die „auf eine Zerlegung der einheitlichen Staatsgewalt in eine Summe einzeln aufzählbarer ,Eingriffsrechte’ des Staates hinausläuft”, wird von Schaffstein mit Recht in den Zusammenhang der Ideologie des liberalen Rechtsstaates verwiesen und als unangemessene Übertragung der zivilistischen Denkweise auf das Gebiet des öffentlichen Rechtes abgelehnt1). Schaffstein weist darauf hin, daß der politische Zusammenhang dieses Theoriengegensatzes in der Frage der Widerrufbarkeit der Begnadigung deutlich zutage trete: Aus der Auffassung, daß das ursprüngliche subjektive Strafrecht durch den in der Begnadigung liegenden Verzicht auf den Anspruch endgültig und restlos erloschen sei, wird von Binding2) die absolute Unwiderruflichkeit auch der erschlichenen Begnadigung abgeleitet3).
Aber auch insofern die Verzichtstheorie unabhängig von der Lehre vom subjektiven Strafrecht des Staates in der Form vertreten wird, daß als Verzichtsobjekt nicht ein staatlicher Strafanspruch, sondern eine dem Staate mit dem Strafrecht gegebene Rechtsmacht erscheint4), vermag sie ebensowenig wie die ihr entgegengesetzte „Befehlstheorie” etwas Wesentliches über den Inhalt des Begnadigungsaktes auszusagen. Beide Theorien tragen einen ausgesprochen begriffsjuristischen Charakter. Der Begnadigungsakt wird in überspannter Abstraktion unter einen rechtslogischen Allgemeinbegriff subsumiert, aus dem absteigend wiederum Folgerungen für seine juristische Qualifikation hergeleitet werden. Während mit der Auseinandersetzung darüber, ob der Begnadigungsakt
1) Der Begriff Strafanspruch und sein
rechtspolitischer Gehalt, DJZ., 1934, Sp. 1174-1180.
2) Hdb. d. Strafr., S. 873 ff., 879.
3) Pralle, Die Begnadigung als fehlerhafter
Staatsakt, 1934.
4) Heimann, Die Begnadigung, Heidelb. Diss.,
1931, S. 9 ff., 14 ff.
|40|
Gesetz, Richterspruch, Verwaltungsakt oder Dispens sei, noch konkrete Wirklichkeiten der staatlichen Ordnung getroffen werden, bezeichnen die Begriffe „Verzicht” und „Befehl” (in dem von der Befehlstheorie gemeinten formalen Verstand) nur noch formale Kategorien des juristischen Denkens, die eine unmittelbare ausschließliche Subsumtion des Begnadigungsaktes unter den einen oder den anderen Begriff gar nicht zulassen. Die an diese Streitfrage anknüpfende Problematik kann infolgedessen als unfruchtbar unerörtert bleiben.