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Das Augsburgische Bekenntnis von 1530, die grundlegende Bekenntnisschrift der lutherischen Kirche sagt in Art. XVI „Von der Polizei und weltlichem Regiment”:
Von Polizei und weltlichem Regiment wird gelehret, daß alle
Obrigkeit in der Welt und geordnete Regiment und Gesetze gute
Ordnung, von Gott geschaffen und eingesetzt seind, und daß
Christen mögen in Oberkeit, Fürsten- und Richter-Amt ohne Sunde
sein, nach kaiserlichen und anderen üblichen Rechten Urteil und
Recht sprechen, Übeltäter mit dem Schwert strafen, rechte Kriege
fuhren, streiten, kaufen und verkaufen, aufgelegte Eide tun,
Eigens haben, ehelich sein etc.
Hie werden verdammt die Wiedertäufer, so lehren, daß der
obangezeigten keines christlich sei.
Auch werden diejenigen verdammt, so lehren, daß christliche
Vollkommenheit sei, Haus und Hof, Weib und Kind leiblich
verlassen und sich der berührten Stucke entäußern; so doch dies
allein rechte Vollkommenheit ist, rechte Furcht Gottes und
rechter Glaube an Gott. Dann das Evangelium lehrt nicht ein
äußerlich, zeitlich, sondern innerlich, ewig Wesen und
Gerechtigkeit des Herzens und stoßet nicht um weltlich Regiment,
Polizei und Ehestand, sondern will, daß man solchs alles halte
als wahrhaftige Gottesordnung, und in solchen Ständen christliche
Liebe und rechte gute Werk, ein jeder nach seinem Beruf, beweise.
Der-halben seind die Christen schuldig der Oberkeit Untertan und
ihren Geboten und Gesetzen gehorsam zu sein in allem, so ohne
Sunde geschehen mag. Dann so der Oberkeit Gebot ohn Sund nicht
geschehen mag, soll man Gott mehr gehorsam sein dann den
Menschen. Actuum 5.
Bezeichnend ist, daß den Verfassern des Bekenntnisses der Begriff Staat ganz abgeht. Zur Bearbeitung des Themas „Gehorsam und Widerstand” bedarf es regelmäßig eines längeren theologischen Anmarschweges, von dem wir jedoch nach dem bereits oben Entwickelten das Meiste abkürzen können.
Die entscheidenden Sätze des Artikels XVI sind die, in denen auf die Schriftstellen Römer 13 und Apostelgeschichte 5 verwiesen wird. Damit sind auch hier die Grenzwerte gesetzt, die Marken, die nicht überschritten werden dürfen. Wir sind der Welt Untertan, aber im Gehorsam gegen die göttlichen Gebote zugleich frei. Gerade die praktische Deutung dieses zugleich wird uns nun in Blick auf Chalcedon leichter.
Die Freiheit, welche das Wort der Apostelgeschichte dem Gläubigen gibt, ist nun genau besehen, nicht die Freiheit des Widerstandes,
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sondern die des Ungehorsams. Er wird vom Gehorsam entbunden, den er sonst nach Römer 13 um des Gewissens willen leisten müßte. Daraus aber ergibt sich zugleich, daß dieser Ungehorsam ein rein negativer, aber auch keine Willkür ist: das konkret Geforderte darf er nicht nur verweigern, sondern er muß es sogar verweigern, ebenso um des Gewissens willen, wie er sonst gehorsam ist. Dieser negative Ungehorsam, die Gehorsamsverweigerung schließt deshalb auch in keiner Weise ein positives Tun ein. Es ist das Martyrium im Sinne der klassischen Martyrerzeit der Kirche. Es hat politische Bedeutung nur darin, daß eine zum Martyrium wirklich entschlossene Bekennerschaft so unüberwindlich ist, wie es die Kirche der ersten Jahrhunderte war, und eben damit — ohne es als solches zu wollen — eine politische Tatsache schafft. An diesem Bekenntnis, nicht an politischer Aktivität unendlich Vieles versäumt zu haben, war der richtig verstandene Inhalt des viel mißverstandenen und nicht an die Welt, sondern an die Oekumene gerichteten Stuttgarter Schuldbekenntnisses.
Das Mißverständnis der Sachlage setzt nun aber sofort in zwei Richtungen ein. Erstens werden als Fälle des zu fordernden Ungehorsams solche ausgesucht, wo die Entscheidung ganz klar ist: Tötung von Juden, Gefangenen, Geisteskranken, Mißhandlung, Denunziation usw., alle die typischen Zumutungen eines totalitären Regimes. Es sind im Grunde alles Fälle, wo selbst im militärischen Gehorsamsverhältnis die offenkundige Rechtswidrigkeit des Befehls vom Gehorsam entbindet. Schwierig wird gemeinhin die Sache aber erst — in der Entscheidung! Denn die Durchführung ist regelmäßig opfervoll und gewagt —, wenn eben diese Zweifellosigkeit nicht gegeben ist. Es wird hier sichtbar, daß die Obrigkeit — gut oder schlecht — wirklich Obrigkeit ist, welche politische Form sie auch immer hat. Wenn nämlich eine Privatperson etwas von mir fordert, so hat sie die Beweislast; fordert die Obrigkeit etwas, so hat der in Anspruch Genommene die Beweislast dafür, daß diese Forderung nicht zu Recht besteht — und dies gerade etwa in der Kriegszeit — mit seiner ganzen Existenz. Die Obrigkeit hat einen Voraus bei dieser Forderung; diese hat eine zwar widerlegbare, aber zunächst gegebene Vermutung der Rechtmäßigkeit für sich. Das Prinzip der Gesetzesstaatlichkeit und die höchste Achtung vor dem Recht kann die hier beschlossenen Konflikte zwar ganz wesentlich mildern, nicht aber grundsätzlich lösen, zumal es sich meist um sehr schwerwiegende aber auch — etwa völkerrechtlich — sehr umstrittene und schwierige Probleme handelt. Es ist schlechthin ein Wahn, der in den Bereich des erwähnten Pelagianismus gehört und eine echte Ketzerei ist, daß dies Problem bei genügender Anstrengung menschlichen Scharfsinns im Wesentlichen durch rationale Regeln gelöst werden könne. Das rechtstaatliche kaiserliche Deutschland ist der Beschuldigung zahlreicher Kriegsverbrechen nicht entgangen, die keine solche waren, und die zum großen Teile von dem nicht rechtsstaatlichen Hitlerdeutschland begangen wurden. Die
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begrenzte Wirkung des Völkerrechtes ist durch nichts wirksamer aufgehoben worden als durch den Versuch seiner totalen Ausdehnung. Mit Recht hat deshalb der bekannte internationale Strafverteidiger Prof. Grimm darauf hingewiesen, daß früher der gesetzlose Zustand des Krieges regelmäßig mit einer Generalamnestie im Friedensvertrag beendet wurde.
Hier setzt nun das zweite Moment ein. Es zeigt sich in gewissen Systemen, besonders den totalitären, daß die Staatsgewalt ihren Voraus, die Vermutung der Rechtmäßigkeit nicht nur im Einzelnen oder Grenzfall, sondern grundsätzlich mißbraucht. In jedem solchen System bleibt freilich immer ein großes Stück legitimer obrigkeitlicher Gewalt in Verwaltung und Rechtsprechung übrig. Aber es zeigt sich in den wesentlichen Dingen, daß Mißtrauen gegenüber allem anderen geboten ist, weil es direkt oder indirekt gewissensmäßig verbotenen Zielen dienen könnte. Wenn dies nun nur zu einer Ausdehnung der Ungehorsamsfälle oder zur Flucht aus untragbaren Konflikten führt, ist es nichts grundsätzlich Anderes. Wer aber fliehen weder kann noch will und auch nicht mitschuldig werden will, kommt erst dann an die Frage des Widerstandes. Widerstand ist nicht ein potenzierter Ungehorsam, sondern der Versuch, aktiv eine Änderung der Forderungen an ihrer Quelle zu erreichen, den Staatswillen zu beeinflussen. Das aber ist immer eine generelle Entscheidung, daß das Ganze der Politik, nicht nur irgend eine einzelne Entscheidung, die Richtung als solche geändert werden müsse. Das ist dann aber — man täusche sich nicht! — unausweichlich eine politische Entscheidung. Diese aber verpflichtet den so Handelnden in doppelter Weise: für die Folgen nämlich, die durch sein Handeln eintreten, und zwar sowohl geschichtlich wie rechtlich, dafür nämlich, daß etwa durch den Widerstand in besonders großem Ausmaße, etwa durch Sturz der Regierung in entscheidenden Lagen die Möglichkeit einer geordneten Regierung überhaupt wegfällt, daß durch den Wechsel etwa der militärischen Kommandos allein schon eine Niederlage eintritt, die Ungezählten das Leben und dem Ganzen die Freiheit kostet. Die Entscheidung verpflichtet damit zugleich anstelle des durch Widerstand Beseitigten etwas Besseres zu setzen, Sie werden gefragt, ob sie die Macht haben, es zu Ende zu bringen. Eine solche Entscheidung ist nicht mehr allein eine Entscheidung der absoluten Ethik, sondern zugleich eine politische. Die gläubigen Christen, die den 20. Juli 1944 durchgeführt haben, standen vor dieser Frage, und haben nicht glauben können, in ihrem Handeln absolut gerechtfertigt und ohne Schuld, ohne die Urschuld des Politischen zu sein, mochte ihre Sache um noch so viel besser sein, als die Hitlers; latet dolus in generalibus! Ich kenne Menschen der gleichen Haltung und strengster Gewissenhaftigkeit, welche aus genau diesen Gründen sich nicht für befugt gehalten haben würden, ebenso zu handeln wie jene. Hier liegt der innere Grund dafür, weshalb Calvin das Recht des Widerstandes nur den Magistraten, nicht den Einzelnen zugebilligt hat —
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obwohl es doch eigentlich um das unverletzte Gewissen jedes Einzelnen gehen müßte! —; denn eben die Magistrate sind solche, die nicht nur berufen, sondern vor allem imstande sind, die obrigkeitliche Gewalt aufrechtzuerhalten oder wiederherzustellen. Es ist nicht konservative Sorge vor pöbelhaften Revolten, sondern ein echter theologischer Grund, den Calvin hier hat. Deswegen haben später Anhänger des 20. Juli und ihre Gegner, soweit sie keine Ideologen waren, ohne Haß miteinander umgehen können — und an diesem feinen Punkte entschied es sich, ob der christliche Glaube zu einer humanistischen Ideologie geworden war oder nicht.
Deswegen müssen Ungehorsam, d.h. Freiheit zum Nichtgehorsam nach der heiligen Schrift und Widerstand begrifflich klar voneinander geschieden werden. Den Ungehorsam leiste ich wegen meines unverletzten Gewissens, den Widerstand leiste ich letztlich für andere, im Amte; in diesem Amte aber, das mich auch im Gewissen verpflichtet, muß das Meinige das Letzte, das Heil und Wohl der anderen das Erste und Eigentliche sein. Der ungläubige Revolutionär schreit um die eigenen Rechte und verficht sie vielleicht durchaus zu Recht; aber er will für seine Person nicht leiden.
Es ist leider so, daß die grundsätzlichen Gegner der Revolution sehr viel weniger grundsätzliche Gegner des Krieges, und die grundsätzlichen Gegner des Krieges keineswegs Verächter, sondern Lobredner der Revolution sind; jeder sieht in dem anderen die echte Bewährung der Hingabe oder des Freiheitswillens. Es hat christliche Theologen gegeben, welche es als eine Art von Charakterfehler des deutschen Volkes bezeichnet haben, daß es noch keine „große” Revolution gehabt habe, in der eine ganze Schicht ausgerottet wurde. Derartige Dinge stellen dem Rang des theologisch-politischen Denkens kein gutes Zeugnis aus. Unsere hinreichende Erfahrung auf beiden Gebieten sollte uns vor solcher Naivität bewahren. Aber es dürfte auch klar sein, daß in dem einen mehr das Bewußtsein der Mitverhaftetheit, der Gebundenheit, im andern das Bewußtsein der Diastase, der Freiheit des Christen von der Welt, zum Ausdruck kommt. Deswegen führt auch diese Betrachtung über alle Verengungen des Blickes und alle Verkrampfung der Haltung wieder zurück auf das Geheimnis der Christologie, wie es in Chalcedon bezeugt worden ist.