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In der Evangelischen Kirche in Deutschland und in der Oekumene ist in den Jahren nach dem Kriege eine umfassende und gründliche Auseinandersetzung über die theologischen Grundlagen des Rechts geführt worden, die etwa 1951 zur Ruhe gekommen ist, aber auch einen gewissen sachlichen Abschluß gefunden hatte. Die letzte große Arbeitstagung war die oekumenische Naturrechtskonferenz von Treysa 1950, die von den Vertretern der großen protestantischen Denominationen aus der ganzen Welt beschickt war. In diesen Erörterungen haben sich zwei Hauptstandpunkte herausgebildet, die trinitarisch-heilsgeschichtliche und die sogenannte christomonistische Rechtsbegründung; beide Auffassungen stehen in einem gewissen Zusammenhang zum Grundansatz der lutherischen und der reformierten Theologie, sie bilden aber keinen absoluten, sondern nur einen relativen Gegensatz und haben der Formulierung einer weitgehenden Übereinstimmung nicht entgegengestanden. Am Schluß dieser Abhandlung sind die Schriften aufgeführt, aus denen der Interessierte alles Wünschenswerte über diese Arbeiten entnehmen kann.
Im Gegensatz zum Rechtsproblem ist das Staatsproblem zurückgetreten. Jene Begegnung zwischen Theologie und Rechtswissenschaft, die den Kampf um die Rechtsbegründung so fruchtbar gemacht hat, hat hier ebenso gefehlt wie die Gemeinsamkeit der oekumenischen Arbeit. Die nach dem Kriege erschienenen Bücher der Bischöfe Berggrav und Dibelius stehen sehr stark im Zeichen der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus; die weit verbreitete kleine Schrift von Karl Barth „Christengemeinde und Bürgergemeinde” zeigt allzusehr die politische Standortgebundenheit ihres Verfassers und kann dem staatstheoretisch Geschulten auch nur als bloßer Ansatz keinesfalls genügen. Der viel besprochene Vortrag des Bischofs Berggrav auf der lutherischen Weltbundtagung in Hannover 1952 hat die Probleme mehr gestellt als gelöst. Die Ehrlichkeit gebietet, den unbefriedigenden Stand der Dinge offen zu bekennen. Umso dringlicher ist unsere Aufgabe. Die ständig steigende Beschäftigung Evangelischer Akademien und Gemeinden mit diesem Gebiet zeigt dies deutlich.
Der Versuch einer solchen Klärung kann vom Begriff oder Idee des Staates als einer vorgegebenen und vorauszusetzenden Wirklichkeit jedoch nicht ausgehen. Idee und Begriff behandeln einen solchen Bereich als eine vom Menschen und von den übrigen, ähnlich zu begreifenden Lebensgebieten abgelösten, eigenen Gesetzen unterliegenden Gegenstand. Man trennt die Gemeinschaft im Begriff künstlich vom Menschen, um dann beide mühsam wieder zusammenzuführen. Dies gilt auch dann, wenn man anstelle von
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Begriff und Idee im Sinne einer bestimmten Theologie von Ordnungen spricht. Der Gedanke, daß sich die Idee als eine vorgegebene Größe in der Geschichte verwirkliche, entnimmt im Grunde genommen den Gegenstand der Betrachtung eben dieser Geschichte. Denn dann ist der Ursprung, die Genesis grundsätzlich ohne Belang, da ja die Gegenwärtigkeit der Idee allein entscheidend ist. Vom Staatsproblem kann aber nur der reden, der die volle Einsicht in die geistesgeschichtliche Bedingtheit der politischen Formen und das Material der Verfassungsgeschichte besitzt; selbst der Begriff Staat ist eine verhältnismäßig junge Erscheinung und nicht älter als 400 Jahre. Der gegenwärtige Zustand jedenfalls ist nicht mehr als die Rinde, aber auch der Saftgang eines ungeheuer alten Baumes, der schon ungezählte Jahresringe angesetzt hat. Dem Dilettantismus — auch dem der Theologen — sind hier sehr enge Grenzen gesetzt; die bloße allgemeine staatsbürgerliche Alltagserfahrung ersetzt nicht den Sachverstand. Es gibt eine Staatslehre ohne Geistes- und Verfassungsgeschichte ebensowenig, wie eine systematische Theologie ohne Kirchen- und Dogmengeschichte.
Die antike Polis, das Imperium Romanum zur Zeit der Apostel und Evangelisten, das Reich Karls des Großen, die ständische Erbmonarchie zur Zeit der Reformation sind so grundlegend verschiedene Erscheinungen, daß wir das Entscheidende unserer Aufgabe verfehlen, wenn wir sie unter den Sammelbegriff „Staat” oder einen anderen Namen bringen. Es ist eine Binsenwahrheit, daß Paulus und Luther einer anderen politischen Wirklichkeit gegenüberstanden als wir. Aber es ist bisher noch nicht schlüssig gezeigt worden, worin denn der Unterschied zur Gegenwart liegt.
Ist also der Begriff „Staat” unverwendbar, so hat doch der Mensch jedenfalls von Anbeginn — genauer vom Sündenfall an — immer in irgendeiner Form eines politischen Gemeinwesens gelebt. Dem hier gemeinten Befund kommt der Begriff des „zoon politikon” sehr nahe; aber es wird durch die lateinische Übersetzung; „animal sociale” und dann schon grundsätzlich verfehlt, wenn man damit spezifisch die grundsätzliche und unablösliche Angewiesenheit des Menschen auf den Mitmenschen, seine Sozialität meint. Die politische Existenz des Menschen bedeutet vielmehr ganz präzise zweierlei:
1. Seine Selbstherrschaft, Selbstbestimmung oder Autonomie. Der (politische) Mensch nimmt die Entscheidung darüber in Anspruch, was für ihn selbst und seinen Herrschaftsbereich als gut oder böse zu gelten hat; er sieht dies zugleich als ein Stück, vielleicht sogar als die höchste Form seiner Selbstverwirklichung, die Freiheit dieser Entscheidung als einen positiven Wert an, den er bejaht und mit seinem Leben verteidigt. Wer seiner selbst nicht mächtig ist, das Kind, der Sklave, können dem Begriff nach nicht Subjekte der Politik sein; sie haben keine politische Existenz.
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2. Die Trennung vom anderen Menschen, von der anderen Gruppe. In dieser negativen Entscheidung, die der positiven Entscheidung zur Freiheit korrespondiert und entspricht, wird Lebensrecht, und Lebensmöglichkeit anderer Gruppen in anderen Formen durchaus nicht grundsätzlich verneint, diese andere Herrschaft und Form nur für den eigenen Bereich abgelehnt. Die politische Existenz ist ihrem Wesen und Ursprung nach nicht universalistisch, sondern partikular. In ihr ist freilich enthalten, daß nun eben die Anderen gerade an dem Wesentlichen, das die eigene Gemeinschaft auszeichnet, und damit möglicherweise gerade am Wesentlichen schlechthin nicht teil haben. So hat die griechische Polis den Einzelgänger, der versuchte, eine unpolitische Existenz zu führen, als Idioten, und den Angehörigen einer anderen als einer griechischen Lebensgemeinschaft als Barbaren, den verworren, sinnlos Handelnden und Lebenden bezeichnet. Der Unterschied zwischen dem Rechte des Bürgers und des Menschen bildet daher, solange ein politisches Gemeinwesen vorhanden ist, eine grundsätzlich nicht aufhebbare Stufe und Differenz.
Diese Doppelwertigkeit — Ambivalenz ist auch in der Struktur der anderen großen Institute enthalten: der Ehe und des Eigentums. Die patriarchalische Ehe grenzt im Gegensatz zur Promiscuität des Matriarchats einen bestimmten Bereich menschlicher Beziehungen unverbrüchlich aus und gestaltet ihn zugleich positiv. Die älteren Eheschließungsformen sind daher doppelgliedrig: das Verlöbnis begründet die negativen Treupflichten durch Ausschluß der Beziehungen zu Dritten; erst die eigentliche Eheschließung durch Übergabe zur Ehe oder deren Vollzug begründet die volle positive Lebensgemeinschaft. Das Eigentum entsteht durch das Herausschneiden (temnein griechisch, tennere lateinisch = schneiden, daher templum als ausgesondertes Gut des Gottes) eines bestimmten Landbereichs und seine Begrenzung und seine positive, gestaltende Zuordnung zum Menschen, der die Sache mit den Kräften seines magischen Feldes durchdringt und sich zuordnet. Aus dieser Strukturgleichheit von Gemeinwesen, Ehe und Eigentum zeigt sich besonders klar, daß die Verengung des Politischen auf den Staatsbegriff zur Erfassung der Erscheinung nicht ausreicht; es handelt sich um ein viel umfassenderes existentielles Phänomen. Die Verwendung des Begriffes „Staat” ist nur dann gerechtfertigt, wenn man ihn als den Inbegriff so strukturierter Lebensformen, als die Zusammenfassung der Statusrechte begreift, insofern als den Status schlechthin. Aber diese sachliche Voraussetzung wird gemeinhin übersehen. Wegen dieser nahen strukturellen Verwandtschaft richtet sich auch die Polemik des Marxismus (Marx, Engels, Bebel) immer gleichzeitig gegen Staat, Ehe, Eigentum. Das ist ganz folgerichtig.
Mit diesen Feststellungen ist bereits ein in zweifacher Weise theologisch zu wertender Befund gegeben:
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I. Diese doppelwertige Selbstmächtigkeit des Menschen, seine politische Existenz ist der Ausdruck einer Macht, einer Mächtigkeit, einer exousia im biblischen Sinne. Rudolf Otto hat das Heilige als ein Doppelwertiges dargestellt: es ist immer, zugleich ein Schreckhaftes, Furchtbares, zu Scheuendes, Numinosum, wie ein Anziehendes, ein unsere Liebe und Hingabe Erweckendes, — Fascinosum. Luther sagt genau ebenso im Katechismus, also in der Auslegung des Gesetzes, daß wir Gott fürchten und lieben sollen; es ist also nicht so, daß wir unter dem Gesetz Gott fürchten, unter dem Evangelium Gott lieben sollen, sondern im alten wie im neuen Buche ist beides enthalten: auch Jesus Christus, die in Fleisch erschienene Liebe Gottes kommt zugleich in den letzten Tagen als Weltenrichter.
Mit Gott, dem Herrn über alle Gewalten, teilen all diese exousiai, diese Gewalten die Doppelwertigkeit des Heiligen. Es ist ein rationalistischer Irrtum und ein Mißverständnis des Monotheismus, zu meinen, als seien durch die Erscheinung Christi Himmel und Erde von diesen Gewalten geleert und sozusagen entvölkert worden, so wie der polytheistische Kultus beseitigt wurde. Sie, die ehedem als Mächte unter dem Himmel den Menschen beherrschten, sind nicht aufgehoben, sondern von Christus überwältigt und in seinen Dienst genommen worden. Um dieser Exousia willen ehren Propheten und Apostel auch die politischen Gewalten und können sie doch unter den Auftrag und das Gericht Gottes stellen.
Die Entwicklung des Begriffes „Gewalt” hat zur Verkennung dieses Tatbestandes viel Anlaß gegeben. Die Gewalt des Königs etwa wurde ursprünglich durchaus ambivalent verstanden: sie war die fruchtbare ordnende Befugnis der freien Gestaltung des Gemeinschaftslebens wie die Macht und Aufgabe der Abwehr des Feindlichen und Störenden. Allmählich ist immer stärker das Letztere hervorgetreten und hat das Erstere verdrängt; Gewalt wird schließlich fast nur noch als nackte, äußere Gewalt, „vis”, potestas statt auctoritas, nackte physische Kraftanwendung verstanden. Diese nur gegen das Böse gerichtete Gewalt wird schließlich selbst als böse angesehen; man sucht sie dann durch das Gesetz und schließlich durch eine totale Vergesetzlichung des politischen Lebens zu bändigen.
Diese politische Existenz in der Selbstmächtigkeit ist die Existenz des gefallenen Menschen. Es ist die Existenz des Menschen, der aus der selbstverständlichen Einheit mit Gott als seinem Ursprung wie aus seiner Bestimmung, nämlich aus der Einheit mit den Mitmenschen und der ganzen Schöpfung herausgefallen ist. Denn gegen den Schöpfer grenzt er sich durch den Anspruch ab, daß er selbst zu entscheiden vermöge, was gut und böse ist: sedes humana a nemine judicatur. Gegenüber dem Mitmenschen grenzt er sich dadurch ab, daß er ihm jedenfalls für diesen Herrschaftsbereich
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kein Bürgerrecht zubilligt und ohne Preisgabe eben dieses politischen Anspruches auch nicht zubilligen kann. Hier sehen wir die schon erwähnte Differenz zwischen Bürgerrechten und Menschenrechten in ihrer tieferen Bedeutung. Diese Mächtigkeit ist eine dem Menschen gnädig belassene, die in ihrem eigenen Rahmen auch positive und rechte Frucht trägt, wiewohl sie letztlich dem Tode verfallen ist.
Um jene Doppelwertigkeit des Politischen noch deutlicher zu machen, müssen wir noch einmal auf den Vergleich mit dem mosaischen Gesetz zurückgreifen. Die erste Tafel des Gesetzes enthält die Gebote der zweckfreien, ihren Sinn in sich selbst tragenden Verehrung Gottes, durch die der Mensch immer wieder die Heiligkeit und Unverbrüchlichkeit der Herrschaft Gottes anerkennt, lobt und preist. Die zweite Tafel enthält die Gebote der Achtung und Respektierung des Nächsten. So hat auch jedes politische Gemeinwesen eine Seite, kraft deren es die Loyalität, die Hingabe, die aktive Mitwirkung der ihm Zugehörenden gegenüber der politischen Herrschaft beansprucht; eine zweite Seite, kraft deren das gleiche Gemeinwesen ein bestimmtes die Rechte des Mitbürger achtendes Verhalten gegenüber dem anderen Menschen verlangt. Es ist eine Schwäche des gesetzesstaatlichen Denkens, daß es kein Organ für jene Gebote der ersten Tafel hat und im Sinne einer nur ethischen Betrachtung des Politischen meint, die Verpflichtungen des Staatsbürgers erschöpften sich in der Beobachtung der Gebote der zweiten Tafel und die der ersten müsse man möglichst klein halten. Auch das Gemeinwesen hat jedoch legitime Ansprüche, die dem Kultusgebot entsprechen. Es gibt nach jener Anschauung jedoch keinen Ort und keinen Bezugspunkt für die aktiven Integrationskräfte, wenn einmal die personalen und traditionalen geschichtlichen Bindungen verlorengegangen oder undeutlich geworden sind. Erst die Integrationslehre Rudolf Smends in seinem Buche: „Verfassung und Verfassungsrecht” hat diese Probleme wieder zur Debatte gestellt.
Auf katholischer Seite wird bestritten, daß die politische Existenz — kurz der Staat — den Fall des Menschen voraussetze. Daran ist soviel richtig, daß das Reich Gottes wie der Staat eine gegliederte und geordnete Herrschaft ist. Die Heilige Schrift spricht ganz unbefangen von den Unterschieden im Himmelreich, wo die irdischen Unterscheidungen der Völker und Geschlechter, des Standes und des Reichtums, kurz der irdischen Mächtigkeit aufgehoben sind. Aber andere wahre, zeitlose Maßstäbe treten an ihre Stelle, wo die Letzten die Ersten sein werden. Der Gedanke der Gleichheit ist der biblischen Aussage über das Reich Gottes und die letzten Dinge völlig fremd. Das Reich Gottes und der Staat sind also in vielem einander vergleichbar; aber das Reich Gottes ist eben kein Staat, wenn der Begriff von den Wesensmerkmalen des Politischen her verstanden wird, weil dessen Kennzeichen der
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Selbstmächtigkeit und der Abgrenzung gegenüber dem Fremden für es nicht zutrifft; denn dann ist das Gegenreich überwunden und abgetan und Gott Alles in Allem. Es gibt kein Reich neben dem Reich Gottes mehr. Deshalb kann der Staat niemals zum Reich Gottes werden. Hier zeigt sich der Pferdefuß des Schwärmertums, der Perfectionismus in der katholischen Lehre, das Bestreben, nun eben doch mit innerweltlichen Mitteln, sei es auch unter der Leitung der Kirche das Reich Gottes im politischen Raum Wirklichkeit werden zu lassen. Das Gleiche gilt auch, wenn man dies nur von der fordernden und richtenden Verkündigung des Evangeliums her versucht (Verkündigungstheokratie). Auch ein rechtschaffenes, wohlgeordnetes Gemeinwesen ist noch kein Widerschein des Reiches Gottes, auch nicht in der schweizer Demokratie. Die rechte Lehre von Gesetz und Evangelium verbietet so zu sprechen.
Über politische Existenz kann daher nur nach, nicht vor dem Fall gesprochen werden. Was es mit der Ähnlichkeit zwischen dem Reich Gottes und den Reichen der Welt auf sich hat, werden die folgenden Betrachtungen ergeben.
Das Politische hat eine tiefe Beziehung und Verwandtschaft zum Sexus, zur schöpferischen Geschlechtsmacht, und zwar in ihrer aktiven männlichen Seite. Deshalb sind Frauen überwiegend im Grunde unpolitisch. Das Verständnis dafür ist durch die romantische Vorstellung von Liebe als Seelengemeinschaft verdorben worden. Im Sexus ist die gleiche Doppelwertigkeit — neben der Anziehung der Geschlechter, der Hingabe aneinander steht der Herrschaftswille, die Abgründigkeit der Furcht vor dem Ewig-Fremden, die Verfallenheit aneinander, und sogar der Haß der Geschlechter. Politik ist der Sexus der Nationen. Junge Völker sind staatsbildend, alte staatsbewahrend — oder sie verlieren die Kraft zu der immer neuen und sich immer erneuernden Geschlechterspannung.
Vgl. Dombois, Strukturelle Staatslehre S. 21.
Deswegen kann Rudolf Smend gelegentlich den Staat als remedium libidinis, als Heilmittel für die Begierde, nämlich der Leidenschaft der Selbstentfaltung bezeichnen, als den Raum, wo die Mächtigkeit des Menschen ihre fruchtbare, ordnende und geordnete Auswirkung erfahren kann, so wie die Theologie von der Ehe als einem solchen spricht, weil in ihr die Geschlechtsmächtigkeit fruchtbar geordnet ist.
Die Doppelwertigkeit dieser Exousia und ihre Gefallenheit sind also die beiden theologischen Merkmale des Politischen. Die Gefallenheit hat also diese Exousia nicht aufgehoben, sondern nur aus ihrer rechten Bezogenheit gebracht. Durch die göttliche Offenbarung aber tritt nun ein Drittes hinzu. Eine weitere Struktur des Politischen wird sichtbar, die ohne sie nicht
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erkennbar wäre: seine Geschichtlichkeit, seine Zielgerichtetheit, sein eschatologischer Charakter.
Dies geschieht schon in der Offenbarung des Gesetzes. In ihr tut
Gott nämlich dreierlei:
1. Er sagt sich selbst aus gegenüber dem Menschen und spricht ihn
als sein Geschöpf an: Ich bin der Herr, Dein Gott.
2. Er gibt diesem Menschen ein doppeltes Gesetz des Kultus und
des Ethos in den beiden Tafeln: Kultus gegenüber Gott, Ethos
gegenüber den Menschen.
3. Er droht dem Ungehorsamen Strafe, er verheißt Heil und langes
Leben dem Gehorsamen.
Nun tut aber jede politische Herrschaft — ohne darüber durch die
Offenbarung belehrt zu sein — genau das Gleiche:
1. Sie statuiert sich als solche, gibt dieser Herrschaft selbst
den Namen und beansprucht grundsätzlich den Gehorsam der ihr
Zugehörigen.
2. Sie gibt Gesetze doppelter Art:
a) politische Gesetze, die die Verpflichtungen dem Staat
gegenüber ordnen: Treuepflicht, Wehrpflicht, Steuerpflicht.
b) bürgerliche Gesetze, die das Zusammenleben der
Staatsbürger als solcher regeln.
3. Sie gewährt Förderung und Schutz dem Gehorsamen, dem guten
Bürger und bestraft die Übeltäter.
Das Ziel des gesetzgebenden Handelns Gottes ist die Erhaltung der seiner Schöpfung durch die angesprochenen, in Anspruch genommenen Geschöpfe selbst.
Das Ziel des gesetzgebenden Staates ist die Erhaltung eben dieses seines Bereichs mit allem, was darinnen ist.
Jedes Gemeinwesen tut das in dieser Form und Struktur von sich aus. Hier ist etwas von dem Gesetz, das den Heiden nach Paulus in das Herz geschrieben ist. Aber es ist nicht einfach eine Regel, wie es tausend Lehren und Regeln gibt, sondern besitzt eine ganz bestimmte vorgegebene Struktur. Das politische Handeln ist deshalb auch soweit legitim, als es das Gleiche tut wie Gott im Gesetz, eben nicht nur formal, sondern sachlich, das Geschaffene pfleglich zu erhalten, indem das Gute und Fruchtbare gefördert, das Böse und Schädliche gehemmt wird. Wenn man dies, sei es im moralischen, sei es in biologischen Kategorien ausdrückt, ist man freilich immer in der Gefahr, es aus dem Zusammenhang dieser Struktur herauszunehmen und zu isolieren.
Das so zielgerichtete Handeln hat also einen Anfang, eine ursprüngliche Setzung, ein principium, eine „arché”, ebenso wie ein
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Ziel, ein telos, und damit auch ein Ende. Es ist insofern ein geschichtliches Handeln. Es ist keine bloße Wiederholung ewiger Geschlechterfolgen und -kämpfe, kein leeres Auf und Nieder. Es ist zielgerichtete Geschichte mit einem gottgesetzten Sinn, in dem Anfang und Ende sich nicht widersprechen. Er ist das A und das O, der Anfang und das Ende.
In der Offenbarung des Gesetzes ist das vorläufige Ziel des geschichtlichen Handelns ausgesprochen: die Erhaltung seiner Schöpfung. In der Offenbarung des Neuen Testaments, des Selbstopfers Gottes ist das endgültige Ziel des Geschichtshandelns Gottes, die Rückholung, Versöhnung der ungehorsamen, autonomen Welt durch den freien Gehorsam ausgesprochen. Es ist offenbar, daß ein politisches Gemeinwesen immer und grundsätzlich nur ein vorläufiges Ziel haben kann, das in seiner Sicht freilich wie ein endgültiges aussieht: seine Selbsterhaltung. Man kann sich zwar willentlich in eine andere politische Form verwandeln, etwa mit einem anderen Gemeinwesen verschmelzen. Grundsätzlich versagt ist uns jedoch, uns in einen endgültigen Zustand selbst zu transzendieren. Der Einzelne hat sich innerlich schon bei gesunden Zeiten mit der Tatsache seines zukünftigen Todes auseinanderzusetzen: „lehre uns bedenken, daß wir sterben müssen, auf daß wir klug werden”, sagt der Psalmist. Auch Völker und ihre Gemeinwesen sterben. Die Besinnung darauf, wie sie etwa in Kellers „Fähnlein der sieben Aufrechten” ausgesprochen wird, ist selten; sie ist aber auch kein eigentlich politisches Verhalten. Der Staat hat grundsätzlich nur ein Telos, ein zeitliches Ziel, kein jenseitiges Eschaton. Aber freilich: seit Christus erschienen ist, steht hinter jedem zeitlichen Telos, es überhöhend, dieses Eschaton in seiner Person. Daß aber der Mensch immer wieder versucht, mit eigener Kraft den neuen Himmel und die neue Erde zu schaffen, die das Evangelium verheißt, ist der wesentliche Inhalt der großen politischen Haeresien, die die heutige Welt beherrschen und ohne das Christentum nicht denkbar sind, mögen sie sich auch noch so antichristlich gebärden. Wir vermögen jedoch das ganz Andere dieser endgültigen Existenz noch nicht einmal voll zu erkennen, geschweige denn zu erreichen: es ist transzendent und Geheimnis. Der Gegensatz von Teleologie und Eschatologie kann nicht aufgehoben werden.
Alles Offenbarungshandeln Gottes in der Geschichte, in seiner Geschichte mit dem Menschen hat also eine trinitarische Struktur in der Folge: Selbstaussage, Gesetz, Verheißung, so wie in den drei Artikeln des Glaubensbekenntnisses Gott als der Herr und Schöpfer, Gott als die an uns dienende Liebe, Gott als tröstender, gemeinschaftsbegründender, verheißender Geist angebetet und bezeugt wird.
Gott in allen drei Personen der heiligen Dreifaltigkeit aber ist immer zugleich der Liebende und Erhaltende, wie der Richtende; der Geoffenbarte wie der Verborgene.
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Auch der Staat, die Gestalt der politischen Existenz des Menschen, hat also diese trinitarische Struktur von Selbstsetzung, Gesetz, Verheißung, wiewohl er auf dem Fall beruht. Damit ist dem Menschen in keiner Weise die verlorene Fähigkeit zum Heil, keine Qualität und Würde vor Gott, kein Anknüpfungspunkt oder Imago-Rest zugesprochen, sondern er gerade in besonders entschiedener und ganz neuer Weise unter das Gericht gestellt: weil auch sein Handeln ein wirklich Geschichtliches ist, so ist es an dem geschichtlichen Handeln Gottes zu messen und zu richten, so ist es ein verantwortliches Handeln, nicht ein sinnloser Streit um Selbstbehauptung und Fortpflanzung. Wer von Geschichte spricht, muß von Gericht und Heilsverheißung sprechen und wissen. Die Geschichtlichkeit und damit die eschatologische Gerichtetheit des politischen Handelns ist ein für allemal aufgedeckt; man kann der Struktur dieses Denkens überhaupt nicht mehr und dem Ansprüche Gottes nur dadurch zu entgehen versuchen, daß man sich in derselben Form des Denkens ein innerweltliches Ende vorstellt und mit menschlichen Mitteln zu vollziehen versucht; indem man sich zum Gott macht, der Ablauf und Ziel der Geschichte zugleich übersieht wie verwirklicht. Der Mensch in der Geschichtlichkeit ist kein Tier und keine Pflanze, deren Leben sich in der cyklischen Wiederkehr artgleicher Vorgänge oder in einem inhaltlosen Ringen erschöpft. Die Erkenntnis der trinitarischen Struktur alles menschlich-geschichtlichen Seins liegt genau in der Mitte zwischen einem synergistischen Optimismus, der den Menschen am Heil mitwirken läßt und den immer strebend sich Mühenden erlösen will, und einer Theologie, die den Menschen zuvor vernichten muß, um ihn zu begreifen, das jüngste Gericht vorwegnehmend.
Der antike Staat, Polis und Imperium, leben noch nicht recht eigentlich im Bewußtsein der Geschichte. Sie sind exousiai mit jeder Doppel Wertigkeit von Liebe und Furcht; die trinitarische Struktur ist vorhanden, aber noch nicht aufgedeckt, noch nicht verständlich. Sie leben cyklisch in der Wiederkehr des ewig Gleichbleibenden, des kosmischen Gesetzes, des nomos. Sie haben noch kein telos, erst recht kein eschaton. Dies ist wie geschildert erst durch die Erscheinung Christi in die Welt gekommen, durch welche die jüdische Enderwartung und Heilsverheißung auf alle Völker ausgedehnt worden ist. Seither ist das politische Denken der christlichen Völker — und unter ihrem Einfluß schließlich der ganzen Welt — von Gerichtsdrohung und Heilsverheißung zugleich bestimmt. Die Lehre vom Staat ist nicht mehr die Lehre vom immer gleichbleibenden Nomos, auch nicht die von den Gesetzen des Zusammenlebens und der Staatskunst als eines Bereichs von eigener autonomer Sachlichkeit, so wenig diese Sachlichkeit, aber eben auf einer ganz anderen Ebene der Betrachtung zu verachten und zu entbehren ist. Das politische Bewußtsein ist seither nicht mehr zu trennen vom Bewußtsein der Verschuldung, von der Hoffnung auf Freiheit, die letztlich Freiheit von dieser Schuld ist.
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Auch die vorchristliche Welt weiß etwas von dieser Schuld, aber in einer unvollkommenen Weise. Das drückt sich im Opfer und Selbstopfer der Könige aus. Das priesterliche Königtum repräsentiert das Volk vor den Göttern und wird auch stellvertretend ihrem Zorn geopfert. So wird das Volk entsühnt. Der Zorn der Götter drückt sich in Niederlagen, Katastrophen aus, der Verfall und die Mißachtung der Ordnung des nomos führt ihn herbei. Um dieses Zornes willen hat auch der König für die geheiligte Ordnung zu sorgen. Leopold Ziegler hat in seinem inhaltsreichen Buche „Überlieferung” wichtige Dinge aus diesem Bereich zu deuten verstanden. Das gleiche Problem taucht wieder etwa in dem Sturz politischer Günstlinge auf, die mit dem Amt Leben und Vermögen verlieren, wie etwa unter Heinrich XIII. von Frankreich. Im parlamentarischen Mißtrauensvotum ist das Problem humanisiert. Ein wesentlicher Teil des Problems der politischen Gerichtsbarkeit hat hier seinen Sitz. Im Einzelnen führt dies hier zu weit; ich verweise auf meine Ausführungen in der „Strukturellen Staatslehre” (S. 56 f.) und meine kleine Schrift „Politische Gerichtsbarkeit” (Kirche und Mann, Gütersloh, 1950).
Was hat sich nun im politischen Bereich durch das Auftreten Christi geändert? Es wird damit die Exousia auch des Politischen seinem Herrschaftsanspruch unterstellt, zugleich aber aufgedeckt, daß diese Verschuldung eine allgemein-menschliche und existenzielle ist. Sie besteht nicht in erster Linie darin, daß das einzelne Tun des politisch handelnden Menschen oder die Macht als solche böse ist, sondern darin, daß die politische Existenz des Menschen als solche eine gefallene ist und daß dieser Fall einem jeden anhaftet. Der demokratische Zug des Christentums liegt nicht in der Vorliebe für eine bestimmte historische Verfassungsform, die naiv absolut gesetzt wird, erst recht nicht im Gedanken der Gleichheit und am allerwenigsten im Gedanken liberaler Handlungs- und Entscheidungsfreiheit, sondern in der Aufdeckung dieser existenziellen Verschuldung und Unfreiheit mitten in der angemaßten Freiheit des Politischen. Denn von allen heteronomen Mächten und Ordnungen vermögen wir uns zu befreien; aber wer befreit uns von uns selbst? Das ist die Frage des Christentums an die Demokratie, die ohne seinen geistesgeschichtlichen Einfluß niemals in der gegenwärtigen Form entstanden wäre, die sich aber von diesem Ausgangspunkt ablösen zu können meint.
In der Geschichte der Christenheit hat von jenen beiden Dingen — Gerichtsdrohung und Reichsverheißung — die letztere zunächst und lange Zeit vorangestanden, genauer das Bewußtsein, in der Gemeinschaft der christlichen Völker und in der Allgemeinheit der Kirche irgendwie ein Stück dieser Verheißung vorweg wie ein Angeld erhalten zu haben. Das ging Hand in Hand mit einer sehr realen und geradezu grundlegenden Strukturwandlung des politischen Denkens. Neben den Staat trat die Kirche als ein eigener,
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selbständiger und gleichberechtigter, paralleler Rechtsträger, in einer Kontrapunktik, die eben für das antike Staatsdenken mit der grundsätzlichen Einheit von Politik und Kultus undenkbar war. Dieses schwierige, sich immer wieder wandelnde, aber niemals im Grundsatz bestrittene Spannungsverhältnis von Staat und Kirche ist, wie der Liberale Jellinek schon vor 50 Jahren sagte, die Quelle bürgerlicher Freiheit geworden.
Es ist heute an manchen Orten der Christenheit eine literarische, geschichtsphilosophische und theologische Mode geworden, über die anderthalb Jahrtausende des sogenannten konstantinischen Bundes von Staat und Kirche unter kritikloser Verwendung höchst subjektiver und zeitgebundener Maßstäbe ein Ketzergericht abzuhalten — auf der evangelischen wie auf der katholischen Seite. Daneben steht eine ebenso fragwürdige Reichsromantik. Jene Kritik sieht im Konstantinischen Bund geradezu die Quelle des Verfalls der Kirche, eines unermeßlichen Verrats am Evangelium und damit auch einer Korruption der Welt als Welt. In Widerspruch dazu erheben die gleichen Kritiker die ungemessensten Ansprüche auf Gehör und Gehorsam für die Verkündigung der Kirche, in einer Weise, die sich zwar sehr in der Form, aber nur wenig in der Ausdehnung von den theokratischen Vorstellungen des Hochmittelalters unterscheidet. Zugleich aber beargwöhnen sie wiederum in Geschichte und Gegenwart ebenso radikal jeden, der den Versuch christlichen Gehorsams mitten in der Bedingtheit der Welt gemacht hat und macht. Sie rufen zwar zum Handeln auf, fallen aber jedem Handelnden sofort wieder in den Arm.
Kein Geringerer als Karl Barth hat der großen Erscheinung des Konstantinischen Bundes in der christlichen Geschichte höhere Gerechtigkeit widerfahren lassen als jene Kritiker der grundsätzlichen Zersetzung. (Das Evangelium in der Gegenwart, 1935 S. 30 f.) Seine Worte verdienen der Vergessenheit entrissen zu werden:
„Wir haben gesehen, daß die angeblich und vermeintlich christliche Gesellschaft heute im Begriff zu stehen scheint, ihr Verhältnis zum Christentum einer Revision zu unterziehen, auf Grund deren es offenbar zuerst zu einem entbehrlichen Nebenwert gemacht, dann ausdrücklich und nachdrücklich seiner Selbständigkeit beraubt und unterdrückt werden muß. Und wir haben dem gegenüber gesehen, daß uns das Evangelium heute ganz neu und erst recht zum Bekenntnis und zur Erkenntnis auffordert. Es könnte nun sein — und dies ist die Frage, die jetzt noch aufgeworfen werden soll — daß wir uns von beiden Seiten her gesehen vor einer ungewohnt großen Veränderung der Zeiten und darum auch vor der Notwendigkeit ungewohnt großer innerer Umstellungen befinden würden. Es könnte sein, daß unsere Gegenwart bedeutet: einerseits die letzten Tage eines alten, ja uralten Bundes zwischen dem Bekenntnis und der Erkenntnis des Evangeliums und den natürlichen Kräften und Mächten der menschlichen Geschichte —
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andererseits: den Anbruch von Tagen, in denen sich die Kirche,
ganz auf ihre eigenen Füße gestellt, ohne den Rahmen und Schutz
dieses Bundes jenen natürlichen Kräften und Mächten der
menschlichen Geschichte gegenüber verantworten wird.
Man wird diesen heute vielleicht zu Ende gehenden Bund von zwei
verhältnismäßig entgegengesetzten Auffassungen her
charakterisieren. Auch die Auffassungen sollen hier beide nur als
Fragen geltend gemacht werden:
Man kann sagen, und klagen: Die Christenheit hat sich schon nach
den ersten Jahrhunderten ihres Bestandes einer großen Fiktion und
Illusion, zu deutsch: einer großen Lüge in die Arme geworfen. Sie
hielt es nicht mehr aus dabei, die törichte, immer verschwindende
Minderheit zu sein. Sie wollte mehr sein als das Volk in der
Einöde, als der einsame Vogel auf dem Dach. Sie wollte nicht mehr
leiden. Unter dem Vorwand der Ehre Gottes und des Wohles der
Menschheit wollte sie es endlich auch gut haben. Und so vergaß
sie, daß ihre Zeit die Zeit zwischen der Himmelfahrt und der
Wiederkunft Jesu Christi und also von einem Anfang her einem Ende
entgegenlaufende Zeit, eine kurze Zeit ist, in der es kein
Aufhalten, wohl ein Sichbegegnen, aber kein Sichbinden, wohl
Zelte, aber keine Steinhäuser gibt. Und so ließ sie sich von der
Welt einladen. So bat sie ihrerseits die Welt darum, ihr
Daseinsberechtigung, ja Haurecht zu gewähren. So schloß sie
Übereinkünfte mit ihr. So ließ sie sich ihr Leben garantieren. So
ging sie immer aufs neue den Bund ein: mit dem römischen Reiche,
mit der platonisch-aristotelischen Philosophie, mit dem Volks-
und Brauchtum des germanischen Nordens, mit der humanistisch und
später mit der technisch bestimmten Kultur der Neuzeit. Und sie
hatte Erfolg.
Die Kirche wurde eine Macht neben den anderen Mächten dieser
Welt. Das Christentum erhielt sein Leben in diesem Bund und nicht
nur das: es schien bald der eigentlich Gewinnende, der überlegene
Teil zu werden. Es „siegte”, wie man sagte. Es erschien eine
Weile, auf der Höhe des Mittelalters, wie die Spitze und Krone
des ganzen europäischen Menschheitslebens. Es gelang ihm auch
noch in den Jahrhunderten nachher lange genug, wenigstens diesen
Schein und Anspruch aufrecht zu erhalten. Es ließ sich und es
läßt sich ja bis in unsere Tage hinein die Stadtgemeinde wie das
Dorf die milde Weihe einer angemessen-temperierten Christlichkeit
im Ganzen nicht ungern gefallen. Aber es bezahlte einen teuren
Preis. Es verkaufte sein Erstgeburtsrecht um ein Linsengericht.
Indem es sich von den Kräften und Mächten der Geschichte seine
eigene Existenz garantieren ließ, garantierte es ihnen notwendig
auch die ihrige. Indem es sich von ihnen halten und beschenken
ließ, wurde es hineingezogen in ihre ganze Vergänglichkeit, in
ihr Steigen und Fallen, Kommen und Gehen. Indem es sie, wie man
so schön sagte, „beeinflußte”, wurde es selbst noch viel mehr von
ihnen beeinflußt. Sein Bekenntnis wurde matt und seine Erkenntnis
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leer in diesem Bunde. Sein Salz wurde dumm. Seine Geschichte
wurde die Geschichte seiner freiwillig-unfreiwilligen
Amalgamierung mit den Ideen und Tendenzen eben des Äons, von dem
es zu Anfang geheißen hatte, daß er im Kreuze Christi ein für
allemal vergangen sei. Aber die Strafe folgte auf dem Fuße und
heute wird sie offenbar. Die Welt, der das Christentum nur zu
viel Treue entgegengebracht und bewiesen hat, war ihm ihrerseits
wohl heimlich immer untreu, verstand jene Weihe wohl immer als
ziemlich unverbindlich und sagte es heute offen heraus, daß sie
an ein ehrliches Halten des Bundes auch nur noch zu denken nicht
mehr gesonnen ist. Das „christliche Europa” kehrt unter dem
Gelächter der Hölle zu seiner ursprünglichen wilden Freiheit
zurück. Und nun mag ihm das Christentum nachtrauern wie ein
verführtes Mädchen seinem ungetreuen Liebhaber. Warum hat es sich
am Leben erhalten wollen auf Kosten des Evangeliums, statt es
darauf ankommen zu lassen, aus den Kräften des Evangeliums zu
leben? Was ihm heute widerfährt, ist die Quittung für die große
Lüge, während es sich, deutlich seit dem verhängnisvollen
Zeitalter Konstantins, auf der ganzen Linie schuldig gemacht
hat.
Man kann nun denselben Sachverhalt gewiß auch ganz anders sehen.
Man kann nämlich diesen merkwürdigen, vor Jahrtausenden
geschlossenen und heute- so problematisch gewordenen Bund
zwischen dem Evangelium und den Weltmächten auch als ein Ereignis
verstehen, das als ein Erweis der Geduld Gottes und unter der
Leitung seiner Weisheit auf bestimmte Zeit und in bestimmten
Grenzen sein Recht und seine Notwendigkeit hatte. Es sollte die
Zeit zwischen Himmelfahrt und Wiederkunft nicht einfach leer
sein, nicht ohne ein großes Gleichnis der ewigen, der kommenden
Welt, nicht ohne eine vorläufige Erfüllung der Verheißung, daß
die Sanftmütigen das Erdreich besitzen, daß die Reiche dieser
Welt Gottes und seines Christus sein werden. Nicht ohne jene
„erste Auferstehung”, nicht ohne jenes tausendjährige Reich der
Offenbarung Johannes. Es mußte der Satan auf eine Weile gebunden
werden. Es durften unterdessen Natur und Gnade, Antike und
Christus, Vernunft und Offenbarung, Staat und Kirche vereint
gesehen werden, wie unter dem Bogen eines zweiten noachitischen
Bundes. Es durfte diese Vereinigung sogar Gestalt annehmen,
widerspruchsvoll und problemreich in jeder Hinsicht, und doch
nicht ohne eine gewisse Konsistenz, nicht ohne einen Widerschein
des Friedens, den sie meinte. Sie nahm Gestalt an in der Idee und
Wirklichkeit jenes corpus christianum, das sich in den
Schöpfungen der Kunst und Wissenschaft des Mittelalters und noch
der früheren und späteren Renaissance spiegelt, Heimweh und
Sehnsucht erweckend bis auf diesen Tag. Sie nahm Gestalt an in
der so wunderlichen und doch so bedeutungsvollen Idee und
Wirklichkeit jenes „Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation”,
das einst durch die Absonderung der schweizerischen
Eidgenossenschaft einen der
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ersten starken Stöße erlitt, das noch Goethe vor Augen gehabt hat
und dessen letzte Trümmer wir erst in unseren Tagen mit dem alten
Österreich auseinanderfallen sahen. Es sollte diese Zeit der
Synthese — ein einziges großes Traumgesicht sozusagen, ein
menschlicher, allzu menschlicher Abglanz und Widerhall der
Inkarnation — ein Zeichen sein, um allen Zeiten zu sagen, wo sie
herkommen, wo sie hingehen. Sie war ein vorübergehendes Zeichen,
ein vergängliches Gleichnis, aufgerichtet inmitten der
Hinfälligkeit aller menschlichen Dinge und selber dieser
Hinfälligkeit teilhaftig, dem Stillstand und Verderben geweiht,
lange bevor es auch nur von ferne Vollkommenheit gewonnen hätte.
Sie war dennoch und gerade so ein Zeichen und Gleichnis ewiger
Dinge, eine freundliche Veranstaltung der Vorsehung zur
Überwinterung des Evangeliums. Was wir heute erleben in der
Verselbständigung eines Reiches der Profanität, in der großen
Ausschaltung und Säkularisierung und Negation des Christentums
ist das letzte, nicht zu bejammernde, sondern nüchtern zu
anerkennende natürliche Ende dieser Zeit, die nicht umsonst
gewesen ist, die ihre Größe und Würde hatte und behält, wenn sie
auch so nicht andauern konnte und so nicht wiederkehren kann.
Der Gegensatz dieser beiden Auffassungen ist wohl, so scharf sie
sich widersprechen, kein endgültiger und es dürfte sich darum
schwerlich lohnen, die eine gegen die andere auszuspielen und
durchsetzen zu wollen. Es ist wohl nötig, um diese beiden
Auffassungen zu wissen; es ist aber nicht nötig und es wäre auch
nicht ratsam, sich für die eine gegen die andere zu entscheiden.
Man wird ja im Blick auf die Konfusion der Menschen die Vorsehung
Gottes und man wird im Blick auf die Vorsehung Gottes die
Konfusion der Menschen nicht leugnen können und also die Wahrheit
beider Auffassungen zu bedenken haben. Sicher ist dies, daß sie
im Ergebnis übereinkommen: Die Zeit das
christlich-bürgerliche, oder
bürgerlich-christliche Zeitalter ist abgelaufen, der
Bund, d.h. das Christentum in seiner uns bisher bekannten Gestalt
ist zu Ende. Der Bogen, der das Evangelium und die Welt auf eine
Weile überspannte, ist, ob wir ihn als menschliche Fiktion oder
als göttliche Segenszeichen verstehen, erloschen. Die zu Unrecht
oder zu Recht vereinten Elemente scheiden sich wieder. „Siehe,
der Winter ist vergangen”. Die Welt nimmt die Maske ab und ihre
Freiheit zurück, um sich wieder offen zu bekennen als das, was
sie im Grunde ist und will. Eben damit ist aber auch dem
Evangelium seine Freiheit ihr gegenüber zurückgegeben. Eben damit
ist heute die Christenheit, ist die Kirche zu einer ganz neuen
Freiheit ihres Bekenntnisses und ihrer Erkenntnis aufgerufen.
Nicht zu einer Flucht vor der Welt oder aus der Welt, aber zu
einer ihr in jener konstantinischen Ordnung nicht gegebenen
Freiheit in der Welt. Nicht zu einer Freiheit von ihrer
Solidarität mit dieser Welt und also nicht zu einer Freiheit von
ihrer Sendung, von ihrer
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Verantwortlichkeit, von ihrem Dienst in der Welt, aber zur Freiheit, in der Welt und für die Welt ihrer eigenen Sendung, ihrer eigenen Verantwortlichkeit, ihrem eigenen Dienst zu leben und nachzugehen . . .”
Die Christenheit hat in jener Zeit in der Ungebrochenheit des Glaubens eine große geschichtliche Gestaltungskraft besessen, die durch die Probleme der Rechtfertigungstheologie nicht betroffen oder gar zersetzt war. Karl Barth sagt in seiner Darstellung der Rechtfertigungslehre (kirchliche Dogmatik IV, 1, S. 584), daß die ersten Jahrhunderte der Christenheit keine eigentliche Rechtfertigungstheologie gehabt und in einer Art von unschuldigem Pelagianismus gelebt hätten. Aber, so setzt er hinzu, man solle nicht übersehen, daß dies eben die Jahrhunderte der Märtyrer gewesen seien, die auch ohne eine solche Lehre gewußt hätten, was sie an ihrem Glauben hatten. Etwas Ähnliches könnte man auch von der ganzen Zeit des konstantinischen Bundes cum grano salis sagen. Jene gewiß nicht spannungslose und problemlose Konvergenz von Staat und Kirche hat sich nun von dem berühmten 12. Jahrhundert an in eine immer stärkere Divergenz, in ein Auseinandertreten, und eine Verschärfung des Gegensatzes gerade dort gewandelt, wo die theokratischen Ansprüche der Kirche auf das höchste Maß stiegen. Theokratische Ansprüche sind weit mehr ein Symptom einer tiefgehenden Trennung von Kirche und Staat als das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit. Diese Divergenz fällt zusammen mit der allmählichen Ausbildung des modernen Selbstbewußtseins des abendländischen Menschen. Erst hier liegen die Anfänge des Staates im modernen Sinne, zugleich mit der Ausbildung einer körperschaftlich verfaßten Kirche. Es wandelt sich auch das politische Bewußtsein. Es tritt aus dem Zeichen der Reichsverheißung immer mehr unter dasjenige der Gerichtsdrohung und die politische Theorie wird allmählich und immer stärker zum Problem der Rechtfertigung des Politischen, seiner Überwindung, zur Frage der existenziellen Urschuld des Gefallenen und tritt damit in immer nähere Beziehung zur Erlösungs- und Gnadenlehre. Seither lassen sich die großen und geschichtlich wirksamen, gemeinschaftsbildenden Staatslehren in zwei große Gruppen teilen: in pelagianische und chiliastische.
Pelagius war (wahrscheinlich) ein irischer Mönch, verstorben nach 418, dessen Theologie vom Heiligen Augustin bekämpft und von der Kirche als häretisch verurteilt wurde. Sein Name ist zum Inbegriff für alle Lehren geworden, die die Mitwirkung des Menschen zum Heil vertreten. Diese Gedankenrichtung hat in abgeschwächter Form als sogenannter Semipelagianismus Eingang in die Theologie, aber weit mehr noch in die Praxis der römischen Kirche gefunden.
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Pelagianische Staatslehren sind nun solche, welche versuchen, den an sich verderbten und verderblichen Bereich des Politischen, der Selbstmächtigkeit des Menschen, die böse Macht des Staates, durch die Unterwerfung unter das Gesetz, durch Sublimierung zum Höheren wenigstens einigermaßen zu entgiften, dieser Verderbtheit die Spitze abzubrechen und sie erträglich zu machen. Dies wird in formal gleicher Weise, wenn auch mit verschiedenen Mitteln sowohl im römischen Katholizismus wie im Liberalismus unternommen. In beiden wird dies durch das Gesetz versucht, im Katholizismus in der scholastischen Stufung von positivem, natürlichem und göttlichem Gesetz, so daß die das göttliche Gesetz auslegende Kirche auch einen das Niedere erhebenden Einfluß auszuüben berufen ist, entsprechend der allgemeinen theologischen Formel des Thomas von Aquin „gratia naturam non tollit, sed supponit et perficit”. (Die Gnade hebt die Natur nicht auf, sondern unterstützt und vollendet sie.) Der Liberalismus versucht das Gleiche durch die Bewußtmachung und Verwirklichung des Vernunftgesetzes im politischen Gesetz, durch Vergesetzlichung und Verrechtlichung (Gesetzesstaat, bürgerlicher Rechtsstaat). Die ausschließliche Verwendung des Begriffes Rechtsstaat auf den bürgerlichen Staat des Liberalismus ist allerdings geschichtlich unzulässig, da etwa der mittelalterliche Staat in der Grundsätzlichkeit der Anerkennung des Rechtes als Wert (wenn auch nicht in der Technik zweckmäßiger Sicherung) dem bürgerlichen Staat weit voranstand. Man versucht, die böse Macht durch die Verteilung auf verschiedene einander kontrollierende Organe unschädlich zu machen. Alles, was geschieht, geschieht nur in der Form des allgemeinen und gleichen Gesetzes, und dieses ist das Gleiche in Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung. So entsteht ein lückenloser Zirkel vom Gesetzgeber über den verwaltenden Amtsträger bis zum Richter, dessen Spruch wieder mit dem Gesetz identisch sein soll. Dies bedeutet die Übertragung der Metaphysik der lückenlosen Kausalmechanik in die politische Wirklichkeit. Diese Metaphysik ist jedoch längst erkenntnis-theoretisch unhaltbar geworden. Sie vernachlässigt bewußt die emotionale Antriebskraft in diesem System, eben den Menschen, indem sie den Einfluß jedes Einzelnen auf das Mindestmaß und damit auf eine Größe beschränkt, die man wegen ihrer Kleinheit im Grundsätzlichen vernachlässigen kann. Dies geschieht durch das allgemeine und gleiche Stimmrecht der kleinsten unteilbaren Größe, des Individuums. Zugleich unterstellt man, daß dieses Individuum trotz seiner Subjektivität sich durch die Diskussion an der Objektivität der Vernunft orientiere oder daß wenigstens im quantitativen Übergewicht der Abstimmung sich die Vernunft durchsetze. So besteht eine wenigstens gedachte Übereinstimmung zwischen dem Formalismus der vollkommenen Gesetzlichkeit und den inhaltlichen Forderungen der Vernunft. So gebunden an die Vernunft und in allmählicher Übung der Annäherung an ihre Forderungen überwindet der Mensch in der Freiheit die Willkür seiner Eigenmacht
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und kommt wieder zur Übereinstimmung mit der Weltvernunft, zu welcher Gott degradiert wird — er ist nicht mehr der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, auch nicht der Vater Jesu Christi — sondern der Gott der Philosophen, um mit Pascal zu reden. Vermöge der Allgemeingültigkeit der Vernunft ist es in diesem System nicht möglich, die nationalen, traditionalen, sozialen, glaubensmäßigen Bedingtheiten des konkreten Menschen konstruktiv und konstitutiv zu berücksichtigen und einzubauen; sie werden darauf angewiesen, sich bewußt und willensmäßig bemerkbar zu machen und durchzusetzen, wobei sie wieder der Einheit der Vernunft eigentlich widersprechen. So entsteht der Zug der Nivellierung und Gleichmacherei, im Letzten der Aufhebung aller politischen Unterscheidungen überhaupt.
Das Motiv dieses ebenso großartigen wie existenzfremden Versuchs ist uns jetzt verständlich. Die Ursünde der Politischen, der menschlichen Autonomie wird tief empfunden, aber eben nicht mehr als Sünde erkannt und bekannt; es wird vielmehr leidenschaftlich versucht, sie mit den vernünftigen Kräften des Menschen im Wege der Selbsterlösung zu überwinden. Daß die Gewaltenteilungslehre zugleich eine Säkularisation der christlichen Trinitätslehre ist, wird an anderer Stelle zu zeigen sein. Umso weniger ist es christlichen Theologen erlaubt, die Axiome der liberalen Staatstheorie als Merkmale des legitimen Staates zu kanonisieren.
Chiliastisch sind alle Lehren, die in irgendeiner Weise die Verwirklichung des tausendjährigen Reiches vor dem Endgericht (chilioi = griech.: tausend) oder durch die menschliche Herbeiführung des Endgerichtes vertreten. Sie gehen alle davon aus, daß die Verderbnis des Politischen, des Staates grundsätzlich, von der Wurzel her hoffnungslos sei. Der Staat muß daher aufgehoben werden. Anarchistische Lehren brauchen hier nicht erwähnt zu werden, weil sie geschichtliche Wirksamkeit verneinen, um der damit unvermeidlichen Befleckung mit neuer Macht zu entgehen.
Die am konsequentesten chiliastische Lehre ist der Marxismus, in dessen Theorie nach der äußersten Steigerung auch der politischen Machtkonzentration in der Diktatur des Proletariats schließlich nach dem Endkampf — lies Gericht — der Weltrevolution, also in einer transzendenten, aber innerweltlichen Endzeit der klassenlosen Gesellschaft der böse Staat grundsätzlich aufgehoben wird. Bis dahin wird der verbleibende Staatsapparat schon dadurch völlig entwertet und unschädlich gemacht, daß er zum reinen Instrument der herrschenden Klasse und ihrer politischen Organisation, der Einheitspartei gemacht wird. Er hat keine eigene Würde, kein eigenes Recht, keine eigene Aufgabe mehr.
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Das Gleiche hat sich in geringen Abwandlungen im Nationalsozialismus vollzogen. Das in der Partei verfaßte, zum kämpferischen Bewußtsein seiner Art erwachte Volk macht den als formal, römisch, jüdisch, bürgerlich-kapitalistisch entwerteten Staat zu seinem Instrument und entleert ihn ebenso vollkommen, wie dies im Marxismus geschieht. Der verfassungsrechtliche Niederschlag dessen war das Gesetz zur Sicherung der Einheit von Partei und Staat von 1935, das den Staat grundsätzlich der Partei auslieferte. Es entspringt einem tiefen und nicht zufälligen Mißverständnis, wenn der westliche Liberalismus meint, der sogenannte Totalitarismus sei die Frucht einer Überspannung des Staatsbegriffes. Der Staat als solcher besitzt weder die geistigen noch die soziologischen Kräfte, um eine solche Totalität zu erreichen. Es ist nach dem vorher Gesagten aber verständlich, woher jenes Mißverständnis stammt, — das Gesetzesdenken. Es ist ebenso verständlich, daß die eine Position, die andere so wenig wirklich verstehen kann, wie der Pharisäer den Gläubigen und umgekehrt.
In diesem Gegensatz der Staatslehren spiegelt sich der große Denkgegensatz von Synergismus und Prädestination wieder, der die christliche Theologie beherrscht; denn die chiliastischen Lehren sind solche der Prädestination — der Proletarier ist durch seine Klassenlage, das Volk durch seine Rasse vorherbestimmt, und diese Vorherbestimmtheit erweist und bewährt sich im gläubig-kämpferischen, missionarischen Bewußtsein.
3. Es fragt sich, welche Positionen es zwischen diesen großen
Gegensätzen geben kann, deren theologischen Grundcharakter man im
Auge behalten muß. Eine solche dritte Lösung stellt
a) die Hegelsche Staatstheorie dar. Sie beruht auf der
Identitätsphilosophie. D.h. auch in der Erscheinung des Staates
und gerade in ihr ist die geschichtliche Wirklichkeit mit dem
Sinn der Geschichte identisch, und es wird eben der Bruch
geleugnet, von dem wir ausgegangen sind. Es ist freilich richtig,
daß von hier aus die Möglichkeit einer sehr starken, fast totalen
Verzerrung des Staatsbegriffes, besonders bei entsprechender
Vergröberung der tiefsinnigen philosophischen Spekulation gegeben
ist. Aber geschichtlich gesehen hat Hegel mit der
positiven Identitätsphilosophie gerade keine Geschichte
gemacht. Die tatsächliche Wirkung hat nicht bei der Hegelschen,
sondern bei der romantisierenden Stahlschen Staatsphilosophie
gelegen. Carl Schmitt hat dies mit seiner ganzen Verachtung gegen
die politische Romantik, aber sachlich mit vollem Recht
hervorgehoben. Geschichte hat Hegel erst gemacht durch den
Linkshegelianismus, durch den Marxismus. Denn erst durch die
negative Bewertung des Staates wurden jene schwärmerischen,
chiliastischen Kräfte freigesetzt, die ihm seine große Werbekraft
verliehen haben. Der positive Chiliasmus, der schon jetzt und
hier die geschichtliche Wirklichkeit als Ausdruck eines letzten
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geschichtlichen Sinnes ansah, trug zwar die Züge eines
Staatskatholizismus an sich, war aber relativ unwirksam, weil ihm
die Spannung über sich hinaus, in die Zukunft, in die
Transzendenz und damit die bewegende Kraft fehlte. Der Mensch
lebt aber nur, indem er sich ständig transzendiert. Jedenfalls
ist die Hegelsche Lehre durch die grundsätzliche Leugnung der
Gefallenheit der politischen Existenz als solcher auch dann
unchristlich, wenn sie sich sonst christlicher Begriffe
bedient.
b) die lutherische Lehre von den beiden Reichen hält die Spannung
zwischen der Gefallenheit der politischen Existenz und dem neuen
Leben des durch den Glauben Gerechtfertigten voll aufrecht. Der
Christ lebt grundsätzlich in zwei Reichen, die in dieser
Zeitlichkeit nicht gegeneinander aufgehoben werden können. Diese
Lehre von den zwei Reichen oder zwei Regimenten läßt uns jedoch
dann im Stich, wenn wir sie nach dem konkreten Verhältnis beider
Bereiche fragen. Dies ist nicht der Ausdruck einer theologischen
Unzulänglichkeit des Denkens, sondern entspringt — dies muß
gesagt werden — einer nominalistischen Denktradition, die die
reformatorische Theologie bis heute nicht zu überwinden vermocht
hat. Der Nominalismus als theologisch-philosophische Schule
wehrte sich zwar mit Recht gegen die erkennntnistheoretisch
unhaltbar gewordenen idealistischen Spekulationen der Scholastik.
Er verwies den Menschen strikt und zuweilen sogar grob auf die
Ordinationes und Mandata Gottes, auf seine Anordnungen und
Ordnungen, deren Grund nicht erkennbar sei und nicht zu sein
brauche. Er brachte damit den Glauben in einen falschen Gegensatz
zur Erkenntnis, die Pistis zur Gnosis. Aber mit dieser Form des
Denkens in — freilich persönlichen — Imperativen vollzog er, ohne
es zu wissen und zu wollen, nun doch eine entgegengesetzte
Vorentscheidung, wie sie die scholastische Methode auch schon
enthalten hatte, gewann keineswegs die Freiheit davon, sondern
verschloß sich ganz bestimmte Gebiete legitimer Erkenntnis, denen
er noch heute mit Mißtrauen begegnet. Wie die katholische
Staatslehre mit der katholischen Gnadenlehre — deren Grundformel
wir zitiert haben, so hängt auch die lutherische Lehre mit dem
Grundansatz der Rechtfertigungslehre, dem „simul justus et
peccator” zusammen.
Wir können jedoch zu einem tieferen und besseren Verständnis des mit der Zwei-Regimenten-Lehre Gemeinten gelangen, wenn wir weit über die Lehre von der Rechtfertigung hinaus auf die Christologie des ökumenischen Konzils von Chalcedon zurückgehen. Dieses im Jahre 451 abgehaltene Konzil brachte den Abschluß der sogenannten christologischen Streitigkeiten. Vor zwei Jahren ist die 1500-Jahrfeier dieses Ereignisses von der ganzen Ökumene in Athen begangen worden. Die weltgeschichtliche Bedeutung von Chalcedon hat u.a. gerade Spengler im „Untergang des Abendlandes” in einer freilich verfehlten
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Deutung hervorgehoben. Die hier formulierte Lehre über das Verhältnis der beiden Naturen in Christus ist zwar nur auf der höchsten Ebene der systematischen Theologie und Dogmengeschichte verständlich, ist aber dennoch von der größten aktuellen Tragweite. Auch wenn wir etwa nachweisen könnten, daß die hier verwendeten Begriffe von einer bestimmten griechischen Philosophie geprägt und abhängig sind, so würde das nichts daran ändern, daß hier eine gültige existenzielle Wahrheit ausgesprochen ist. Der hier ausgesprochene Tatbestand ist beispielhaft und grundlegend für das Verständnis der Existenz des Menschen, der durch den Glauben teil hat an Christus. Hier ist die Existenz des Menschen post Christum, wenn man so sagen will, definiert — und so gewiß Christus auch wahrer Mensch war, eben des Menschen schlechthin. Ich habe auf die Bedeutung von Chalcedon schon in meinem Referat über „Kirche und soziale Gerechtigkeit” auf der lutherischen Weltbundtagung in Hannover 1952 hingewiesen.
Die wesentlichste und auch bekannteste Formulierung aus dem umfangreichen Canon des Konzils ist der Satz, daß die beiden Naturen in Christus weder getrennt, noch vermischt werden dürften. Hier finden wir eben die Frage beantwortet, auf die uns die Zwei-Reiche-Lehre keine Antwort gibt, indem sie beide Reiche unter dem Gültigkeitsanspruch des göttlichen Willens in einer grundsätzlich unbestimmten Weise nebeneinanderstehen läßt. Denn für das Verhältnis beider ist hier eine beschreibende Formel geprägt, die keine der bekannten logischen Formen und insbesondere kein dialektisches Verhältnis darstellt. Hier wird gerade nicht im logischen Sinne explizit definiert, sondern es werden nur Grenzwerte gesetzt, zwischen denen sich ein grundsätzlich nicht definierbares Verhältnis befindet. Damit ist der Versuch und die Versuchung vermieden, sich über die theologische Logik des göttlichen Geheimnisses der Inkarnation zu bemächtigen.
Damit aber sind zugleich äußerst scharfe und konkrete Grenzen gesetzt, die für die theoretische und praktische Lösung sozialethischer Fragen, für das Verständnis menschlicher Existenz von höchster Bedeutung sind. Diese Grenzen schließen einen schmalen Pfad ein und markieren ihn, der eben der schmale Weg ist, von dem die heilige Schrift redet. Ein Weg ist ein mehr oder minder breiter Raum der Bewegung, den man sinngemäß nur unumkehrbar nach einer Richtung beschreiten kann, und der nach beiden Seiten, nach links und rechts, deutlich begrenzt sein muß, wenn nicht die Richtung auf das Ziel verloren gehen soll.
Ist das Handeln des Christen ein geschichtlich-zielgerichtetes und damit zugleich verantwortliches, so darf er also von diesem Wege nicht nach den Seiten abschweifen.
Mit diesen Begrenzungen sind ganz konkrete Dinge gemeint.
1. Die Vermischung beider Naturen tritt überall dort ein, wo wir das Göttliche im Menschlichen zu haben meinen, am schärfsten in der
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magischen Bemächtigung, in der sich der Mensch der göttlichen Kräfte zu bedienen versucht. Diese Vermischung liegt etwa da vor, wo wir im Königtum, im Volkstum, in der Demokratie, in einer bestimmten Sozialordnung schlechthin die Ordnung Gottes zu haben und erkennen meinen. Das heißt: die neue Existenz im Glauben ist dann nicht stark genug, um nicht doch wieder im Gegebenen, im Jetzt und Hier aufzugehen. Das kann dazu führen, daß die Kirche Nationalkirche wird, die das Hakenkreuz, die Schweizer Bundesfahne oder den Danebrog über den Altar hängt. Auch eine universale Kirche wie die römische ist vor solchen Gleichsetzungen nicht gefeit. Dann verschmilzt sich die Kirche mit der politischen Existenz eines Volkes oder dessen Existenzform oder überhaupt mit einem politischen System. Oder aber der Gedanke des von Gott gegebenen Berufs wird zu einer so absoluten Auffassung der beruflichen, geschichtlich-politischen Pflicht des Dienstes, daß der Mensch keinen Abstand, keinen Maßstab außerhalb der Eigengesetzlichkeit dieser Bereiche mehr hat, daß man also doch wieder auf einem Umwege zu einer Identitätstheologie zwischen geschichtlicher Wirklichkeit und Reich Gottes kommt. Die Auswirkung alles dessen haben wir erlebt und erleben wir heute noch, auch in einer angeblich so heilsamen Versachlichung. So müssen wir heute den zum Arbeitsfanatismus, zum Verwaltungsperfektionismus entarteten Gedanken der Hingegebenheit des Menschen an die Welt wieder zurückrufen und begrenzen. Das Gleiche gilt heute für den Etatismus, den Glauben an die Wirksamkeit des Staatsapparats, wenn auch die konkreten Erfahrungen hier schon viele abgeschreckt und belehrt haben. Was hier preisgegeben wird, ist immer und überall der grundsätzliche Abstand Gottes von der Welt, die Herausgenommenheit und Freiheit der Kirche und des Menschen in der Nachfolge.
2. Die umgekehrte falsche Trennung beider Naturen und Bereiche ist indessen nicht weniger verbreitet. Die Versuchung der Vermischung knüpft immer an das Konkrete an und diese Neigung hat darin ihre relative Berechtigung und Stärke. Diese konservative Versuchung, wie man sie nennen könnte, ist verhältnismäßig unideologisch, wenig intellektuell. Die umgekehrte Tendenz dagegen begreift die ganze Summe der heute verbreiteten Ideologien, der -ismen in sich. Die Versuchung nach links ist die Versuchung der Spiritualisten. Mit Pathos wird immer der Geist gegen die Materie, die Vernunft gegen die unvernünftige Tradition, Irrationalität, Willkür, Geschichtlichkeit, die wahre Gemeinschaft — etwa des Sozialismus — gegen die verderbte Bürgerlichkeit, die heilige Unruhe gegen die Sekurität gesetzt. Liberalismus, Sozialismus, Idealismus, Neutralismus, Pazifismus, sind verschiedene Gedankenrichtungen, die sich aus dem gleichen Ansatz und Motiv entwickelt haben. Immer wird der wahre geistliche, vernünftige Mensch aus dem knechtenden Jetzt und Hier entnommen, in dieser wahren Existenz isoliert, wie eben auch die göttliche Natur von der menschlichen. Denn so ist letztlich nur die Idee Gottes begreiflich, nicht aber der konkrete Gott der Offenbarung, erst recht nicht die
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anstößige Erscheinung Gottes im Fleisch. Soweit es sich hier um christliches Schwärmertum handelt, wird unter dem eschatologischen Gedanken des Gerichtes die Gnade, Geduld und Langmut Gottes mißachtet und übersehen und darüber die Pflicht eben der Hingabe versäumt, die Gott selbst nicht verschmäht hat.
Die nichtchristlichen Heils- und Selbsterlösungslehren haben ihre Gemeinsamkeit immer darin, daß die Ursache des Unheils niemals in der Gefallenheit des Menschen, sondern in bestimmten Gegebenheiten oder negativ prädestinierten Personengruppen als den spezifischen Trägern des Unheils gesehen wird: dem Judentum, dem Kapitalismus oder den Kapitalisten, der feudalen Tradition oder dem Adel, dem Dogma, der verfaßten Kirche oder dem Klerus mit seinem Herrschaftsanspruch. Wenn man sich nur davon befreie, dann sei der entscheidende Schritt in eine neue Existenz, in die Freiheit getan; so lange aber nur irgendwo um diese Freiheit gekämpft werden müsse, gelte es weiter wach zu sein und sich einzusetzen. So wird jedes konkrete Sozialproblem in seiner ganzen Bedingtheit zu einem Symptom und Prüfstein einer absoluten Entscheidung. Gerade das Pathos der Freiheit hebt die wirkliche Freiheit des Handelns auf. Immer aber versucht man, seine Unbeflecktheit von der Welt zu allererst zu sichern und zu retten und der allgemeinen Verschuldung des Politischen zu entgehen. Über diesen Heilsegoismus ist das vernichtende Wort der Schrift gesagt, daß wer sein Leben lieb hat, es verlieren wird. Daß der reiche Kornbauer seine Seele an seinen Besitz und seine Selbstgerechtigkeit verliert, ist verhältnismäßig leicht einzusehen, wenn auch sehr viel schwerer zu vermeiden. Aber daß alles dieses Schwärmertum eine ebenso tödliche Sünde wider den heiligen Geist einschließt, das ist sehr viel weniger einsichtig, weil der Nimbus des Geistigen, des Vernünftigen, Idealen und neuerdings des Eschatologischen daran hängt.
Alle diese Dinge erlangen nun dort ihre eigentlich zerstörende Durchschlagskraft, wo sich bei dem höchsten geistigen, geschichtsphilosophisch-eschatologischen Anspruch und Ziel die primitiven materiellen Interessen, nationaler oder sozialer Art verknüpfen, wo das höchst partikulare Interesse für ein universal Gültiges ausgegeben wird. Deswegen sind die hier gebrachten ungeheuren Opfer im Letzten so ohne Risiko, weil man sicher zu sein glaubt, kollektiv das wiederzubekommen, was man als Einzelner hingibt.
Jene Spannung aber voll durchzuhalten, weder der konservativen noch der schwärmerischen Versuchung zu erliegen, heißt christliche Existenz mitten in der Geschichte, im Politischen. Es ist deswegen auch keine Wiedergutmachung konservativer Sünden der Vergangenheit, daß man sie durch schwärmerische in der Gegenwart kompensiert. Wer seinen Vordermann im fechten Graben festgefahren sieht, bessert nichts dadurch, daß er eifrig in den linken hinsteuert, und umgekehrt.
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So gewiß Christus wahrer Mensch geworden ist, so gewiß ist eben dieses Miteinander der Naturen auch die wahre Interpretation menschlicher Existenz, die deshalb auch allein eine wirklich realistische Betrachtung der Dinge ermöglicht und enthält. Jedermann muß also in dem Bewußtsein politisch handeln, daß er der darin ipso facto liegenden Schuld des Politischen nicht entgehen kann. Es gibt daher keine politische Lage, in der er von vornherein absolut gerechtfertigt erscheint. Es handelt sich deswegen immer um Notentscheidungen im Sinn des kleineren Übels; und das kleinere Übel ist nicht zu vermeiden. Deswegen ist politisches Handeln im tiefsten Sinne immer ein stellvertretendes Opfer, dem dieser Charakter auch durch die laute Zustimmung des Volkes nicht genommen werden kann. Die Allgemeinheit des Problems hebt die Besonderheit des Aktes nicht auf. Hinter aber jeder solchen Notentscheidung müssen im Gewissen immer die letzten Dinge sichtbar bleiben. Mit der notwendigen Entschlossenheit zu handeln, aber dabei nicht die Seele zu verlieren, diese Aufgabe zeigt, wie sehr wir der Gnade und Hilfe Gottes bedürftig sind.
Es fordert also die politische Existenz, um durchgehalten werden zu können, die christliche, nicht als ein Mittel, sondern als einen Kontrapunkt. Beide können nicht getrennt werden, so wie sie nicht zusammenfallen. Deswegen gibt es auch keinen Staat ohne Kirche. Diese aber ist kein Überstaat, der dem Staate erst recht eigentlich zu sagen hätte, was er zu tun hat, sondern ein für ihn konstituierendes Gegenüber, ohne das er nur dazu verführt werden kann, sich selbst zur Gegenkirche, zur ideologischen Größe mit Absolutheitsanspruch zu machen. Deswegen ist der hegelsche Staatskatholizismus ebenso abzulehnen wie jeder theokratische Versuch. Die katholische Lehre hat — unter der Erfahrung der Geschichte ihren ursprünglichen Anspruch der direkten Gewalt über den Staat (potestas directa) insbesondere seit Kardinal Bellarmin in den der potestas indirecta ermäßigt. Dem entspricht ohne wesentliche Unterschiede die bei den modernen Reformierten vertretene Auffassung, die man unter der Formel der Verkündigungstheokratie zusammenfassen kann, die aber durch zahlreiche offensichtliche, nämlich .standortbedingte Fehlurteile in der politischen Predigt schon viel von ihrer Anziehungskraft verloren hat.
Festzuhalten ist nach alledem, daß es nicht um die eigengesetzlichen Probleme des Staates, sondern um grundlegende theologische und anthropologische Probleme geht. Diese aber brennen dem Menschen auf der Seele und bestimmen seine Entscheidungen, wenn er sie auch trotz aller modernen Bewußtheit nicht zu erkennen und zu deuten vermag. Die Amfortaswunde der abendländischen Menschheit schmerzt und blutet heute mehr denn je.
Von hier aus müssen auch die Folgerungen näher bestimmt werden, die etwa aus jenem oben ausführlich zitierten Worte von Karl Barth zu ziehen sind. Es ist ganz ohne Zweifel richtig, daß
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Kirche und politische Gemeinschaft nie wieder — so weit wir zu blicken vermögen — in jenen alten Zustand der Konvergenz, der Deckung ihres geistigen und personellen Bestandes kommen können. Aber es darf doch nicht übersehen werden, daß diese Diastase, dies Auseinandertreten von Kirche und Staat, und gerade das neue Selbstverständnis der Kirche für Eigenständigkeit und notwendige Freiheit ihrer Aufgabe eine Frucht derselben Autonomiebewegung ist, die im Raum der Kirche als Säkularisation so gern und schnell abgeurteilt wird. Ohne Aufklärung und Romantik gäbe es heute auch keine Ekklesiologie. Das ist schon rein kirchenrechtsgeschichtlich leicht nachzuweisen. Es handelt sich um einen Teil jener großen Bewegung der Spiritualisierung und Subjektivierung, der alle Lebensbereiche zu eigenem Bewußtsein ihrer Träger erhoben, damit aber auch tödlich getrennt hat. Wenn also die Freiheit der Kirche zu ihrer eigentlichen Aufgabe nicht bloß eine idealistische Forderung sein soll, die in diesem großen Zuge sich mitreißen läßt, so kann eben diese Freiheit nur im Lichte der Wahrheit von Chalcedon recht verstanden werden. Ein Vertreter des orthodoxen Patriarchen von Konstantinopel, Prof. Konstantinides, brachte auf einer evangelisch-katholischen Arbeitstagung sehr deutlich gegen den katholischen Standpunkt über Recht und Freiheit der Kirche zum Ausdruck, daß die griechische Kirche — wiewohl eine bischöfliche Kirche mit apostolischer Sukzession! — auf Grund ihrer zweitausendjährigen Erfahrung grundsätzlich nicht glaube, zu einer uneingeschränkten institutionellen Selbständigkeit in dem Sinne kommen zu können, wie es die römische Kirche auf Grund eines vollendeten kirchenrechtlichen Systems und einer ebenso grundsätzlichen Freiheitsforderung versucht. Denn auch die römische Kirche versucht unausgesetzt zu der Freiheit ihrer eigentlichen Aufgabe zu kommen und diese zu sichern. Die Geschichte der Ostkirche weist aus, in welchem gefährlichen Maße sie als eine leidende und nicht fordernde Kirche von der weltlichen Gewalt mißbraucht worden ist; die Geschichte der römischen ist eine solche immer erneuter Übergriffe in den legitimen Bereich der weltlichen Obrigkeit, mehr oder minder unbegrenzter theokratischer Ansprüche. Der selbe Gegensatz der Haltung wiederholt sich aber sehr deutlich in dem Haltungsgegensatz zwischen Lutheranern und Reformierten. Die einen neigen zur Bindung von Staat und Kirche, die anderen zur Trennung.*) Hier aber gibt es keine absolute Lösung, sondern nur Grenzwerte, die eben durch die Christologie von Chalcedon sehr deutlich bezeichnet sind. Absolute Lösungen sind idealistische; und die Scheidung von christlicher Theologie und Idealismus ist das kirchengeschichtliche Verdienst Karl Barths, aus dem freilich die notwendigen Folgerungen noch keineswegs gezogen worden sind.
*) Anmerkung: Von daher stammt auch die enge innere Beziehung zwischen lutherischer und Ostkirche, welche letztere aber die dem Protestantismus anstößigen Merkmale des römischen Katholizismus liturgischer, dogmatischer und kirchenrechtlicher Art nicht hat.