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Das soziale Leben hat in den letzten dreihundert Jahren eine Wandlung durchgemacht, die die allgemeine Soziologie in dem Gegensatz von Gemeinschaft und Gesellschaft zu begreifen versucht. Tiefer wird das Phänomen jedoch in den kategorialen Begriffen erfaßt, die van der Leeuw in der Phänomenologie der Religion erarbeitet hat: Gemeinschaft und Bund. Gemeinschaft ist die soziale Form, zu der alle Menschen eines bestimmten Lebensbereiches kraft Geburt, kraft eines objektiven, vorgegebenen Zusammenhangs gehören. Infolgedessen handeln sie auch als Einheit, aus der man sich nicht willkürlich entfernen kann, ohne mit den Gesetzen der Welt überhaupt in Konflikt zu geraten. Daß das so ist, ist kein Zeichen von Unfreiheit oder Intoleranz, sondern ebensosehr eine lebensmäßige Tatsache wie die Folge eines bestimmten Weltbildes. Bund dagegen ist die soziale Form die durch die Wahl entsteht, durch eigene Entscheidung zu freien Zwecken, wie durch fremde Erwählung, der man folgt, wie etwa im Gottesbund. Das schließt ein, daß eben nicht jeder dem Bunde angehört und auch gar nicht anzugehören braucht, daß die Entscheidung für einen andern Bund, aber auch die Nicht-Entscheidung, die Entscheidung zur Neutralität grundsätzlich zu respektieren ist. Gemeinschaft geht von einer objektiven, vorgegebenen Ordnung aus, Bund von der subjektiven freien Entscheidung des Einzelnen.
Diese letztere Sozialform führt zum Pluralismus. Im System des Pluralismus stehen grundsätzlich in allen Lebensbereichen Gruppen, und Einzelne ungeordnet nebeneinander und wirken ausschließlich oder vorzugsweise nach formalen Spielregeln zusammen. Da zwischen ihnen kein unbestrittener Bewertungsmaßstab vorliegt und vorliegen kann, ohne die grundlegende Freiheit der Wahl aufzuheben, kann letzten Endes nur die mechanische Quantität, das physische Schwergewicht eine gewisse Ordnung herstellen.
Dieser Pluralismus ist ein doppelter: er besteht sowohl zwischen den verschiedenen Lebensbereichen wie innerhalb dieser Lebensbereiche zwischen den Gruppen und unverbundenen Einzelnen.
Es kann hier unerörtert bleiben, was alles als solche Lebensbereiche angesehen werden kann; es genügt festzustellen, daß drei Bereiche politisch-geschichtliche, gemeinschaftsbildende Bedeutung haben: der politisch-nationale, der ökonomisch-soziale und .der religiöse.
Der Pluralismus in diesen Bereichen stellt sich folgendermaßen dar:
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1. Im politisch-nationalen: hier stehen die grundsätzlich unverbundenen Urwähler und die von ihnen ebenso grundsätzlich frei gebildeten Parteien nebeneinander. Die Partei als Gruppe hat vom Wähler nichts zu fordern, sondern dient ihm nur als Instrument seines Willens; diese Ordnung ist jetzt, nachdem sie nicht mehr selbstverständlich war, verfassungsrechtlich gesichert worden. Zur Beteiligung am politischen Leben bedarf es keiner Qualifikation außer der formalen Staatsbürgerschaft, insbesondere nicht des Nachweises einer staatsbürgerlichen Bildung oder konkreter sozialer Verantwortlichkeit. Noch vor etwa 100 Jahren wurde das Wahlrecht meist von einem gewissen Steuerzensus, vom Familienstand oder Grundbesitz, also einer konkreten Mitverantwortlichkeit abhängig gemacht. Eine ganz sinnlose und deswegen aufreizende und kompromittierende Ausprägung dieses Prinzips war das Dreiklassenwahlrecht. Alle diese Einschränkungen haben sich in einem unwiderstehlichen Zuge zugunsten einer möglichst weitgesteckten Gleichheit aller mündigen und rechtsfähigen Staatsbürger abgelebt.
2. Im ökonomisch-sozialen Bereich: das wirtschaftliche Leben vollzieht sich — von mäßigen Einschränkungen für die Ausübung öffentlicher Dienste auf der Grundlage grundsätzlicher Betätigungsfreiheit abgesehen — ohne Rücksicht auf Herkunft, Alter, Geschlecht. Dieser verfassungsrechtlich vorherrschende Standpunkt des klassischen Liberalismus ist durch die soziale Wirklichkeit der immer stärker werdenden sozialen Gruppenbildungen überholt, ja hat in Wirklichkeit nie rein bestanden. Aber zwischen den Gruppen besteht kein Wertverhältnis, kein Ordnungsprinzip, kein Maßstab für die Berechtigung und Begrenzung ihres Einflusses. Dies begründet die Unmöglichkeit der Bildung sogenannter berufsständischer Körperschaften. Würden die Verbände zu Zwangskorporationen aller Berufsangehörigen, so würden sie den Bundcharakter verlieren; würden die Verbände zu beschließenden Körperschäften vereinigt, so würde sich die Unmöglichkeit der schlüssigen und anerkannten Bewertung der einzelnen Gruppen hindernd bemerkbar machen. Daran sind bisher alle ständischen Versuche gescheitert. Auch in den faschistischen Systemen sind die entsprechenden Bildungen nicht zu eigenem Gewicht und Leben erwachsen und Instrumente der führenden Staatspartei, also einer Bildung aus dem politischen Raum geworden.
3. Im religiösen Bereich: in der Geschichte der Menschheit ist bis zur Moderne niemals der Versuch der Ablösung des religiösen Bereichs aus dem öffentlichen Leben gemacht worden. Das Christentum hat hier nur die Beziehungsform verändert, indem es dem Staat die Kirche als eigenen rechtstragenden Körper, der bürgerlichen Gemeinde die christliche gegenüberstellte. Insofern ist der konstantinische Bund nicht viel mehr als eine Selbstverständlichkeit gewesen, die nur dem modernen Bewußtsein problematisch geworden ist. Bis zum Christentum waren alle Staatsbildungen zugleich sakraler Natur; man konnte sich dem so wenig entziehen, wie man vermeiden konnte
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auf dem Boden des Staates dessen Luft zu atmen. Mit dem neuen Gegenüber von Staat und Kirche war ein spannungsreiches und problematisches, aber unbezweifelt positives Verhältnis geschaffen worden. Die Gemeinsamkeit und Allgemeinverbindlichkeit des Kultus und Bekenntnisses mit den daraus folgenden sozialethischen Wertbegriffen bildete Hintergrund und Grundlage alles sozialen Lebens auch im weltlich-politischen Raum. Noch für die Reformatoren war es völlig selbstverständlich, daß in einem Lande nur ein Kultus existieren könne. Im Verfolg jedoch der Glaubensspaltung, die jeden einzelnen in einer ganz neuen Weise zu einer religiösen Entscheidung zwang, die oftmals sein geistiges Vermögen weit überstieg, und sodann der Aufklärung wurde der religiöse Bereich aus einer objektiven Ordnung zur Sache einer höchst individuell-subjektiven Entscheidung. Neben den christlichen Glauben traten philosophische Weltanschauungen mit dem gleichen Anspruch auf Anerkennung und Duldung, oft in der Form des Religionsersatzes. Daraus ergab sich schließlich die weltanschauliche Neutralität der öffentlichen Ordnung; es bestand keine Möglichkeit einer öffentlich-rechtlich bedeutsamen Unterscheidung und Wertung zwischen den verschiedenen Weltanschauungsgruppen; zu solchen sanken die Konfessionen scheinbar und in der rechtlichen Wertung herab. Die Anerkennung als öffentlicher Körperschaft ist auf der anderen Seite das Zeichen der grundsätzlichen Unfähigkeit des modernen Staates, das Wesen der Kirche zu begreifen und rechtlich auszudrücken.
Die zweite Form des Pluralismus besteht nun darin, daß auch zwischen diesen Bereichen als solchen keine konstruktive Verbindung mehr besteht. In den älteren Ordnungen, auch vor dem Ständestaat im engeren Sinne hat jeder Mensch durch seinen ökonomisch-sozialen Status zugleich seinen politischen; man hat eine bestimmte politische Stellung, wenn man Zunftmeister, Ritter, Kleriker, Bauer, Henker oder Spielmann ist. Dieses beides fällt jetzt auseinander, der Status oeconomicus wird für den status politicus bedeutungslos — jedenfalls de iure. Man sieht hieran, wie geschichtlich naiv das Pathos der politischen Gleichheitsforderung und wie zeitbedingt zugleich es ist. Der Sinn der früheren Ordnung ist vollständig unverständlich geworden. Gleichlaufend mit dieser Trennung wird nun, wie bereits geschildert, der status ecclesiasticus, die Kirchenzugehörigkeit politisch bedeutungslos, während bis dahin alle Stände selbstverständlich christliche waren. Noch Luther entfaltet im Sermon vom großen Abendmahl die Lehre von den drei ordines, dem ordo politicus, oeconomicus und ecclesiasticus und stellt fest, daß jedermann in allen drei Ständen zugleich lebe. Die Lebenseinheit dieser drei Bereiche war bis dahin freilich auch in dem Sinne gegliedert, daß jeder einem dieser Bereiche vorzugsweise angehörte; daraus entstand die mittelalterliche Lehre von den drei Ständen der Christenheit, die sich unter der nicht ganz präzisen Formel vom Wehrstand, Lehrstand und Nährstand bis in die Gegenwart mehr gedanklich als verfassungsrechtlich fortgeerbt hat. (Vgl. Dombois a.a.o. S. 60 ff.)
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Anstelle jener objektiven Zusammenordnung der Lebensbereiche finden diese ihren Vereinigungspunkt nunmehr ausschließlich im bewußten Willen des Individuums; es allein muß auf sich selbst gestellt sie zu einer Einheit verarbeiten. Diesen Zustand nennt man Freiheit.
In dieser pluralistischen Freiheit aber wird der Mensch bis zur Schizophrenie zerspalten, überlastet und in eine geradezu tödliche Existenznot versetzt, aus der er sich um der geistigen und moralischen Selbsterhaltung willen zu befreien versucht. So kommt es zu der Paradoxie, daß der moderne Mensch die so teuer erkämpfte und heiß begehrte Freiheit so gern und leicht zugunsten jeder Ordnung aufzugeben bereit ist, die ihm die Überwindung dieser gespaltenen Situation auch nur zeitweilig vorzuspiegeln in der Lage ist. Denn diese Bruchstücke einer gesamtmenschlichen Einheit sind in Wirklichkeit nicht autonome Bereiche, deren Eigengesetzlichkeit eben das Gesetzesproblem unserer Tage bildete; sie drängen notwendig wieder zueinander.
Es ist das Kennzeichen und die grundsätzliche Schwäche der Liberalen aller Richtungen, daß sie diese Existenznot der Moderne nicht begreifen, ja überhaupt nicht wahrhaben wollen. Sie preisen die unbestreitbaren Vorzüge der Freiheit, sie appellieren an die ethische Verantwortlichkeit des Einzelnen als Einzelnen; aber sie zeigen ihm keine Mittel, diese Verantwortlichkeit zu erfüllen und geben ihm mit der Hochspannung dieser Forderung Steine statt Brot. Die Lehre der Kirche sollte sich hüten, ihnen auf diesem unfruchtbaren Wege zu folgen.
Der Subjektivismus, der zum Pluralismus führt, beruht auf einem falschen Bilde der Welt und des Menschen. Dieser Irrtum ist deswegen so schwer zu erkennen und zu berichtigen, weil er ein haeretischer Irrtum ist, d.h. weil er durch die Überbetonung einer echten Teilwahr-hat das Gesamtbild verzerrt und verfälscht. Der Irrtum liegt in zwei Punkten:
1. Der Mensch ist nicht nur frei, sondern zugleich gebunden (politisch-national, wirtschaftlich, religiös). Aber er ist eben nicht nur gebunden, sondern auch frei. Dieser Gegensatz wird nicht dadurch ausreichend berücksichtigt, daß man sich darauf verläßt, die Bindungen des Menschen würden schon in seinen subjektiven Entscheidungen ausreichend zum Ausdruck kommen. Man kann sich im Grunde nur solange und in dem Maße streiten, als man zugleich eine unbestrittene Gemeinsamkeit hat; sonst gibt es sofort einen Kurzschluß und in Kurzschlüssen sind wir Deutschen Meister. Gerade ein freier Staat lebt von dem Maße der unbestrittenen Gemeinsamkeit. Das Perpendikel einer Uhr kann nur schwingen und das Uhrwerk treiben, wenn es einen festen Aufhängungspunkt hat. Diese Aufhängung ist nichts nur Formales, sie besteht im Staat nicht nur in der Anerkennung der Spielregeln der Mehrheitsentscheidung
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und Gerichtskompetenz allein, sondern in zahlreichen unausgesprochenen und unbewußten Gemeinsamkeiten. Erkennt man nur das an, was im Verfassungstext ausdrücklich umschrieben und normiert ist, so liegt man alsbald in einer unerträglichen Weise miteinander im Streit vor dem Verfassungsgerichtshof und steht immer vor der Drohung mit direkter Aktion, politischem Streik und Revolution. Deswegen kann man auch immer nur auf der Grundlage gewisser langfristiger Entscheidungen, die nicht willkürlich auf Grund wechselnder Mehrheiten jederzeit geändert werden können, leben, man lebt in einem gewissen — sicherlich nicht unabänderbaren — Status, nicht auf Grund jeweiliger punktueller Entscheidungen. Im Gegensatz zu diesem Lebensgesetz wird die Subjektivierung der Standpunkte und Interessen zu einer solchen reißenden Dynamik getrieben, daß man selbst einem neuen Gesetz nicht die Zeit der Erprobung zu lassen bereit ist. Der Subjektivismus steigert sich zum grundsätzlich ständigen Wandel, erhebt den Wandel zum Prinzip und endet in der Pseudoeschatologie, die sich immer am Rande des ganz Anderen glaubt.
2. Bei einer so subjektivistischen Anschauung kann der Mensch im politischen Leben immer nur auf seine Subjektivität, sein Interesse, seine Furcht vor Schaden, vor dem Bösen angesprochen werden, nicht aber auf seine Liebe und Opferbereitschaft. So korrumpiert jeder Wahlkampf fast unvermeidlich die Volksgesamtheit Es müssen künstlich schwarze Männer erzeugt werden, um die entsprechende Abwehrbereitschaft zu erzeugen, es müssen die bestehenden politischen und sozialen Spannungen künstlich dramatisiert werden. Man überbietet sich in unverantwortlichen Versprechungen. Denn der Erfolg ist mit der Wahlbeteiligung von dem erzeugten Hitzegrad abhängig. Der Gemeinschaftssinn und die Positivität des Menschen findet nur allzuwenig Anknüpfungspunkte. Der Mensch aber — gerade auch der autonome und selbstverantwortliche Mensch, der politische Mensch im Raum der Geschichte — lebt, wie eingangs dargestellt, von Furcht und Liebe. Weil aber im Zustande liberaler Freiheit die Opferbereitschaft und Liebe des Menschen nicht oder nur unzulänglich durch den abstrakten und unverbindlichen ethischen Appell in Anspruch genommen wird, ist er bereit, geradezu Orgien der Hingabe und des Opfers zu feiern, sobald ihm eine Gelegenheit dazu geboten wird. Das ist ein Geheimnis der totalitären Systeme, durch das sie so außerordentliche Kräfte zu entfesseln vermochten.
Aus jener Existenznot der liberalen Freiheit versucht der Mensch sich mit jedem angebotenen Surrogat an Konstruktionen, politischen Theorien und Heilslehren zu retten, die ihm einen Schlüssel, einen Weg zur Einheit das zu bieten scheinen. Ein Teil der Menschen wandert innerlich aus dem Raum des Politischen zu gnostischen
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Sekten ab, die ihn den geistesgeschichtlichen und damit immer zugleich geschichtlich-politischen Entscheidungen entziehen, oder in einfache Passivität, moralisches Aesthetentum, Neutralismus oder den einfachen Aberglauben. Wo aber nicht in dieser Weise ausgewichen wird, bildet sich regelmäßig ein Einheitsmythos, der Versuch, die geschichtliche Welt über einen Leisten zu schlagen, sie in einer Richtung eindeutig und einheitlich zu gestalten. Dazu gehört auch der Glaube an den starken Mann: es ist der Glaube an den Menschen, der in seiner Person alle die zerbrochenen Dinge und verwirrten Menschen zur Einheit führt.
Dieser Einheitsmythos erscheint nun in sehr verschiedenen Formen; meistens erhebt der Mensch dasjenige zum beherrschenden Prinzip, was ihm am Nächsten liegt, schließt an die Fragen an, in der für ihn der Widerspruch zwischen gegenwärtiger Ordnung und zukünftiger Ordnungshoffnung am einleuchtendsten und dringlichsten erscheint.
1. Die älteste und heute stark zurückgegangene Form ist der Glaube an die Einheit und Souveränität des Staates. Der Staat im modernen Sinne im Gegensatz zu polis, imperium, Lehnsordnung und anderen älteren Formen ist in einer langen Entwicklung etwa seit dem 12. Jahrhundert entstanden, grundsätzlich betrachtet jedoch in zwei Hauptepochen:
a) Von jener Zeit an löst sich von dem politischen Gesamtgefüge ein eigener politisch-militärischer und Beamtenapparat ab. Erst jetzt entsteht der Staat als Körperschaft. Bis dahin deckt sich die Sozialordnung mit der politischen Ordnung; ja sogar alle ausgesprochenen Amtsfunktionen wachsen wieder in die Volksgliederung hinein, werden aus Ämtern zu eigenen Rechten ihrer Träger; so entstehen etwa aus Gaugrafen Fürstendynastien. „Der deutsche Staat”, so faßt Rudolf Sohm (Das altkatholische Kirchenrecht und das Dekret Gratians S. 578 — Anm. 45) das Ergebnis der neueren verfassungsgeschichtlichen Forschungen Belows, Fehrs und Rosenstocks zusammen, „beruhte auf der ersten Stufe seiner Entwicklung in dem Gedanken des Volkes. Die deutschen Stämme mit ihren natürlichen Gliederungen machten den deutschen Staat. Das ist — nach Fehr — die Grundauffassung noch des Sachsenspiegels. Seit ewa 1200 tritt der Gedanke des Hauses als für den Staat grundlegend in den Vordergrund. Die deutschen Fürsten sind als Vasallen die persönlichen Diener (Hofleute) des Königs. An ihrer Spitze stehen die Träger der obersten Hofämter, die Kurfürsten. Das Reich wird von den Dienern des Königshauses, das Land von den persönlichen Dienern des Landesherren regiert (Rosenstock, Königshaus und Stämme in Deutschland zwischen 911 und 1250). Auf seiner dritten Stufe erst ist der deutsche Staat durch den Körperschaftsgedanken bestimmt worden. Der Staat wird zu einem gesellschaftlichen Körper, der das Volkstum als Einheit
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willensfähig, handlungsfähig macht, so daß die ganze Kraft des Volkstums unwiderstehlich auch gegen eine Welt von Feinden sich erhebt. Der ganzen alten Welt war das unbekannt, aber der moderne Staat beruht darauf.”
Die grundsätzlich gleiche Entwicklung vollzieht sich zur selben Zeit im Kirchenrecht. An die Stelle der Archidiakone als Vertreter des Bischofs in der Verwaltung der Diözese, die als geweihte Priester eigenen Rechts waren und aus ihrem Amte nicht entfernt werden konnten, treten die bischöflichen Offiziale-abhängige, jederzeit abrufbare, weisungsgebundene Beamte.
Diese allmähliche Ausbildung des Staatsapparates erreichte eine neue Stufe durch die Glaubensspaltung. Als nämlich die religiösen Streitigkeiten keinen Abschluß fanden und auf die Länge das Bestehen der politischen Ordnung grundsätzlich zu gefährden drohten, bildete sich — am frühesten und klarsten in Frankreich — die Partei der Politiker. Diese für ihre eigene Person strenggläubigen Christen wollten doch durch eine Neutralisierung der Staatsgewalt die allgemeine Ordnung wiederherstellen. Die aufsteigende Fürstenmacht stützte sich auf dieses zweifellose politische Bedürfnis und erhob sich zur Souveränität über alle politischen, ökonomischen und geistlichen Bereiche, denen sie eine bis dahin ungeahnte Einheit und zielstrebige Zusammenordnung gab. Sie zerschlug die alten Ständegliederungen, indem sie ihnen vor allem die politischen Funktionen nahm und damit die Trennung von Status politicus und oeconomicus vorbereitete. Schließlich standen einer einheitlichen Staatsgewalt nur Untertanen gegenüber, denen nur noch gewisse traditionelle Privilegien belassen wurden. Die Durchforstung des sozialen Dschungels von ererbten Rechten, Privilegien und Mißbräuchen, zu denen das Spätmittelalter entartet war, bedeutete einen so großen und grundlegenden sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt, daß zeitweilig ein geradezu religiöser Glaube an die gottgleiche Voraussicht des Fürsten Platz griff. Wo dieses Regiment auf der Ebene eines hohen religiösen Pflichtgefühls ausgeübt wurde, hat es ein ganz außerordentliches Kapital an Vertrauen anzusammeln vermocht, das sich auch noch auf den unpersönlichen Staat übertrug und die Vorstellung, der Staat könne Unrecht tun, geradezu unmöglich machte. Hans Joachim Schoeps bezeugt dies etwa für das konservative Judentum in Preußen. Aber diese Entwicklung bereitete die Grundlagen zunächst für den Liberalismus und dann für die absolute Demokratie, die beide bis heute von der allmächtigen Einheit des Staates nicht lassen wollen.
b) Diese etatistische Bewegung, die .den Staat immer mehr formalisierte, ihn als Apparat steigerte und zugleich entleerte, schloß nicht die Kluft zwischen Volk und Staat, sondern riß sie auf. Alle völkischen und nationalistischen Bewegungen in Europa verdanken diesem Gegensatz ihre Kraft. Je mehr die Staatsordnung den Zusammenhang mit der Tradition verlor, oder gar einen
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grundsätzlichen Bruch mit dieser vollzog, wurde der Gegensatz fast unheilbar und gewann eine nahezu, religiöse Spannung. So ist die Weimarer Republik zwischen dem traditionsfeindlichen Aufklärertum der Linken und der Verhärtung der Rechten zerrieben worden. Ihre Verfassungspartei, die Demokraten, war die am schwächsten verwurzelte Potenz und sank schon 1920 auf den Rang einer Splitterpartei. Nicht die Reaktion der Alten, sondern die Enttäuschung der Jungen hat in der Krise der dreißiger Jahre widerstandslos die Republik zusammenbrechen lassen; denn junge Menschen lassen, sich allein auf die Ganzheit des Lebens in gläubiger Kraft ansprechen; eben dies aber vermochte ein Staat ohne anerkanntes Symbol, ohne Symbolkraft, Tradition und Volksheer nicht. Vielleicht hätte schon ein Volksheer genügt, um trotz allem genügende Kräfte politisch-positiv zu binden; aber eben dies war uns versagt. Ursachen und Folgen sind hier wirklich von grausiger Paradoxie. Die ältere ständisch-demokratische Tradition konnte praktisch ja nur in die liberale Demokratie auslaufen und infolgedessen daran nichts ändern.
Dieses Problem ist durch die moderne Staatsstruktur allgemein, gegeben. Aber es wirkt sich in den verschiedenen Ländern sehr verschieden aus. Es .tritt scharf und virulent hervor in all den. Staaten, die einen Bruch ihrer politischen und damit zugleich religiösen Tradition durchgemacht haben: in Deutschland, Italien, Frankreich, Spanien, also allen großen Ländern des Kontinents; es ist fast völlig verdeckt dort, wo die politische Tradition intakt ist und de jure oder de facto eine Staatskirche besteht: in England, der Schweiz und Skandinavien. Die fundamentale Bedeutung der Tradition für das politische Leben eines Volkes, die Lebensgefährlichkeit eines Bruches in ihr tritt hier unübersehbar hervor. In Italien ist diese Zerrüttung durch den mehrfachen Gegensatz zwischen Vatikan und Quirinal, sowie zwischen liberaler Monarchie und demokratischer Volksbewegung gegeben gewesen; in Frankreich im Gegensatz zwischen regional-konservativen Kräften und laizistischer Republik. Ihr Formalismus hat nicht nur leidenschaftliche Gegenbewegungen verschiedener Art, sondern zugleich auch gefährliche Passivität, Zerstörung des Staatsgefühls und Nihilismus zur Folge gehabt.
Wie sehr den Liberalen das Verständnis für dieses Problem mangelt, zeigt ein Vorgang aus der Zeit kurz nach dem letzten Kriege. Gustav Heinemann sprach auf einer christlichen Jugend- und Studentenkundgebung in Marburg. Er erzählte seinen Hörern zunächst aus der Zeit seiner Tätigkeit im Republikanischen Studentenbund nach dem ersten Kriege, einer Gruppe, die damals aus den geschilderten Gründen niemals echt repräsentativ war. Er appellierte dann an die Bereitschaft zur Mitarbeit in den Parteien. Als seine sehr aufgeschlossenen und willigen Hörer nach mehr fragten, wußte er diesen Appell nur zu wiederholen. Er begriff
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gar nicht, was man von ihm wollte, und man trennte sich in beiderseitiger Enttäuschung. Karl Barth hat seine so auffällig unterschiedliche Stellungnahme gegenüber Kommunismus und Nationalsozialismus damit begründet, daß der erstere doch wenigstens ein echtes Problem enthalte und angreife, bei dessen Bewältigung die Kirche so viel versäumt habe; im Nationalsozialismus leugnete er einen solchen echten Problemkern und vermochte nur Dummheit und Brutalität zu erblicken. Woher die ungeheuren Kräfte kamen, die er, weit über das deutsche Volk hinaus zu entfesseln vermochte, blieb unerörtert und unbeantwortet. Aber daß gerade ein Theologe das Problem einer solchen pseudoreligiösen Erscheinung nicht tiefer erfaßt und durchschaut, ist erschreckend. Der Grad der Intellektualität ist kein echter Maßstab für eine solche Bewegung; im Übrigen haben ihm typische Intellektuelle (Goebbels, Freisler, Walther Frank) nicht gefehlt: der Parteidogmatiker Rosenberg freilich zählte nicht zu diesen.
Die besondere Lage des spanischen und portugiesischen Faschismus, ihre relative Stabilität beruht neben anderen Momenten darauf, daß sich hier von den drei Lebensbereichen, dem politischen, sozialen und religiösen wenigstens zwei noch in einer — freilich nicht spannungslosen Zuordnung befinden und also wenigstens versuchen können, das dritte Problem allmählich zu lösen oder sonst hinzuhalten. Es ist freilich ein solcher Sieg 2 : 1 keine echte Lösung im Sinne unseres Problems. Eine solche nationalistische Einheitsbewegung macht nun eine höchst charakteristische geistige und soziologische Entwicklung durch, sobald sie sich frei entfaltet. Sie beginnt mit der — ehrlichen — Anknüpfung an die Tradition, in zuweilen höchst romantischen Formen. Da die Tradition aber nicht dynamisch ist, löst man sich unmerklich von ihr und wendet sich den militanten Lebensformen und Schichten, dem Soldaten, dem Arbeiter als den echten Vertretern des Volkes zu. Dann tritt im Fortgang der immer scharf rationalistische Gedanke der Prädestination hervor: dem Volksbegriff wird die Rasse unterlegt, durch die es prädestiniert ist. Aber auch diese tritt allmählich als eine verhältnismäßig objektive Größe zurück zugunsten der reinen Einheit und Gemeinsamkeit des kämpferischen Willens (Wer Jude ist, bestimme ich — daran nämlich, ob er ein Aktivist ist). Diese sprengt allmählich selbst den Volksbegriff zugunsten einer universalen Gemeinschaft der kämpfenden jungen Völker, die sich eben dadurch, daß sie kämpfen als jung und zu dieser Gemeinschaft gehörig prädestiniert, erweisen. So ist es aus der Dynamik der ideologischen Progression zu erklären, daß Hitler selbst wider jede militärische Vernunft nicht versuchte und vermochte, den Krieg zu begrenzen; die Ideologie verliert die Freiheit selbst über die Mittel, die sie schrankenlos anzuwenden sich, für berechtigt hält. Der Gegensatz ist ein universaler und totaler, ein echtes Endgericht, in dem es eben auch keine Neutralität und keine Beschränkung geben kann. Die Ideologie erwies sich als echte Eschatologie.
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Dadurch ist aber zugleich eine typische Verzerrung der Wirklichkeit notwendig gegeben: da die Einheit aller Lebensbereiche vom biologisch-rational verstandenen Politischen her intendiert wird, muß jedes Lebensgebiet auch von diesem Standpunkt her gesehen und geformt werden, sei es Glaube, Kunst, Pädagogik usw. Dadurch entstehen die grotesken Verzerrungen aller Wirklichkeit, zu der Presse und Agitatoren ständig genötigt sind; der Antrieb zu diesem ganzen offenkundigen Unsinn, zum ständigen sacrificium intellectus; das religiös geglaubte Ziel der Lebenseinheit darf nicht an der Autonomie irgendwelcher Lebensbereiche oder den Gesetzen der formalen Logik scheitern.
c) Eine ganz analoge Entwicklung und Struktur gewinnt die ökonomisch-soziale Bewegung. Sie geht von den Gruppen aus, die als aktiv wirtschaftende am wirtschaftlichen Pluralismus nicht positiv beteiligt und deshalb auch in die bürgerlich gewordene Wirtschaftsordnung nicht eingegliedert sind. Auch diese Bewegung beginnt romantisch und utopisch, bekommt aber bald eine scharfe gedankliche Profilierung. Der Proletarier ist der Mensch in der grundsätzlichen, durch die Wirtschaftsordnung vollzogenen Selbstentfremdung, der zum Leiden, aber deshalb auch zur Trägerschaft des neuen Heils Prädestinierte. Denn die Überwindung der Selbstentfremdung, der knechtenden Arbeitsteilung, wird dem Menschen die verlorene Ganzheit der Existenz wiedergeben, wie zugleich in der klassenlosen Gesellschaft die trennenden nationalen und sozialen Unterschiede, sowie überhaupt die Ungleichheit jeder Art zur Harmonie überwunden ist. Hier wird die Prädestiniertheit durch die Klassenlage länger und klarer festgehalten als der Rassegedanke im Nationalsozialismus, aber doch allmählich in der Erfassung anderer Schichten ebenfalls vorzugsweise zur kämpferischen ideologischen Gemeinschaft verwandelt. Auch hier ergibt sich der logische Zwang zur Preisgabe der Logik, die Notwendigkeit, nunmehr alle Lebensbereiche um jeden Preis auf die Formel der ökonomischen Dialektik zu bringen. Das ist fast noch um einen Grad unnatürlicher als die Verzerrungen, die der Totalitätsanspruch der biologischen Weltanschauung mit sich bringt, weil eben die ökonomischen Dinge so sehr den Charakter des Mittels haben, daß nur durch eine völlige Umstülpung der Wirklichkeit die Konsequenz noch durchgehalten werden kann.
d) Eine sehr viel gemäßigtere Form des Einheitsmythos ist der im revisionistischen Sozialismus jetzt vertretene Gedanke des sog. sozialen Humanismus. Es ist im Grunde eine synkretistische Bewegung, die wie die Antikirche Julian Apostatas im dritten Jahrhundert die Reste aller bisherigen, in Zersetzung begriffener Kulte vermengt und dadurch zu halten sucht. Auch hier lebt noch das Pathos der Gleichsetzung von Arbeiterschaft mit den Arbeitenden, mit dem Volk überhaupt; sodann die Verschiebung von der Klassenbegrenzung auf die Gesinnungsgemeinschaft. Auf der Basis dieses Gleichheits- und Gemeinschaftspathos wird dann ein ziemlicher blasser idealistischer
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Überbau errichtet, in dem die Reste der Aufklärung und des Fortschrittglaubens sich zu modernisieren versuchen.
Der soziale Humanismus ist der Versuch, das humanistische Persönlichkeitsideal vor die soziale Wirklichkeit zu stellen und mit ihr auszugleichen, das Ideal der Menschlichkeit in das der Mitmenschlichkeit zu wandeln. Wer das unternimmt, wird in einer ganz anderen Weise, als das bisher geschehen ist, sich darüber klar sein und ausweisen müssen, daß dies mehr ist als die Flucht in ein Gemeinschaftsideal; daß hier alles das zu beachten ist, was ein so scharfblickender Soziologe wie Helmut Plessner schon 1932 in seiner Schrift „Grenzen der Gemeinschaft” gerade im Verhältnis zur Jugendbewegung geltend gemacht hat. Selbstverständlich aber wird behauptet werden, daß dies alles geschehen werde, daß eben hier die für die Gegenwart notwendige grundsätzliche Zuordnung von Individuum und Gemeinschaft vollzogen werde. So einfach und billig sind indessen die Dinge nicht. Der Mensch ist zu definieren durch die Stellung zwischen Gott und dem Nächsten. Eben dies aber ist keine innerweltliche, säkulare, menschliche Möglichkeit. Der Prüfstein dafür ist der Kultus, der Gottesdienst, die völlig zweckfreie Gemeinschaft der Anbetung, des Lobens und Dankens und damit die konkrete, sichtbare Kirche. Erst von hier aus bildet sich Gemeinschaft und gerade in einer Welt, die aus der Sakralität der natürlichen Religion längst herausgefallen ist und sie bei dem Versuch der Wiederherstellung nur pervertieren kann. Von der Beantwortung dieser Wahrheitsfrage wird die Christenheit den Sozialismus und den sozialen Humanismus nicht entbinden können; und die Wahrheitsfrage ist keine Sache individueller Freiheit. Die Entscheidung wird darin fallen, ob die schwindsüchtige Blässe des religiösen Sozialismus die Farbe der gesunden christlichen Lehre gewinnt, ob er aufhört, eine Verlängerung des theologischen Liberalismus zu sein. Wenn man mit dem Kultus ernst macht, muß man auch aufhören, die Kirche nach dem Maß der Erzeugung sozialpolitischer Impulse zu messen und von neuem den Altar zur Untermauerung des Thrones, diesmal desjenigen des souveränen Volkes zu benutzen.
Sozialer Humanismus: das kann die Vollendung des Wohlfahrtsstaates bedeuten, den geistigen Oberbau eines vollendeten Staatswesens, in dem jeder ein Recht hat, alles vom Staat und durch den Staat zu verlangen, auch eine gleiche Quantität von sogenannten Bildungsgütern. Denn Bildung wird weitgehend mechanistisch aufgefaßt: als ein Produkt von Zeit und Mitteln, das man durch Vermehrung beider als Standard steigern kann, nicht mehr als die Frucht der freien und letztlich spontanen Hingabe an ein objektives, nicht verfügbares Gegenüber. Wer nach Gemeinschaft sich sehnt und danach ruft, darf nicht vergessen, daß die unzähligen Regulationen und Funktionen des menschlichen Lebens schon von Haus aus Gemeinschaftsbeziehungen darstellen, aber nur zum geringen Teil organisierbar sind, sowenig man die Vitamine und Fermente des menschlichen
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Organismus allein durch Medikamente ersetzen kann. An dieser Stelle hat die katholische Lehre von der Subsidiarität des Staates ihr volles Recht. Denn diese. Regulationen sind ja mehr oder minder unbewußte, sie setzen die Spaltung des Menschen und die Subjektivierung nicht voraus. Die Verachtung des Gewachsenen, nicht Rationalisierten und der Etatismus sind mit dieser Richtung eng verbunden.
e) Die letzte Ausprägung des Einheitsmythos ist der Klerikalismus. Er geht romantisch von einer Rückerinnerung auf die angebliche Einheitskultur des Mittelalters zurück. Aber er beruht von vornherein auf einer wesentlichen Verkennung, um nicht zu sagen Verfälschung der politischen und Kirchengeschichte. Denn es wird fast geflissentlich übersehen, daß diese Einheitskultur in dem Nebeneinander einer außerordentlich ungebrochenen Weltlichkeit und einer ebenso ursprünglichen Geistlichkeit beruhte, deren Verhältnis in der Doppelchorigkeit des romanischen Kirchenbaues dargestellt ist. Von einer Herrschaft der Kirche über den Staat aber kann hier typisch nicht die Rede sein. Das historische Pathos aber richtet sich gerade sehr polemisch gegen diese Epoche, der man die darauf folgende der großen imperialen Päpste gegenüberstellt. Deren Ansprüche aber konnten erst erhoben werden, als dieses Verhältnis der Zusammenordnung bereits zerbrochen war. Die viel zitierte Formel vom „heiligen Reiche” etwa ist in Wahrheit eine polemische Kampfformel des Reichskanzlers Reinhard von Dassel, des Bismarck Friedrich Barbarossas, in der er sich gegen die Herabwürdigung und Verteufelung des Reiches, der weltlichen Gewalt, im Streite der großen Gewalten wendet. Heute spielt man das Papsttum der Reform, der Bettelorden, der neuen Stadtbürgerschaften, gegen die benediktinisch-liturgische Feudalkirche aus. Von dieser Sicht her stammt der so starke und alte antistaatliche und Antimacht-Affekt. Erst in der neuesten Zeit ist man durch die neue Weltlage gezwungen worden, sich dem Problem des Politischen unausweichlich zu stellen.
Die Anthroposophie hat den Problemkreis in ihr Denken mit einbezogen. Steiner hat die Lehre von der Dreigliederung der Gewalten entwickelt, d.h. den Vorschlag, den politischen, ökonomischen, kulturellen Lebensbereich je für sich Autonomie zu geben. Das ist eine Potenzierung des Pluralismus, die undurchführbar sein dürfte. Es zeigt sich gerade die Verkennung des hier entwickelten Zentralproblems: der moderne Staat ist überhaupt nur durch als wenigstens formale Einheit der Spielregeln funktionsfähig, er kann, ohne sich völlig als solcher aufzugeben die Dinge nicht in dieser Form aus der Hand geben; kurz das Koordinationsproblem der so getrennten Bereiche ist nicht gesehen. Der Vorschlag ist im Grunde existenzfremd und benutzt nur die liberale Methode, jedem zum Sonderbewußtsein erwachsenen Bereich im schönen Vertrauen auf die Einheit der Vernunft Autonomie zuzubilligen.
Alle diese Bewegungen entspringen also dem gleichen Pathos der Einheit und zwar einer materiellen Einheit der Lebensbereiche,
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die in der äußeren politischen Einheit ihren Ausdruck findet. Zu ihrer Problematik gehören nun noch zwei ihnen allen gemeinsame Züge, die bisher wenig beachtet worden sind.
Es ist eine alte Erkenntnis der Völkerrechtstheorie, daß die Außenpolitik und Diplomatie von einer gewissen eigentümlichen Gegenstandslosigkeit sind. Das gilt im Grunde für alle Politik. Das heißt praktisch: Alle Politik umschließt und dreht sich um gewisse Sachprobleme, die auf dem Wege der Verhandlung und des Kräfteausgleiches zu einer Lösung geführt werden müssen. Aber das erschöpft ihren Inhalt keineswegs. Politik bedeutet immer die Ausbalancierung, das immer neue In-Beziehung-Setzen der verschiedenen Mächte — abgesehen von jenen konkreten Problemen und ihren Lösungen. Die Probleme sind höchstens das Material ihres Verhältnisses, dieses noch nicht selbst. So lassen sich auch jene innerpolitischen Bewegungen — unbeschadet der Fülle der Sachprobleme, die sie umschließen, doch nicht vollständig auf Sachfragen zurückführen und durch die Regelung bestimmter Sachfragen lösen. Das Verhältnis der Lebensbereiche selbst ist gestört. Aber dieses Verhältnis ist im Grunde nicht definierbar. Jede dieser Bewegungen, die wir so deutlich erlebt haben und noch erleben und die tief in die Wirklichkeit eingreifen, sind doch in Verlegenheit, wenn sie das wirkliche endgültige Ziel auch nur einigermaßen konkret umschreiben sollten. Alles, was sie tun und tun können, ist grundsätzlich und immer nur ein Angeld auf die Seligkeit, immer nur eine Etappe auf ein letztlich transzendentes Ziel. — Es ist etwa in keiner Weise verständlich zu machen, wieso die Differenz zwischen dem geltenden Betriebsverfassungsgesetz und den Forderungen der Gewerkschaften so fundamental sein soll, daß die Arbeiterschaft „kaum noch als Sozialpartner” zu bezeichnen ist. Es ist in Wirklichkeit nur sehr bedingt festzustellen, worin denn konkret die grundlegend neue Sozialordnung, die echte Neuordnung zu finden wäre, von der so viel geredet wird. Die konkretisierbaren Ziele sind durchaus diskutabel, aber es ist nicht ersichtlich, inwiefern gerade sie nun das problematische Verhältnis grundlegend ändern könnten. Das heißt, die letzten Ziele bleiben im Hintergrund und müssen es bleiben, weil sonst die eschatologische Spannung des grundsätzlichen Gegensatzes, des ganz Anderen verloren ginge. Das heißt: eine solche Bewegung ist grundsätzlich unbegrenzbar, ist friedlos, genau so wie Hitler in der Stoßrichtung seiner Außenpolitik aus inneren Gründen unbindbar, unbegrenzbar war. Das begründet zwar ein starkes Pathos, aber zugleich eine große Verlegenheit für die Programmatik, die das Wesentliche auszusprechen unfähig wird. Es zeigt sich hier, daß das Pathos der gesamtmenschlichen Einheit die Struktur des Politischen als eines immer Partikularen grundsätzlich in das (Pseudo-)Religiöse wandelt. Zum Wesen des Religiösen gehört die Universalität, die Ganzheit des Anspruches. Dieses (Pseudo-)Religiöse hat aber
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kein Gegenüber, weder Gott noch die Menschen; denn mit beiden müßte es in ein ganz bestimmtes Verhältnis kommen; gegenüber den Menschen aber wäre dies wieder ein politisches Verhältnis, das grundsätzlich mit der Existenz einer anderen Größe rechnet. Also wieder eine Pluralität! Diese Größen aber haben ihren wesentlichen Sinn nur in der Selbstverwirklichung ihrer Ganzheit, der neuen Gemeinschaft, in der ein Andersartiges keinen Platz hat. Gerade das Gemeinschaftspathos also verdeckt die Aufhebung der Mitmenschlichkeit durch die Aufhebung des Politischen.
2. Mit dem Geschilderten hängt die katholisierende Sozialstruktur aller dieser Bewegungen zusammen, die etwa für den Nationalsozialismus schon oft bemerkt und geschildert worden ist. Weil die Herstellung der Gemeinschaft, der Einheit der gesamtmenschlichen Existenz aus einem Zentralprinzip das Ziel, und jede einzelne Handlung nur ein Schritt auf dem Wege dahin ist, darum ist auch die bloße Zugehörigkeit zu der Gemeinschaft der Gläubigen schon selbst wiederum ein Angeld auf die schrittweise Verwirklichung des Endzustandes, darum auch für sich schon ein Wert. Deswegen gewinnt auch das Mitglied als solches eine es auszeichnende Bewertung ohne Rücksicht auf seine sonstigen Fähigkeiten und Leistungen. Deswegen gewinnt die parteipolitische Durchsetzung des Staatsapparats, der Betriebe usw. ohne Rücksicht auf öffentliche Interessen eine Rechtfertigung und den Charakter einer Mission. Die Politisierung aller Beziehungen wird zum sittlichen Gebot, ohne Rücksicht auf die menschliche Zerstörung — denn diese Gemeinschaft ist gleichbedeutend mit „Freiheit”.
Wir haben also zwei große Gedankenrichtungen und -Bewegungen im modernen politischen Leben: den Versuch, sich von der politischen Ursünde zu befreien und den entsprechenden Versuch, wieder zur Einheit der menschlichen Existenz, zur Gemeinschaft zu kommen. Beide stammen aus der gleichen Wurzel und ergänzen einander. Insgesamt handelt es sich immer um ein Einheitsproblem: der Pluralismus baut sich auf der objektiven Einheit der Vernunft auf und überlastet die subjektive Einheit des menschlichen Bewußtseins. Der Einheitsmythos versucht die objektive Einheit der Lebensbereiche über die Anspannung des ideologischen Geschichtsbewußtseins wieder herzustellen, (die er an die Stelle der kosmischen und daraus abgeleiteten gesamtmenschlichen Ordnung setzt). Aber zugleich stehen das Pathos der Freiheit und das Pathos der Gemeinschaft auch in einem tiefen Gegensatz. Schon vor 25 Jahren hat der amerikanische Staatsrechtslehrer Nicholas Murray Butler die Lage klassisch dahin zusammengefaßt:
„Der Kampf zwischen Freiheit und Gleichheit hat begonnen; die Geschichte der kommenden Jahrhunderte wird im Zeichen dieses weitreichenden Streites geschrieben werden.” (Vgl. Dombois, Menschenrechte und moderner Staat, in „Glaube, Recht, Europa” S. 35).
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Die Geschichte hat seiner Voraussage recht gegeben. Wir haben erlebt, daß wir Gleichheit nicht in der Freiheit, und Freiheit nicht in Gleichheit zu haben vermögen. Die Freiheit vermag keine Gleichheit herzustellen, und die Gleichheit keine Freiheit zu gewährleisten. Es zeigt sich, daß die antichristliche Trinität der „Freiheit durch die Gleichheit in der Brüderlichkeit”, in Wahrheit eine sehr unheilige Dreiuneinigkeit ist, die die Welt in tödliche Gegensätze treibt. Aber die schärfste Kritik an den Erscheinungen und die schonungslose Darstellung der Zusammenhänge und Folgerungen darf nicht im Mindesten die Erkenntnis verkleinern, daß nun jeder dieser drei Bewegungen ein echter Problemkreis zugrundeliegt, ein Lebensbereich, der durch den Mangel an schlüssiger und sinnvoller Zusammenordnung mit den anderen krank geworden ist. Das gilt für die nationale Bewegung wie für die soziale. Ich habe darauf verzichtet, diese vorzugsweise dem Staatsproblem gewidmete Untersuchung hier auch auf die zwischen-völkischen Probleme auszudehnen. Es gilt auch für den Klerikalismus; der Anspruch des Glaubens an den Menschen ebenso wie die öffentliche Bedeutung der Kirche wird in der Form, wie sich die Liberalen das gern vorstellen, in keiner Weise sinngemäß zur Auswirkung gebracht.
Das Problem der politischen Existenz hat sich in einer so tödlichen Weise zugespitzt, daß mit größtem Ernst über die notwendige Diagnose hinaus die Möglichkeiten der Therapie gesucht werden müssen. Die Kirche würde eine echte Aufgabe versäumen, wenn sie zu einer so zentralen Frage nichts zu sagen wüßte.
Vieles würde freilich schon dann geleistet sein, wenn wenigstens ein großer Teil der ideologischen Vorstellungen durch die Aufdeckung der Beweggründe und der Struktur, durch echte Existenzerhellung ausgeräumt werden könnte. Die bitteren Erfahrungen der Gegenwart haben durch die Ernüchterung weiter Kreise, gerade der Jugend, durch die Abkehr von ideologischer Betrachtung schon manche Frucht gebracht. Aber die Verneinung der Ideologie reicht nicht aus, wenn ihr Antrieb und ihre Berechtigung, kurz das Sachproblem überhaupt nicht verstanden wird.
Den notwendigen Folgerungen, den Forderungen, die auf Grund dieses Befundes zu erheben sind, wenden wir uns im nächsten Kapitel zu.
Zu diesen Sachproblemen gehört die Erkenntnis, daß der Mensch — als geschichtlicher, mit dem wirklich etwas geschieht! — sich aus dem nur Gegebenen, dem zyklisch sich Wiederholenden immer in eine neue Existenz transzendiert. Daß dies in der hegelschen Staatslehre nicht oder jedenfalls nicht wirksam enthalten war, machte ihre geschichtliche Unwirksamkeit aus. Indessen sind wir nun gerade an dem Punkte angelangt, wo alle transzendenten Ziele, alle Vorstellungen mit einem metaphysischen Geschichtssinn, wie sie im Nationalismus, Marxismus und Klerikalismus ausgebildet sind, als Mythen sich erweisen. Diese
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— sehr viel berechtigtere — Entmythologisierung darf indessen niemals daran vorbeigehen, daß es sich eben um echte Existenzbereiche handelt, die hier hypostasiert, verabsolutiert worden sind. Fällt jene Spannung auf die letzten Dinge als innere Antriebskraft fort, so wird plötzlich das Weltgeschehen wie eine Bühne, wo das Spiel zuende und die Scheinwerfer abgeschaltet sind, die die Illusion herbeigeführt haben, und wo nun im nüchternen Tageslicht aufgeräumt wird. Die politischen Traumfabriken sind zuende, aber es fällt dem Publikum schwer, sich aus der so gern gesehenen und doch so unwahren Welt wiederzurückzufinden. Dann aber beginnen die echten Existenzfragen. Wenn politische und soziale Fragen wichtig und dringend, aber nicht mehr metaphysischen Gewichtes sind, so fragt sich, wohin sich der Mensch dann transzendiert. Wenn in einer engen Welt nationale Fragen nicht mehr unter dem Gesichtspunkt einer reichsbildenden Expansion, soziale Fragen nicht mehr als grundsätzlicher Umsturz, sondern beide als Ordnung zwischen teils stabilen, teils variablen Faktoren betrachtet werden müssen, so ist der Mensch aus der linearen Geschichtsphilosophie des Fortschrittes herausgerissen, indem er an unübersteigbare Schranken kommt. Gegenüber dieser Situation ist der orthodoxe Marxismus der größte denkbare Anachronismus. Denn mit dieser Erkenntnis ist dem Menschen die Verfügung über das Geschichtsziel — auch nur durch gehorsamen Vollzug — aus der Hand geschlagen. Dies vorausgesetzt wird der Mensch zwischen zwei Möglichkeiten stehen, die ihn über sich hinausführen: dem Glauben und der Technik. Es geht darum, ob er die Welt wandelt oder ob er sich wandeln läßt. Aus diesem Gegensatz kann eine apokalyptische Scheidung oder aber eine neue Möglichkeit werden.