Gedanken über eine evangelische Begründung des Elternrechts
1958
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I
Die mir gestellte Aufgabe ist die Erörterung, ob es eine biblisch-evangelische Begründung des Elternrechtes im Bereiche der (vom Staat oder anderen öffentlichen Rechtsträgern verwalteten) Schule gibt. Es geht also nicht um eine Auseinandersetzung mit den schulrechtlichen Verhältnissen bestimmter Länder, etwa der Bundesrepublik Deutschlands, sondern um eine rechtstheologische Grundlagenprüfung. Die Folgerungen müßten für die verschiedenen Verhältnisse gesondert gezogen werden, die Grundsätze allgemein anwendbar sein.
Eine solche Prüfung muß im Zusammenhang mit der ökumenischen Entwicklung rechtstheologischer Probleme stehen und deren Ergebnisse im Auge behalten. Die ökumenischen Forschungen vor dem zweiten Weltkriege, insbesondere in den dreißiger Jahren haben sich vorzugsweise auf das Staatsproblem gerichtet, das angesichts der Auseinandersetzung mit dem Totalitarismus nahelag. Sie berührten sich naturgemäß schon hier mit unserer Frage, blieben jedoch noch so sehr im Allgemeinen, daß eine konkrete Beantwortung unserer Frage von ihren Ergebnissen her nicht möglich ist. Demgegenüber sind in jener Zeit die Fragen der theologischen Begründung des Rechtes zurückgetreten. Jedoch bedeutete die 1937 veröffentlichte Schrift von Karl Barth „Rechtfertigung und Recht” einen wesentlichen Einschnitt, wenngleich ihre Auswertung erst nach dem Ende des Krieges erfolgen konnte. Ihr Ertrag lag zunächst nur darin, daß alle Denominationen in einer theologisch beachtlichen Weise auf diese Frage gestoßen und zu ihrer durchgreifenden Bearbeitung angeregt wurden. In der Folge entstand eine ziemlich umfangreiche Literatur, über welche Heinz Horst Schrey in längeren Abhandlungen berichtet hat1. Eine gemeinsame, verantwortliche Arbeit auf diesem Gebiet fand auf zwei deutschen und einer ökumenischen Konferenz statt (Göttingen 1949, Treysa I und II 1950). Die ökumenische Konferenz (Treysa II) war insofern von besonderer Bedeutsamkeit, als dort namhafte Vertreter aller großen protestantischen Denominationen der Ökumene das Problem der Rechtstheologie, der Gerechtigkeit in biblischer Sicht, als ein legitimes Thema theologischer Arbeit gemeinsam aufnahmen. Über die Konferenzen ist in kleinen Schriften „Kirche und Recht2” und „Die Treysa-Konferenz3” dokumentarisch berichtet worden. Die drei Konferenzen bilden insofern eine Einheit, als Ansatz und Ergebnisse in sehr hohem Maße übereinstimmten auch in den Punkten, wo
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die Teilnehmer in gewissen Richtungen auseinandergingen. Es haben nämlich von vornherein die Lutheraner den Ansatz Karl Barths über einen Zusammenhang von Rechtfertigung und Recht inhaltlich nicht übernommen, so daß im Endergebnis zwei Hauptauffassungen hervortraten; man hat sich gewöhnt, diese — vielleicht nicht allzu glücklich — als trinitarisch-heilsgeschichtlichen und christologischen Ansatz zu bezeichnen. Dabei darf nicht verkannt werden, daß zwischen beiden auf weite Strecken Übereinstimmung besteht. Beide Richtungen repräsentieren bis zu einem gewissen Grade den unterschiedlichen Ansatz von lutherischer und reformierter Theologie. Dabei ist die Tatsache interessant, daß die übrigen Denominationen durchgängig jeweils mehr der einen oder anderen Grundrichtung gefolgt sind.
Zu unserem Thema haben diese Arbeiten eine dreifache Beziehung:
1. Eine theologische Begründung des Rechtes ist hier in einem echten consensus ecclesiae als eine legitime theologische Aufgabe und Möglichkeit anerkannt worden. Es kann also das Recht nicht in den Bereich belangloser Äußerlichkeit im Verhältnis zur geistlichen Innerlichkeit des glaubenden Menschen verwiesen werden. Damit hat die evangelische Theologie eine beträchtliche und bisher noch keineswegs bewältigte Aufgabe übernommen, in einer Weise, die bis dahin noch nicht außer Zweifel gewesen war. Diese Entscheidung war jedoch zweifellos notwendig. Denn von eh und je hat die christliche Theologie eine Lehre vom Recht gehabt und haben müssen. Auch eine relativ rechtsfeindliche und rechtsfremde Theologie, wie die der griechischen Kirche, welche insbesondere eine Naturrechtslehre ablehnt, ist eine sehr weittragende und verantwortliche Entscheidung in diesem Bereich, weil die Kirche auch für das verantwortlich ist und bleibt, was sie freigibt.
2. In den Debatten dieser Jahre, insbesondere aber in Göttingen, spielte die weit verbreitete Schrift des französisch-reformierten Juristen Jacques Ellul aus Bordeaux eine Rolle.4 In dieser war die Rede von den sogenannten „Institutionen”: Staat, Ehe, Eigentum usw. Damit war schon die Frage nach dem Verhältnis solcher Institutionen zueinander grundsätzlich gestellt, wenn diese Frage auch zunächst gegenüber der allgemeinen Fragestellung nach der theologischen Begründung des Rechtes nicht zum Austrag kam.
3. Nach Treysa wurden die Fragen der wissenschaftlichen Debatte im einzelnen überlassen. Eine verantwortliche Fortführung in einer Gemeinschaftsarbeit fanden sie jedoch in den Arbeiten der Eherechtskommission der Evangelischen Kirche in Deutschland, welche unter dem Vorsitz von Professor D. Dr. Friedrich Karl Schumann im Christophorus-Stift in Hemer seit 1951 tagte. Aus dieser Arbeit wiederum ist eine Fortführung der Bemühungen von Göttingen und Treysa in Richtung auf das Problem der Institutionen entstanden. Eine Arbeitsgemeinschaft von Theologen und Juristen hat seither sich mit diesem Gebiet befaßt. Die ersten grundlegenden Ergebnisse sind in der kleinen Schrift „Recht und Institution5” in Form von Thesen wiedergegeben
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und dargestellt. Mit dem Begriff der Institution stieß man wieder darauf, daß es sich hier um eine Mehrzahl von vergleichbaren Erscheinungen handelt, wodurch die Frage ihres Verhältnisses gegeben ist.
Die Eherechtskommission hatte sich konkret mit den Folgerungen aus dem Grundsatz der Gleichberechtigung der Geschlechter sowie mit dem Verhältnis von Staat und Kirche auf dem Gebiet der Eheschließung (obligatorische oder fakultative Zivilehe) zu befassen. In beiden Richtungen stieß sie auf den Begriff der Ehe. Während man zunächst erwog, die Ehe durch die Aufnahme einer Definition in das Gesetz vor Mißbräuchen und Auflösung zu schützen, erkannte man später, daß dieser Versuch nicht nur praktisch unmöglich, sondern auch grundsätzlich verfehlt gewesen wäre. Denn die Ehe als eine Vorgegebenheit entzieht sich gerade einer abschließenden philosophischen oder juristischen Definition, so gewiß sie im einzelnen in ihren hauptsächlichen Merkmalen umschrieben werden kann und muß. Es zeigte sich, daß die Ehe nicht nur eine Gegebenheit war, sondern eine Größe mit einer ganz bestimmten, beschreibbaren Struktur, daß diese Struktur aber mit dem in der lutherischen Theologie gebräuchlichen, freilich sehr umstrittenen Begriff der Ordnung nicht zu erfassen war. Man begriff die Institutionen als Stiftungen Gottes, als Gebilde mit bestimmten Kennzeichen und Elementen. Diese Merkmale wurden in Teil III der Thesen der erwähnten Schrift „Recht und Institution” (S. 72 f.) folgendermaßen umschrieben:
„a) Institutionen sind der Ausdruck typischer
Beziehungsformen, die weitgehend gestaltungsfähig, aber im
Grundriß vorgegeben sind.
b) Die Verwirklichung der Institutionen bedarf des Aktes einer
Annahme. Dieser Akt hat Entscheidungscharakter und ist als
solcher eine Hingabe. Durch den Vollzug von Annahme und Hingabe
werden Institutionen nicht erst geschaffen.
c) Die Institutionen sind in ihrem Grundriß unverfügbar. Sie
können zwar beschrieben und in Einzelheiten ausgestaltet, aber
nicht abschließend definiert werden.
d) Die Institutionen beziehen sich auf diejenigen
Grundverhältnisse menschlichen Daseins, die den höchsten Grad der
Existenzialität besitzen.
e) Die Wirklichkeit von Institutionen ist nicht nur ein Zustand,
sondern ein Vorgang. Im Stiftungscharakter der Institutionen ist
die Einheit von Zustand und Vorgang beschlossen. Der Versuch,
beide Momente voneinander zu lösen, verfehlt den Tatbestand.
f) Die Stiftung Gottes nimmt den Menschen in
Verantwortung.”
Als offene Fragestellungen ergaben sich von daher insbesondere die weiteren, für diese Untersuchung wesentlichen Punkte (a.a.O., IV b) und c)):
„Wie verhält sich der Gestaltungswandel der Institutionen
zu dem heilsgeschichtlichen Stiftungsvorgang?
Wie verhalten sich die Institutionen zueinander? Kann eine über
die andere verfügen? Ist eine von ihnen ohne ihre Gesamtheit
denkbar? Stehen sie in einem Rangverhältnis?”
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Seither hat sich diese Arbeitsgemeinschaft parallel zu dem früher erörterten Modell der Ehe mit dem Problem des Staates als Institution befaßt. Auch hier tauchte wiederum die Frage nach dem Verhältnis der Institutionen zueinander auf. Als vorläufiges Ergebnis der noch nicht abgeschlossenen Gespräche kann man verzeichnen, daß die angeführten Kriterien sich in der Bearbeitung verschiedener Institutionen bewährt haben; es ist jedoch die Durchführung für die Gesamtlehre noch nicht abgeschlossen.
Auf diesem Hintergrunde ist also auch die eingangs gestellte Frage als eine solche nach dem Verhältnis mehrerer konkreter Institutionen, mindestens zweier (Ehe-Familie und Staat, bzw. Ehe-Familie, Staat, Kirche), zu verstehen. So unentbehrlich die Kenntnis und Berücksichtigung der Vorergebnisse aus den beiden Arbeitsabschnitten 1949/50 Göttingen-Treysa und 1955/57 Hemer für unsere Erwägung ist, so trifft doch die Frage uns im Stande der Gedankenentwicklung und fordert mehr, als die Arbeitsgemeinschaft selbst im Augenblick an gesicherten Erkenntnissen zu bieten hat. Es gilt also ihre Ergebnisse zu benutzen und fortzubilden. Bevor das unternommen wird, muß zunächst die Tragweite der schon vorliegenden präzisierten Thesen klargestellt werden:
1. Handelt es sich bei den Institutionen um Stiftungen Gottes, Ergebnisse eines speziellen Aktes göttlicher Setzung und Anordnung, so ergibt sich schon daraus, daß die eine Institution nicht aus der anderen abzuleiten ist, daß die eine nicht in der anderen aufgehen, ihr nicht zur Verfügung stehen kann und daß sie sinngemäß nicht in grundlegendem Widerspruch zueinander stehen sollten. Gott schafft keinen abstrakten Menschen an sich, sondern stellt diesen Menschen von vornherein ausdrücklich in ganz bestimmte Bezüge.
2. Sind Institutionen weder abschließend definierbar, noch von der menschlichen Existenz ablösbar, so ist damit der in der scholastischen Sozialtheorie wesentlich bestimmende rationale Zweckgesichtspunkt als Leitgedanke bereits bei Seite gestellt und kann nur noch eine Teilbedeutung beanspruchen. Der existentielle Charakter der Institutionen geht nicht auf in einer teleologischen Zweckbestimmung.
3. Andererseits bedeutet die im Institutionenbegriff vollzogene Verbindung von Vorgang und Status, von Entscheidung zur Annahme und Zustand einen zukunftsweisenden, konstruktiven Ausgleich der Haupttendenzen der lutherischen und der reformierten Soziallehre. Denn während die lutherische Stände- und Ordnungslehre wesentlich auf die Gegebenheit des Stehens in den Ordnungen geblickt hat und die Bewährung des Glaubensgehorsams hier zu suchen unternahm, ist die calvinistische Linie vorzugsweise am Bundschluß, am Entscheidungscharakter, an der aktiven Gestaltung der erst zu schaffenden Ordnung interessiert gewesen.
Der gemeinchristlichen Theologie ohne Rücksicht auf die konfessionellen Ausprägungen wird es nicht schwer fallen, in Ehe und Staat als Institutionen Stiftungen Gottes zu erkennen. In diesem Sinne hat sich etwa auch für die
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Ehe die Spandauer Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland programmatisch ausgesprochen6. Ebenso hat die gemeinsame Lehre der Kirche von jeher den Staat als eine von Gott gegebene Lebensform des Menschen einschließlich seiner herrschaftlichen Züge ausdrücklich anerkannt und hat schwärmerische Versuche der Staatsaufhebung nicht nur praktisch abgelehnt, sondern ausdrücklich dogmatisch verurteilt (als ein Beispiel für viele: Confessio Augustana Art. 16, desgl. die Apologie zum gleichen Artikel).
Angesichts dieser überlieferten Übereinstimmung weitreichender und grundlegender Auffassungen liegt offenbar die Schwierigkeit in der Verhältnisbestimmung dieser Verbände zueinander. Eben diese Schwierigkeit zeigt, daß es sich nicht nur um eine praktische Frage, sondern vor allem um ein sehr grundsätzliches Problem handelt. Die Frage ist nicht damit abgetan, daß eben zwei eindeutig bekannte Größen sich so oder so zueinander verhalten. Sie beginnt schon damit, daß zwar die Ehe vorgegeben ist und damit die Verantwortung der Ehegatten für ihre Kinder, daß aber dennoch die Familie als Verband so sehr ein geschichtliches Gebilde ist, daß ihr Verhältnis zu dem ebenso wandelbaren Gebilde des Staates nur sehr schwer grundsätzlich zu fassen ist.
Wir haben andererseits mit dem Grundsatz, daß die Institutionen als Stiftungen Gottes nicht übereinander verfügen können, ein außerordentlich weitreichendes Programm aufgestellt, welches mindestens außerhalb der Kirche nicht ohne weiteres Bejahung finden wird, weil die Begründung hierfür nicht angenommen wird. Man wird deshalb die Gründe sehr genau erwägen müssen, welche dieser Auffassung und ihrer allgemeinen Billigung entgegenstehen.
Es ist uns also insgesamt mit einer Ableitung aus allgemeinsten Grundsätzen nicht geholfen, sondern nur durch eine Verbindung von grundsätzlichen Erwägungen mit konkreten Beobachtungen und geschichtlichen Tatsachen.
II
Es wäre verwunderlich, wenn die uns bewegenden Fragen nicht auch schon in früheren Zeiten erwogen und beantwortet worden wären. Denn die Grundbezüge des Menschen, die in den Institutionen verfaßt sind, sind unbeschadet alles Wandels ihrer geschichtlichen Gestalt doch unwandelbar vorgegeben. Dabei muß voll beachtet werden, daß eben diese konkreten Formen vergangener Zeiten für uns vergangen sind, daß die Struktur von Familie und Staat etwa im Zeitalter der Reformation von den Lebensformen unserer Zeit entscheidend verschieden sind. Gerade die lutherische Theologie muß aus gegebenem Anlaß dringend davor gewarnt werden, aus ihrer Bindung an die Reformation sich von überlebten sozialen Leitbildern abhängig zu zeigen.
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Das wird kaum bestritten werden, und ist doch praktisch sehr viel schwieriger, als die Theologen oft meinen.
Trotzdem war es ganz legitim, wenn die Reformation sich in Gestalt etwa einer Art Ständelehre ein sehr bestimmtes Bild von dem Verhältnis der Verbände gemacht hat, in welchen der Mensch lebt. Eine solche Lehre konnte naturgemäß nicht dogmatisiert werden und ist es auch nicht worden. Sie war dennoch die gedankliche Form, in der eine verantwortliche Soziallehre der Kirche mit diesen Dingen fertig wurde. Sie hat in außerordentlichem Maße formende Wirkung in der praktischen Lebensordnung der lutherischen Völker gehabt, wie andere Konzeptionen im Bereich anderer Konfessionen. Eine solche Lehre hat auch Gefahren, ja Mißbildungen in sich geschlossen, die erst im weiteren Verlauf der Geschichte hervortraten und für uns höchst lehrreich sind. Denn jede solche Konzeption enthält immer und unausweichlich ein geschichtlich-kontingentes Moment, bedeutet immer die Ausscheidung oder Vernachlässigung anderer damit nicht vereinbarer oder ihr nicht entsprechender Gesichtspunkte. Ein sehr bekannter lutherischer Sozialethiker unserer Tage wurde von einem Geschäftsmann befragt, was er treibe. Er sagte: ich betreibe ein Fach, in welchem Fehlentscheidungen sich nach Jahrhunderten in sozialen Katastrophen auswirken. Der Frager hielt es daraufhin doch für besser, Möbel zu verkaufen.
Es ist zunächst für die Entwicklung der lutherischen Sozialethik beachtlich, daß in ihr der Begriff des Standes einen theologischen Wert erlangt hat, wie in keiner anderen Konfession und zu keiner anderen Zeit der Kirchengeschichte. Denn in der scholastischen Kirche etwa gab es zwar eine höchst entwickelte Ordolehre. In dieser aber überwog, unter den grundsätzlichen Voraussetzungen der Trennung von Klerus und Laien, doch die Zusammenordnung alles Einzelnen im Ganzen — und jeder Ordo ist eben nur eine Stellung im Ganzen. In der lutherischen Lehre trat dieses Ganze in den unerforschlichen Willen Gottes unerkennbar oder nur sehr bedingt erkennbar zurück, und das einzelne, freilich auch typisch, „In-einen-Stand-Gestellt-Sein” des Menschen trat in den Vordergrund. Weder die griechische noch die calvinische Kirche haben etwas Vergleichbares.
Um so wichtiger ist für unsere Betrachtung die Gesamtkonzeption, welche in der lutherischen Theologie über diese Verallgemeinerung und zugleich Vereinzelung des Standesbegriffs hinaus gebildet worden ist. Sie findet sich in der von Luther ausgehenden und dann weit und wirksam verbreiteten Dreiständelehre ausgeprägt. Wieder stoßen wir auf eine sehr unmittelbare Berührung mit unserer Frage. Die Dreiständelehre besteht in dem Nebeneinander von ordo oeconomicus, politicus und ecclesiasticus. Anders ausgedrückt wird dieser Gedanke in dem bekannten Wort Luthers, das matrimonium, die Ehe, sei fons, Quelle, oeconomiae, politiae et ecclesiae. Diese Lehre bedeutet eine wesentliche Umformung entsprechender Gedanken des
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Mittelalters. Denn soweit man dort ebenfalls mehrere oder drei Stände kennt, ist jedermann dem einen oder anderen Stande, diesem Stande aber exklusiv zugeordnet. Luther dagegen sieht einen jeden in allen drei Ständen bei aller sichtbaren und keineswegs verwischten Sonderung.
Freilich ist diese Konzeption auch bei ihm nicht vollständig durchgeführt. Radikale Konsequenzen hat sie eigentlich nur in Richtung auf die Aufhebung des Unterschiedes von Klerus und Laien gehabt. Auf dem Gebiete der weltlichen Stände bleibt doch der Mensch entweder im Regiment oder in der Ökonomie, bleibt Regierender oder Untertan, da von einer allgemeinen Staatsbürgerschaft noch nicht die Rede sein kann. Erst in der Gegenwart gleicht sich diese Spannung aus etwa in dem heute in der lutherischen Theologie auftretenden Gedanken, daß auch der gewählte Abgeordnete als Repräsentant ein Amt habe. Grundsätzlich freilich nimmt Luther mit der Dreiständelehre eine ganz moderne Situation vorweg, in welcher der Mensch — in einer für uns heute bedrohlich gewordenen Weise — in Schichten aufgelöst wird und nicht mehr zur Einheit des Lebens kommt. Diese Konsequenz des Seins in allen Ständen war naturgemäß zur Zeit Luthers noch nicht sichtbar.
Der Einheitspunkt für diese Auffassung liegt für Luther einerseits in der stiftenden und erhaltenden Wirksamkeit des Wortes Gottes, auf der anderen Seite beim Menschen erstaunlich und folgenschwer genug, wie sein Wort zeigt, in der Ehe als dem entscheidenden biblischen Grundtatbestand der Lehre vom Menschen. Von diesen beiden Einheitspunkten her aber ist auch diese Lehre in ihrer verbindlichen Wirksamkeit in Frage gestellt worden. Denn mit der Verweltlichung entfiel eben jene allgemeine Anerkennung der trinitarischen Stiftung und Begründung aller Lebensformen und Stände: die sozialgeschichtliche Entwicklung machte jene Ableitung aus der Ehe immer fraglicher. So konnte schon vor Jahrzehnten, in der Begründung vielleicht anfechtbar, in der Blickrichtung nicht so leicht zu bestreiten, ein religiöser Sozialist wie Georg Wünsch über den „Zusammenbruch des Luthertums als Sozialgestaltung” schreiben.7
Deswegen bedeutet die uns heute gestellte Frage nach dem Verhältnis etwa von Elternrecht und Staatsschule nicht nur eine Aufnahme einer sich immer stellenden Aufgabe der Verhältnisbestimmung von vorgegebenen Lebensformen, sondern auch eine notwendige Kritik an bedeutsamen Vorentwicklungen.
Da die allgemeine Begründung aller Ordnungen aus dem Worte Gottes und ihre Unterstellung unter dieses keinen konkreten Anhalt für die Verhältnisbestimmung der vorfindlichen Verbände darbot, fiel das Schwergewicht von allein auf jenen Gedanken von der Ehe als dem Quellgrund aller einzelnen Lebensordnungen. Das hat für lange Zeit sehr fruchtbare, auf die Dauer aber gefährliche, ja verhängnisvolle Wirkungen hervorgebracht. Denn alles nahm
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jetzt familienhaft-patriarchale Züge an. Die Herrschaft über die geschöpfliche Welt, das dominium terrae, dem Menschen verliehen, erschien in der Form des bäuerlichen und bürgerlich-handwerklichen Besitzes als ein selbstverständliches Attribut des Menschen, als ein übersehbares und ethisch wegen seiner Begrenztheit zu bewältigendes Problem. Als die Formen des Eigentums sich in stärkerem Maße vom Menschen ablösten und die Zusammenballung wirtschaftlicher Kräfte ein bedeutsames Eigengewicht gewann, fehlten die Anknüpfungspunkte, um diese Erscheinung auch nur in den Blick zu bekommen. So verschwand die überwältigende Mächtigkeit der geschaffenen Welt, die mit uns gefallen ist und in der die seufzende Kreatur der Erlösung harrt. Wir hätten nie eine solche Verbreitung eines radikalen ökonomischen Determinismus im Marxismus erlebt, wenn wir hier nicht stillschweigend unter dem Gesetz eigentlich im Widerspruch zur reformatorischen Gesamtkonzeption den Menschen in oeconomicis ein solches Maß von liberum arbitrium zugesprochen hätten. Sodann erschien der Staat als ein Hauswesen im Großen, welchem Fürsten und Magistrate so vorstehen wie der Hausvater. Die wesentliche Unterschiedenheit von Hausvateramt und politischer Herrschaft — qualitativ und quantitativ —, der Unterschied, der gerade durch die Steigerung der Quantität schon einen Unterschied der Qualität anzeigt, trat zurück. Eine solche Vorstellung war schon zur Zeit der Reformation ein politischer Anachronismus, der nur durch den politischen Zerfall des heiligen römischen Reiches ermöglicht und verdeckt wurde. In keinem anderen großen europäischen Lande hätte sich eine solche Vorstellung angesichts der politischen Wirklichkeit des beginnenden Nationalstaates behaupten können. Das allgemeine Priestertum wurde im Hausvateramt gesehen, ein guter und fruchtbarer Gedanke, der dennoch im Ganzen die Möglichkeit des Einzelnen auffällig überschätzt. Das lutherische Pfarramt mit seiner vorbildlichen Ehe- und Hausführung und die Gemeinde gewann ähnliche Züge. Mit dieser Schwergewichtsbildung aber verlor ohne eine direkte Lehre von kongregationalistischer Tendenz die Kirche in hohem Maße die Fähigkeit zu übergemeindlichen Bildungen, spiritualisierte sich die allgemeine Kirche, wiewohl ihre Einheit und Allgemeinheit immer noch Bestandteil des Bekenntnisses blieb; zugleich erhielt der patriarchale Staat weite Eingriffsmöglichkeiten in den Raum der Kirche, in Lehre, Bekenntnis, Amt und Gottesdienst.
Dies alles in seiner einfachen Durchgängigkeit hat höchst prägende, durchhaltende Kräfte, liebenswerte Lebensformen hervorgebracht — solange seine höchst vergänglichen geschichtlichen Voraussetzungen andauerten. Aber bis hin zu Jochen Kleppers liebevoller Darstellung Friedrich Wilhelm I. von Preußen hat man nicht begriffen, daß dies vergehende Formen waren und daß gerade dieses Patriarchentum eine letzte barocke Übersteigerung, eine Endform staatsrechtlicher Formbildung war. (Über die Phasen staatsrechtlicher Formbildung vgl. meine Abhandlung „Politische und christliche Existenz”
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in dem Sammelband „Macht und Recht”, Beiträge zur lutherischen Staatslehre der Gegenwart.)8 Es war ein statischer Personalismus, ungeschichtlich auf Voraussetzungen beruhend, die er nicht geschaffen hatte, und außerstande, sich selbst geschichtlich in eine neue Form zu verwandeln. Ich bin weit entfernt, ein billiges Urteil über eine so große Bildung der Geschichte zu fällen. Man muß den ganzen Zauber eines intakten lutherischen Landes, wie etwa des Hinterpommern vor 1933, erlebt haben, wo jedermann mit ehrlicher Überzeugung in seinem Stande lebte, ohne auf den anderen zu schielen, vielleicht das Höchstmaß an sozialer Befriedung, welches eine Ordnung zu geben vermag. Ein führender Jesuit hat mir noch 1945 ehrlich bezeugt, welchen Eindruck auf ihn die Welt des lutherischen Bauerntums gemacht hat. Und doch stellt sich gegenüber dieser Statik heute in einer radikalen Weise die Wahrheitsfrage, die Frage, ob der hier vollzogene Ansatz zulänglich ist.
III
Der entscheidende Einwand gegen diese Konzeption besteht demnach darin, daß sie den Gesamtbereich menschlicher Bezüge und Lebensform doch zentral und geradezu monistisch von einem einzigen Leitbild und Formgedanken her sieht. Das wird noch deutlicher, wenn man den Gedanken des „Hauses” erwägt, welches ja unmittelbar mit Ehe und Familie verbunden ist. „Ich und mein Haus wollen dem Herrn dienen.” Aber auch die Staatswesen von damals sind das „Haus Österreich”, das „Haus Brandenburg” usw. Die Staatspolitik ist im christlichen Europa durch lange Jahrhunderte hindurch Haus- und Familienpolitik, Heiratspolitik und Erbstreit. Es wird noch einmal sichtbar, daß es sich um historisch-bedingte Lebensformen handelt. Denn weder das ältere Volkskönigtum mit seinem stark genossenschaftlichen Charakter, noch der moderne Staat können so verstanden werden. Zugleich aber wird sichtbar, wie sehr dieser durchgängige, einheitliche Gedanke der Erfassung besonderer Bezüge entgegensteht und damit gerade ein Hemmnis und Vorurteil für die Lösung unseres Problems darstellt, seit die Bedingungen dieser Lebensformen weggefallen sind. Der Gedanke der Ehe und des Hauses als Grundordnung löst sich nämlich, nicht ohne Zusammenhang mit parallelen politischen Entwicklungen, in die Einzelexistenz des Menschen auf. Zunächst ist es der einzelne glaubende Mensch, der nicht zentral im Ehestande, sondern in jedem der möglichen höchst differenzierten, aber grundsätzlich theologisch und ethisch gleichwertigen Stände gesehen wird — die getreue Dienstmagd ist mehr als der schlechte König. Dies verweltlicht sich dann in die sittliche Existenz jedes Menschen unter dem grundsätzlich und vorzugsweise allgemeingültigen Sittengebot. Die umfassende sittliche Gemeinschaft wird schließlich mit mehr oder minder ausdrücklicher Ausschließlichkeit der Staat. Ein so
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lebendig an Glauben, Theologie und Kirche interessierter, mutiger Denker wie Rudolf Sohm kann gelegentlich aussprechen, „heutzutage ist der Staat die einzige sittliche Gemeinschaft”. Ihm allein wird eine gewisse Objektivität zugesprochen, während die Kirche unter radikaler Verneinung ihres Rechtscharakters in eine spirituale Innerlichkeit verwiesen wird, die Ehe als sittliche Selbstverwirklichung des Einzelnen im Gesamtrahmen des Staates verstanden wird. Dem Staate wird das Rechtsetzungsmonopol zugesprochen, er wird als Quelle allen Rechtes verstanden. Von da aus kann die uns heute bewegende Frage überhaupt nicht mehr gestellt werden, weil Staat, Ehe und Familie jedenfalls unter den gegebenen geschichtlichen Bedingungen in keiner Weise mehr vergleichbar erscheinen, nicht mehr als Partner einer gemeinsamen Aufgabe, als Teilhaber eines gemeinsamen Rechtes erscheinen können. Sohm, der viel über Eherecht und Familienrecht gearbeitet hat, ist nicht im mindesten der Meinung gewesen, diesen beiden Lebensgebieten irgend etwas nehmen zu wollen. Er ist nicht im Sinne der Aufklärung oder des Marxismus familienfeindlich. Dazu ist er viel zu sehr bürgerlicher Historist. Und doch hat diese wesentlich vom Idealismus bestimmte Anschauung keinen echten Platz für unser Problem. Sie meint es gelöst zu haben und sieht noch nicht einmal die Möglichkeit eines Konflikts oder einer grundsätzlichen Konkurrenz zwischen Staat und Familie, solange sich der Staat in ihrem Sinne recht versteht. Es wird einleuchten, daß diese Skizze der Vorentwicklung für unsere Erwägung von unmittelbarer Bedeutung ist. Diese Gedanken wirken heute noch im bürgerlichen Liberalismus nach. Vor allem aber haben sie insofern geschichtliche Bedeutung, als wir diesseits ihrer stehend sie hinter uns haben und nicht über sie hinweg auf frühere Lösungen zurückgreifen können.
Der theoretische Pluralismus der lutherischen Dreiständelehre verdeckt deren praktischen Monismus. Mir scheint dies nun aber in einer bestimmten Verkürzung schon des exegetischen und systematischen Ansatzes zu liegen. Dies kam in einer dramatischen Szene auf dem Frankfurter Kirchentag 1956 zutage. In einem sehr beachtlichen Referat hatte Generalsuperintendent Günter Jacob, Cottbus, die Situation des heutigen Menschen von dem „Adam, wo bist du?” der Schöpfungsgeschichte her darzustellen unternommen. In der Diskussion trat der stellvertretende Ministerpräsident der Deutschen Demokratischen Republik Otto Nuschke mit dem Einwand auf, es gehe um eine andere Frage: „Kain, wo ist dein Bruder Abel?”. In der systematischen Theologie und der Sozialethik kommt von jeher der Geschichte des Falls mit Recht eine zentrale Stellung zu. Ich glaube jedoch, daß hier bestimmte Momente zu Unrecht zurückgetreten oder ausgefallen sind. Das Entscheidende des Falls wird mit Recht in der Trennung des Menschen von Gott durch seinen Ungehorsam gesehen, durch den zugleich das geschlechtliche Sonderungsbewußtsein entsteht. Wir sind hier sofort im Bereich
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des Geschlechterproblems und der Ehe. In den Verfügungen Gottes, die vor dem Fall in der Schöpfung wie nach dem Fall die menschliche Existenz ordnen, trägt jedoch diese Zuordnung der Geschlechter keinen exklusiven Charakter. Parallel zu dem Gebot „seid fruchtbar und mehret euch” tritt das Gebot auf, sich die Erde untenan zu machen, wird dem Menschen das dominium terrae verliehen. Nach dem Fall aber wird die neue Situation wiederum in zwei parallelen Richtungen neu geordnet: durch die Belastung und Erschwerung sowohl des Kindergebärens, durch die Geschlechtsabhängigkeit wie durch die Auferlegung von Mühe und Schweiß, beides zusammen unter dem Zeichen der Sterblichkeit. Vollends aber tritt mit dem Brudermorde Kains eine neue Situation ein, die in der Geschichte des Sündenfalls noch nicht enthalten ist und sie grundsätzlich überschreitet. Das wird darin sichtbar, daß ja das erste Paar trotz seiner Schuld beieinander bleibt. Obwohl Eva Adam verführt und Adam sie beschuldigt, bleiben sie ganz selbstverständlich zusammen. Erst im mosaischen Gesetz, nicht in der Prototypik der Genesis, tritt die Möglichkeit der Scheidung auf. Sie ist in dem Gegeneinander des Paares eine Möglichkeit, aber nicht die typische und primäre Folge. Deswegen ist auch der Brudermord, gewiß bedingt durch den Fall überhaupt, doch nicht einfach nur ein Folgegeschehen. Das zeigt sich auch darin, daß eingangs von Gen. 4 eine besondere Entscheidung Gottes über das Opfer beider Brüder bezeugt wird und daß Gott die Lage nach dem Mord in einer ganz neuen Weise ausdrücklich ordnet. Er nimmt Kain die stabilitas loci seines Vaters Adam, läßt ihn unstet und flüchtig werden, belastet ihn also noch um vieles höher und sondert ihn zugleich durch das Kainszeichen ab, welches eine bisher zwischen den Menschen nicht vorhandene unübersteigbare Trennung, sei es der Einzelnen, sei es der Stämme, statuiert.
Es ist für die systematische Erwägung in der Soziallehre ganz unvermeidlich, gleichsam den soziologischen Grundbestand der biblischen Anthropologie in Erwägung zu ziehen und auszuschöpfen. Es zeigt sich aber hier, daß in diesem eng verwobenen und gewiß nicht disjunctive, nur separative verständlichen Geschehen sowohl der Raum der Ökonomie wie der des Politischen Wurzeln von relativer Eigenständigkeit besitzen. Relativ eben darum, weil nur das Gesamtbild wirklich die innere Sinneinheit einigermaßen erfassen läßt, Eigenständigkeit aber, weil jene anderen Momente nun eben nicht im Sinne eines Folgeverhältnisses abgeleitet werden können.
In der Arbeitskommission des Christophorus-Stiftes, die im Zusammenwirken mit dem Lutherischen Kirchenamt in den vergangenen Jahren die Frage der lutherischen Staatslehre der Gegenwart einer neuen Besinnung unterwarf9, zeigte sich, daß die Frage nach dem supralapsarischen oder infralapsarischen Charakter des Staates nicht ausgetragen war. Schon bei Luther finden sich widersprechende Stellen. Er ist überwiegend, aber eben doch auch nur überwiegend, der patristischen Tradition gefolgt und hat
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an dem supralapsarischen Charakter des Staates festgehalten. Das theologische Interesse an dieser Frage ist schwer auszumachen, aber m.E. auch nicht entscheidend für die Beurteilung. Sicherlich mag es Vergleichsmomente zwischen einer heilen Welt unter der Herrschaft Gottes und der Herrschaft eines rechten Staatswesens geben. Aber gerade das Spezifische dessen, was mit der Chiffre Staat untrennbar verbunden ist, das Moment des Politischen, ist nun eben in diese Vorstellung nicht übertragbar. Ja, es ist nicht einmal in den Bereich der Ehe in der gefallenen Welt übertragbar. Auch in den Spannungen einer Ehe unter gefallenen Menschen verhält man sich nicht politisch. Der Wortsinn verrät es eindeutig. Man ist liebevoll oder lieblos, aufopfernd oder selbstisch, aber niemals politisch. Man kann Familienpolitik treiben, indem man die Position der Familie etwa durch planvolle Heirat oder Erlangung sozialer Positionen zu anderen Familien oder Gruppen in ein bestimmtes Verhältnis bringt, nicht im Innenverhältnis. Von Familienpolitik kann man höchstens in den Verbandsformen der ausgedehntesten Großfamilien sprechen, wie sie noch aus unserer Zeit etwa die Quäkerin Nora Waln aus dem chinesischen Landpatriziat anziehend beschrieben hat. Das Spezifische des Politischen setzt einen bestimmten Grad von Trennung von Mensch und Mensch voraus, welche in der Ehe überhaupt nicht und in der Familie nur in extremen Formen stattfinden kann. Mit Recht hat man daher die besondere anthropologische Wurzel des Staates schon oft mit der Kainsgeschichte und der Trennung der Stämme durch sie in Verbindung gebracht. Die Soziologie der Frühgeschichte nimmt überwiegend drei Wurzeln des Staates an: eine patriarchale, eine matriarchale und eine im Männerbund, keinesfalls aber — auch nicht im Sinne der Prototypik — eine einheitliche Ableitung. Das Verhältnis der Ehegatten ist ein grundsätzlich anders strukturiertes als das der Brüder — sowohl in der Verbundenheit wie im Gegensatz. Was ganz deutlich und konkret hier auftritt und das bisherige überschreitet, ist ein genossenschaftliches Element. Denn schon jede Großfamilie wird nicht mehr vom Sippenoberhaupt als dem allgemeinen Vater allein, sondern von einem Rat der Alten regiert. Was den patriarchalen Staat des landesväterlichen Fürstentums als eine vergehende Endform kennzeichnet, ist gerade die Abtötung des genossenschaftlichen Moments, welches ehedem in der Heeresversammlung, im Volkskönigstum, im Lehnswesen und im Ständestaat lebendig ausgebildet war. Der ganz auf das Vaterprinzip gestellte Fürstenstaat war eine zum Untergang verurteilte Vereinseitigung. Er erzeugte das falsche Gegenbild eines rein genossenschaftlichen Staates, dem jenes herrschaftliche Moment völlig abgehen solle. Der Zusammenhang zwischen Patrimonium und Staat ist also grundsätzlich nur ein partieller. Jene mehr oder minder kritisch durchdachte Ableitung aus der Familie hat also nur einen teilweisen Wahrheitswert. Mit jener Einheitslösung wird ein sehr differenzierter Sachverhalt, ein Gefüge in unzulänglicher Weise vereinfacht.
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Wir brauchen diese Dinge nur bis zu dem Punkte zu erwägen, wo die Durchbrechung der monistischen Staatsbegründung deutlich wird.
Die eigentlich verhängnisvolle und bisher nicht bedachte und erkannte Folge liegt in einer anderen unausweichlichen Konsequenz jenes monistischen Ansatzes. Hat der Mensch seine eigentliche Existenz in der doppelgeschlechtlichen Einheit der Ehe, so werden die übrigen Bezüge notwendig entweder zu ontischen Akzidentien oder ethischen Funktionen dieses menschlichen Ansichseins. Der Einbruch des Subjekt-Objekt-Schemas und kausaler Kategorien in das Grundverständnis des Menschen wird so unvermeidbar und wirkt sich verhängnisvoll aus. Die Umsetzung ontologischer Kategorien in ethische (sogenannte und angebliche „personale”) ändert hieran nichts. Der Gedanke des Dienstes, der Dienstbarkeit aller Ordnungen und Bezüge übt hier eine geradezu verschleiernde Wirkung aus. Die unaufhaltsamen und gefährlichen weiteren Konsequenzen zeigen sich dann darin, daß aus dem Menschen, der grundsätzlich nur in der Zweiheit der Ehe existiert, der Mensch an sich, der Einzelne wird. Schließlich kann dann das Ansichsein des einzelnen Menschen in das Ansichsein der ganzen Menschheit in ihrer objektiven Geschichte dialektisch umschlagen, aus dem Mikrokosmos in den Makrokosmos. Diese Subjekt-Eins des Menschen, hinter welche nicht zurückgegangen werden darf, mag sie nun spiritual oder idealistisch verstanden werden, ist eine entscheidende Verkürzung des Menschen. Mit Recht und bedeutendem Ertrag hat Karl Barth versucht, diesen Irrweg zurückzugehen und im Ergebnis richtigzustellen, indem er im Zusammenhang der zentralen Aussagen der Gotteslehre auch die anthropologische Grundkonzeption von dem ganzen Menschen in den beiden Geschlechtern ins Auge faßte. Aber dieser Versuch muß nun doch fruchtlos bleiben oder erneut den Weg zu einem falschen Subjektbegriff eröffnen, wenn nicht grundsätzlich die Mehrschichtigkeit menschlicher Existenz bejaht und anerkannt, wenn nicht hinter diese Eins zurückgegangen wird. Es muß dabei nicht nur in Kauf genommen, sondern bejaht werden, daß die Zusammenordnung dieser Bezüge nicht einfach in einer schlüssigen, handhabbaren Formel dargeboten werden kann. Die Befreiung aus der Engführung eines monistischen Verständnisses ist schon an sich entscheidend wertvoll und ertragreich genug.
Es wäre freilich bedenklich, wenn wir über der Kritik gefährlicher Konsequenzen die echten theologischen Gründe verkennen würden, welche von jeher in der theologischen Anthropologie jene hervorragende Wertschätzung der Ehe herbeigeführt haben. Sie liegen wirklich in der Schrift selbst. Kein menschlicher Lebensbezug erfreut sich im Raum beider Testamente auch nur annähernd des gleichen Interesses wie eben die Ehe. Sie begleitet, worauf ich im Zusammenhang unserer eherechtlichen Forschungen hingewiesen habe, die ganze Heilsgeschichte. Wir finden sie im Urständ, im Fall, unter dem
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mosaischen Gesetz, unter dem direkten radikalisierenden Wort Jesu, in der apostolischen Paränese, sie erscheint gleichnisfähig für das Verhältnis Christi zur Gemeinde, also im Rahmen der Ecclesiologie, und sie unterliegt der eschatologischen Aufhebung. Diese eigentümliche Durchgängigkeit verleiht ihr einen Rang, kraft dessen sie eben mehr ist als eine unter anderen „Ordnungen”. Die theologische Tragweite dieser Tatsache ist noch keineswegs voll ausgeschöpft und erkannt. Unzweifelhaft wird weder von dem Verhältnis des Menschen zur Welt noch von dem zum anderen Menschen mit gleicher Betonung gesprochen. Die Ehe besitzt eine viel größere Konkretheit der Gestalt als die wechselnden Anforderungen des Liebesgebots. Gewiß seufzt die Kreatur mit uns in der gefallenen Welt, und Christus ist der andere Adam — dennoch bleiben diese Verhältnisse von ungleich größerer und zugleich umfassenderer Allgemeinheit. Aber eben dieses merkwürdige Besondere der Ehe kann nun nicht dadurch festgehalten und zum Ausdruck gebracht werden, daß man mit mehr oder minder großer Ausschließlichkeit von diesem Bezüge allein und primär ausgeht. Die Eherechtskommission war sich darin einig, daß ein weitreichender Verfall der theologischen Lehre von der Ehe eingetreten ist, und das ist sicherlich nicht ohne konstruktiven Grund.
Die Lehre von der Ehe hat ihren theologischen Ort in der Christologie und daher ihren Rang. Barth hat das Mann-Frau-Verhältnis zur Lehre von der immanenten Trinität in Beziehung gesetzt. In der Lehre von der ökonomischen Trinität hat sie ihren Platz durch ihre Abbildfähigkeit für das Verhältnis Christus-Gemeinde. Die Frage der Mitmenschlichkeit jenseits des Geschlechterbezuges hat jedoch ihren theologischen Ort in der Lehre vom heiligen Geist. Der heilige Geist ist die subjektive Möglichkeit der Offenbarung nicht allein im Blick auf den Einzelnen, sondern gerade durch die Überwindung menschlicher Selbstentfremdung in der Zerstörung der Brüderlichkeit. Deshalb hat der Spiritualismus immer von der selbstmächtigen Aufhebung der Differenz von Menschen- und Bürgerrechten, von der Überwindung des Staates geschwärmt. Aber sowenig der Prozeß, das Ausgehen des Geistes vom Vater und vom Sohne im Sinne einer konsekutiven Kausalität zu verstehen ist, sowenig kann eben diese Dimension menschlicher Existenz aus der Ehe hergeleitet werden. Die Alleinigkeit der Lehre von der Ehe als fons aller Ordnungen deutet auf eine Verkürzung der Lehre vom heiligen Geist in der systematischen Theologie hin.
Nach alledem haben wir in der Ehe wie im politischen Gemeinwesen anthropologische Grundtatbestände von theologischer Bedeutsamkeit vor uns. Als Ergebnis ihrer Betrachtung ist zunächst und vor allem festzuhalten, daß beide nicht auseinander abgeleitet werden können. Zu dem, was im Verhältnis dazu Familie bedeutet, braucht nicht in der gleichen Grundsätzlichkeit und Ausführlichkeit Stellung genommen zu werden. Es muß aber kurz erörtert werden.
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Die Familie geht aus der Ehe hervor. Das Verhältnis von Eltern und Kindern für sich allein ist wohl der Kern, aber für sich allein doch nur die reduzierteste Form von Familie. Es ist die Kleinfamilie. Von Familie im vollen Sinn kann doch nur geredet werden, wenn über das einzelne Eltern-Kind-Verhältnis hinaus der Generationenzusammenhang nach der einen und eine Mehrzahl von zusammengehörigen Kleinfamilien nach der anderen Richtung in Erscheinung tritt. Die Großfamilie bildet immer auch ein genossenschaftliches Element aus, welches die Kleinfamilie nicht aufweist.
Die Großfamilie als öffentlicher, insbesondere auch politischer Faktor ist fortgefallen. Heute geht es in der Familienpolitik, in der Geltendmachung der rechtlichen, sozialen, wirtschaftlichen Eigenständigkeit der Familie, in der Frage des Elternrechts um die Kleinfamilie, welche beträchtliche Traditionsreste der Großfamilie aufgenommen hat, aber deren Rolle doch nicht spielen kann. Das beanspruchte Recht auf Erziehung der eigenen Kinder stellt sich dar als Rechtsraum der Kleinfamilie, als personaler Raum, der heute wesentlich von der Einzelehe her bestimmt ist und in ihr sein Zentrum hat. Die Familie in diesem Sinne ist weniger objektive Ordnung als personal-subjektives Gestaltungsrecht der Ehegatten als Eltern.
In einem Vortrag über Elternrecht auf der Plenartagung der
Evangelischen Studiengemeinschaft im Jahre 195010 hat
Ernst Forsthoff hervorgehoben, daß dieser Begriff erst in der
Moderne als ein polemischer entstanden sei. Er sei noch der
Aufklärung wie dem Frühliberalismus unbekannt gewesen. Sachlich
enthalte er dreierlei:
1. Das Recht der Eltern, ihre Kinder selbst zu erziehen, gewendet
gegen ausschließliche oder allzu weit überwiegende Ansprüche der
öffentlichen Erziehung,
2. die auch von der Pädagogik bejahte Mitwirkung der Eltern an
der Arbeit der Schule,
3. das Entscheidungsrecht der Eltern über die religiöse,
insbesondere konfessionelle Erziehung (Konfessionsschule).
Das ist als positive Darstellung natürlich zutreffend. Die gemeinsame Voraussetzung für die Entstehung des Begriffes Elternrecht in seinen verschiedenen Perspektiven ist aber, daß überhaupt eine Differenz oder sogar ein Konflikt zwischen dem Elternwillen und der öffentlichen Erziehung hervortritt und zur Lösung drängt. Gerade dies aber ist lange Zeit, Jahrhunderte hindurch bis zur Moderne nicht der Falle gewesen. Schule und moderner Staat sind gemeinsam gewachsen. Der Rationalisierung des Staates, der bewußten Unterwerfung aller seiner Tätigkeiten unter abstrakte und allgemeingültige Regelungen ist auch die Rationalisierung des Schulwesens parallel gegangen: die Aufstellung einer Erziehungspflicht der Eltern und dann eine Umwandlung in eine Schulpflicht, der Schulaufsicht und -förderung in eine Schulgesetzgebung und umfassende Schulpolitik, die kaum noch eine Lücke
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für ein freies Wachstum offen läßt. Die Rationalisierung der Organisation wie diejenige des Denkens ist ihrer Natur nach außer Stande, sich selbst Grenzen zu setzen. Sie bedeutet zugleich eine der Erziehung tendenzmäßig fremde Entpersönlichung, auch wo sie nicht bewußt kollektivistisch ist. Mindestens entsteht zwischen Elternrecht und Familienerziehung und öffentlicher Erziehung eine außerordentlich große Spannweite, in der Probleme und Konflikte enthalten sind.
Zu den Kennzeichen und Gefährdungen des modernen Staates gehört die Schwäche der intermediären Gewalten, d.h. derjenigen Verbände, die zwar öffentlichen Charakter tragen, aber zwischen dem Staat als integrierendem Gesamtverband und dem personalen Raum des Einzelnen und der Familie vermittelnd stehen. Der moderne Staat ist ein gewaltiger massiger Körper auf unverhältnismäßig schwachen Beinen.
Intermediäre Gewalten gibt es nach zwei Richtungen: 1. vertikal als Territorialverbände, die alle Bewohner eines Gebietes umfassen, 2. horizontal als Personalverbände, welche bestimmte Schichten erfassen.
Zu 1. Das frühe Schulwesen ist sehr stark, ja ganz überwiegend von lokalen Trägern, Gemeinden, Stiftungskörpern usw. getragen. Mit zunehmender Durchbildung des rationalen Staatswesens werden diese zurückgedrängt. Ihre Wirksamkeit wird durch zentralisierende Gesetzgebung und Verteilung der Mittel ausgehöhlt.
Zu 2. Durch lange soziologische Entwicklungsphasen hindurch wird die Familienerziehung durch eine besondere Gruppenbildung der Jugend mit spezifischen Erziehungsaufgaben ergänzt oder abgelöst. Es macht die Schwäche der modernen Gesellschaft aus, daß sie zwischen Elternhaus und allgemeiner Staatsschule nicht mehr genügend eigenständige pädagogische Formen kennt, daß die öffentliche Schule mit ihren begrenzten Möglichkeiten empfindliche Lücken läßt, die sie nicht sieht und verdeckt. Es gibt freilich ein Menge durchaus nicht völlig abgelebter Reste solcher intermediärer Typen, wie z.B. die englische College-Erziehung, sodann bis zu einer offenkundigen Versteinerung das studentische Korporationswesen usw. Die Entwicklung dieser intermediären pädagogischen Gruppen durchläuft eine Reihe von Phasen. Sie ist.
1. Zunächst Gemeinschaftserziehung (Gemeinschaft im Sinne der Soziologie von Tönnies und van der Leeuw), d.h. jeder junge Mensch einer bestimmten Schicht muß sie durchmachen (Lehrlingswesen, studentische Nationen der alten Universitäten).
2. Sie ist dann Bundeserziehung, d.h. freiwillige Selbsterziehung von Teilgruppen, neben denen eine beträchtliche Zahl von Einzelgängern unerfaßt bleibt, welche freilich einer beträchtlichen beispielhaften Einwirkung von Seiten der geformten Gruppen unterliegen.
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3. Sodann versagt die Kraft selbsterzieherischer Gemeinschaftsbildung. Das Erziehungsproblem der von ihr nicht oder nicht mehr Erfaßten wird immer vordringlicher. Es tritt eine Notsituation hervor, die zu problematischen Ersatzlösungen führt, den Charakter des Auffangens trägt. Die Bundeserziehung ergreift die Gesamtheit noch so lange, als keine besonders starke pädagogische Gefährdung vorliegt. Die deutsche Jugendbewegung als Selbsterziehungsgruppe, welche in ihrem triebkräftigen Kern Fremderziehung ausschloß, stand kurz vor ihrem gewaltsamen Ende durch den Nationalsozialismus vor der schwierigen und tatsächlich ungeklärt gebliebenen Frage, wie sie sich zur öffentlichen Erziehung verhalte (Problem der freien Staatsjugend).
Das Verhältnis dieser Schichtungen von Familienerziehung, intermediären Erziehungsverbänden und Staat kann m.E. durch das sich hier anbietende katholische Subsidiaritätsprinzip nicht geklärt werden, weil dieses die qualitative Gleichartigkeit der Erziehungsaufgabe der einzelnen Erziehungsträger voraussetzt und den spezifischen Charakter der Aufgaben jedes einzelnen von ihnen verdeckt. Trotzdem muß dieses Verhältnis sachlich geklärt werden. Ethische Redensarten über die Verantwortung jedes Trägers reichen dazu nicht aus. In einer von Forsthoff zitierten Schrift Luthers, dem „Brief an die Ratsherren aller Städte Deutschlands, daß sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen” von 1524 sieht Luther mit Recht das Nebeneinander der Erziehungspflicht der Eltern und der Obrigkeit zu verschiedenen Zwecken, die aber, wie gesagt, damals nicht in einem möglichen Konflikt und Widerspruch gesehen werden konnten. In diesem Verhältnis, welches Gegensätze nicht notwendig enthält, aber auch nicht ausschließt und in der konkreten Situation von heute scharf hervortreten läßt, sind Elternrecht und Recht der öffentlichen Erziehung nicht absolute Rechte, sondern zueinander relativ, bei aller Eigenständigkeit. Damit ist auch das Elternrecht limitiert. Dieser Begrenzung unterliegt auch die öffentliche Pädagogik. Sie sollte ihre innere Begrenzung ehrlich zugestehen und erkennen, daß sie nicht alles kann. Sie sollte auch in wohlverstandenem eigenem Interesse und rechtem Selbstverständnis die intermediären pädagogischen Elemente stärken und nicht absorbieren. Eine exklusiv zentralistische staatliche Schulpolitik, welche jeder freien pädagogischen Betätigung von einer Monopolgesinnung aus mißtrauisch gegenübersteht, beruht auf einer veralteten Soziologie und Ideologie.
Forsthoff wirft in diesem Zusammenhang die Frage nach der rechtstheoretischen Grundlage des Elternrechtsanspruchs in evangelischer Sicht auf. Er sagt zunächst mit Recht — gegen laienhafte Vorstellungen gewendet —, daß noch nicht jedes überpositive Recht schon als Naturrecht zu bezeichnen sei. Aber jedes Naturrecht beruhe auf ontologischen Aussagen, und wo solche vorhanden seien, sei Naturrecht gegeben. Dafür findet er in der reformatorischen Theologie keine Grundlage. Er bildet also einen formalen Naturrechtsbegriff, in welchem der Naturbegriff durch jede Art von ontologischer
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Aussage ersetzt ist — um diesen Begriff dann in seiner erweiterten Fassung abzulehnen. Nun geht freilich die katholische Lehre vom Elternrecht im Rahmen der scholastischen Naturrechtslehre tatsächlich vom Naturbegriff aus und ist von diesem nicht abzulösen. Sie kommt von da aus typisch zur Ausbildung absoluter, wenn auch nicht unbegrenzter Rechte. Die Rechtsgeschichte und Rechtssoziologie dagegen weist aus, daß diese sich als metaphysisch gebende juristische Anschauungsform eine geistesgeschichtliche, historische Erscheinung ist, der auf anderen Gebieten etwa der Souveränitätsbegriff und das absolute Eigentum entsprechen. Nur ein geschichtsloses Denken kann darüber hinwegsehen. Die Abweisung dieser naturrechtlichen Mißlösung des rechtsontologischen Problems rechtfertigt andererseits keineswegs, dieses Problem als grundsätzlich unlösbar und gegenstandslos zu betrachten. Denn diese Anschauung ist ihrerseits eine historische. Sie gehört ebenso sehr der objektiven Rechtsgeschichte und ihrer Morphologie wie der Ideengeschichte des Rechts an (Umsetzung der Statusrechte in obligatorische und Funktionsrechte). Die morphologischen Belege dafür können hier im einzelnen nicht entwickelt werden. Sie ist im übrigen weitgehend abhängig von dem Gegensatz zur traditionellen naturrechtlichen Rechtsmetaphysik. Sie basiert in ihrer ausgebildeten Form auf der kantischen Rechtsphilosophie, und diese ist freilich — insofern hat Forsthoff Recht — durch den philosophischen Agnostizismus der lutherischen Reformation (Eiert) mitbestimmt. In Wirklichkeit muß die rechtsontologische Frage mit den Begriffsmitteln jeder Zeit gelöst werden. Die Theologie würde sich zur Magd einer historisch begrenzten und sachlich evident unzulänglichen Philosophie machen und ihre eigene Aufgabe aufgeben, wenn sie der rechtsontologischen Frage grundsätzlich auswiche. Dementsprechend hat die Institutionen-Kommission unter bestimmendem Einfluß von Gerhard Gloege gemeinsam folgendermaßen formuliert:
„Die Aussagen über die Institutionen stellen einen Sachverhalt dar, der sowohl ontologisch wie theologisch zu verstehen und auszulegen ist; denn in den Institutionen tut sich der Herrenwille Gottes in Gestalt ihrer ausdrücklichen Einsetzung kund. Mit dieser setzenden Stiftung durch das Wort Gottes ist ihr ontologischer Wirklichkeitsgrund gegeben, wenn anders die Theologie des geschehenden Wortes mit der theologischen Ontologie identisch ist.” (Recht und Institution, These II 4 a).
Daraus folgt zusammen mit dem anderwärts formulierten Satz, daß die Institutionen nicht übereinander verfügen können, daß sie zugleich aufeinander bezogen sind; diese Bezogenheit und positive Relativität wird in dem Zusammenhang des Erziehungsprozesses besonders deutlich. Die Institutionenlehre befreit uns also von den veralteten absoluten Denkformen der Naturrechtslehre, vermag aber deren berechtigtes Anliegen aufzunehmen. Wir brauchen daher auch nicht in der Verlegenheit stehen zu bleiben, mit der
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Forsthoff endet, der Frage nämlich, ob man das Staatsschulrecht wegen seiner Überdrehung als verwirkt ansehen und ihm unter Aufhebung der öffentlichen Schulpflicht die Anerkennung versagen solle, eine, wie er selbst nicht verkennt, unfruchtbare Fragestellung. Es erscheint mir vielmehr ebenso eine rechte Lehre der Kirche von den Stiftungen Gottes wie eine Forderung der Vernunft zu sein, beide, Elternhaus und Staat, wie alle Teilhaber dieses Vorgangs von ihren Absolutheitsansprüchen zu befreien und auf ihre gemeinsame, unvertretbare Teilhabe am Gesamtzusammenhang des Erziehungsprozesses, der Menschwerdung des Menschen, zu verweisen.
IV
Die so gewonnenen Erkenntnisse tragen also unmittelbare Früchte für unser Problem. Es geht darum, sie auf den Erziehungsprozeß als Vorgang anzuwenden. Der Erziehungsprozeß hat schon vom Worte her unmittelbare Beziehungen zum Institutionenproblem. Institution ist nicht nur ein Rechtsvorgang, der in einen rechtlich-sozialen Status führt, sondern Institution bedeutet zugleich Lehre, Einweisung, den Menschen in einen Stand setzen. Der Mensch wird dazu angeleitet, sich an dem Orte, an dem er steht, recht zu verstehen und in rechter Weise zu der personalen und sachlichen Umwelt zu verhalten, also sich selbst zu verstehen und sich in Beziehung zu setzen. An diesem Erziehungsprozeß des Menschen haben nun alle Institutionen ihren besonderen, unverwechselbaren, unvertretbaren, unvertauschbaren Anteil. Dieser Vorgang ist dabei gewissermaßen ein zyklischer: der jugendliche Mensch wird in ihm bis zu dem Zeitpunkt und Standort geführt, wo er seinerseits ehefähig, in der Gemeinschaft mündig und ökonomisch selbständig, berufen und in der Lage ist, wiederum am Erziehungsprozeß seiner Kinder aktiv mitzuwirken. Wir dürfen hier von dem Problem der Erwachsenenbildung als eines Sonderfalls im Grundsätzlichen absehen.
Die Institutionen repräsentieren je für sich Grundbezüge des Menschen, in denen er gehalten ist, über die er nicht verfügen kann, die insgesamt seinen Lebensraum ausmachen. Sie sind nicht Subjekte, die um einen möglichst hohen Anteil an dem Objekt des zu Bildenden ringen, sondern Teilhaber in einer vorgegebenen und nur bedingt variablen Zuordnung. Sie sind geborene Partner. Trotzdem haben sie als Repräsentanten und Sachwalter dieser Bezüge fast so etwas wie Personcharakter. Ehe und Familie repräsentieren und vollziehen die personale Überlieferung in Gemeinschaft und Gesellschaft, im Umgang mit dem anderen Geschlecht, mit anderen Alters- und Gesellschaftsschichten und die Kontingenz auch besonderer Berufstraditionen, die selbst für die moderne arbeitsteilige Gesellschaft von unvermindert hohem Wert und unentbehrlich sind, zumal sie mit höheren Anforderungen über das nur allgemein zu Fordernde hinausgehen. Das politische Gemeinwesen dagegen
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schützt die objektive Kultur und hilft bei ihrer Überlieferung an die jüngere Generation mit. Es kann die objektive Kultur als Gesamtzusammenhang nicht hervorbringen, sondern sie höchstens schützen und bei ihrer Überlieferung helfen. Es ist ein Irrtum anzunehmen, daß die Familie imstande wäre, die objektive Kultur in ihrem wesentlichen Bestände zu tradieren, soviel sie immer dazu beitragen mag. Von den Initiationsriten früher Kulturen bis zur allgemeinen Schulpflicht des Industriezeitalters ist von eh und je her der jugendliche Mensch von einem bestimmten Zeitpunkt an aus dem Familienbereich in denjenigen der Gemeinschaft und der objektiven Kultur eingeführt worden. Jungen und Mädchen werden zu der sexuellen Initiation von der Familie getrennt; der junge Edelmann muß zu Hofe oder auf Reisen, der junge Handwerker muß wandern usf. Es macht bis heute eine Schwäche des Bauerntums aus, daß es mit den alten Gemeinschaftsformen die Mittel transfamiliärer Erziehung verloren hat und sich zu ihnen nur sehr schwer bequemen will. Es tut sich schwer, dies in modernen Formen zu ersetzen.
Eigentümlich subjektlos ist der ökonomische Bezug. Er wird auch heute noch zum Teil, wenn auch abnehmend, von der Familie lehrmäßig tradiert, bei Handwerkern, bei Bauern, im geringen Maße im freien Berufe. Zum Teil sind es autonome Berufsverbände, welche sich der beruflichen Nachwuchsschulung widmen, zum Teil stellvertretend der Staat im Berufsschulwesen, auf der Hochschule usf. Hier sind sehr viel größere Schwergewichtsverschiebungen möglich als in den übrigen Bereichen.
Rudolf Smend hat uns im Institutionengespräch darauf hingewiesen, daß der Berufsbegriff dem Institutionsbegriff zugeordnet ist. Der Akt der „Annahme”, der bewußten Aufnahme und Intention des Eintritts in die Institution ist die Bejahung einer Berufung, eines Berufs. Wieder zeigt sich im Berufsbegriff die monistische Engführung der traditionellen Vorstellungen. Es gibt einen Beruf zur Ehe, der nicht jedermann verliehen ist, wie in der paulinischen Paränese sehr deutlich ausgesprochen ist. Dieser deckt sich nicht mit dem Beruf im allgemeinen Sinne der Umgangssprache, in welcher er den Status oeconomicus und politicus des Menschen, seine soziale und politische Position unscheidbar verbindet. Und schließlich gibt es die Berufung zum Kinde Gottes „viele sind berufen . . .” — es gibt also nicht nur einen, sondern immer mehrere Berufe des gleichen Menschen.
Die Beschränkung des Berufsbegriffs wiederum auf den politisch-ökonomischen Bereich steht in einem auffälligen Mißverhältnis zu der ebenso einheitlichen Ableitung aller drei Stände aus dem Matrimonium. Sie hat eine schrankenlose Funktionalisierung aller sozialen Beziehungen eingeleitet, deren verderbliche Wirkungen durch kein Gegengewicht gemildert werden und durch idealistische Hochspannung ethischer Anforderungen nicht bewältigt, sondern nur verdeckt werden können. Wieder ist es ein Monismus, der nun von der anderen Seite her das Verständnis für die Differenzierung menschlicher
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Existenz verbaut, welche er gerade freizugeben scheint. Das ältere Luthertum ist patriarchal, das neuere ist funktional — und beides verfehlt durch die Generalisierung des Gedankens in gefährlicher Weise die Wirklichkeit.
Aus dem Gesagten ergeben sich nun weiter eine Reihe sehr konkreter Schlußfolgerungen:
1. Das katholische Subsidiaritätsprinzip ist für unsere Frage unbrauchbar, weil außerstande, die Mehrschichtigkeit menschlicher Existenz und die Teilhabe verschiedener institutioneller Repräsentanten am Erziehungsprozeß zu umgreifen. Es bedeutet im Wesentlichen eine logische Umkehr des Prinzips der Hierarchie. Während im geistlichen Bereich nach dem scholastischen Schema das Allgemeine und Höhere das Niedere und Besondere regiert und ergänzt, ist im weltlichen Bereich das Niedere so auf eigene Vollkommenheit angelegt, daß das Allgemeine es nur im Notfall ergänzen soll. Angewendet auf das Familienproblem bedeutet dies die falsche Annahme, daß die Familie wenigstens im Idealfall in der Lage und deshalb auch grundsätzlich befugt sei, das Ganze des Erziehungsprozesses zu vollziehen und zu umgreifen. Das ist, wie gesagt, sowohl grundsätzlich anthropologisch wie konkret geschichtlich falsch. In dieser Anschauung wird die Familie zu einem Idealgebilde menschlicher Sozialität, welches allein von der übernatürlichen Ordnung der Kirche überhöht und ergänzt wird.
2. Ausgehend von der Pluralität der Bezüge, der Mehrschichtigkeit menschlicher Existenz kommen wir erneut im Sinne des eingangs formulierten Grundsatzes dazu, daß die Institutionen nunmehr auch hier als Teilhaber des Erziehungsprozesses nicht übereinander verfügen, d.h. sich nicht exklusiv oder konsekutiv zueinander verhalten können. Sie müssen einander ihr Recht lassen und können einander nicht über ein gewisses Maß beiseite drängen. Keine Elternselbstverwaltung kann, auch nicht in großen Verbänden von Elterngewerkschaften, sich an die Stelle der öffentlichen Schulpolitik setzen. Aber ebensowenig besitzt diese öffentliche Schulpolitik ein ausschließliches Recht, welches die konkrete Einzelentscheidung der Eltern über Bildungsweg, Bildungsziel und Berufswahl auszuschalten berechtigt wäre. Der notwendige konkrete Ausgleich der Rechte wird erfahrungsgemäß durch nichts so gefährdet als durch ideologische Vorstellungen absoluter Erziehungsziele, welche alles zugeben, nur nicht die vorgegebene Mehrdimensionalität des Menschen. Die Schulpolitik könnte sehr entgiftet werden, wenn die Romantik der autarken Persönlichkeit wie die Romantik einer vollkommenen Gesellschaft gründlich abgestoßen würde. Beiden, Familie wie Staat, sind personale wie sachliche Momente immanent wie aufgegeben. Aber beide sind auch unter diesem Gesichtspunkt keine festen, metaphysisch-geschichtslosen Größen. Im Gegenteil: die zunehmende sachliche Funktionsunfähigkeit der Familie auf wesentlichen Gebieten der Erziehung, wie zugleich die bewußt vorgetriebene
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wie unbewußt sich vollziehende Entpersönlichung des Staates erfordern Aufmerksamkeit und erregen Besorgnis.
Es wird begreiflicherweise nach den Mitteln und Formen des Ausgleichs zwischen Familie und Staat gefragt werden. Seine Voraussetzung, nicht sein Mittel ist zunächst die Einsicht, daß überhaupt ein Ausgleich zwischen verschiedenen Beteiligten gefunden werden muß, deren Rechte keine absoluten, sondern relative und Mitwirkungsrechte sind. Dieser Ausgleich ist, wie auch das Referat von E. Stein zeigt, schon von Staatsdenkern sehr verschiedener Art gefordert worden. Sein eigentliches Hindernis liegt darin, daß hier der Staat als der Träger des größten Teiles des Schulwesens regelmäßig zugleich auch in eigener Sache entscheidet, wieweit er solchen Mitwirkungsrechten Raum geben will. Er ist deswegen auch nicht einfach als „übergreifende Ordnung” zu bezeichnen (so Joest). Er ist das, aber nicht als prima ratio, sondern nur als ultima ratio. In begrenztem Umfange kann diese ultima ratio, wie der hessische Schulstreit zeigt, auf die Verfassungsgerichtsbarkeit verlagert werden. Aber dies zeigt eben doch nur die Tatsache an, daß die freie befriedigende Zusammenordnung nicht gelungen ist (und auch nicht genügend versucht worden ist). Es gibt jedoch kein spezifisches Mittel des Ausgleichs, weil und soweit die Hinderungsgründe im Wertpluralismus liegen. Soweit es gelingt, diesen wenigstens bis zu einem gewissen Grade zu überwinden, werden auch die Mittel des Zusammenwirkens nicht fehlen. Aber diese Hinderungsgründe liegen eben bereits wesentlich in der fast allseitigen Absolutheit der vertretenen Erziehungsansprüche begründet. Die Schlange beißt sich hier in den Schwanz.
3. Auch im Raum der kirchlichen Tradition ist eine Klärung und Überwindung der Vorurteile so möglich. Das katholische Familienideal ist entscheidend von der übernatürlichen Ordnung der Kirche her interpretiert und begründet. Dadurch wird ein kräftiger Vorbehalt, ja Affekt gegen die historisch-nationalen wie gegen die objektiv-transpersonalen Kulturelemente begründet, soweit sie sich nicht der Kirche anpassen — Vorbehalte, welche im ganzen lebenshemmend, nur gelegentlich bewahrend wirken und freilich wirksam vor dem idealistischen Etatismus geschützt haben. Im Luthertum haben sich die Dinge gewissermaßen umgekehrt. Jetzt werden Kirche und weltliche Bezüge beiderseits vom Familien- und Hausbegriff her verstanden und aufgebaut. Hier fehlt jene Abwehrhaltung, aber, wie gezeigt, auch die Begriffsmittel für das Verständnis aller der Momente, die von dieser Konzeption her nicht hinreichend gedeckt werden. Im Calvinismus treten diese Probleme kaum auf. Er ist vom Alten Testament her womöglich noch patriarchalischer. Aber der grundsätzliche individualistische Grundansatz der Erwählungslehre nimmt von vornherein jeder sozialen Form die theologische Dignität, auch der Ehe jene vieldeutige Transparenz, die sie in den älteren Kirchen hatte.
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4. Die Rolle der Kirche im Gefüge des Erziehungsprozesses ist eine besondere. Soweit sie ihre Aufgabe als Lehre versteht und insbesondere dort, wo sie das Gesetz lehrt, wird ihr Anteil mit dem anderer Partner relativ vergleichbar sein. So wäre hier zunächst nur eine Vermehrung der Teilhaber eingetreten. Aber sie wird grundsätzlich ihre Aufgabe als Einübung ins Christentum, als Einführung in das Leben mit der Kirche verstehen müssen. Dieses Leben mit der Kirche aber beginnt mit dem Mitsterben mit Christus in der Taufe. So wird der Anteil der Kirche am Erziehungsprozeß immer ein irgendwie gegenläufiger und gänzlich anders gearteter bleiben müssen, wenn er nicht sein Eigentliches verlieren will. Sie wird den Menschen nicht allein hineinführen, sondern immer in etwa auch herausnehmen müssen aus der Innerweltlichkeit des Erziehungsprozesses.
5. Demnach gleicht der Erziehungsprozeß einer föderalen Republik, deren sehr unterschiedliche Verfassungselemente einander nicht verdrängen können, aber auch der eindeutigen Zusammenordnung und der Stabilisierung sowohl entbehren wie bedürfen. Die naheliegende Vergleichbarkeit mit unserer Verfassungssituation sollte nicht verkennen lassen, daß der eigentliche Grund dieser Anschauung in zentralen anthropologischen Tatbeständen liegt. Zu diesen wären wir heute nicht geführt worden und genötigt, wenn nicht der Versuch so völlig gescheitert wäre, den Menschen in einer einheitlichen Konzeption vorweg zu begreifen und damit zugleich folgeweise zu sichern. Denn jene Zusammenordnung muß — sehr deutlich im Erziehungsprozeß — in der vollen Ausgesetztheit gewagt und vollzogen werden. Die eigentliche Unverfügbarkeit des Menschen, in Gestalt des Integrationspunktes im Erziehungsprozeß, tritt weit eher hier zutage als in der Metaphysik oder Quasimetaphysik des klassischen Subjekt- und Personbegriffes. Erst hier kann auch wieder die Erkenntnis ihren Platz finden, daß Bildung nicht nur Tun und Gewinnen, sondern auch zugleich Leiden und Erfahren ist. Den Rückweg in einen anthropologischen Monismus hat die Geschichte selbst versperrt, und nichts so sehr wie die Bildungspolitik leidet an den reaktionären Versuchen, den Weg irgendwie von einem exklusiven Machtanspruch aus zurückzugehen.
Die Notwendigkeit dieser föderalen Konzeption des Erziehungsprosesses, rechtlich dargestellt in einem Zusammenwirken verschiedener unabhängiger Erziehungsträger, zeigt sich dort am deutlichsten, wo von einem Moment her monistisch das Ganze zu verfassen unternommen wird, wo aus der anti-bürgerlichen Tradition des Sozialismus eine vollständige oder annähernde Exklusivität des öffentlichen Bildungswesens erstrebt wird. Die sozialistische Bewegung hat auch dort, wo sie weit weniger im dogmatischen Sinne materialistisch als idealistisch-humanitär gesonnen war, soziologische Realitäten außerhalb des Ökonomisch-Sozialen lange Zeit verkannt und schließlich nur widerstrebend anerkannt. Sie war lange Zeit der Familie gegenüber als einem angeblich bürgerlichen Relikt von Mißtrauen erfüllt. Durch das zunächst
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überragend erscheinende, neu einleuchtende Wahrheitsmoment ökonomischer Zusammenhänge war ihr Wirklichkeitssinn in Richtung auf die soziologischen Probleme des Geschlechterbezuges wie der Religion beträchtlich eingeengt und beginnt erst jetzt wieder offen zu werden. Ähnlichen ideologischen Verzerrungen der Wirklichkeit ist auch eine klerikale Inanspruchnahme des Bildungswesens ausgesetzt, welche gerade die Bedingungen geistlicher Erziehung durch die Grenzüberschreitungen eines monistischen Prinzips und eines grundsätzlichen Vorranganspruches überdeckt.
So wird auch verständlich, warum der Monismus eines familienhaften Personalismus letztlich wehrlos ist gegen die Durchsetzung anderer, gleich ausschließlicher Tendenzen und zugleich außerstande, sich mit dem Recht anderer Lebensbereiche wirklich konstruktiv auszugleichen. Der Monismus führt immer zum „Alles oder Nichts”. Besteht kein qualitativer Unterschied zwischen Familie und politischem Gemeinwesen, so kann dieses gerade im Bildungswesen sich unschwer zum alleinigen Sachwalter des Erziehungsprozesses aufwerfen, ohne einem grundsätzlichen Einwand zu begegnen — was nicht immer und jederzeit zu Konflikten führen muß, sondern eine tatsächliche Duldung anderer Elemente nicht ausschließt. Aber die entrüstete Verdammung kollektivistischer Erziehung von Sparta über Fichte bis zum Bolschewismus ist ohne die Anerkennung der Pluralität der Lebensbereiche wirkungslos. Je direkter, ausschließlicher und totaler man die Personalität des Menschen ins Auge zu fassen und zu sichern sucht, desto mehr ist eben diese Personalität von der Aufsaugung durch transpersonale Mächte und ihre zu Unrecht verdrängten relativen Ansprüche bedroht. In der Anthropologie muß man „mit Bande” spielen.
Dazu ist aber vorweg nötig, die Einschichtigkeit des Personbegriffes zu brechen. Der Mensch als Subjekt-Eins, als unteilbares Individuum, ist ebenso unwirklich wie die ältere Vorstellung von dem strukturlosen Urbaustein, dem Atom. Sie beruht m. E. auf einer folgenschweren Eintragung in das biblische Menschenbild, auf einer petitio principii der Auslegung. Sind von vornherein Geschlechtsbezug und dominium terrae nebeneinander, nicht konsekutiv zu sehen, so ist diese Eingleisigkeit gesprengt. Sie wird es vollends durch die Kainstat und das Urteil Gottes über sie.
V
Es ist nicht meine Sache, die verschiedenen geistigen Strömungen in der Pädagogik hier zu erörtern. Ich muß aber auf diejenigen Anschauungen hinweisen, welche sich in der Schulrechtspolitik bemerkbar machen, also die konkrete Rechtsbildung beeinflussen und damit in das Blickfeld des Juristen treten. Es handelt sich hier nicht um eine widersprechende Fülle von
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Einzelbestrebungen, sondern um Tendenzen, die einen gemeinsamen rechtsphilosophischen Grund und deshalb inneren Zusammenhang besitzen.
Rechtsphilosophie und konkrete Rechtspolitik der Gegenwart werden im wesentlichen vom philosophischen Idealismus beherrscht, nicht von einer Summe widersprechender Philosopheme. Auch der so viel beklagte Materialismus gehört diesem Gedankensystem an. Dieser Idealismus entnimmt und teilt mit der christlichen Theologie die Problemstellungen, nicht die Lösungen, vermag aber die Komplexität dieser Problemstellungen, ihre eingestifteten Widersprüche von Prädestination und Inkarnation, von Geschichtlichkeit und Aktualität, von Freiheit und Determination usf. nicht zusammenzuhalten. Er ist nicht nur säkularisierte, sondern auch häretische Theologie. Infolgedessen spaltet er sich notwendig auch in subjektiven und objektiven Idealismus, welche beide die geistigen Grundlagen der heute streitenden politischen und Rechtssysteme abgeben. Beide setzen ein sehr bestimmtes geschichts-philosophisches Urteil über den gegenwärtigen Stand der Entwicklung des Menschengeschlechtes voraus.
Der subjektive Idealismus geht davon aus, daß die Menschheit im Wege der ihr eingestifteten Vernunftentwicklung nicht allein in bedeutsamer Weise vorangekommen, sondern auch in einem grundsätzlichen Sinne zu sich selbst gekommen sei. Dieses „Zu-sich-selbst-gekommen-Sein” aber drückt sich in einer als Mündigkeit verstandenen Freiheit aus, der Fähigkeit und Berechtigung zur Selbstverfügung. Dieser Prozeß ist im Grundsatz vollendet, im einzelnen aber noch im Kampf gegen Atavismus, Unverstand, Willkür und Heteronomie jeder Art durchzusetzen. So muß alles „nur Historische”, alle Willkür und Kontingenz, und, wie gesagt, alle Heteronomie, in welcher eben Historie und Willkür sich verbinden, abgelöst werden. In dieser Linie historischer Heteronomie und unsachgemäßer Kontingenz werden auch Elternhaus und Kirche gesehen und an ihrem Gegenteil gemessen. Im Konfliktsfall werden sie unter diesem Vorurteil gesehen. Wo etwa die Kirche nur als freie Selbstverpflichtung und religiöse Selbstverwirklichung verstanden werden kann, frei vom Objektiv-Historischen oder gar „Statutarischen”, da kann hier Einiges geduldet werden. Diese Anschauung ruft die Rechtsvorstellung hervor, daß das Gemeinwesen den Erziehungsanspruch seiner zukünftigen Bürger auf Teilhabe an dieser erreichten Vernunftstufe und Freiheit zu verwalten habe, auch gegen jeden anderen Anspruch und Einfluß, und daß der geschulte Pädagoge der Gewerkschaftssekretär der Unmündigen als Sachwalter gegen die unpädagogischen Irrtümer der Eltern zu sein habe, mit einem ähnlichen Pathos, wie es im sozialen Kampfe auftritt. Von daher kann dann der Staat das Eigenrecht der Familie einseitig nach seiner Einsicht begrenzen, es abwerten und aushöhlen, weil es als ein nur Besonderes der Allgemeinheit dieses Erziehungsgedankens ohnehin grundsätzlich nachsteht. Von daher stammt auch das Mißtrauen gegen Elternmitverwaltung
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in der Schule, so begrenzt deren Möglichkeiten effektiv auch sind, aber auch gegen jedes Nebengleis von Privatschulen, in welchen ein anderer Erziehungsträger unter konkreteren, nicht ohne weiteres allgemeinen Erziehungsmaßstäben wirksam wird. Die Allgemeinheit des Vernunftbegriffs wirkt sich kräftig aus, doch wird niemals der dogmatische Charakter und die dogmatische Grundlage offen zugegeben.
Der subjektive Idealismus ist der Objektivierung in verschiedenen Formen und Graden fähig. Die eine Richtung ist der Etatismus, der den Staat als Sachwalter eines allgemein verbindlichen und exklusiven Begriffs von sozialem Humanismus versteht. In andere Richtung weist eine damit vereinbare ökonomische Anschauung. Ausgehend von dem sachlichen Zwange hochgetriebener Berufsausbildung unternimmt man es, die ökonomischen Erfordernisse durch Verplanung der Begabungen zu erfüllen, denen gegenüber das Entscheidungsrecht der Eltern und die Traditionsmomente der Familie als Willkür erscheinen. Hier geht bereits der subjektive, zentral an der freien Selbstverwirklichung des Menschen interessierte Idealismus in den objektiven Idealismus über, wobei abstrakte Ausgleichs- und Ubergangsformen nicht fehlen.
Der objektive Idealismus unternimmt es, einen rational erkennbaren Geschichtssinn unter Bestimmung des gegenwärtig im Geschichtsprozeß erreichten Punktes entschlossen gegen jede begrenzte und blinde Subjektivität, Geschichtlichkeit und Kontingenz des Einzelnen und der historischen Gruppen durchzusetzen und sieht diesen Vollzug in einem entscheidenden Stadium des Durchbruchs. Dieser Geschichtssinn ist identisch mit demjenigen wahren Prinzip, welches die Welt im Innersten zusammenhält, nach dem der Geschichtsprozeß verläuft und radikal determiniert ist, sei es ein ökonomisches oder ein biologisches. Auch er ist streng humanistisch orientiert, auch wo er sich radikal gegen den Menschen richtet, ihn in sein ideologisches Schema preßt. Denn er glaubt, daß im Endergebnis eine Wiederbringung aller, eine apokatastasis panton, erfolgt, soweit sie nicht dem Heil Widerstand leisten oder von vornherein negativ prädestiniert sind. Gegenüber der Alleinigkeit und Eindeutigkeit dieses Geschichtssinnes kommt kein Recht des Einzelnen in Betracht. Daher kann es auch nach dieser Anschauung kein Elternrecht an einer auch nur teilweisen Mitbestimmung über Erziehung und Schule geben.
Beides sind monistische Konstruktionen. Der objektive Idealismus hat sein Einheitsprinzip zur Erklärung des Geschichtsprozesses, welches die Sinneinheit allen Geschehens und damit allen berechtigten Geschehens, allen Rechtes jederzeit gewährleistet. Der subjektive Idealismus (soweit er sich nicht durch stärkere Objektivierungen dem Typus des objektiven Idealismus annähert, meistens in Restbeständen des Vulgärmarxismus) hat sein Einheitsziel in dem „An-sich-Sein” des mündigen Menschen, der nicht durch Bezüge konstituiert wird, sondern für den diese Bezüge nur in ethischer Freiheit zu
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handhabende Akzidentien zu diesem An-sich-Sein sind, dessen Vorbehalt nie aufgegeben wird. Damit wird sichtbar, daß eine Anthropologie, die den Menschen zentral nur aus einem Bezug versteht, ihren Relationscharakter nicht durchhalten kann. Denn erst die Pluralität der Bezüge und dadurch die Notwendigkeit, sie zu vereinen, macht unmißverständlich deutlich, daß der Mensch nicht allein ein freier Herr aller Dinge, sondern auch ihr untertäniger Knecht ist. Wenn im Geschlechtsbezug die Ganzheit des Menschen bereits im prototypischen Sinne umgriffen wäre, so würde er durch nichts davor bewahrt werden, dies doch wieder als sein Für-sich-Sein zu verstehen und andererseits diese Relation wieder in das Alleinsein umzudeuten, zumal dieser Bezug offenkundig nicht das Ganze des Lebens trägt. Abgesehen davon führt diese Anschauung notwendig wieder dazu, die „Substanz” des Menschen hier und seine Akzidentien in den übrigen Bezügen zu sehen, die geringwertig und nachgeordnet erscheinen, oder anders: dem Subjekt des Menschen (auch in seiner Zweiheit) das Objekt seines ethischen Handelns gegenüberzustellen. Ethisches Denken und Subjekt-Objekt-Schema sind nicht voneinander zu trennen. Erst der Inbegriff der vorgegebenen Bezüge konstituiert den Menschen. Von daher ist die Einheit des Erziehungsprozesses zu bestimmen: von daher nehmen die für diese Bezüge repräsentativen Institutionen ihren berechtigten Anspruch, ihr Recht im strengen Sinne zur integrierenden Anteilnahme an der Mehrschichtigkeit dieses Prozesses.
Bei der Frage nach dem Erziehungsrecht gleichviel welchen Trägers ist man leicht in der Gefahr, sich gegenüber der Schule im Verhältnis eines Subjektes zu einem verfügbaren Objekt zu verstehen und zu verhalten. Die Schule als solche ist nicht Institution im präzisen Sinne, trotz ihrer organisatorischen Ausbildung zu einem mächtigen Gefüge. Sie ist Mittel zur Institution, nicht Institution — non scholae sed vitae discimus. Das hat freilich schwierige Folgen für die Lehrerschaft, an deren freier Hingabe doch alles hängt. Das alte Elend des Lehrstandes wechselt nur seine Formen. Entweder sieht sich der Lehrer resigniert den wechselnden schulpolitischen Machtansprüchen gegenüber, oder er geht zum Gegenschlag über, indem er sich einer dieser Gruppen — vielleicht der pädagogisch meistbietenden — verschreibt und damit sich gegen die anderen versperrt. Er rettet seine Position durch Volksaktienbeteiligung an einer legalen Tyrannei. Die dritte Lösung einer rein immanenten pädagogischen Sachlichkeit, auf einer Insel losgelöst von allen Schulträgern, ist utopisch — und noch nicht einmal ehrlich. Eine Integration der institutionellen Erziehungsträger wird deshalb immer die Lehrerschaft als aktiven Partner miteinbeziehen müssen.
Jede Institution hat ihre Schule, und jede dominierende Institution schon ohnehin. Heute kann keine Institution mit echtem Recht dominieren — die Institutionen sollten deshalb kooperieren.
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1 Heinz Horst Schrey, Die Wiedergeburt des Naturrechts, Theologische Rundschau, Band 19 (1951), S. 23 ff. — 2 Kirche und Recht — ein vom Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland veranlaßtes Gespräch über die christliche Begründung des Rechtes, Göttingen, 1950. — 3 Die Treysaer Konferenz 1950 über das Thema „Gerechtigkeit in biblischer Sicht”, Genf, 1950. — 4 Jacques Ellul, Die theologische Begründung des Rechtes, München, 1948. — 5 Recht und Institution, hgg. von Hans Dombois — Glaube und Forschung, Bd. IX, Witten, 1956. — 6 Entschließung der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland zu Fragen der Ehe und Familie vom 19. 3. 1954, abgedruckt in Dombois-Schumann, „Familienrechtsreform” — Glaube und Forschung, Band VIII, Witten, 1955. — 7 Georg Wuensch, Der Zusammenbruch des Luthertums als Sozialgestaltung, Tübingen, 1921. — 8 Dombois-Wilkens, Macht und Recht, Beiträge zur lutherischen Staatslehre der Gegenwart, Berlin, 1956. — 9 Dombois, Gleichberechtigung der Geschlechter — Fortschritt oder Not — in „Familienrechtsreform”, S. 77 ff. — 10 Ernst Forsthoff, Das Elternrecht juristisch beleuchtet, in „Christen und Nichtchristen in der Rechtsordnung", Vorträge der 5. Plenarsitzung der Studiengemeinschaft der evangelischen Akademien, 1950, S. 63ff.