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III.

Das Widerstandsrecht.

 

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Auch die Widerstandslehre Calvins ist von der Forschung nicht unberücksichtigt geblieben. Aber wie die Naturrechtslehre, so hat auch sie eine verschiedene Deutung und Beurteilung erfahren. Während Lang 1) anzunehmen glaubt, daß die in einer „kurzen Bemerkung ganz am Ende der Institutio” (Op. 1,1122) erwähnte Widerstandslehre nicht einmal „negativ in der Frage des Untertanengehorsams und des Widerstandsrechtes, geschweige denn positiv befriedigen konnte” ist der Satz der Institutio nach Wolzendorff 2) für die Zukunft der Staatslehre ungeheuer bedeutsam, „da er nicht entnommen ist einem naturrechtlichen System, sondern allein der Beobachtung des geltenden Rechtes; er enthält eine politisch und staatsrechtlich richtige Beurteilung des tatsächlichen Rechtszustandes. Das ist das wichtigste für die rechtliche Beurteilung der Bedeutung Calvins in der Geschichte der Lehre vom Revolutionsrecht, und beschämend für den Protestantismus wie für die Staatslehre muß es sein, daß diese so auf der Hand liegende Tatsache bisher kaum 3) beobachtet wurde”. Wolzendorffs Auffassung teilen Seeberg 4) Holl 5), und Haußherr 6). Dagegen wendet Baron 7) ein, daß es wenig fördert, den Reformator darauf hin zu prüfen, wieviel oder wenig er unmittelbar zur Bildung der naturrechtlichen Theorien beigetragen habe; sollte Calvins


1) Naturrecht, 28, 48.
2) Staatsrecht und Naturrecht in der Lehre vom Widerstand des Volks, 1916. in „Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte”, Heft 126, S. 95ff.
3) Ausgenommen ist die Schrift von Cardauns, Die Lehre vom Widerstandsrecht des Volkes gegen die rechtsmäßige Obrigkeit im Luthertum und Calvinismus des 16. Jahrh. 1903, gegen deren Neigung, die revolutionären Ideen als Produkte des Protestantismus zu kennzeichnen, sich Wolzendorff mit Recht wendet.
4) Dogmengeschichte IV, 2,618.
5) Gesammelte Aufsätze I,277.
6) Der Staat in Calvins Gedankenwelt (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte, Nr. 136) 59ff.
7) Baron, a.a.O. 91.

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Lehre dennoch etwas neues und vor allem wirkungskräftiges gewesen sein, worüber kein Zweifel bestehe, so wird man dieses nur dann erfassen, wenn man nach der Funktion der Lehre vom Widerstandsrecht der „Volksbehörden” für das Ganze von Calvins religiöser Staatsauffassung fragt. Wenn Baron diese Bedeutung in der Verankerung der Aristokratie in der Monarchie der Gegenwart sucht, so ist diese Auffassung allerdings nur in sehr beschränktem Maße richtig. Dagegen enthält Barons Arbeit einen wichtigen Hinweis darauf, daß man bei der Erörterung eines so bedeutsamen staatsrechtlichen Problems der praktischen Bewährung der theoretischen Grundsätze nachgehen muß, eine Forderung, die Baron allerdings mangelhaft erfüllt, und die Wolzendorff ausdrücklich ausschaltet; die Frage, ob Calvin nicht in der Praxis anderen Ideen gehuldigt und deren Verbreitung gefördert habe, muß nach Wolzendorff außer Acht gelassen werden 8). Damit wird die Frage der Wirkungskräftigkeit der Idee mit Unrecht unterschätzt, denn, wie wir sehen werden, ist der calvinische Satz der Institutio nicht originell und nach seinem wesentlichen Gehalt auch bei den anderen Reformatoren vorhanden.

Nun ist allerdings die praktische Betätigung des Reformators in dieser hochwichtigen Frage von der Literatur beachtet worden. Doumergue 9) hat zahlreiche Belege aus dem Briefschatz des Reformators zusammengetragen, aber gerade die staatsrechtlich wichtigsten, auf die Stellung und Aufgabe der damaligen Stände sich beziehenden Stellen sind ihm unbekannt. — Muß dies auch von den Studien von Marcks 10) und H. Naef 11) gesagt werden, so sind die Unterlassungen der beiden Forscher damit zu erklären, daß die Studie des ersteren bis zum Tode Franz II. (1560) reicht, die des letzteren sich auf die Zeit des Aufstandes von Amboise beschränkt. Werden außerdem die einzelnen Behauptungen dieser Forscher in einigen Punkten berichtigt werden müssen, so ist das Hauptanliegen


8) a.a.O. 97 A.
9) a.a.O. 486ff.
10) Coligny I.
11) La conjuration d’Amboise et Genève 1922.

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unserer Studie, die theoretischen Sätze Calvins in ihrer praktischen Bewährung darzustellen und dabei einen neuen, für die Wirkungskräftigkeit der calvinischen Auffassung entscheidenden Grund herauszustellen.

 

1

Calvin empfindet die Schwierigkeit des Problems (quaestio sane difficilis) 12), das sich ihm in seiner mittelalterlichen Form darbot: Was ist zu tun, wenn die Könige und Fürsten sich eidlich zur Treue verpflichten, wenn sie versprechen, daß sie das Recht mit den Regeln der höchsten Billigkeit, Aufrichtigkeit und Unbescholtenheit verwalten werden, und trotzdem ihre Treue brechen und sich tyrannisch gebärden? Sollten die Völker nach Selbsthilfe greifen (sibi ipsi consulere)? Er weiß, was hier auf dem Spiele steht: die Gewährung des Widerstandsrechtes würde der Neuerungssucht und den revolutionären Zuckungen seiner Zeit, die gar leicht und bald die bestehenden Ordnungen verändern und in Bewegung setzen wollen, Nahrung geben 13). Er gibt zu, daß der einzelne den Gewalttätern als Privatleuten Widerstand leisten darf, da es nicht erlaubt ist, z.B. das Gut dem anderen zu entreißen. Nur so kann der Widerstehende bezeugen, daß er das geschehene Unrecht nicht gutheißt. Es gibt eine doppelte Art des Widerstandes: die eine, wenn wir ohne Schaden, ohne Verantwortung das Unrecht verhindern; die andere, wenn wir das ius talionis üben. Die letztere Art ist den Christen verboten — sie dürfen die Gewalt nicht mit Gewalt zurückschlagen — die erstere dagegen geboten 14).

Anders verhält sich die Sache, wenn die Obrigkeiten das Recht ins Unrecht verkehren. Da ist den Privatleuten jede Auflehnung verboten, mögen die Herrscher


12) 29,552.
13) ib: multos hodie videmus occasionem rerum novandarum quaerere, nimiumque sibi permittere, in potestatibus et dominationibus movendis et commutandis.
14) 29,45,184: quamquam Christus suis non permittit, ut vim vi repellant, non tamen prohibet, quin deflectant ab iniusta violentia.

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sich auch noch so tyrannisch gebärden und gegen Gott, das Recht und die Billigkeit verstoßen 15). Ordnet man diese Sätze in den Zusammenhang ein, in dem sie stehen, betrachtet man sie nämlich unter dem Gesichtspunkt der Vertragstreue und Eidesverpflichtung, (iusiurandum und fides), nimmt man ferner an, daß jeder Vertrag im religiösen Boden wurzelt, so ist das Motiv für die energische Bekämpfung jeder revolutionären Regung in erster Linie die Abscheu vor dem Vertragsbruch, der nicht bloß an menschlichen Autoritäten, sondern, was das Entscheidende ist, an Gott selbst begangen wird.

Mit diesem Motiv geht ein anderes Hand in Hand, nämlich der der patriarchalischen Ideenwelt entnommene Grundsatz, daß die Herrscher, die patres patriae, denen Gott als seinen Stellvertretern seine Majestät, seine göttliche marque 16), das Zeichen seiner Gegenwart eingeprägt hat, den Anspruch auf Gehorsam der Untertanen erheben dürfen, auch wenn sie die nichtswürdigsten Tyrannen (nequissimus tyrannus) sind. Der Widerstand gegen sie wird deswegen auch als ein frevelhaftes Unternehmen gegen Gott verurteilt (resisti magistratui non potest, quin simul Deo resistatur) 17). Die durch einen pflichtvergessenen Herrscher den Untertanen zugefügten Leiden müssen in demütiger Geduld ertragen und die Untertanen durch Selbstbesinnung und tieferes Schuldbewußtsein zu umso eifrigerem Flehen um den göttlichen Beistand angetrieben werden 18).

Wird denn aber dadurch die Gegenseitigkeit der Verpflichtung nicht illusorisch, wenn die Herrscher ihr Amt nicht nach Recht und Billigkeit verwalten? Brechen sie dadurch nicht ihre Treue und Vertragspflicht? Calvin macht sich selbst diesen Einwand 19), schlägt ihn aber als


15) 29,552: longe alia est ratio principum et superiorum dignitatum, quibus Deus vult subditos obedientes esse . . subditos regibus ac principibus nec posse nec debere adversus ipsos rebellare aut quidquam movere, licet tyrannidem exerceant.
16) Vgl. oben S. 27ff.
17) 3,111.
18) 2,1115; Op. 29,660: opponit (Deus) quasi suae praesentiae notam in istiusmodi personis, in quibus sibi honorem haberi praeeipit et summum imperatorem agnosci.
19) 2,1115: at mutuas inquies, subditis suis vices debent praefecti. Id iam confessus sunt.

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alberne Vernünftelei (insulsus es ratiocinator) zurück. Die Untertanen sollen eben ihre Pflicht tun und das andere Gott überlassen, dem die Fürsten verantwortlich sind. Zwei Möglichkeiten stellt er dabei gleichsam als Trost und Warnung in Aussicht. Gottes Vorsehung wird seiner Zeit offenkundige Rächer erwecken, die auf seinen Auftrag hin die verbrecherische Herrschaft strafen und das ungerecht unterdrückte Volk aus seinem Elend herausreißen. Durch sie wird Gott sein gerechtes Werk vollenden; hören mögen es die Herrscher und zittern. Ferner: Wo es in einem Staat Volksbehörden (Stände) gibt, die der Willkür der Herrscher steuern sollen, ist es nach göttlicher Ordnung (Dei ordinatione) ihre Pflicht und ihr Recht, zum Schutze der Freiheit des Volkes gegen die pflichtvergessenen Herrscher vorzugehen 20). — Wenn die Vertreter der Obrigkeit den Versuch machen wollten, den Gehorsam gegen den, der allein die höchste Herrschaft hat, zu vereiteln, dann muß der Gehorsam der Obrigkeit versagt werden, dann muß der Mensch auf Gott allein über alle und für alle hören. Denn der Versuch, uns Gottesfurcht und Verehrung zu entreißen, die reine Lehre Gottes umzuwerfen und die Ehrfurcht vor den Menschen der Ehrfurcht vor Gott vorzuziehen, ist nicht bloß ein Umsturz der natürlichen Ordnung, sondern eine Auflehnung gegen die Majestät Gottes, die über allen Autoritäten steht. Dem Fürsten, der die Autorität Gottes verletzt, soll man eher ins Gesicht spucken als gehorchen, denn er raubt Gott sein Recht und seinen Thron. Es wäre eine Perfidie und Feigheit, wenn man das unwürdige und gottlästerliche Gebot der Obrigkeit, in Sachen des Evangeliums zu schweigen, befolgen wollte. Sollte man sich aus falscher Bescheidenheit vor den höfischen Schmeichlern zurückziehen, die die Ablehnung eines königlichen Befehls für unrecht erklären, so würde man sich selbst zu einem Menschenknecht entwürdigen 21). — Rechtlich wird


20) Op. 1,1022; 2,1116.
21) Zu Op. 2,1116ff. vgl. noch Op. 41,25f: si quis incipiat a reverentia terreni principis Deo praeterito, ille praepostere faciet: quando hoc esset pervertere totum natuare ordinem. Ergo priore loco timeatur Deus, obtineant principes terreni suam autoritatem, sic tamen, ut Deus emineat. Potius ➝

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die Versagung des Gehorsams einerseits damit begründet, daß der gegen Gott sich auflehnende Herrscher dadurch sein ihm von Gott verliehenes Amt verscherzt 22), und andererseits echt patriarchalisch aus dem Grundsatz abgeleitet, daß ein Vater, der Gott, der Quelle und dem Ursprung jeder Vaterschaft, die höchste väterliche Ehre zu entreißen sucht, nicht anderes ist als ein gewöhnlicher Mensch, das heißt ohne jegliches Ehrenamt 23). Ja, Calvin geht in seinem Eifer für die Ehre Gottes so weit, daß er den gegen Gott sich auflehnenden Herrscher tief unter die menschliche Stufe sinken läßt 24).

 

2

Das Neue in den calvinischen Gedanken erblickt man in der Energie, mit der das „theokratische” Ideal ergriffen


➝ ergo conspuere oportet quam illis parere, ubi ita proterviunt, ut velint etiam spoliare Deum iure suo et quasi occupare solium eius, ac si possent eum e coelo detrahere. 48,88: principibus . . parendum est, sed ita, ut Deo, summo regi, patri ac domino, ius suum minime abrogent. ib. 398: si suo gradu non contenti excutere uobis velint Dei timorem et cultum, non est cur illos a nobis sperni quisquam dicat, quia pluris est nobis Dei imperium et maiestas . . Si impia prohibitio os nobis obstruit, vae nostrae ignaviae . . ne ubi tacuerint in hominum gratiam, horribile ex ore Christi vocem audiant, qua damnetur eorum perfidia.
22) 48,398: tum evanescunt omnes honorum fumi.
23) 48,109: si pater gradu suo non contentus, summum patris honorem Deo eri-pere tentat, nihil aliud est quam homo. Ib.: si rex aut princeps aut principatus eo usque se expedit, ut Dei honorem ac ins minuat, non nisi homo est . . . qui enim munus suum transgreditur, quia Deo se opponit, spoliandus est honoris sui titulo, ne sub larva decipiat. — Diese Gedanken decken sich mit den dem germanischem Rechtsempfinden entspringenden Grundsätzen des mittelalterlichen kirchlichen Widerstandsrechtes, wonach der schlechte König sich seiner Regierungsfähigkeit selbst beraubt und zum Tyrannen ohne Amtsbefugnis, zum gewöhnlichen Menschen wird (Kern, Widerstandsrecht, 218ff, 398ff), aber auch mit der im Gutachten von 1539 ausgesprochenen Anschauung von Luther, Jonas, Bucer und Melanchthon (siehe unten S. 143). Calvin geht aber nicht soweit wie Cicero, der den Tyrannen nur die Figur des Menschen zuerkennt, ihn aber sonst unter die Tiere stellt (de rep. II. 26,49: simul atque enim se inflexit hic rex in dominatum iniustiorem, fit continuo tyrannus, quo neque taetrius neque foedius nee dis hominibusque invisius animal ullum cogitari potest; qut quamquam figura est hominis, morum tamen immanitate et feritate vastissimas vincit beluas.
24) 41,25: dum insurgunt (sc. principes) contra Deum, indigni sunt qui censeantur in hominum numero. Ib. 395: si un prince se veut destourner de Dieu et s’exempter de sa subiection, . . . il n’est pas digne d’estre accomparagé à un poulx . . . car les poulx sont encores creatures de Dieu . . . . Et toutesfois les princes sont enivrés iusques là, . . . . qu’ils estiment qu’ils ne peuvent avoir ce qu'il leur appartient, sinon que Dieu soit abaisse, et qu’ils ne soient plus estimés comme hommes mortels, mais qu’on en face des idols.

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und aufgerichtet und in der Intensität, mit der es im einzelnen zur Geltung gebracht worden ist 25), oder darin, das Calvin rücksichtsloser als Luther, die bloßen Rechte zu unabweisbaren Pflichten wandelt und ihnen damit erst zur Wirksamkeit verhilft 26). Das alles mag richtig sein. Doch das Entscheidende ist damit nicht getroffen. Es ist sehr lehrreich, daß Calvin die aus dem gegenseitigen Charakter des Vertrages fälschlich gezogene Folgerung, daß die Untertanen dem treubrüchigen Herrscher die Treue nicht zu halten brauchen, mit dem Hinweis auf die Nichtigkeit der aus ähnlichen Vertragsverpflichtungen im Ehe- und Familienleben abgeleiteten Konsequenzen zurückschlägt. Dürfen die Ehefrauen den Ehemännern und die Kinder ihren pflichtvergessenen Eltern den Gehorsam nicht versagen, müssen die Diener ihren Herren gehorchen 27), so gilt dasselbe Gesetz ganz besonders (praesertim) von dem Herrscher und seinen Untertanen 28); die Verweigerung des Gehorsams auf allen Gebieten wird als Revolution gegen Gott aufgefaßt 29). Es ist aber bezeichnend, daß auch der Widerstand nicht bloß im Rahmen des Staatsrechtes und nicht bloß für die Staatsbürger, sondern vom höchsten Standort des alle patriarchalischen Ueberordnungs- und Unterordnungsschichten regelnden absoluten Gesetzes Gottes befohlen wird und zwar, wie Calvin ausdrücklich vermerkt, gegen das auch den Heiden bekannte Naturgesetz 30).


25) So Beyerhaus, a.a.O. S. 99.
26) Baron, a.a.O. 88.
27) 51,808: Il est vray, que là (zu Römer 13) notamment il (der Apostel) parle des princes et magistrats: mais quoy qu’il en soit, cela s’entend à toute authorité, comme celle que les peres ont sur leurs enfants, celle des maris envers leurs femmes que Dieu n’a point voulu que les hommes fussent pesle mesle . . . . mais que les uns dominent et qu’ils ayent le credit de Commander aux autres, et que ceux qui sont inferieurs, leur obeissent.
28) Op. 2,1115; 51,212. 222; (Gehorsam in der Ehe); Op. 27,685ff; 51.787; 26,311 ff (Gehorsam der Kinder).
29) Op. 51,736. 739; Op. 51,785. 806ff. 810.
30) Op. 51,228: praeter naturae legem . . . . Docet filiorum oboedientiam. Indetamen sequitur eatenus obediendum esse parentibus, ne laedatur erga Deum pietas, quae primum gradum obtinet. Vgl. 51,785.685; 24, 603; 33,124; 10,1.264. Op. 2,294: Si in legis transgressionem nos instigant, merito tum non parentes nobis habendi sunt, sed extranei, qui nos a veri patris obedientia subducere conantur. Sic de principibus, dominis et universo superiorum genere habendum. lndignum enim et absonum est ut ad deprimendam Dei celsitudinem eorum eminentia polleat, quae ut ab illa pendet ita in illam deducere nos debet.

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Sicherlich soll mit alledem die unbedingte, bestimmter: die allumfassende Souveränität Gottes ausgedrückt werden 31). Es steckt gewiß ein Heroismus darin. Ein Heroismus ist es jedenfalls, wenn Calvin auf die Gefahr hin, mit dieser seiner radikalen Ueberzeugung den Feinden des Evangeliums, gegen die er sich seit 1536, seit seiner Vorrede an König Franz I, zu verteidigen hatte, den Stoff zu Verleumdungen zu bieten, im Interesse der unverkürzten Ehre Gottes das göttliche Recht über alle menschlichen stellt 32), ein Heroismus, der sich dann auch der späteren monarchomachischen Generation mitteilte, die den passiven Widerstand zum aktiven ausgestalteten.

Man darf in der Forderung der unbedingten Widerstandspflicht gegenüber der gegen die Majestät und Souveränität Gottes sich auflehnenden Obrigkeit keine Durchlöcherung oder Aufhebung der Loyalität und Legitimität erblicken, denn durch diese ihre Tat verwirkt, wie gesagt, die Obrigkeit ihren amtlichen Charakter, ihre Amtsbefugnisse und verliert damit auch den Anspruch auf die Loyalität und Legitimität 33). Wenn dabei Calvin das Widerstandsrecht und die Widerstandspflicht den in den einzelnen Staaten versammelten Landständen einräumt, so ist dies auch keine Durchbrechung seines Prinzips des Untertanengehorsams, da die drei Stände nicht in ihrer Eigenschaft als Untertanen, sondern als die zur Wahrung der Volksrechte eingesetzten Voiksbehörden (populares magistratus) ihre Macht ausüben (potestate funguntur).


31) Haußherr, S. 60.
32) In seinem Brief an Franz I. verteidigt Calvin das „neue Evangelium” gegen die Vorwürfe, daß es nur Quelle des Aufruhrs und Tumultes sei (seditionum opportunitatem ac vitiorum omnium impunitatem). Noch im Jahre 1562 (Op. 39,159) mußte er diese Verteidigung wiederholen: hinc fit igitur ut illis exosa sit libera evangelii praedicatio, quasi afferret secum publicam cladem. Ideo vocant nos turbulentos: dicunt imperitia labi etiamsi non ex professo scimus hostes publicae salutis.
33) Op. 48,398: si quando tyrannicis edictis, quae debitum Christo honorem et cultum Deo praestare vetant, resistere nos cogit religio: tunc quoque iure testari licet non violari a nobis regum potestatem. Neque enim ita in sublime evecti sunt, ut gigantum more Deum ex suo solio detrahere moliantur.

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3

Viel wichtiger ist die Frage nach der Ursprünglichkeit des calvinischen Satzes in der Institutio. Zweifellos bedeutet die Widerstandslehre Calvins eine Absage an die Theorien des Mittelalters, da sie sowohl mit der von Eipke von Repgow ausgebildeten, den einzelnen das Widerstandsrecht einräumenden Auffassung bricht, als auch die naturrechtlichen konstitutiven und politischen Formalideen: die Volkssouveränität und den Staatsvertrag ausschaltet. Mit seiner Forderung, daß nur die eingesetzten drei Stände zur Wahrung der Untertanenrechte aufgerufen werden dürfen, gibt Calvin seiner Lehre eine positivrechtliche Grundlage. Der bedeutsame Satz des Reformators ist tatsächlich nichts anderes als eine politisch und staatsrechtlich richtige Beurteilung des wirklichen Rechtzustandes. Aber ein rückschauender Blick, sowie der Vergleich mit den Lehren der anderen Reformatoren, der allerdings bei Wolzendorff nicht fehlt, aber einige wichtige Momente vermissen läßt, ist für die Beantwortung der Frage, inwieweit Calvins Lehre einen Grenzstein in der Entwicklung des Revolutionsrechtes bedeutet, unerläßlich.

Calvins Satz ist weder dem Inhalt noch der Form nach ursprünglich. Haben bereits Marsilius von Padua, Lupold von Bebenburg und Comines denselben Gedanken mehr oder weniger deutlich ausgesprochen 34), so steht die formelle Ausprägung bei Calvin derjenigen Melanchthons am nächsten. Denn Zwingli, der, wie Calvin, den Einzelnen das Recht des Widerstandes abspricht, unterscheidet zwei zum Widerstandsrecht berechtigte Größen: die „gemeine Hand”, die Landgemeinde, wie sie in der Landschaft zutage tritt, von den Fürsten die den Herrscher gewählt haben, — eine Unterscheidung, die bei Calvin nicht vorkommt. Die Ephoren in Sparta, die Tribunen in Rom, die Calvin als Vorbilder der weltlichen zum Widerstand verpflichteten Stände anführt, werden


34) Dieser Vergleich fehlt zwar bei Wolzendorff nicht; er läßt aber, wie er selbst zugibt (a.a.O. S. 18ff) einige wichtige Momente unberücksichtigt.

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von Zwingli als Vorbilder der „amptlüt” und der Prediger hingestellt, die das Volk gegen die Uebergriffe der Obrigkeit zu schützen haben 35). Dagegen findet man bei Melanchthon die Bezeichnung der Stände als Ephoren bereits 1530 vor 36). Auch in der Anschauung, daß die Entscheidung darüber, ob die betreffenden Stände in gewissen Fällen das Widerstandsrecht besitzen, berührt sich Calvin mit Melanchthon 37).

In zwei Punkten besteht allerdings ein grundlegender Unterschied zwischen Calvin und Melanchthon. Dieser arbeitet bei seiner positivrechtlichen Begründung mit dem auch später bei den Monarchomachen stark hervortretenden Gedanken der Volkssouveränität. Dem Fürsten gebührt es nicht, den Krieg ohne Bewilligung seiner Landschaft und Untertanen zu führen, von denen er das Land und Fürstentum hat 38). Calvin lehnt die Volkssouveränität ausdrücklich ab. Es ist nicht Sache des Volkswillens, die Fürsten einzusetzen. Gott ändert die Herrschaft über ein bestimmtes Volk nach seinem Gutdünken; daher darf


35) Vgl. Wolzendorff, 181ff. Farner, Die Lehre von Kirche und Staat bei Zwingli, S. 66ff.
36) In dem Kommentar zum 3. Buch der aristotelischen Politik CR 16,440: Sunt igitur excogitata vincula quae iniicerentur tantae potestati, additae sunt leges regibus, ut ex scripto iure gubernarent rem publicam. Est alia regni species summum imperium, sed certo iure circumscriptum. Quaedam nationes etiam addiderunt custodes regibus, qui ius haberent redigendi eos in ordinem. Sicut Lacedaemonii addiderunt ephoros, quibus scribit Thucydides licuisse capere regem. In Germania sunt electores, in Gallia certi principes curiae parlamenti tamquam ephori regum; vgl. 12,82. Melanchthon läuft hier allerdings eine kleine Ungenauigkeit unter. In den seit Philipp dem Schönen 1302 bestehenden curiae generales (vgl. Masselin, Journal des Etats généraux de France tenus en 1484 hgb. v. Bernier, a.a.O. 2,2444) waren allerdings die „Lehnfürsten” (principes) und die Vasallen des Königs die ausschlaggebenden Faktoren; denn aus den Lehnsfürstentümern wurden nur die Fürsten geladen, nicht aber die kleineren feudalen Gewalten oder die lehensfürstlichen Städte; als Vertreter des dritten Standes wurden nur die königlichen Städte angesehen, während die Landbevölkerung in den Generalständen nur durch die „seigneurs” vertreten war. Aber diese feudale Einrichtung wurde vielfach durchbrochen; ausnahmsweise kommen in der Reformationszeit auch ländliche Vertreter vor; in der Ständeversammlung müssen die ländlichen Vertreter sehr ausschlaggebend gewesen sein, da sie die Hauptstädte gegen ihren Vorschlag der Zollfreiheit wehrten (vgl. Marcks, a.a.O., 242, Holtzmann, Französische Verfassungsgeschichte, 211ff; Etats généraux (ed. Meyer XI, 456.)
37) Vgl. Calvin ib: Si qui nunc sint populares magistratus, mit Melanchthon, ib: sed alibi plus alibi minus possunt.
38) nisi consentiente populo a quo accepit imperium, im „Judicium Melanchthonis principi electori factum” CR 3, 126.

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das Volk sich nicht hartnäckig widersetzen 39). — Während Calvin den Widerstand gegen die die religiösen Belange verletzenden Herrscher, die durch ihre Freveltat ihr Amt verscherzen, als eine Forderung der Religion bezeichnet, ohne den Zwischengedanken einzuflechten, daß diese Forderung mit dem Naturrecht identisch ist, ja diesen Widerstand sogar gegen das Naturrecht verlangt, ist nach Melanchthon der Widerstand naturrechtlich erlaubt, da die „notorische Gewalttaten” in dem religiösen Gebiet verübende Obrigkeit, auch der Kaiser, einem Räuber oder Mörder gleichgestellt wird 40), und darum nach dem Naturrecht alle zwischen dem Oberherrn und den Untertanen bestehenden Pflichten aufgehoben werden 41). Nach Calvin ist der Herrscher, geradeso wie ein den niedrigsten Volksschichten angehöriger Untertan, nur dann als Räuber zu behandeln, wenn er in eine fremde Gegend, über die er rechtlich nicht zu verfügen hat, einbricht und sie feindlich plagt. Nur in diesem Fall ist gegen ihn die Bestimmung des Naturrechtes geltend zu machen, nämlich, daß eine solche Freveltat nur durch einen legitimen Verteidigungskrieg geahndet werden muß 42).

Wie bei Melanchthon, so verhält sich die Sache bei


39) Op. 39,158: non est in arbitrio populi constituere principes. Dei enim est mutare imperia prout libuerit. Quum igitur potestas ista sit penes unum Deum, ubi regnat aliquis princeps, populus non debet pertinaciter insistere, quin se subiiciat principi tamquam legitimo, qui divinitus praefectus est.
40) CR 3, 130 und Enders, Briefwechsel Luthers 12,79; 12,194: also so sie krieg fur-hemen zu bestettigung öffentlicher gotts lesterung, fromme unschuldige Christen, Prediger und andere zu todten, ehrliche Personen von einander zu reissen.
41) In dem bereits erwähnten Gutachten der Theologen vom Jänner 1539, dessen Verfasser vermutlich Melanchthon war (vgl. Enders, a.a.O. 12, 80) heißt es: Unnd ist nicht Zweivell (Zweifel) ein Jeder vater ist schuldig nach seinem vermugen weib und kind wider öffentlichen Mortt zu schützen, Unnd ist kein unterschied zwischen einem privat Morder und dem Keiser, So er außer seinem ampt unrechtene gewalt und besond(ers) öffentlich oder Notorie unrechten gewalt furnimpt, dann öffentliche Violentia hebt uff alle pflicht Zwuschenn den Unterthanen und Oberherren, Jure naturae. Dasselbe im Gutachten vom 4. Juli 1539 (Enders, a.a.O. 12,195: Nu ist die gegenwher ein stuck desselbigen naturlichen und gotlichen rechtens, das Christen zu brauchen macht haben.
42) Op. 2,1102: Siquidem nihil interest, rex ne sit an infima de plebe, qui in alienam regionem, in quam iuris nihil habet, irruit eamque hostiliter vexat; omnes aeque pro latronibus habendi sunt et puniendi. Hoc ergo et naturalis aequitas et officii ratio dietat, armatosque esse principes non tantum ad privata officia iudiciariis poenis coercenda, sed ad ditiones quoque fidei suae commjssas bello defendendas, si quando hostiliter impetantur.

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Luther. Sicherlich hat dieser, wie jetzt allgemein feststeht 43) seit den Verhandlungen zwischen den Wittenberger Theologen und den kurfürstlichen Räten in Thorgau (1530) das Widerstandsrecht positivrechtlich begründet, da er von den Juristen erfahren hatte, daß das kaiserliche Recht einen solchen erlaubt und das „Euangelion nicht widder die weltliche recht lehret” 44). Wie Melanchthon, beruft sich auch Luther auf den aristokratischen Charakter der Reichsverfassung und die damit gegebene Widerstandspflicht der Reichsstände 45). Die Frage, ob Luther in diesem Punkt von den uns bereits bekannten Gedanken Melanchthons oder von dem Gutachten der Juristen abhängig ist, beziehungsweise, ob Melanchthon seine positivrechtliche Begründung des Widerstandes dem letzteren zu verdanken hat, ist von untergeordneter Bedeutung. Jedenfalls hat Melanchthon, auch wenn er von den betreffenden Juristen abhängig sein sollte, seinen Satz selbständig formuliert. Die Juristen führen nämlich als Vorbild für das Verhältnis zwischen dem Kaiser und dem mit dem Widerstandsrecht ausgerüsteten Kurfürsten nur das Verhältnis zwischen dem römischen Senat und den von ihm gewählten Konsuln an 46). Wenn man dagegen auch allgemein annimmt, daß Luther die naturrechtliche Notwehr als Begründung des Widerstandssrechtes schroff ablehnte 47) und zwar im Gegensatz gegen Melanchthon, so muß diese Behauptung eingeschränkt werden. Wie hätte Luther die naturrechtlichen Formulierungen seines Freundes in dem erwähnten Gutachten annehmen und das erste jedenfalls naturrechtlich stark durchsetzte Gutachten vom 6. Dezember 1536 unterschreiben können mit dem bemerkenswerten Zusatz: „Ich, Martinus Luther, will auch dazu thun mit beten, auch wo es sein soll, mit der Faust,” 48) wenn in diesem


43) Vgl. Müller K., Luthers Aeußerungen über das Recht des bewaffneten Widerstandes im Jahrg. 1915 der „Sitzungsber. der bayr. Akad.” Kern, Luther und das Widerstandsrecht, in der Zeitschr. der Savignystiftung, Kan. Abt. VI, S. 337.
44) Siehe das Gutachten Luthers Ende Oktober 1530 bei Müller a.a.O. S. 93.
45) Tischreden W.A. 4,239ff, 388.
46) Vgl. Müller, S. 80, Amm. 2.
47) So im Anschluß an Müller (a.a.O. 68, 79); Kern, a.a.O., 337: Holl, Ges. Aufs. I,268, 492.
48) CR 3,131.

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Punkt eine Unstimmigkeit zwischen ihm und Melanchthon geherrscht hätte ? Wohl hat Luther den naturrechtlichen Satz: vim vi repellere licet, abgelehnt 49), aber zugestanden, daß es sich dabei nur um eine „Notwehr” handelt. Bezeichnend ist der von Müller nicht verwertete Satz in dem Gutachten vom 24. Dezember 1529: „das solchs unbillig und auch widder naturlich recht ist; denn zu felde ziehen und sich zur wehre stellen, sol nicht geschehen. Es sey denn thettliche gewalt oder unmeydliche not furhanden. Solchs aber zu frue ausziehen und sich wehren wollen, wird nicht für nothwere, sondern für reitzung und trotzen angesehen” 50). Das ist offenbar auch die Meinung Melanchthons. Er sieht in der drohenden Gefahr seitens des Kaisers den Fall der Notwehr gegeben: „Wider solche öffentliche iniuria ist der Schutz und die Gegenwehr zugelassen; als so sich einer wider einen mörder auf der Straßen wehret; oder ein Ehemann tödtet den Ehebrecher begriffen in der Tat” 51). Luther konnte Melanchthon zustimmen, da auch er die Absichten des Kaisers als Werke des „Kriegsknechtes und Räubers des Papstes” beurteilte 52). Andererseits hat auch Melanchthon den Satz: vim vi repellere licet, nicht uneingeschränkt angenommen. Er versteht seinen Sinn dahin, daß eine ungerechte Gewalt durch eine geordnete abzuschlagen ist, das heißt: entweder durch die Obrigkeit, wenn man ihre Hilfe erlangen kann, oder durch eigene Hand, wenn eine Obrigkeit nicht zu erreichen ist; so besonders, wenn man unter die Mörder fällt. Diese Auslegung sei berechtigt, da das Evangelium weder die natürliche Erkenntnis, noch die bürgerliche Ordnung aufhebt 53). Luther weicht auch in diesem Punkt nicht von Melanchthon


49) Müller, a.a.O., 23, 26, 36.
50) Müllers Text S. 87 = de Wette 6,106. „Der Satz: vim vi repellere licet tangt nicht einmal gegen gleichgestellte Fürsten außer im Falle der Notwehr” de Wette 3,561: . . ohn, wo es nothwere oder schütz forddert der andern oder Unterthanen”.
51) CR 3,130.
52) Müller, a.a.O., S. 70 und Amm. 4.
53) CR 16,573: verum est dictum, vim vi repellere naturae concedit, sed notitia naturalis docet intelligendum esse certo modo, vim injustam repellere licet vi ordinata, scilicet officio magistratus, cum eius auxilio uti potest, aut manu propria, si desit magistratus, ut si quis ineidat in latrones. Nec Evangelium delet naturalem notitiam, non abolet politicum ordinem. Dasselbe CR 21,4081,723.

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ab: „Christus und das Evangelium hebt weltliche Rechte und Ordnung nicht auf, noch tadelt sie, sondern bestätigt und confirmiret sie . . . . wenn nun ein böser Bube, ungeachtet was er vor eine Person ist, wollte mein Weib und Jungfrauen züchtigen und mich zusehen lassen; da wollt ich wahrlich den Christian zurücksetzen, und die Weltperson brauchen, ihn im Werk erwürgen oder um Hülfe schreien, denn Abwesens der Obrigkeit, da man sie nicht haben kann, so ist das Volksrecht da, das erlaubt, daß man Nachbarn um Hülfe anrufen mag” 54). Wenn das den Angegriffenen schützende Volk und der Angegriffene selbst in Notwehr als Vertreter der Obrigkeit handeln, so ist dies eine naturrechtliche, keine positivrechtliche Bestimmung, wie ja die Verteidigung selbst dem Naturrecht entspricht 55).

Dabei kann man allerdings einen feinen Unterschied zwischen Luther und Melanchthon nicht übersehen, der aber mehr gefühlsmäßig betont ist. Melanchthon empfindet, wie Luther, die Spannung zwischen der Bestimmung der Bergpredigt von dem Nichtwiderstehen dem Bösen auf der einen, und der durch die Natur und Vernunft gebotenen Selbstverteidigung gegen jede unrechtmäßige Gewalt auf der anderen Seite. Er versucht aber leichter diese Spannung zu überwinden, indem er Jesum mit seinem Gebot nur die verkehrte Gesinnung und Affekte tadeln läßt und das gottgewollte Widerstandsrecht der Obrigkeit überträgt 56). Dieser Auffassung Melanchthons haben sich auch die Juristen seiner Zeit angeschlossen. „Ein nicht ungeschickter Juristischer Ratschlag”


54) deficiente magistratu plebs est magistratus. — W.A. Tischreden 4,240: Hic quaesivit her Hineckh, an Doctor vellet se defendere, si a latronibus in der dibischen Hand wurd angegriffen? Respondit Doctor: Maxime. Da wolt ich fürst sein und das schwert füren, weil sonst niemand um mich wer, der mich schützen kundt, und wolt tott schlahen, so wil ich kund (W.A. Tischreden 2,225).
55) Melanchthon CR 27,722: propria defensione, cum opitulari magistratus non potest. Inest enim naturae appetitio conservationis sui adversus injustam violentiam, und Luther, Disputationen, heraugegeben von Drews, 568: defensio iuris est naturalis . . nam et illa et nos concedimus, defensionem esse iuris naturalis, lassens auch gehen.
56) CR 21,123.407ff: Christus exponit legem de adfectibus, idque affirmative neque vero tollunt (die loci de vindieta) publicam vindictam, quae exercetur per magistratum . . . publica vindicta est divina, est enim ordinata divinitus.

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erklärt: „Und wie wol unter das ius gentium gezehlt wirdt Gewalt mit Gewalt zu vertreiben / Christus aber solches verbeut / so saget doch Philippus in seinen locis communibus im Titel de lege schier am Ende: Es seyn böser fleischlicher Wille (pravus affectus) und nicht ein Stück deß natürlichen Rechtens / sive iuris gentium / und also das folgende Gebot weichet willig dem vorhergehenden” 57). Dagegen ringt Luther mit dem Problem (periculosa quaestio) innerlich viel schwerer als sein humanistischer Freund: ne quid contra verbum Dei faciamus et conscientiam; deinde vexaremur in tam periculosa causa . . ho hat’s gros bedenkden 58). Er hilft sich mit der Unterscheidung der christiana et politica persona, quae utraeque cadunt in christianum, oder fidelis et politica persona. „Die gläubige oder geistliche leidet Alles, isset noch trinckt nicht, zeuget nicht Kinder, noch nimmt sich dieses weltlichen Wesens noch thuns nichts an. Die bürgerliche aber ist weltlichen Rechten und Gesetzen unterworfen und zu gehorsamen schuldig, muß sich und die Seinen vertheidigen und beschirmen, wie die Rechte befehlen” 59). Es braucht nicht hinzugefügt zu werden, daß diese Unterscheidung mit dem Gegensatz von Naturrecht und positivem Recht nichts zu tun hat; es handelt sich um die „distinctio”, zwischen der merkwürdig spiritualisierten, der Weltwesenheit entrückten gläubigen Person und dem den weltlichen, auch den Naturgesetzen unterworfenen Glied eines Staatswesens. Es ist richtig bemerkt worden, daß die Höhe des religiösen Standpunktes Luthers diesem nicht gestattet, die Gegenwehr lebhaft und aus voller innerer Ueberzeugung zu befürworten 60).

Folgt Calvin in der Lösung des auch ihn beschäftigenden Problems wesentlich Melanchthon 61), so bereitet


57) Hortleder, Handlungen und Ausschreiben, 1654, II,82.
58) W.A. Tischreden, 4,272.
59) Ib. 272,237,240.
60) Holl, a.a.O., 269.
61) Op. 2,1108ff. Nihilo etiam magis cum Christi verbis pugnamus, quibus resistere malo prohibet . . Vult quidem illic . . animos a retaliandi cupidine abhorrere . . Christianos . . eorum omnium malorum tolerantes esse oportet, hoc est, sic totis animis compositos, ut suscepta una offensione ad alteram se comparent . . Neque isthaec tarnen animorum aequitas et moderatio impediet, quin integra in suos inimicos amicitia magistratus ope ad rerum suarum conservationem utantur aut publici boni studio sontem ac pestilentem hominem ad poenam postulent. ➝

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ihm die Rücksicht auf die Forderung der Bergpredigt theoretisch keine Schwierigkeit. Er ist entschlossen, sie auch praktisch anzuwenden. Seine Pastoralbriefe an die französischen Gemeinden unter dem Kreuz sind ein beredtes Zeugnis dafür. Noch im Jahre 1561, da die Gemeinden um des Evangeliums willen bedrängt und den Verfolgungen seitens der machthabenden Obrigkeiten und der entfesselten Menge ausgesetzt waren, schreibt er an die Gemeinde von Aix, die unter der Tyrannis des ersten Konsuls Flassans unsäglich zu leiden hatte: Es hat einen schönen Anschein, wenn man sich auf die Erlaubnis (qu'il est licite) wenn man von der anerlaubten Selbstverteidigung einem gemeinen störrischen Räuber gegenüber Gebrauch macht; denn dadurch verstößt man nicht gegen die Gesetze der bürgerlichen Ordnung. Indessen, höher als dieses berechtigte Gesetz ist die christliche, dem Willen des souveränen Meisters folgende Weisheit, sich geduldig in allen Stürmen in dem Schatten des Herrn geborgen zu wissen. Denn wenn wir dem Bösen mit Gewalt widerstehen, hindern wir den Herrn, uns zu helfen .... Es ist eine erkannte Wahrheit, daß das Blut der Gläubigen nicht bloß um Rache schreit, sondern ein guter und fruchtbarer Same ist, die Kirche zu vermehren 62).

 

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Denselben Klang haben seine tröstlichen Ermahnungen an die „Gläubigen von Frankreich”, die nach dem Tode Heinrichs II. unter dem grausamen Regiment der Guisen seufzten 63). Die beste Waffe gegen die Grausamkeit der Schlechten ist nicht Zähneknirschen, sondern immer wieder


➝ — Während Luther die Lehre Augustins und der Scholastiker, daß die Vorschriften der Bergpredigt nur eine innerliche im Herzen beschlossene Moral, die praeparatio animi, bezwecken, bekämpft (vgl. Holl, a.a.O., 282f) wird die Auslegung Augustins von Calvin direkt gebilligt: 2,1109: vere enim Augustinus haec praecepta omnia eo tendere interpretatur, ut paratus sit homo iustus et pius eorum malitiam patienter sustinere quos fieri bonos quaerit . . deinde magis pertinere, quam ad opus in aperto fit: Vgl. 45,184: sicuti Augustinus scite et prudenter in epistola 5 (ad Marcellinum) disseruit, non aliud fuit Christi con silium, quam fidelium animos ad moderationem et aequitatem formare.
62) Frei übersetzt Op. 18,437.
63) 17,681ff.

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Geduld (souffrir, posseder noz ames en patience). Calvin vertritt hier zweifellos den Standpunkt der Märtyrer 64); die von ihm geforderte Geduld ist aber keine passive Entsagung, sondern unüberwindliche Festigkeit (invicible constance) des Glaubens, der sich durch Drohungen nicht binden läßt und getrost dem Tode in die Augen schaut. Der seiner Widerstandspflicht sich erinnernde Dulder will hundertmal lieber sterben als weichen 65). Was Calvin von der Gemeinde verlangt, das ist der Heroismus des Glaubens in seiner Paradoxie. Er neigt das Haupt (il nous faut baisser la teste), aber er richtet es wieder auf in der Erwartung, daß das Unheil nur zum Heil ausschlagen kann, daß der Sieg nach dem Kampf hienieden im Himmel erfochten wird 66). Dieser Glaubensheroismus schließt aber die Umschau nach einer menschlichen Hilfe nicht aus; denn die Menschen sind Werkzeuge in der Hand der göttlichen Vorsehung, die die tyrannischen Gewalten der Einzelnen und der ganzen Völker gegen die Gläubigen durch andere besonders auserwählten Helfer oder durch berechtigte und unberechtigte Gegengriffe der ganzen Volkseinheiten straft und zerstört. In den beiden erwähnten Fällen konnte der Reformator die bedrängten Gläubigen nur zu festem, geduldigem Gottvertrauen aneifern, da er gerade damals kein Mittel zur Verfügung hatte und nicht sicher war, ob die von ihm und seinen Feinden beabsichtigten, von den maßgebenden Persönlichkeiten des Königreichs geschmiedeten Pläne zu einem Erfolg führen werden. Wenn er aber eine nach sittlichen Grundsätzen zulässige Möglichkeit des Einschreitens vor sich sah, da griff er besonnen zu. Wie die Anwendungen der Prinzipien der Bergpredigt mit dem aktiven Widerstandsrecht der Obrigkeit sich vereinbaren lassen, so braucht der praktische Seelsorger des Glaubensheroismus den Politiker und Diplomaten nicht zu verleugnen. Es wäre verkehrt, sie beide


64) Nous voyons que les bons Martyrs ont eu ceste coutume entre eux. ib. 682, vous voyez la foy, qui triomphe aux martyrs 684; ayez en reverence le sang des martyrs qui ait espendu pour le tesmoignage de verité 686.
65) ib. 684: il nous vault mieux d’endurer („endurent la mort”) et ne point flechir; vgl. 18,437: quand il est question de faire notre devoir . . plus tost cent fois mourir que de flechir.

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von einander zu trennen oder gegeneinander auszuspielen. Im Gegenteil! Es ist bewundernswert, daß die Prinzipien, die der 27jährige Theoretiker am Schluß der Institutio 1536 in gedrängter Kürze zusammenfaßt, von dem späteren Praktiker, in dessen Händen die vielverzweigten Fäden des kirchlichen und politischen Lebens nicht bloß in Genf, sondern auch in seinem Heimatland und darüber hinaus zusammenlaufen, folgerichtig durchgeführt werden. Und die Art der Verwirklichung zeigt ihn immer auf der Höhe eines besonnenen Staatsmannes, dem jede abenteuerliche Waghalsigkeit ebenso fremd ist wie das schwächliche Ausweichen.

Seinen Grundsatz, daß es den Privatpersonen, auch einer Gemeinde, nicht erlaubt ist, sich gegen die Obrigkeit aufzulehnen, hält der Reformator am 19. April 1556 der Gemeinde von Angers vor. Sie darf sich mit physischen Waffen gegen die von Gott mit Brachialgewalt ausgestattete Obrigkeit nicht auflehnen 67). Die von den nichtbeamteten Einzelnen gebrauchte Gewalt erscheint mit Recht als Empörung, setzt das Evangelium der Schmach aus und ist von vornherein zur Unfruchtbarkeit verurteilt 68). Ob dabei Calvin einen „passiven Gehorsam” oder eine „passive Resistenz” empfehlen will, ist eine müßige Frage 69), denn nicht nach dem inneren Widerstand, der psychologisch vorhanden sein mag, wird die Auflehnung gegen die bestehende Obrigkeit beurteilt, sondern nach der äußerlich zutage tretenden, in bestimmten Taten sich auswirkenden Empörung. Darum erfüllt es den Reformator mit Schrecken (horreur), wenn er hört, daß anläßlich einer Revolte in Lyon (1562) sich sogar ein Prediger am Raub von Reliquien und Kelchen in der katholischen Kirche vom heiligen Johann beteiligt, seine Kanzel mit Waffendienst vertauscht und sich dadurch gegen öffentliche Autorität aufgelehnt hatte. (19,409ff).


66) nostre triomphe est au ciel: 17,685.
67) 16,113: mais vous n’estes point armez de luy, pour resister à ceux qui sont établis de luy pour gouverner. Ainsi vous ne pourrez attendre qu’il vous garentisse, si vous entreprennez ce quil desavoue.
68) Brief an die Gemeinde von Paris vom 16. September 1557, Op. 16,630.
69) Gegen Doumergue, a.a.O., 496.

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Viel wichtiger ist die Frage, ob Calvin seinem Prinzip, daß ein aktives Widerstandsrecht nur eine ständische Angelegenheit ist, daß infolgedessen die bewaffnete Selbsthilfe den Einzelnen unbedingt untersagt werden muß, in seiner politischen Tätigkeit treu geblieben ist.

Das Problem ist an den Reformator in den großen Sturmjahren unter Franz II. herangetreten. Bereits zwei Tage nach dem Tode Heinrichs II. (10. Juli 1559) erscheint eine Verordnung gegen die Anhänger des neuen Glaubens, eine unmenschliche Verfolgung in der Hauptstadt und in den Provinzen setzt ein. Es beginnt der Prozeß gegen den edlen, tapferen Bekenner Anne du Bourg und endet mit seinem Tod. Der edle Bekenner des Evangeliums, ein Neffe des früheren Kanzlers, wird lebendig verbrannt, Männer und Frauen werden in Gefängnisse geworfen, die jeder Beschreibung spotten 70); böse Verleumdungen werden über sie ausgestreut, vor allen Dingen der Vorwurf, daß sie gegen den König sich auflehnen, neue Obrigkeiten schaffen wollen. Viele von ihnen verlassen ihr Vaterland, flüchten nach Genf, nach Straßburg, in das Herrschaftsgebiet des Königs Anton von Navarra, nach England. Als grausamen Urheber der Verfolgung bezeichnen die evangelischen Prediger den Guisenkardinal Kar von Lothringen, den „verruchten” Räuber, (nefarius latro), der auf eine rasche Aburteilung und Vernichtung der evangelisch gesinnten Räte und anderer drängt, und seinen Erlässen die Forderung einer grausamen Behandlung der Ketzer beifügt 71). Er und sein Bruder, der Herzog Franz, sahen in den Protestanten die Feinde ihrer unseligen Günstlings- und Kriegspolitik, mit der sie den jugendlichen König wie seinen Vater in Fesseln hielten, um ihre Herrschaftgelüste zu befriedigen. Calvin, der durch die Prediger über den Zustand der heimgesuchten Gemeinden, namentlich in den Provinzen Guyenne und Normandie, unterrichtet wird und die Lage als eine


70) Vgl. die Schilderung des Pariser Predigers Morel Op. 17,633
71) 17,590.

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überaus trostlose ansieht (res plus quam suctuosa) 72) versucht zwar jetzt noch wie im Juni, da die Gläubigen unter der „wütenden Grausamkeit” „rage et cruauté” der Edikte Heinrichs II., seufzten 73), die Gemeinde durch Aufforderung zu einem umso emsigeren Gebetsleben, zur Anrufung der Hilfe Gottes in ihrer Standhaftigkeit zu befestigen 74). Er verschließt sich jetzt aber nicht den „inferiora media”, die geeignet wären, den bedrängten Gemeinden die nötige Hilfe zu verschaffen. Sie gruppieren sich ihm zunächst um die Person des Königs Anton von Navarra. Während des Lebens Heinrichs II., so schreibt er an Sturm 75), war es vorteilhafter, daß sich dieser (Anton von Navarra) im Verborgenen hielt. Nach dem Tode des ersteren ergibt sich die Notwendigkeit, mit diesem ernsthaft zu rechnen. Von dem Verhalten des Navarresers (Varranus) macht der Reformator wesentlich seine Ratschläge und Schritte abhängig (inde . . . magna ex parte hodie pendent nostra consilia). Da aber die leichtfertige Natur Antons verdächtig ist, versucht er durch die beiden Pariser Prediger, Franz von Morel und Anton de la Roche-Chandieu, den ängstlichen Prinzen zu entscheidenden Taten anzustacheln. Worin diese bestehen, wird vermutlich Calvin in den leider verlorenen Briefen an Morel näher auseinandergesetzt haben. Wir können nur die Grundlinien aus den Antwortbriefen Morels erkennen. Anton sollte als der erste Prinz von Geblüt sein Recht, d.h. seinen Einfluß auf die Entscheidungen des jungen Königs geltend machen und dadurch die den Evangelischen feindliche Politik der Guisen stören. Um die Aengstlichkeit Antons zu beschwichtigen, versicherten ihn die Prediger nicht bloß der Hilfe der Evangelischen, sondern des ganzen Adels 76). In der Befürchtung, daß der ohne festen Hinterhalt von Räten und Freunden auftretende Prinz leicht durch die Guisenpartei überrumpelt werden könnte, legt ihm Morel, der inzwischen erfahren hatte, daß Anton viel


72) ib. 653.
73) Ib. 750ff.
74) 17,597 schreibt Morel an Calvin: Scio preces apud Deum ceteraque pietatis officia primo a te loco poni; vgl. auch 17,582 seine Ermahnungen an die Gemeinde in Metz.
75) 17,594.
76) So Chandieu 17,590.

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mehr als früher der evangelischen Sache zugetan war 77), nahe, die günstige, unerwartete Gelegenheit auszunützen und den Weg zur Herrschaft unter Zustimmung aller Stände zu betreten 78). Als Bürgschaft für die Durchführung dieser Pläne wies Morel entsprechend dem ihm vom Reformator erteilten Auftrag (praecipue quod abs te in mandatis habebam) 79) auf die Möglichkeit hin, daß der König im Fall eines Widerstandes seitens der Guisenpartei auf die Unterstützung der deutschen Fürsten rechnen darf. Deckt sich zweifellos die von Morel empfohlene Art des Vorgehens mit den Gedanken des Reformators, der von dem Grundsatz der Legitimität ausging und den Kampf gegen die pflichtvergessene Obrigkeit nur auf gesetzlichem Wege austragen wollte, so haben wir in dem vorgeschlagenen Unternehmen, in dem den Ständen eine hervorragende Rolle eingeräumt wird, den ersten Versuch des Reformators, seine in der Institutio erörterte Theorie des aktiven genossenschaftlichen Widerstandsrechtes in die Tat umzusetzen. Ist dabei die Rücksicht auf die bedrängte Lage der Evangelischen das Leitmotiv, so muß der Vorschlag des Reformators als wohlüberlegt aufgefaßt werden. Denn die Guisen waren nicht bloß bei dem Adelsstand unbeliebt. Der Adel wollte den Gehorsam dem König nicht entziehen, sondern wegen der wohl allgemein empfundenen Unfähigkeit des letzteren die hervorragende Stelle in der Regierung nur den natürlichen Häuptern, den ersten des Adels, den Prinzen von Geblüt, einräumen. Dazu kam der nationale Stolz, der die Fremdherrschaft der Guisen nicht ertragen konnte 80). Es ist bezeichnend, daß die gegen die Guisen gerichtete Publizistik den Widerstand


77) 12,595: melius quam pridem ad causam nostram esse affectum. Ueber die früheren Beziehungen zu den Evangelischen vgl. den Bericht des Predigers Macar an Calvin 17,180.
78) 17,596: viam illi patefactam ad regni gubernacula, quae inire posset omnium ordinum secundis voluntatibus.
79) Ib. 596.
80) Vgl. Marcks, a.a.O., 354f.
81) Die „Supplikation et Remonstrance adressée au Roy de Navarre et autres Princes du Sang de France” in „Mémoires de Condé” (im folgenden abgekürzt citirt: MC) I,493: vous ne devez ignorer ce poinct que nature mesmes nous enseigne, c’est assavoir, qu’un chascun est tenu d’avoir un soing particulier de ceux qui luy sont conjoincts de sang; vgl. ib. I,473.

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gegen die Fremdlinge und die alleinige Berechtigung der Prinzen von Geblüt als der nächsten Verwandten des Königs mit dem Naturrecht, mit dem Recht der Blutsgemeinschaft begründet 81). Aber auch der anderen Schichten bemächtigte sich ein nur schwer gedämpfter Ingrimm gegen die verhaßten fremden Machthaber, da man ihre unglückselige Wirtschaftspolitik für die Volksschäden verantwortlich machte, eine Empörung, die auch unter den Zeilen der Wunschhefte für die Ständeversammlung in Orleans hervorbricht. Calvin kannte sicher diese Gefühle. Daher war seine Absicht, die Stände zur Abhilfe heranzuziehen, ein Zeugnis seiner politischen Umsicht und seines Wirklichkeitssinnes. Dabei setzt er voraus, daß der König von Navarra allein berechtigt ist, infolge seiner hervorragenden Stellung die Stände zu berufen. Das geht ebenfalls aus dem Schreiben Morels hervor, der für den Fall, daß der Navarreser den Wünschen Calvins und der Prediger nicht entsprechen sollte — die unbestimmte Antwort und die Unberechenbarkeit des letzteren scheint bei ihm diese Befürchtung zu begründen 82) — die Frage aufwirft, ob Anton von Navarra allein das Recht habe, die Stände einzuberufen, oder ob jeder Untertan, auch der geringste, die Einberufung verlangen darf, wenn die Vornehmen aus Furcht sich zu einem freien Wort nicht entschließen können 83). Auf diese Frage verlangt Morel „brennend” die Antwort Calvins, der, wie Morel bezeugt, bis dahin nur Anton von Navarra in Betracht gezogen hatte 84). Damit stellt Morel ein bis jetzt nicht erörtertes staatsrechtlich bedeutsames Problem auf und verquickt es mit dem ebenfalls bis dahin nicht beachteten wichtigen „Gesetz der Franzosen”, das die Regentschaft während der Minderjährigkeit des Königs regelt. Dieses schreibe vor, daß nach dem Tode des Königs die versammelten Reichsstände einen Vormundschaftsrat für die minderjährigen Königskinder und einen Regentschaftrat für den jugendlichen König einsetzen,


82) 17,596. quum neque accepisset neque repudiasset conditionem quam offerebam.
83) Jure . . ordines regni convocare licet. An autem illi soli (sc. Anton) de quo agimus? nonne etiam cuilibet illa flagitare fas est, vel infimae sortis huius regni, quum iacerent proceres et metu defixi liberum verbum non audeant.
84) Inferiora vero alia, praeter illud de N(avarreno) nulla profers.

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wonach dem letzteren die nächsten Verwandten des Königs angehören sollen, die die Regentschaft bis zur Reifezeit des Herrschers zu führen hätten. Morel wurde auf diesen neuen Rechtsweg durch Hotoman, den Professor der Rechte in Straßburg, aufmerksam gemacht in einer Botschaft, die der Prediger Le Macon (Riviere) Morel überbracht hatte 85). Daraus geht klar hervor, daß die beiden Probleme, das Minderjährigkeitsgesetz und die Frage der Einberufungskompetenz neu in den Gesichtskreis Morels und durch ihn zur Kenntnis Calvins gelangen konnte. Daß Hotoman Morel diesen neuen Gedanken eingegeben hat, erfahren wir aus der späteren unliebsamen Auseinandersetzung zwischen Hotoman und Sturm: Paulo ante Ambrosianam stultitiam . . coepisti animum adiicere ad rem publicam: sed et apud me obtinuisti ut communes ad regem Navarrae bonae fidei mitteremus litteras, per quendam scis hominem, ego ignoro, et scis tu quid ei extra ordinem commiseris meo nomine, sed tamen etiam tuo, quandoquidem te mihi in illis litteris adiunxeras, quum antea ignotus esses regi Navarreno totique illius aulae 86). In dem Vorschlag Hotomans und Morels haben wir offenbar einen Versuch, den Widerstand gegen die Guisen staatsrechtlich zu begründen. Zwei wichtige Forderungen, daß die nächsten Blutsverwandten des Königs zur Zeit seiner Minderjährigkeit den Regentschafts- und Vormundschaftsrat bilden sollen, sodann daß die Stände einberufen werden müssen, um diesen Rat einzusetzen, sollen auf ihre positivrechtliche Verwurzelung (qui est lex Gallorum) gestützt werden. Waren aber tatsächlich diese Forderungen positivrechtlich begründet, gab es damals unzweideutige Bestimmungen in dem „französischen Gesetz”?

Es ist nun beachtenswert, daß die beiden Hauptforderungen Hotomans und Morels ein Jahr später in den


85) Ib. 597: praesto mihi fuit Rivierus ab Ottomanno missus cum iisdem fere mandatis quae abs te nuper acceperam, non paucis adiectis, quae nobis adiumento esse possunt. Verum age, optime pater, si usque adeo ignavus ac vecors illi (sc Anton von Navarra) fuerit, ut sibi nobisque deesse velit, nullane alia via est qua praesentibus ecclesiae miseriis opitulemur. — Tu autem etsi plurimum cernis, nee ita mihi placeam, ut tu quod non videas ipse videre putem, unum tarnen adferam usw.
86) Op. 14,185. Daß Sturm die Vorschläge Hotomanns mißdeutet, darüber unten.

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anonym erschienenen guisenfeindlichen Schriften: „Supplication et Rémonstrance adressee au roy de Navarre et autres Princes du Sang de France”, nacheinander hervorgehoben werden, wobei der Versuch auftaucht, sie staatsrechtlich zu begründen 87). Unsere Vorfahren, heißt es hier, haben in der Ueberzeugung, daß der französische Charakter (naturel des Francois) die Unterwerfung unter fremde Prinzen nicht ertragen will, durch die lex Salica von der Thronfolge und infolgedessen von der Vormundschaft über ihre minderjährige Könige alle Prinzen ausgeschlossen, die nur mit den Frauen des Herrscherhauses verwandt waren. Was die Kompetenz der Stände betrifft, so wurde zwar die letztwillige Verfügung der Herrscher über die Einsetzung der Vormundschaft immer als unverletzlich angesehen; trotzdem wurden in solchen Fällen die drei Stände einberufen, um zu bestimmen, was dem Interesse des Königsreichs dienlich sei. Sie ordneten den Vormunden und Regenten einen Rat bei, durch den die wichtigsten Angelegenheiten erledigt wurden. Gegen diese Feststellung erhoben aber die Gegner schwerwiegende Bedenken. Es war vor allen Dingen der Sekretär des Pariser Parlaments du Tillet gewesen, der die Verteidigung des bestehenden Rechtszustandes übernahm. Das, was rechtens sein soll, so führt du Tillet, aus, ist von altersher nicht immer rechtens gewesen. Es wurden nämlich nicht bloß die nächsten Blutsverwandten des Königs in männlicher Linie ernannt, sondern auch die nächsten Verwandten der Frauen; das sei aber eine Lösung, mit der die nächsten Blutsverwandten in den meisten Fällen einverstanden waren und die auch den Reichsständen zusagte. Die Heranziehung der letzteren geschah nach du Tillet nur in den Fällen der tatsächlichen Minderjährigkeit, die mit dem 14. Jahr erlischt. Diese Forderung könne in der gegenwärtigen Lage nicht geltend gemacht werden, da der König Franz II. bei seinem Regierungsantritt


87) Demnach kann die von einigen Forschern: Mariejol, de Ruble, denen sich auch Naef anschließt, ausgesprochene Vermutung, daß Hotoman der Verfasser der Supplication ist, zur Sicherheit erhoben werden. Die beiden Prinzen, an die sich die Bittschrift richtet, Anton von Navarra und Ludwig von Condé, waren im Sommer 1560 in Nerac; hier verhandelt mit ihnen Hotoman und Beza; vgl. Naef, a.a.O. 362.

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gegenwärtig nur 16 Jahre alt sei 88). Ihm, dem mündigen Souverän, stehe allein das Recht zu, die Reichsstände einzuberufen oder die Räte nach Belieben heranzuziehen. Die guisenfeindlichen Schriftsteller, die das Gewicht dieser Argumente nicht verkennen konnten, wollten sie durch die Unterscheidung von zwei Graden der Minderjährigkeit entkräften; die Vormundschaft (tutelle) erstrecke sich bis zum 15. Lebensjahr; dann beginne die Kuratel, die bis zum 25. Lebensjahr dauert. Die mit dem 14. Jahre erlangte Mündigkeit sei keine vollständige, sondern nur ein Zwischenzustand zwischen der absoluten Minderjährigkeit und der Mündigkeit 89). Aber dieser Gegenbeweis konnte nicht befriedigen, da er privatrechtliche Bestimmungen staatsrechtlich anzuwenden sucht mit der allerdings sittlich betonten Begründung, daß das, was für Privatpersonen gilt, in erhöhtem Maße für die minderjährigen Herrscher bindend ist, da gerade unter ihrer Herrschaft mit Rücksicht auf ihre Jugend leicht aufwieglerische Mächte sich breit machen könnten 90). Eine positivrechtliche Begründung fehlt. Wenn einzelne Herrscher sich über das 14. Lebensjahr hinaus die Bevormundung gefallen lassen und von dieser sich erst nach ihrem 20. Lebensjahr freimachen, so sei es Sache ihres freien Willens 91). Es war den Gegnern ein leichtes zu betonen, daß die französischen Herrscher dem privatrechtlichen Mündigkeitsgesetz, das übrigens in den einzelnen Gewohnheitsrechten (coutumes) verschiedene Bestimmungen enthielt und vom römischen Recht abwich, nicht unterworfen waren und die Modalitäten in der Anwendung sich hauptsächlich auf die letzwillige Verfügung des Vaters des minderjährigen Herrschers gründeten 92). Die Befugnisse der Reichsstände, bei der Regelung der Herrschaft mitzuwirken, wurden von den Gegnern nicht angetastet, wenn sie auch mit Absicht darauf hinwiesen, daß diese bis jetzt zu den durch das Testament


88) MC I,438ff, 442f, 444.
89) So der Verfasser der Response au livre inserit pour la Majorité du Roy Francois second in MC I,495ff., offenbar ein Jurist (Hotoman?).
90) MC I,495.
91) ib. 460, 498.
92) ib. 538ff.

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getroffenen Vereinbarungen immer ihre Zustimmung gegeben hatten 93). Die Dringlichkeit der Einberufung der Reichsstände stand aber für die Evangelischen im Vordergrund. Um sie rechtlich erheblich zu machen, versuchte man die Minderjährigkeit des Königs mit den privatrechtlichen Denkmitteln zu erweisen. Innerlich waren die Vertreter dieser Anschauung schwerlich von der Beweiskraft ihrer Sätze über die vermeintliche Minderjährigkeit Franz II. überzeugt, denn im Grunde machte ihnen nur die Unfähigkeit des Königs, sich von der Tyrannis der Guisen frei zu machen, zu schaffen. Und die Guisen selbst wußten es genau, warum sie die Einberufung der Stände zu verhindern suchten; handelte es sich doch dabei um Sein oder Nichtsein ihrer verheerenden Herrschaft 94). Es war der evangelischen Sache abträglich und es lag eine gewisse Tragik darin, daß der König tatsächlich nicht minderjährig war, denn in diesem Fall wäre die Einberufung der Stände nicht nur möglich, sondern sogar notwendig gewesen. Die Befugnis der Stände war damals wirklich ein festgefügter Bestandteil des französischen Staatsrechts. Das geforderte Recht der Prinzen von Geblüt nach der Regierung gehörte zu den „unbestimmten Vorrechten”, aber das Recht der Reichsstände war ein „greifbares Staatsrecht” 95). Das wird von den gleichzeitigen Staatsmännern und Historikern, Comines und Pasquier, übereinstimmend anerkannt 96).

Wie hat sich Calvin zu den Vorschlägen Morels und Hotomans gestellt? Der Brief Morels scheint entweder


93) ib. 442.
94) MC I,475: d’autant qu’on est venu iusque là qu’il n’y a nul moyen d’obtenir rien par la voye ordinaire et que nostre Roy avec la Royne sa Mere, sont du tout séduits par les Estrangers, qui nous tyrannissent, et qui ne craignent rien plus qu’une Assemblée des Etats, en laquelle ils soyent tenus céder à ceux dequels ils ont meschamment usurpé la Place . . force nous est d’essayer tous moyens.
95) Gegen Marcks, S. 349.
96) Bei Wolzendorff a.a.O. 19. Vgl. Sesellius Claudius, de republ. Galliae et rerum officiis, herausgegeben von Sleidanus 1578, S. 270 und Girard du Haillan De l’estat et succez des affaires de France 1573, S. 216b: Die Befugnis der Stände trat zum Vorschein ou pour le gouvernement du Royaume durant la maiorité d’un Roy . . ou pour la Regence du Royaume . . ou pour pourveoir aux doleances et plaintes publiques.

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verloren gegangen oder später beantwortet worden zu sein 97).

Soll die erste Vermutung zutreffen 98), so dürfen wir doch annehmen, daß der Reformator trotzdem über die Pläne der Pariser Geistlichen unterrichtet war. Ende September oder Anfang November 99) war, wie Calvin an den Admiral Coligny berichtet 100), Chandieu nach Genf gekommen, um vom Reformator zu erfahren, ob es „den Kindern Gottes erlaubt sei, den sie unterdrückenden Tyrannen Widerstand zu leisten und welche Mittel dabei angewendet werden dürfen”. Calvin verneinte zunächst die Frage, da die Welt in dem überdies durch die Autorität Gottes nicht beglaubigten Unternehmen nur Leichtfertigkeit und Eigendünkel sehen würde. Chandieu beruhigt den Reformator. Es handle sich nicht um den Widerstand gegen den König und seine Autorität — eine Zusicherung, die in der späteren Publizistik des Jahres 1560 immer wieder ausgesprochen wird 101), — sondern um den Wunsch der schwer bedrückten Glaubensgenossen, eine auf die Gesetze des Landes sich stützende Regierung aufzurichten, ein Verlangen, dessen Berechtigung schon mit Rücksicht auf die Jugend des Königs unbestreitbar sei. Chandieu formuliert also das Problem ähnlich wie Morel und Hotoman. Calvin willigt ein (bien lui accorday je) unter der Bedingung, daß die Prinzen von Geblüt ihre Rechte zum allgemeinen Wohl geltend machen und die Stände 102) sich mit ihnen vereinigen


97) Am 11. September schreibt Morel an Calvin: maxima sollicitudine afficior ne fideliter tibi redditae fuerint literae quas . . ad te mittebamus aut consulebamus nullam facis. — Zu der Zeitbestimmung siehe Naef, a.a.O., 157.
98) Die Möglichkeit, daß Calvin den Brief bekommen hat, ist nicht ganz ausgeschlossen; schreibt doch Beza am 12. September 1559 Op. 17,638: saepe consulimur, an liceat adversus ipsos non tantum religionis, sed etiam regni hostes insurgere, quum praesertim seeundum leges nulla tut adhuc penes regem ipsum autoritas qua illi niti possint.
99) Zu der Zeitbestimmung siehe Naef, a.a.O., 157.
100) 18,426.
101) MC I,326, 360, 406, 464.
102) Unter den „cours de Parlament” können nur die Stände verstanden werden, wie ja Calvin bei seiner Verteidigung vor dem Genfer Rat anläßlich des Prozesses MoreJy — Bordon von „les estats” spricht. Denn der Begriff „parlements” bezeichnet ursprünglich die Versammlungen der Stände, bevor er in einem speziellen Sinn gebraucht wurde, nämlich als Bezeichnung des Hofgerichtes in Paris (zum erstenmal im Jahre 1239: „pallamentum”). Aber auch nach dieser Zeit ist er abwechselnd auf die beiden Korporationen, die Stände und die curiae generales angewandt worden (vgl. Lavisse, Histoire de France III/2,259 und 328. Holtzmann, ➝

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sollten. Dann dürften alle guten Untertanen ihnen ihre „starke Hand” (main forte) leihen. Mit aller Deutlichkeit wird hier der Grundsatz ausgesprochen, daß die religiöse Freiheit nicht durch die Betroffenen selbst errungen werden kann, sondern daß dazu die Obrigkeit zuständig ist, die die Lösung unter dem Gesichtspunkt des allgemeinen Staatswohls anstreben kann und muß. Sie fällt also nicht in den Bereich des göttlichen Rechtes, sondern sie ist eine staatlich-weltliche Angelegenheit, die im vorliegenden Fall mit der Regelung der Regentschaftsfrage zusammenfällt. Jeder irreguläre Aufstand erscheint Calvin nicht bloß als eine Verkrümmung des positiven Rechtes, sondern als eine unselige Verkümmerung des Christentums.

Hatte demnach Calvin sich überzeugen lassen — ob erst durch Chandieu, oder bereits durch Morel, mag als unerheblich dahingestellt bleiben — daß der Widerstand gegen die Guisen nach der allerdings irrtümlichen Auffassung Hotomans staatsrechtlich gerechtfertigt ist, so ist damit seine Stellungnahme zu dem Vorschlag, den ihm Morel hinsichtlich der Durchführung des Widerstandes macht, gekennzeichnet. Er lehnt diesen Vorschlag ab. Morel vertritt die Anschauung, daß, wenn das allen zustehende Recht die Einberufung der Stände zu verlangen,


➝ Französische Verfassungsgeschichte, 198. Musselin, a.a.O., II,2444. Girard du Haillan, aa.O., 216: Tenir les Estats, est ce mesme qui estoit iadis tenir le Parlement, et n’est autre chose que communiquer le Roy avec ses subjects de ses plus grands affaires, praindre leur advis et conscil usw. Bei der Wiedergabe seines Gespräches im September bis Oktober betont Calvin, daß er es als einen „rechtlichen Weg” (voye de iustice . . faire Justice et faire iuxte l’ordre establi pour le loi de France) bezeichnet habe, „qu’on à prester la main forte, d’aultant que toutes les cours de parlement, la noblesse et le peuple favoriseroient à ceste cause . . Diese Stellungnahme wird auch von Chandieu vor dem Rat bestätigt: A dit et respondu (Chandieu), commc estant venu icy pour parier aud. spect. Calvin, il luy remonstra la tyrannie de ceux de Guise, les oppressions qu’ilz faisoient sus le peuple . . . et que par succession de temps pourroient usurper le royaume, et que pour ces raisons et aultres, y se pourroit faire que on observa ce qui est establi par les loix de France, quand le Roy est en bas eage, doivent estre gouverneurs ceux qui aprochent, plus de la couronne et ne princes estranges . . et qu’à cest effet l’on pourroit se ranger avec le d’prince (Anton von Navarra) et aultres propos. A quoy led. spect. Calvin respondit que cela seroit purement civil et se pourroit licetement faire que les estatz se joingnissent avec le roy de Navarre pour y mettre ordre, comme aussi de droit luy apartient, et qu’il ne trouvoit mauvais que les fideles en ceste sorte fussent du mombre (Naef, 138f., 145).

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abgelehnt werden, ja den betreffenden Bittstellern ein Unrecht zustoßen sollte, alle befugt seien, mit den Waffen zu fordern, was die kleine Partei und die fremden Tyrannen ihnen entrissen haben 103). Zweifellos ist in dem Vorschlag Morels ein demokratischer Keim enthalten, die Ueberzeugung, die dann in den späteren Theorien von den Grundrechten der Einzelnen zur Entfaltung kommt. Allerdings ist der Gedanke, daß jeder Einzelne das Recht hatte, die Einberufung der Stände zu fordern, in dieser allgemein gehaltenen Formulierung unklar und staatsrechtlich unmöglich. Zwar wird Morel ein individuelles Widerstandsrecht vorgeschwebt haben; aber ein Einzelner kann als solcher nicht erwarten, daß die Abweisung seiner Forderung den bewaffneten Schutz nach sich ziehen müßte. Morels Vorschlag hätte nur einen Sinn, wenn er etwa der Meinung gewesen wäre, daß diese Forderung nur dann Aussicht auf Verwirklichung hätte, wenn sie durch eine Persönlichkeit erhoben werden könnte, die durch die mit dem gegenwärtigen Zustand Unzufriedenen dazu beauftragt würde. Der Vorschlag Morels hat allerdings ein Jahr später seine Verwirklichung gefunden. Coligny hat am 23. August 1560 die Bittschrift der Evangelischen im Kronrat zu Fontainebleau, genau zwölf Jahre vor der Bartholomäusnacht, überreicht und die Einberufung der Stände erwirkt. Aber der Erfolg, der Colignys unbeirrbar ruhigem Mut und Ansehen beschieden war, wäre vor einem Jahr unausdenkbar gewesen 104), denn er war weder in der französischen Gesetzgebung, noch in dem bisherigen Gewohnheitsrecht verankert. Darum war der Vorschlag Morels ein Wagnis. Er nimmt die Gedanken voraus, die später Beza nach der Bartholomäusnacht in seiner Schrift „de iure magistratum in subditos” entwickelt: alle können sich widersetzen gegen diejenigen, die in der Verletzung ihrer Amtspflicht sich eine tyrannische Herrschaft über die Untertanen anmaßen 105). Unter dieser demokratischen Voraussetzung, die alle sozialen Vorrechte, also auch diejenigen


103) 17,597.
104) Marcks, a.a.O., 407.
105) Vgl. Cartier, Bulletin de la Soc. d’histoire et d’archéologie de Genève, II,187ff.

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des höchsten Adels, verschwinden läßt, kann Morel die einzige Legimitation der Prinzen von Geblüt bestreiten und diese dem Geringsten im Volk zuerkennen. Er spricht damit aber nicht seinen eigenen Gedanken, sondern gibt den Vorschlag wieder, den ihm Hotoman in dem durch den Prediger Le Macon übermittelten Brief mitteilt. Denn es ist Hotoman, der ein Jahr später in der „Response aux Livre enscrit pour la Majorité etc.” den widerstehenden Evangelischen (ceux qui avoyent dressé ceste entreprise) das Recht zuspricht, zu verlangen, daß der König und seine Mutter die Stände einberufen; es ist Hotoman, der die gegen die „vornehmen Geistlichen” (ministres principaux) erhobene Anklage, sie bezeugten durch ihre Forderung der Einberufung der Reichsstände nur eine Mißachtung des Königs und der Königsmutter, zurückweist 106); es ist Hotomann, der in seiner „Historie du Tumulte d’Amboise” es berechtigt findet und als Beweis für die loyale Gesinnung der Verschwörer dem König gegenüber anführt, daß der Chef der widerstreitenden Adeligen (gentilshommes), la Renauldie in ihrem Namen, ja im Namen der Stände nichts anderes bezweckt habe, als die Beobachtung der alten Gewohnheit (coustume de France), wenn er die Einberufung der Stände verlangt hatte 107). Kommt in diesen Sätzen die Überzeugung Hotomans zum Vorschein, daß nicht allein die Prinzen von Geblüt, sondern jeder Untertan, der Adelige wie der Prediger, das Recht hat, die Einberufung der Stände zu verlangen 108), eine Ueberzeugung, die Sturm in der erwähnten Botschaft Hotomans als eine Neigung zur Demokratie bezeichnet 109), so ist es klar, daß der Führer der Verschwörer, la Renauldie und der Prediger Chandieu auf den Ratschlag Hotomans, nicht aber auf die Warnungen Calvins gehört haben.


106) MC I, 468, 446.
107) Ib. 324: Vgl. La Place, Commentaire de l’Etat de la Religion et République 34. Le Premier article estoit couché en ces termes: Protestation faicte par le chef et tous ceux du conseil de n’attenter aucune chose contre la majesté du Roy: . . Et estoit le but de l’entreprise de faire observer l’ancienne coustume de France par une legitime assemblée des Estats.
108) Einen Widerhall dieser demokratischen Tonart findet man in dem „Advertissement au Peuple de France” MC, ib. 403: peuple Francois, votre devoir est . . de tascher par tous moyens legitimes à vous opposer à une si meschante et malheureuse entreprise: demandans secours et ayde premierement à Dieu . . et en apres à tous les Parlements, et Estats du Royaume.

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Der Reformator bringt es unzweideutig und wiederholt zum Ausdruck, daß der unglückliche Ausgang der Verschwörung von Amboise auf die Nichtbefolgung seiner Ratschläge zurückzuführen sei 110). Seine Lehre und seine Ratschläge weisen das Widerstandsrecht in die Schranken der Legitimität, die nur dadurch aufrechterhalten werden konnte, daß die Fürsten von Geblüt, sofern sie ihre eigenen Rechte wahren, und die zum Schutz des Volkes eingesetzten Reichsstände, also die neben dem König einzigen öffentlichen regierenden Organe bei der Weigerung ihrer Gegner den Widerstand mit bewaffneter Hand durchführen dürfen 111). Infolgedessen lehnt er den Plan, daß nur Ludwig von Condé, auf den die Evangelischen größere Hoffnung setzten als auf seinen älteren Bruder, das gegen die Guisen gerichtete Unternehmen leiten solle, ab 112). Für diese Entscheidung Calvins war nicht der niedere Rang von Condé maßgebend, denn er fand die Begründung (color) annehmbar (probabilis), nämlich daß nach „der alten Sitte des Königreichs und nach den geschriebenen Gesetzen” (secundum veterem regni morem et scriptas leges) einer von den Prinzen in Abwesenheit seines Bruders die erste Stelle im Rat der Krone rechtlich beanspruchen kann (unus ex proceribus summi consilii fratre absente gradum primum sibi iure vendicat 113). Es fiel für ihn in die Waagschale, daß nur


109) Animum adiicere ad rem publicam. Diese demokratische Auffassung Hotomann ist aber nicht antimonarchisch. Man kann weder ihm noch den Verschwörern republikanische und föderative Tendenzen zuschreiben. Die gegenteilige Auffassung scheitert an der Tatsache, daß der nach der mißlungenen Revolution von Amboise erlassene Brief des Königs den Verschwörern diesen Vorwurf nicht macht (MC ib. 398ff.) Der Vorwurf trifft auch Hotoman nicht. Seine Schriften vom Jahre 1560 lassen keinen Zweifel darüber, daß er die Monarchie als Staatsform nicht bekämpft. Dasselbe gilt auch von seinen späteren Schriften, namentlich von der „Franco-Gallia”, in der weder republikanische Tendenzen, noch eine Abschaffung des Königtums im Gesichtskreis liegt (Elkan, Die Publizistik der Bartholomäusnacht, Seite 44).
110) Op. 18,81. 95. 426.
111) 18,426: bien luy (Chandieu) aecorday ie que si les Princes du sang requerroyent destre maintenus en leur droit pour bien commun, et que les cours de Parlament se ioingnissent à leur querele, qu’il soit licite à tous bons sujets de leur prestre main forte.
112) Ib. Lhomme me demanda bien quand on auroit induit lun des Princes du sang a cela, encore quil ne fust pas le Premier en degre, sil ne seroit point permis. II eut encore response negative en cest endroit. Vgl. auch Place, Commentaires de l’estat de la religion I,33ff.
113) Op. 18,82.

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einer von den Prinzen, und dazu ohne Unterstützung der Stände, die Gesetzmäßigkeit eines bewaffneten Widerstandes (prester main forte) zum allgemeinen Wohl (pour le bien commun) nicht begründen kann. Dagegen hatte er nichts einzuwenden, wenn Condé nicht als Vertreter der Obrigkeit, sondern im Namen der evangelischen Glaubensgenossen dem König die Konfession der Evangelischen vorlegte und ihre Anerkennung forderte, allerdings unter der Voraussetzung, daß es nicht dabei zum bewaffneten Widerstand käme. Da er aber sicher damit rechnen mußte, daß dieser wegen der Feindlichkeit der Guisen unvermeidlich wäre, riet er entschieden von dem Versuch ab 114). Man trifft nicht das Richtige, wenn man Calvins Rat dahin zu verstehen glaubt, er hätte im Falle des Widerstandes der Guisen gegen Condé den Evangelischen das Recht der Defensive, nicht aber das Recht der Offensive zugestanden 115). Konnte denn Calvin ernsthaft glauben, daß der Gewalttat der Guisen (si vim adferrent) durch eine unblutige Verteidigung, etwa durch bloßen Protest oder Androhung des bewaffneten Widerstandes beizukommen wäre? Diese Möglichkeit kam für Calvin gar nicht in Betracht. Er wirft den Evangelischen vor, daß sie überhaupt gegen seinen Rat (repudiato meo consilio) zu den Waffen gegriffen hatten (excusant quidem es non temere sumpsisse arma). Weil er an einen friedlichen Ausgang des Unternehmens nicht glaubte, hat er nicht den Versuch selbst, sondern auch die dazu beabsichtigten Mittel ohne Einschränkung abgelehnt 116). Denn, so glaubte er, aus einem Blutstropfen würden Flüsse von Blut sich über ganz Frankreich ergießen 117), ja es würden dadurch auch andere Länder in Mitleidenschaft gezogen und der gute Name der Christenheit und des Evangeliums der Schmach ausgesetzt 118). Er hatte


114) Nur so sind die Sätze in seinem Brief an Peter Martyr 18,82 zu deuten: convenerat ut confessionem quae edita est apud nos Regi offerret (Condé): si Guisiani vim adferrent vel eins factum tralicrent in crimen, parati essent ad eius defensionem quam plurimi: Sed ne hic quidem probabilis color initio mihi placuit, nisi prorsus caverent a fundendo sanguine.
115) So Naeff, a.a.O., 158.
116) 18,39: Mihi non placere totam agendi rationem, rem vero ipsam multo minus probari.
117) dicebam enim fieri non posse quin ex gutta una profluerent fluvii qui Galliam obruerent.

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gehofft die bei ihm Rat holenden Evangelischen, vor allem Chandieu 119) zur Vernunft gebracht zu haben, hat sich aber darin gründlich getäuscht. Die unbesonnen unternommene Sache wurde noch schlimmer fortgeführt 120), vor allem ist es der Führer der Verschwörung, la Renauldie, der nach Calvins Ueberzeugung 121), mit seiner Eitelkeit, Waghalsigkeit und Gehaltlosigkeit das schließliche Mißlingen des Handstreiches verschuldet hat. Er hatte Calvin im Dezember 1559 in Genf aufgesucht, sich für geschaffenen Führer ausgegeben 122), ist aber von dem Reformator entschieden zurückgewiesen worden, der das ganze Unternehmen als phantastisch, als einen Kreuzzug, beschlossen an runder Tafel umherirrender Ritter (Croisade de Chevaliers errans ou de la table ronde) 123), als ungesetzlich verurteilte (consilio destituti rem non legitimam stulte et pueriliter aggressi sunt) 124) und das Mißlingen von Anfang an voraussah 125). Trotzdem hat Renauldie einige von Adel und Handwerker in Genf für seinen Plan zu gewinnen versucht. Nach geheimen Verhandlungen sind einige von ihnen gegen das ausdrückliche Verbot des Genfer Rats ausgezogen 126). Auf ein angeblich durch La Renauldie verbreitetes Gerücht hin, der Reformator wäre ein geheimer Anhänger des Aufstandes, traute sich aber nicht öffentlich dies zugestehen, hat Calvin la Renauldie zur Rechenschaft gezogen. Dieser mußte aber in der Gegenwart von Viret, Beza und anderer Zeugen ausdrücklich verneinen, Urheber dieser Gerüchte zu sein und bekennen, bereits vor seiner Abreise von Paris gehört zu haben, daß Calvin diesem Aufstand fernstünde 127).

Die klaren und bestimmten Aussagen Calvins, die er in den Briefen an seine Freunde, an den Admiral Coligniy und gegenüber dem französischen Gesandten Coignet macht, sollten mit Rücksicht auf den geradlinigen


118) 18,426.
119) 18,81: putabam meo responso ad sanitatem redactos esse; 426: ie pensoye bien que tout deust estre mis sous le pied.
120) 18,39.82
121) Ob Calvins Urteil über La Renauldie zutreffend war — die von den Herausgebern des CR (Op. 18,82) angeführten Zeugnisse scheinen dies zu bezweifeln — ändert an der Tatsache, daß er ernstlich sein Unternehmen mißbilligt, nichts.
122) 18,84.

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unerschrockenen Charakter Calvins nicht bezweifelt werden. Sein Selbstzeugnis: mon intention na pas este de nager entre deux eaux ou dissimuler par astuce et tant moins de grattifier a lardeur de ceux qui se precipitoient deulx mesmes 128), ist nach allem, was wir über ihn wissen, seiner wahren Gesinnung entsprungen. Wenn trotzdem von den Feinden des Reformators vor und nach seinem Tode diesem die Beteiligung an der Verschwörung oder Anstiftung dazu zum Vorwurf gemacht wird 129), so sieht man, welche verheerende Wirkung ein einmal entstandenes grundloses Gerücht, wie das anläßlich der Anwesenheit Renauldies in Genf verbreitete, haben kann. Aber auch die moderne, Calvin durchaus wohlwollende Forschung kann sich von diesem Vorurteil nicht ganz befreien. Calvins Gefühl sei doch dabei nicht ganz einheitlich gewesen; er würde den Erfolg des gelungenen Anschlages mit Freuden begrüßt und verwertet haben 130). Wenn man sich dafür auf eine Stelle aus dem Brief Calvins an Clervant beruft, in der er den vertriebenen Edelmann dadurch zu trösten versucht, daß Gott einen Umschwung anbahnt, den wir nicht kennen, dessen große Zeichen wir aber spüren 131), so ist nicht ohne weiteres anzunehmen, daß Calvin hier nur an den durch Renauldie vorbereiteten Aufstand denkt 132). Hatte doch um dieselbe Zeit Hotomann Calvin berichtet, daß das zwischen England und Schottland geschlossene Bündnis zu einem Krieg führen kann 133); hatte doch Beza um dieselbe Zeit gehofft, daß Gott auf eine andere Weise als durch Aufstände, etwa durch Erweckung eines Prinzen der Sache der Verfolgten helfen werde 134). Noch neuerdings glaubt man annehmen


123) ib. 428.
124) ib. 95.
125) ib. 82, mihi nihil inopinatum accidit; 95: ab initjo vaticinatus sum quod accidit; 85: de tristi eventu ita sum vaticinatus.
126) 18,80f. 427.
127) ib. 85, 427.
128) ib. 429.
129) Vgl. Naeff, 61ff.
130) So Marcks, a.a.O., 361.
131) 17,704.
132) Außerdem ist die Datierung des Briefes an Clervant sowie die Dauer des Exils des letzteren unbekannt.
133) 17,622.
134) 18,3.

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zu dürfen, daß Calvin im Grunde seiner Seele die Hoffnung auf einen unvorhergesehenen Erfolg gehegt hatte; da er die Berechtigung des Aufstandes anerkannte, hätte er das Vorhaben, das er schließlich dennoch verurteilte, nicht verbrecherisch finden können 135). Bereits in seinem aufklärenden Brief an Coligny beantwortet der Reformator den Einwand, warum er nicht in aller Form sich gegen das Unternehmen gewandt habe (pourquoy je ne m’y suis plus formellement opposé) 136) klar und energisch: Er habe das Unternehmen für kindisch (je pensoye que ce fust un ieu de petits enfants) 137) und die Person des Anführers für so nichtig (frivole) gehalten, daß er annehmen konnte, die Sache würde von selbst im Sande verlaufen (je pensois, que de soy-mesme il s’escouleroit). Außerdem habe er durch eine Anzeige nicht die Gefahr heraufbeschwören dürfen, denn dann wären seine Glaubensgenossen ihren Feinden an das Messer geliefert, umso mehr als er dann nicht in der Lage gewesen wäre, dabei die Unschuldigen von den Schuldigen zu unterscheiden 138). Auch diese überzeugende Klarlegung der Antriebe wird nicht als genügend erachtet 139). Der Reformator hätte bei Condé einschreiten und den Arm der Verschwörer aufhalten sollen. Hätte das aber genützt? Calvin bemerkt wiederholt, daß die Verschwörer wie verhext waren 140), und beklagt sich bitter darüber, daß sein Rat so schnöde mißachtet wurde und die Faszinierten es als ihre Aufgabe betrachteten, ihn zu betrügen 141). Die Aufrührerischen sprachen es ja unverblümt aus, daß nicht allein in den Genfern der Geist Gottes wohne 142). Konnte der Reformator angesichts dieser Massenpsychose, in der Ueberzeugung,


135) Naeff, 163: Schubert, Meister der Politik I,493 läßt es unentschieden, „ob Calvin mehr das Unrecht oder das Ungeschick beim Anschlag von Amboise beklagt”.
136) 18,429.
137) ib. 428.
138) Vgl. außerdem 18,84: occulte id quidem et placide, quia verebar ne si rei fama ad hostes manare ad carnificinam pios omnes traherem.
139) Naeff, ib.
140) ib. 81: ut clare diceres esse fascinatos; 18,85: centies dixi, modum esse fascini genus; 95: quo fascini genere sie captae erant multorum mentes: ib. 428: vrayment estoyent ensorcelez.
141) ib. 95: nullum putarunt esse melius compendium quam si me fallerent; 85: quum nihil proficerem, conquestus sum in nobis tam parum esse autoritatis, ut in re maxime seria consilium nostrum sperneretur.
142) Roget, Hist. du peuple de Genève VI.28.

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daß alle durch den einen „nebulo” verdorben waren 143), noch andere ihm von den modernen Beurteilern post festum empfohlenen Mittel ergreifen können und die Schuldigen durch die Verbannung aus Genf bestrafen sollen 144), darunter Menschen, bei denen es sich später herausstellte, daß sie ihre draufgängerische Tat bitter bereuten 145)? Und welchen Sinn hätte die Vertreibung von la Renauldie 146) noch gehabt, nachdem sich dieser nach seiner Unterredung mit Calvin nach Lausanne begeben hatte 147), um von da aus seine Werbung fortzusetzen?

Vor allen Dingen darf das höchste Interesse nicht außer Acht gelassen werden, das Calvin bei der Wahrung der Legitimität und bei der eindeutigen Verurteilung des Aufstandes leitete: das Wohl der Kirche, die Reinheit des Werkes Gottes, dem er vorstand. Er schlägt den rechten Ton an, wenn er dem Admiral im Bewußtsein der Verantwortlichkeit erklärt, er wolle lieber für Verräter der Kirche gehalten werden, für einen, der die Freiheit der Kirche und die Entwicklung des Werkes Gottes hindere, als leichtfertig einer Tat zusehen, die er mißbilligen müsse 148); er glaubt dadurch mehr der Freiheit der Kirche zu dienen als diejenigen, die durch Tumulte sie zu erreichen suchten 149). Der Ungehorsam der letzteren und ihr falscher Eifer ist ihm so nahe gegangen, daß er, von Schmerz bewältigt, nur die dringendste Korrespondenz erledigen konnte 150). Diese echten Gefühlsäußerungen eines sonst seine inneren Regungen keusch verhüllenden Mannes tragen so sehr den Stempel der Wahrhaftigkeit, daß man endlich aufhören sollte, seine reinen Motive zu verdächtigen oder ihn der Doppelzüngigkeit zu beschuldigen. Calvin kann sich zur Bekräftigung seiner Behauptung darauf berufen, daß er in seinen damaligen Predigten, die man nach Tag und Monat


143) ib. 82: omnes pessumdedit sua futilitate.
144) Naeff, 163.
145) ib. 85,81.
146) „un mandat d’expulsion contre la Renauldie”: Naeff. ib.
147) ib. 85,427f.
148) ib. 430.
149) ib. 81: qui tumultuando putarunt se libertatem quae aliis quanerenda erat posse consequi.
150) ib. und 18.429.

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geordnet aufgeschrieben hatte, möglichst eingehend das Problem behandelt habe 151). Es blieb ihm nichts anderes übrig, als die Gläubigen zur Geduld zu mahnen. Er mußte es tun, da Anton von Navarra die nur schwachen Hoffnungen des Reformators und der Evangelischen enttäuscht hatte, indem er die vollzogene Ernennung der beiden Guisen zu den höchsten Leitern des Staatswesens restlos anerkannt und dadurch, wie Calvin es ungeschminkt ausspricht, einen Verrat an der evangelischen Sache begangen hatte 152). Auf die zahlreichen Anfragen, ob der Widerstand gegen die Feinde der Religion und des Reiches erlaubt sei, da der junge König nicht die nötige Autorität besitze, auf die er sich verlassen könnte, antworten die Genfer, wie Beza in seinem Brief an Bullinger am 12. September 1559 berichtet, daß die Heimsuchung nur durch Geduld und Gebet zu ertragen sei 153).

 

6

Die unglückliche Verschwörung brach am 17. März 1559 vor den Toren von Amboise blutig zusammen. Aber die Kraft des Protestantismus wurde dadurch nicht gelähmt. Man kann sogar von einem Aufstieg sprechen. Die im Norden und Süden aufflammenden Aufstände, vor denen der eingeschüchterte Hof zitterte und die durch die Gegner nicht bewältigt werden konnten, sind ein Beweis dafür, daß die Protestanten selbst das Werk der Befreiung in die Hand nehmen wollten. Die gegen sie erlassenen Edikte konnten die Bewegung nicht bloß nicht aufhalten, sondern sie trieben, wie Beza in einem Brief an Bullinger am 26. Juni berichtet, Unzählige in die Reihen der Evangelischen 154). Zwar wird die Bewegung von den Geistlichen geleitet. Diese lassen sich aber oft gegen ihren Willen durch die Leidenschaft der Menge mitreißen, wie Calvin,


151) ib. 430. Er denkt dabei hauptsächlich an die Homilien über das erste Samuelis-Buch; vgl. namentlich 29,552; 30,496. 504. 582ff. 591 und den Premier Sermon de l’histoire de Melchisedec 23,641ff.
152) 17,652. vgl. 17,634. 636. 648. 672. 709.
153) Op. 17,638.
154) 18,120.

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der auch jetzt nicht aufhört, zur Geduld und zur Besonnenheit zu mahnen, gestehen muß 155). Hätte er sich nicht dazwischen gelegt, würden viele Gegenden in Flammen aufgehen 156). Dabei steht im Hintergrund der Gedanke, daß durch die herrschende Partei der Guisen eine rechtlose Zeit herbeigeführt und die Autorität des Königs herabgewürdigt worden sei, daß die Protestanten berufen seien, diese der Krone und dem Volke geraubten urtümlichen Rechte wieder zurückzugeben, eine Überzeugung, derBullinger den beredten Ausdruck verleiht: Wenn die Gläubigen sich den Tyrannen und Oligarchen widersetzen und dadurch das alte „französische Recht” wieder herstellen wollen, so darf gegen sie nicht mit Waffengewalt oder mit finanzieller Unterstützung ihrer Gegner vorgegangen werden 157). Von dieser Grundvoraussetzung gehen auch die von uns bereits erwähnten antiguisischen Streitschriften dieses Jahres aus, die mit ihren vielfach leidenschaftlichen, mit zahlreichem Material ausgestatteten Ausführungen ihre Wirkung nicht verfehlen konnten, da die Oppositionellen ihren Anhang nicht bloß in den breiten Massen des Volkes, sondern auch unter den Edelleuten, namentlich aber unter dem niederen Adel hatten, in dem das lebendige Staatsgefühl gegen die Verletzungen durch die Guisen kräftig reagierte. Um die allgemeine Unzufriedenheit zu beheben, entschlossen sich die Gegner zu einer Milderungspolitik. So wurde, durch eine grausame Verordnung des Senats in Lyon veranlaßt, ein „milderes Edikt” (mollius edictum) von Romorantin erlassen 158), das die Ketzergerichtsbarkeit neu ordnete. Man wies darauf hin, daß das allgemeine, übrigens von ganz Europa erwartete Konzil den konfessionellen Frieden einleiten werde. Da aber die Kurie es vorläufig beim bloßen Versprechen bewenden ließ, und die Reformfrage wegen der inneren Wirren in Frankreich immer dringender wurde, ist


155) ib. 66: nam quod semper vetuimus, tempia occupant vel in locis publicis concionantur. Excusant fratres a nobis missi se trahi invitos, vel necessitate cogi, quoniam nulla domus privata quatuor millibus sufficiat.
156) ib. 176: nisi me interposuissem, horribili incendio flagrarent multae regiones . . huc studia nostra incumbunt, ne tumultuentur multi; ib. 620: aliquid mea sedulitate profectum esse arbitror, ne suas metas transsilirent privati homines.
157) 18,212.
158) Beza an Bullinger 18,116.

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der Gedanke eines nationalen Konzils aufgetaucht, das, bereits am 31. März unter dem Eindruck der Amboiser Verschwörung vom König angekündigt, die Mißbräuche der Zeit beseitigen und die verlorenen Söhne der Kirche in die allein seligmachende Kirche zurückführen sollte 159). Außerdem wurde auf den 21. August eine Versammlung hervorragender Männer (notables) nach Fontainebleau einberufen, um über die Mittel und Wege zur Besserung der traurigen religiösen und wirtschaftlichen Lage des Reiches zu verhandeln.

Welche Stellung nimmt Calvin zu diesen Maßnahmen ein? Er begrüßt den Plan des Nationalkonzils. Denn durch die bisherigen verderblichen Mißbräuche werden die wahren Anbeter Gottes öffentlich so beleidigt, daß sie lieber sterben wollen, um nicht ununterbrochen in einem solche Schmutz waten zu müssen. Im Nationalkonzil sieht er das einzige Mittel zum Aufhalten aller Aufstandsbewegungen (unica ratio qua sedari possint omnes motus) 160). Calvin war aber überzeugt, daß den Guisen jede Reform unerwünscht war, daß sie die von ihnen betrügerisch und hinterlistig hervorgelockte Milderungspolitik nur heuchlerisch billigten, um nach Eintreten ruhigerer Verhältnisse die Unvorbereiteten um so leichter unterdrücken zu können, daß sie mit derselben schauspielerischen kindischen Heuchelei erklärten, in der Versammlung des erweiterten Kronrats in Fontaineblau Rechenschaft über ihre Wirksamkeit ablegen zu wollen 161). Daß Calvin die listige Taktik der Guisen richtig durchschaut hatte, hat sich später gezeigt; das Blutbad zu Vassy nach Erlaß des Toleranzediktes ist ein schreiendes Beispiel dafür. Die Annahme, daß die Milderungsedikte den friedlichen Bemühungen des Kanzlers Hospital und der Königinmutter Katharina von Medici entsprungen waren 162), scheitert an der Tatsache, daß die


159) MC I,351ff.
160) 18,99.
161) 18,87: simulare aliquid moderationis coget; 98: interea quidquid piis cuncessum fraudulenter et insidiose factum videmus, ut tranquillorem statum adepti paulo post minore negotio incautos epprimant; 203: Guisiani . . fatua et puerili pompa simularunt se paratos esse ad rationem regendam.
162) Wie Marcks, a.a.O., 384 und vor ihm Dufey, Vie de chancelier l’Hospital 1826 und de Thou (Hist. universelle III,555) annehmen.

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Ernennung Hospitals zum Kanzler erst im Juni erfolgte 163). Das Parlament von Paris, das gegen den milderen Zug des Edikts allerdings erfolglos Einspruch erhoben hatte, war jedenfalls aufrichtiger als die Guisen 164). Darum geht das Bestreben Calvins dahin, die verdeckten Pläne der Guisen zu durchkreuzen, die Milderungspolitik auszunutzen und die eingetretene Ruhepause zur Entfaltung aller Kräfte der reinen Religion zu verwenden, die die Feinde nicht später willkürlich schwächen könnten 165).

Zu diesem Zweck schlägt er zwei Wege ein. Einmal will er die von seinen beiden Straßburger Freunden Hotoman und Sturm zugunsten der französischen Glaubensgenossen in Deutschland eingeleitete Aktion fortsetzen. Die evangelischen Fürsten sollten durch ihre Gesandten dem französischen König klarmachen, daß die Aufstandsbewegungen nicht durch die Schwertgewalt, sondern durch die Kirchenreform bezwungen werden können, und den König und seinen Rat in ihrer löblichen Absieht, das Konzil einzuberufen, bestärken. Dabei ist es ein Zeichen staatsmännischer Klugheit, wenn Calvin den Fürsten, von deren Autorität er sich scheinbar viel verspricht (illis divinitus offertur occasio ut suam autoritatem ad eos iuvandos conferant), den Rat erteilen läßt, dem König nicht eine tatkräftige (bewaffnete?) Hilfe zu versprechen, da dies von den Feinden als ein unfreundlicher Akt gedeutet werden könnte, sondern ihm gleichsam eine moralische Stütze anzubieten, die nur die Sicherheit des Königs und den friedlichen Bestand seines Reiches im Auge habe. Trotzdem dürfe dieses Anerbieten nicht als ein schwächlicher, in allgemeinen Wendungen sich erschöpfender Rat angesehen werden, sondern als eine eindringliche Mahnung, die die Bereitschaft zur Hilfe an zwei Bedingungen knüpft. Erstens die Abschaffung der römischen abergläubischen Observanzen, die die wahre Verehrung Gottes


163) Vgl. Isambert, a.a.O., 14,31 Anm.
164) MC I,541ff, 548ff.
165) 18,99: cessare vero ac nulluni remedium tentare, valde periculosum esset, quia ubicumque res tranquillas vident Quisiani, non minore rursus licentia quam ante saevire incipiunt . . si illis (den Evangelischen) data fuerit aliqua relaxatio, pura religio vires exiguo tempore coltiget, quas deinde minuere in omnium hostium arbitrio non erit.

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hindern und die Untertanen, da ihr Gewissen innerlich ihnen nicht zustimmen kann, in innere Zwangslage bringen; sodann die Gewährung der Duldung, die den Reformationskirchen die Neigung zur Selbsthilfe nimmt und den schuldigen Gehorsam dem König gegenüber erleichtert. Wenn Calvin in dem Nationalkonzil das geeignete Forum für die Erfüllung dieser Forderungen findet, so wird er schwerlich sich dieses nur als eine im Märzedikt 1559 beabsichtigte Versammlung der katholischen Geistlichkeit gedacht haben. Denn ein solches Konzil würde, wie das Edikt erwartet und wie es später in der Versammlung zu Fontaineblau der sonst den Evangelischen nicht feindlich gesinnte Bischof von Valence, Munloc, erhofft, nur die Rückkehr der Ausgetretenen in die allein seligmachende Kirche beschließen. Die Annahme, daß dem Reformator schon damals die Einberufung der Stände vorschwebte, wie ja tatsächlich die Tagung der Stände in Orleans im Dezember als Nationalkonzil gedeutet wurde, ist nicht von der Hand zu weisen, wenn auch durch eine bestimmte Aussage Calvins nicht zu belegen 166). Jedenfalls erhoffter später von der einberufenen Konferenz der Bischöfe nicht die Beseitigung der Mißbräuche in dem von ihm geforderten Sinn. Er glaubt, die Konferenz würde sich nur mit einigen Anträgen für das inzwischen vom Papst einberufene allgemeine Konzil begnügen und sonst durch Abschaffung einiger hervorstechender gottloser Mißbräuche die alte Tyrannis befestigen, ohne eine radikale Heilung herbeizuführen. Es erscheint ihm daher wieder als Heuchelei, daß der spanische Hof und, wie zu ergänzen ist später der deutsche und nicht zuletzt der Papst, gegen das Nationalkonzil Einspruch erhoben haben 167). Wie die


166) Es ist nicht ausgeschlossen, daß in dieser Zeit bereits der Gedanke der Einberufung der Stände erwogen wurde. Darauf scheint der Brief Bezas an Bullinger hinzudeuten (18,115: indicti sunt Status regni ad calendas Augusti) Beza berichtet sogar über „unerhörte Bedingungen”, unter denen die Stände zusammentreten sollen, und über ein diesbezügliches königliches „diploma”. Da weder ein öffentliches königliches Edikt, noch die Tatsache der Einberufung um diese Zeit sonst in den Urkundensammlungen erwähnt wird, dürfte es sich hier, wenn überhaupt Beza richtig informiert war, vielleicht um private Ueberlegungen handeln, die dann auch Calvin zu Gehör gekommen sein mögen. Vgl. die Anm. der Herausgeber der Op. Calvini, S. 115.
167) 18,219.

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Straßburger den ihnen vom Reformator gegebenen Auftrag ausführen, ist hier nicht näher zu untersuchen 168).

Dagegen verdient der andere Weg, den Calvin einschlägt, eine genauere Beachtung, da hier die staatsrechtliche Seite des Widerstandsgedankens von neuem beleuchtet wird. Der Reformator will mit allen Mitteln (omnibus modis) Anton von Navarra anspornen, sein ihm entrissenes Regierungsanrecht zurückzufordern (ut erepta sibi regni gubernacula .... reposcat) mit der Begründung (praetextu), daß durch die schweren Aufstandsbewegungen das Reich in Gefahr sei und durch die Treu- und Sorglosigkeit, Ueberhebung und Habsucht der Guisen am Rande des Verderbens stehe. Er hofft, daß daraufhin der Königsrat in Bewegung gesetzt werden könnte, um für das allgemeine Wohl Sorge zu tragen. Außerdem müsse auch die Königinmutter scharf angefaßt werden, um ihre Zustimmung zu dem Plan zu geben 169).

Es ist beachtenswert, daß als Rechtsgrund der anzustrebenden Regentschaft Navarras nicht die Minderjährigkeit des Königs, sondern der bedrohte Bestand des Reiches angegeben wird. Das Regentschaftsrecht Navarras wird als legitim ohne weiteres vorausgesetzt, wobei Calvin, wie oben dargelegt, der staatsrechtlich nicht begründeten Auffassung der Juristen, vor allem Hotomans, folgt. Die Zeit war von ihm glücklich gewählt. Anton, enttäuscht von dem Gang der Dinge in Frankreich und Spanien, gewährte den um der Religion willen Verfolgten in seinem Land Zuflucht und der Gemeinde eine freie Religionsübung 170), und stand, wie vielfach bezeugt wird, mit den Genfern in Verbindung 171). Die Folge davon war, daß die Genfer Beza nach Navarra schickten, um da mit Anton und seinem Bruder zu verhandeln 172). Calvin hat den humanen und dringenden Wunsch Antons begrüßt, da er sich von seiner Besonnenheit das versprach, was er den


168) Vgl. Op. 18,290f. 293. 305. 308. 310. 320ff. 328. 478.
169) 18.98.
170) 18,322.203.
171) Marcks, 380 Anm.
172) 18,208.201.

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Straßburgern ankündigte: den unentschiedenen König zu Taten vorwärts zu treiben und dadurch dem allgemeinen Wohl des Staates und der Sicherheit des Königs zu dienen 173). Mit Beza traf auch Hotoman in Navarra ein 174). Daß sie mit Navarra und seinem sich auch dort aufhaltenden Bruder Condé wichtige Beratungen pflegten, ihnen die dem König und Königreich durch die Guisen zugefügten Schäden vorhielten und schließlich eine „Supplikation” überreichten, durch gesetzliche Mittel den König von der Guisenherrschaft zu befreien und den Bestand des Staates zu sichern, wird auch anderwärts bestätigt 175). Die beiden Prinzen beantworteten das Gesuch mit einer entschlossenen, umfassenden, gegen die Guisen gerichteten Aktion. Die Aufgabe Bezas war es nun, den Navarra dahin zu beraten, daß dieses Unternehmen ohne einen offenen Krieg, ohne Blutvergießen vor sich gehen sollte, denn es war die Absicht des Reformators, durch die Mission Bezas die lärmenden Vorschläge der Hitzköpfe zu entkräften 176). Es ist Calvin zu glauben, wenn er versichert, daß alle Ratschläge, die er und Beza dem Navarra gegeben hatten, zuverlässig waren, und die Würde und die privaten Vorteile Navarras und das Wohl der Kirche im Auge haften. Die Verwirklichung der Ratschläge sei immer so geordnet worden, daß Navarra seine


173) 18,430: quand le roy de Navarre ma requis de son bon gré et propre mouvement de luy envoier monsieur de Beze, il scait que mon affection na pas tendre sinon au bien et repoz public du pais de France et à la secureté de estat du Roy.
174) 18,201.208.
175) Histoire de l’estat de France 1576, S. 406. Daß diese Supplikation identisch ist mit der in den MC. I,490ff abgedruckten, unterliegt demnach keinem Zweifel; sie wird wahrscheinlich von Hotoman verfaßt worden sein. Es ist beachtenswert, daß sie die beiden Momente, die Calvin zum Ansporn Navarras verwenden wollte, vollauf verwertet. Vgl. namentlich MC I,491: lesquels droits et préeminences ils ont estimé que pour rien vous ne vouliez laisser perdre; 525f: autant que vous avec les Princes de vostre sang, estes redevable au Roy et a Messieurs ses Freres . . de loyal Conseil pour leurs Personnes et leurs affaires: et pareillement estes obligez à la protection et defense de ce pauvre peuple, nous . . vous sommant de vostre debvoir en ceste extreme necessité . . pour la conservation de tous les Estats de ceste Monarchie, contre ces Estrangieres usurpateurs et ruineurs d’icelle; 528: apaiseur par tous moyens licites . . de tous les troubles survenus tant la Religion qu'en la Police, par faute de juste et loyal Gouvernement.
176) In dem Brief an den Admiral heißt es: oultre ce qu’il scait, iay de bons tesmoings que iay tasché par menees obliques de refroidir ceulx qui estoient par trop eschauffez. 18,208 . . ut turbulentis multorum consiliis occurreret. Causam enim vi et armis decidi numquam mihi placuit.

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Gegner, ohne einen Tropfen Blut zu vergießen, ohne Gewalt und Aufstandsbewegung hätte bezwingen können 177). Die einzelnen Taten, über die uns Calvins Briefe 178) berichten, sind zwar oft nicht durchsichtig, können aber die erwähnte Haltung des Reformators und seines Freundes nur bestätigen. Wie er seinen königlichen Führer und Bannerträger (signiferum) ermahnt, seine Nerven und die Nerven der anderen anzuspannen, nicht tatenlos zuzuwarten und zu überlegen, während die Feinde handeln und fieberhaft seine Vernichtung betreiben 179) so ist er selbst bestrebt, tatkräftig das Unternehmen Navarras zu fördern. Er sammelt Geld für ihn, bedient sich der Geschäftsleute, die nach Paris und in die Provinzen reisen, als Ueberbringer seiner Befehle; er scheint vor allem die benachbarten Lyoner, deren Stadt wahrscheinlich der Hauptort des Unternehmens im Osten war, zu entscheidenden Taten anzuspornen 180), offenbar in der Ueberzeugung, daß Navarra, um sein gutes Recht durchzusetzen, sich auf Heereskräfte stützen müßte, wenn die Gefahr des feindlichen Angriffs drohen sollte 181). Denn diese Gefahr stand Calvin immer vor Augen. In dem Versuche der Guisen, durch Schmeicheleien den vertrauensseligen Führer unter dem Vorwand der Versöhnlichkeit in die Falle zu locken, ihn zu erweichen, sieht Calvin den Anfang eines schmählichen Endes, dem ein Tod hundertmal vorzuziehen wäre 182). Darum seine dringende Mahnung, die Heeresrüstungen kräftig


177) ib. 268: semper mea et Bezae consilia laudavit, quae certe et tuta erant, nec minus ex dignitate quam in privatum eius commodum et totius ecclesiae salutem. Semper enim voluimus tam eius amplitudini esse consultum quam cavere ne gutta ulla sanguinis funderetur, et rationes sic erant compositae, ut absque vi et motu adversarios subigeret.
178) Diese sind allerdings wegen der zu befürchtenden Gefahr, in falsche Hände zu geraten, (vgl. 18,202) oft nicht ganz durchsichtig.
179) 18,178f.
180) ib. An dem voreiligen Aufstand, den der Leutnant Navarras Ferneres de Maligny vom Zaune bricht, um Navarra zu kriegerischen Handlungen anzustacheln, war Calvin unbeteiligt; er versuchte ihn abzuwenden, da er wußte, daß er den inzwischen geänderten strategischen Plänen Navarras nicht entsprach. Es schmerzt ihn, daß dem Aufstand viele zum Opfer fielen, aber noch mehr, daß später die moralische Schuld ihm zugerechnet wurde (18, 218. 179. 255. 431).
181) 18,218.
182) ib. 179.

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fortzusetzen 183), und dabei doch die feste Ueberzeugung, daß es zu keinen Aufständen kommen wird — ein Optimismus, den er haben kann, da er die Seinen für die Ruhe erzieht 184), und der ihn nicht verläßt, wenn er Navarra von den feindlichen Kohorten umzingelt weiß 185); aber ein Optimismus der Tat, der die Verteidigung des Führers zuläßt, wenn er beim Fordern seines Rechtes der bewaffneten Gewalt der Feinde begegnen sollte 186).

Zusammenfassend wird man sagen dürfen: Die Bemühungen Calvins um die Herstellung eines den Evangelischen günstigen Regimes und um die Begründung eines legitimen Widerstandes gegen die bisherige Obrigkeit im Jahre 1560 sind von dem Bewußtsein getragen, daß er dadurch dem Wohle Frankreichs mit durchaus gesetzlichen Mitteln dienen wollte. Hatte er im Vorjahr, ebenfalls vom Gesichtspunkt der Legimität aus, anläßlich des um Condés Person sich gruppierenden Unternehmens, jede Kriegsrüstung abgelehnt, so glaubt er sie jetzt verantworten zu können, da die Gefahr des Reiches, die Rüstungen der Gegner und die Bedrohung der Person des ersten Prinzen von Geblüt sie als Vorsichtsmaßnahme notwendig macht, die aber immer nur defensiven, nicht offensiven Charakter haben darf. Das schließt aber nicht aus, daß die Erledigung der großen Aufgaben, ohne jede Gewalt, mit allen rechtlichen Mitteln angestrebt werden müsse. Auch jetzt bleibt Calvin unbeugsamer Sachwalter des positiven Rechtes.


183) ib. 178f: quid autem restat, nisi ut dux celeritate vires sibi comparet quae numquam sedenti occurrent.
184) ib 176: huc studia nostra incumbunt ne tumultuentur multi. Hactenus multum profecimus.
185) ib. 218: sie autem dispositae sunt centuriae Gallici equitatus ut undique Navarrum circumveniant . . Crede mihi pro certo assero nulluni esse periculum tumultus, quia nemo se movebit, nisi forte Navarrum hostiliter aggressi fuerint, pro cuius defensione, ut spero, multi se opponent.
186) Bei dieser seelischen Einstellung Calvins ist es unerfindlich, wie man annehmen kann, daß Calvin bei aller Mitarbeit für Navarra nicht wohl war (gegen Marcks); seines Zieles und der Legitimität der dazu gebrauchten Mittel bewußt, glaubt Calvin die von allen Guten als richtig erkannte Sache vor Gott verantworten zu können, ib. 179: quam et Deo probari . . et omnibus bonorum suffragiis laudari.

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Noch am 1. November, in der Zeit, in der Navarra vor den vorwärtstreibenden Feinden immer mehr weichen muß, da er sich ihrer Uebermacht nicht mehr gewachsen fühlt 187), hofft Calvin bestimmt, daß der bretonische Adel zu ihm halten (cum eo stabit), daß eine große Anzahl aus Anjou, Poitou und Guienne sich ihm anschließen werde. Auch da freut sich Calvin, feststellen zu dürfen, daß die krankhafte Aufstandssucht sich nicht bei den Evangelischen, sondern bei den Gottlosen zeigt, die ohne verfolgt zu werden, angeblich aus Furcht alles in Unordnung zu bringen versuchen 188). Was Calvins Zucht und Erziehung bei den Seinen erreicht, das will ihm nicht bei dem Mann gelingen, in dessen Hand die glückliche und unglückliche Entscheidung liegt, (in cuius manu eventus sunt prosperi et adversi) bei Anton von Navarra 189). Diesem fehlten alle Tugenden, die ein gewaltiges Zeitalter braucht: die Ausdauer, die Begeisterung, die Sammlungskraft. Immer schwankend, immer seine Absichten ändernd (centies mu-tata sunt consilia) gerät er schließlich in den Bannkreis, in den sich die Zauderer gewöhnlich treiben lassen: er wird Abenteurer, der nicht weiß, daß die Vorsicht der bessere Teil der Tapferkeit ist. Der Entdeckung eines Anschlages gegen die Regierung, in dem Ludwig von Condé verwickelt war und der den Guisen eine willkommene Handhabe bot, sich für die Verschwörung von Amboise zu rächen, folgte die königliche Einladung an die beiden Bourbonen, sich am Hofe von dem Verdacht des Hochverrats zu reinigen. Trotz der Warnung Bezas und Calvins, sowie der Schwiegermutter Condés, der reformationsfreundlichen Frau von Roye, beschließen die beiden Brüder, dem Ruf des Königs zu folgen; sie wollen, wie Calvin mit einem Anflug von schmerzlicher Ironie sagt, sterben 190). Navarra vermochte in seiner Verblendung nicht einzusehen, daß die Guisen an seinen Bruder Hand legen werden 191).


187) existimo retrocecisse, quum videret sibi cum tot copiis esse confligendum.
188) 18,230.
189) ib. 179.
190) ib. 255.
191) ib. 268.

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Ursprünglich wollte er, nach dem Bericht Sturms an den König von Dänemark 192), unter dem Schutz von 20000 Soldaten vor dem Königsrat erscheinen, ein Vorhaben, das, wie Sturm mit Recht bemerkt, Krieg bedeutet hätte. Von diesem Plan ist er aber abgekommen. Calvin kann am 14. Oktober berichten: Navarra will sein Recht im Königsrat wieder erlangen, aber ohne Waffen 193). Offenbar wollte also Navarra die Vorladung des Königs zum Anlaß nehmen, sein Regentschaftsanrecht geltend zu machen, und zwar ohne offenen Krieg, was alles den Absichten Calvins entsprochen hätte. Aber er hat nicht den richtigen Augenblick gewählt. Sein Bruder wurde gefangen und er selbst auf seinem Schloß streng bewacht. Vor einer von den Guisen zweifellos beabsichtigten Katastrophe rettete beide der plötzliche Tod Franz II. am 5. Dezember 1560. Die Königinmutter, die während der Regierung ihres Mannes und ihres Sohnes nur eine untergeordnete Rolle gespielt hatte, sah jetzt die Möglichkeit vor sich, ihren Einfluß geltend zu machen, umsomehr, als sie, durch den Kanzler Hospital angespornt, den guisischen Kurs nicht mehr mitzumachen gesonnen war, und in der Tatsache, daß die Evangelischen ihre Hilfe in Anspruch zu nehmen genötigt wurden, eine stille Unterstützung erhoffen durfte. Es war ihr ein Leichtes 194), den durch die bisherigen Mißerfolge zermürbten, in seinem Schloß bewachten Navarra zum Verzicht auf die Regentschaft zu bewegen und diese für sich allein in Anspruch zu nehmen. Navarra selbst soll in dem Königsrat den Antrag gestellt haben, daß das Königreich künftighin durch die würdige Hand der hohen Dame im Namen und in der Autorität ihres Sohnes verwaltet werde 195). Dafür wurde ihm die Verleihung der Würde „Generalstatthalter des Reiches” versprochen, eine Würde, die, wie Beza berichtet, nur als untergeordneter (secundus) Grad im Verhältnis zu der Vorherrschaftsstellung der Königinmutter beurteilt wurde 196). Er habe


192) Op. 18,184.
193) 18,219: Decrevit ius suum recuperare sed absque armis.
194) 18,33: nec difficile illi (Reginae) fuit in temporibus a rege Navarrae quidquid impetrare.
195) MC II,211.
196) 18,333f.

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sich „mit einem Schatten” begnügt 197). Es ist auffallend, daß diese Regelung ohne Mitwirkung der Stände zustande kam, ja sogar durch den Adel gutgeheißen 198) und offiziell nur dem Parlament von Paris mitgeteilt wurde 199). Diese Art der Erledigung der Staatsvormundschaft muß umso mehr auffallen, als doch noch vor einem Jahr die hugenottischen Juristen die Stände als das einzige gesetzliche Organ bei der Einsetzung der Vormundschaft und Regentschaft bezeichnet hatten, und die Rechtslage diesmal einfacher wurde, da der neue König tatsächlich minderjährig war und die Reichsstände außerdem bereits versammelt waren. Der Vorgang muß selbst den Beteiligten sonderbar vorgekommen sein, denn in dem Schreiben, durch das der König dem Parlament von Paris seinen Regierungsantritt ankündigt, wird nirgends die Vormundschaft und Regentschaft erwähnt 200). Selbst in Bezas Bericht an Bullinger findet man keine Mißbilligung. Die Regentschaftsfrage scheint Beza in den Hintergrund getreten zu sein, vermutlich im Hinblick auf die weitere Bestimmung der Vereinbarung, wonach künftig nichts ohne den Königsrat beschlossen werden darf, aus dem, wie Beza annimmt, die beiden Guisen und andere der evangelischen Sache feindlichen Persönlichkeiten entfernt, den ersteren die wichtigsten militärischen Agenden, die sie früher gewaltsam an sich gerissen hatten, entwunden werden sollten 201). Bezas


197) So wurde die Sache auch von dein Verfasser der Histoire ecclesiastique I,404. angesehen: II apparut tantost quo le roy de N.estoit ordonné par une fatale destiné de ce royaume non à ce qu’on avoit esperé mais à un effect tout contraire, comme on l’a senti et le sent encore. Car combien que Dieu et les loix l’appellassent au gouvernement et que le consentiment des Estats le requist de luy, en moy il n’eust eu faute de conseil ni de force en cas de resistence . . tant s’en falut qu’il maintint son degré qu’au contraire il se contenta de l’ombre quittant volontairement le corps et substance à la Roye mere sans qu’elle y eust grande difficulté. Ueber die Befugnisse Navarras in judiziellen und finanziellen Angelegenheiten und ihre Abgrenzung gegen die Rechte der Könginmutter vgl. Isambert, a.a.O., 58ff.
198) Histoire de France, 1582 I,442. Die MC berichten kurz: aux dessus dits Etats ne fust aucunement parlé du Gouvernement.
199) MC II,212f.
200) MC II,211ff.
201) 18,333f: additum ut nihil nisi ex concilii sententia deinceps decerneretur. Ab eo concilio Guisiani fratres et alii nihil nobis aequiores sunt remoti sive metu sive prudentia id factum. Allecti sunt tantum aliquot regii sanguinis proceres et alii postea nonnulli . . ea res magnopere nobis profuit, quoniam mox dimissae sunt ex illorum imperio omnes illac militum turbae ad piorum lanienam per unversum regnum dispositae.

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Bericht scheint auf unrichtigen Informationen zu beruhen, denn auch die Guisen sind in ihren Ehrenstellen belassen worden 202). Dies wird in dem Volk die Befürchtung ausgelöst haben, daß die Guisen nicht aufhören würden, auf ihre Herrschaft zu verzichten. Wir verstehen daher, daß nach der Unterbrechung der Ständeversammlung in Orleans die einzelnen Provinzialstände über die Vorbereitung zu der in Aussicht genommenen neuen Reichsständeversammlung zu beraten hatten, und an einzelnen Orten die Vertreter des Adels und des dritten Standes abermals die Regentschaftsfrage in Fluß brachten. Die beiden Stände der Prévoté von Paris erklären, keinen Vertrag mit dem minderjährigen König abschließen zu können, bis eine regelrechte Regentschaft eingesetzt sei; die Königinmutter habe nur die Vormundschaft über die Person des Königs, das Reichsregiment gebühre dem König von Navarra, und im Falle seiner Verhinderung dem nächsten Prinzen von Geblüt 203)

Diese Kundgebungen wurden insofern von Erfolg gekrönt, als Anton am 25. März 1561 definitiv zum Generalstatthalter ernannt und ihm zwar nicht die „erste und höchste Macht”, wohl aber die Gleichstellung mit der Königinmutter in den Regierungsgeschäften zuerkannt 204), den Ständen aber jedes Aufrollen der Regentschafstfrage für die Zukunft untersagt wurde. Die „Cahiers”, die Beschwerde- und Wunschhefte des dritten Standes, enthalten


202) Vgl. Isambert, a.a.O.
203) Vgl. Paris, Negotiations, 883; MC. I,25. Später greifen allerdings die Stände, namentlich der Adel, nochmals ein. Sie erklären, keinen Vertrag mit dem minderjährigen König abschließen zu können, bis eine regelrechte Regentschaft eingeführt sei, für die sie Navarra und in dem Fall seiner Ablehnung den nächsten Prinzen von Geblüt vorschlagen. MC. I,25: je ne veux obmettre comme au Tiers-Etats il y eust grandes altercations pour le Gouvernement, jusque à nommer un Conseil pour le Loy sans que aucunement fust mande par ledict Seigneur Roi de entrer au Gouvernement. Vgl. Sturm an den Kurfürsten von Hessen vom 19. I. 1561: heri huc allatum est ex tribus ordinibus regni, nobilitatem, quae praestantissima pars est, postulare, ut rex Navarrae gubernator regni nominetur: et illius sit prima et summa auctoritas in omnibus negotiis: et Regina liberetur istis quotidianis regni laboribus, et ut cum liberis vivat. Huius ordinis autoritatem tertius ordo sequetur, qui est civitatum. Solum cum ecclesiasticis erit contentio: inter quos tamen multi sunt quorum sententiae cum optimatium voluntatibus congruant. Op. Calvini 18,324.
204) MC. II,281.

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aber eine Reihe von Forderungen zur Regelung des religiösen Problems, die als Bedingungen für ein freies, nationales Konzil aufgestellt werden. Der König wird gebeten, binnen drei Monaten ein freies, nationales Konzil einzuberufen und in diesem den Vorsitz zu führen. Allen denjenigen, die aus persönlichen Gründen sich an der Sache beteiligen wollten, ist die Stimme zu versagen. Die strittigen Glaubensartikel sollen allein nach dem Worte Gottes entschieden, alle Verfolgungen bis zur Entscheidung eingestellt werden, da es wegen alle Vernunft sei, jemanden zu Handlungen zu zwingen, die er in seinem Herzen für böse halte. Den Evangelischen solle entweder eine Kirche eingeräumt oder die Erlaubnis gegeben werden, sich selbst eine solche zu bauen. Ein königlicher Beamter möge Sorge tragen, daß weder durch sie, noch gegen sie eine Volkserhebung entstehe.

Wenn man mit Recht in dem Inhalt dieser Forderungen die Prinzipien des Protestantismus sieht, die, wenn sie angenommen würden, in Frankreich ebensoweit und bei der größeren Einheit des Landes vielleicht noch weiter geführt hätten als in Deutschland 205), so taucht von selbst die Frage auf, ob und inwieweit diese Vorschläge auf die Anregung Calvins zurückzuführen sind. Dieses, soweit man sehen kann, noch nirgends beachtete, geschweige denn erörterte Problem ist für die Entscheidung der Frage, welche Bedeutung Calvin den Ständen, abgesehen von seiner allgemeinen Begründung in der Institutio, in den heißen Kämpfen der Evangelischen um Erringung und Aufrechterhaltung ihrer religiösen Selbstberechtigung beimaß, von großer geschichtlicher Tragweite. Die Berufung der Reichsstände, die die Versammlung der „Vornehmen” in Fontainebleau beschlossen und das königliche Edikt am 31. August 1560 angeordnet hatte, begrüßt Calvin als eine offene Niederlage der Guisen, die sich bis jetzt hartnäckig gegen einen solchen Plan gesträubt und noch in Fontainebleau


205) Ranke, Französische Geschichte, herausgegeben von H. Michael I,154.

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bekämpft hatten 206). Er befürchtet aber, daß die unbestreitbare Bedeutung der Ständeversammlung durch die Einflußnahme der Guisen auf die Redaktion des königlichen Edikts wesentlich beeinflußt werden könnte. Dieses bestimme nämlich, daß vor der Einberufung die einzelnen Landschaften ihren gouverneurs (praefecti) den von ihnen gewünschten Verhandlungsgegenstand mitteilen sollen und daß die Versammlungen der einzelnen Landschaften die Wahl ihrer Abgeordneten nach dem Gutachten derselben gouverneurs betätigen sollen, die sich offenkundig als Freunde der Guisen bekennen 207). Die Befürchtungen Calvins haben sich nicht bewahrheitet. Trotz des scharfen Drucks, den die Guisen auf die einzelnen Stände ausübten 208), mehrten sich die evangelischen Stimmen und Reformwünsche in allen Ständen der Bevölkerung. Calvins Zutrauen zu den Ständen wird sich also inzwischen gefestigt haben, umsomehr als zu dem plötzlichen Tod Franz II., in dem Calvin die rettende Hand der göttlichen Vorsehung sieht, die äußerst zugespitzte und unselige Lage mit einem Male eine gründliche Veränderung erfahren hatte 209). Es ist bewunderswert, mit welcher Ruhe und Ueberlegenheit Calvin die Lage auszunutzen versteht. Während die andern, trunken vor Freude, die „ganze Welt auf einmal umändern wollen”, den Reformator drängen, stürmisch mit Navarra zu verhandeln 210), gibt sich Calvin keinen Illusionen hin und sieht seine vornehmste Pflicht in der Lösung der Regentschaftsfrage 211).


206) 18,203. Tatsächlich ist, höchstwahrscheinlich in den guisenfreundlichen Kreisen, vermutlich bald nach der Versammlung in Fontainebleau ein „Memoire” erschienen, in dem auf die aus der Einberufung der Stände sich ergebenden Unstimmigkeiten hingewiesen wird. Es wird betont, daß die Religionsfrage und die alle Stände bewegenden Probleme rechtlicher und sozialwirtschaftlicher Natur nicht durch die Stände, sondern durch den königlichen Rat behandelt und entschieden werden dürfen. MC. I,369. Vgl. auch Histoire de France I,414.
207) 18,203.
208) Vgl. die Belege bei Marcks. a.a.O., 416, Anm. 2.
209) 18,270: nullum erat extremis malis remedium, quum repente apparuit e coelo Deus et qui patris oculum confixerat, filii auriculam percussit; über die trostlose Lage kurz vor dem Tode des Königs vgl. Bezas Brief an Bullinger 18,333.
210) ib.
211) Le principal, pource que d’ iceluy tout le reste despend . . cest destablir conseil pour gouverneur.

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Tritt der Reformator für diese energisch ein, so glaubt er jetzt mit beiden Füßen auf dem Boden des positiven Rechtes zu stehen 212). Er ist bestrebt, durchzusetzen, daß der erste Prinz von Geblüt in diesem wichtigen Augenblick seine Rechte geltend mache, männlich und klug, denn ein jetzt begangener Fehler wäre sehr schwer gutzumachen. Anton dürfe nicht zustimmen, daß Katharina von Medicis, eine „Italienerin und Fremde”, allein die Regentschaft weiterführe, wenn er sonst seine Ehre wahren und die für die Krone darauf entstehenden Nachteile vermeiden wolle. Der Königinmutter dürfen möglichst ihre Ehren belassen, dem Navarra aber die erste Stelle eingeräumt werden. Jedenfalls müsse ein Regentschaftsrat gebildet werden, den zu bestimmen ausschließlich die Stände zuständig seien. Wenn auch die Juristen gerade dieses Recht der Stände betont haben, so hat Calvin doch Bedenken, ob die feindliche Partei die Zuständigkeit der soeben einberufenen Stände in diesem Punkte anerkennen werde, nachdem das Einberufungsedikt ihre Tätigkeiten streng umgrenzt hatte. Er will vorbeugen und schlägt vor, einen klaren diesbezüglichen Beschluß innerhalb einer möglichst kurzen Frist herbeizuführen und die Regentschaft provisorisch einzusetzen. Sollte die feindliche Partei beantragen, zunächst die eingelaufenen Beratungsgegenstände zu erledigen und dadurch die Entscheidung der wichtigsten Frage zu verschleppen oder zu verhindern, so müßte man doch darauf bestehen, den prinzipiellen Beschluß durchzusetzen, dahin lautend, daß dem Prinzen von Geblüt der Rechtsanspruch auf die Regentschaft nicht aberkannt werden dürfe, wenn keine rechtlichen Gründe dagegen vorgebracht werden können 213).

Der Vorschlag des Reformators ist höchst beachtenswert. Ihm steht die Zuständigkeit der Stände zur Regelung der Regentschaftsfrage in


212) In seinem durch eine Mittelsperson an Navarra gerichteten Vorschlag 18,282ff.
213) 18,283: il faudra insister sur ceste resolution que le droict ne peult estre oste a ceulx auxquels il appartient, sans congnoissance de cause.

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der Zeit der Minderjährigkeit des Herrschers fest. Er war infolgedessen damit nicht einverstanden, daß die bereits erwähnte, zwischen der Königinmutter und Anton Navarra getroffene Vereinbarung ohne die Heranziehung der Stände erfolgt war. Als zwei Jahre später Karl IX. sich selbst in Rouen für mündig erklärte und sich dabei auf die Entscheidung der Königinmutter, des geheimen Rates, an dem sein Bruder, der elfjährige Herzog von Orleans (der spätere Heinrich III). beteiligt war 214), sieht der Reformator in dieser Maßnahme einen Hohn auf den alten Glanz des alten Königsreichs 215). Er findet es gerechtfertigt, daß das Parlament von Paris, dem unter den sieben bestehenden höchsten Gerichtshöfen die Entscheidung über die das gesamte Reich angehenden, staatsrechtlich wichtigen Maßnahmen zukommt, die Majoritätserklärung des kaum dreizehnjährigen Königs angefochten hatte 216), und glaubt, daß zu einem so wichtigen Staatsakt die drei Stände hätten herangezogen werden sollen 217). Dagegen scheint ihm der Regentschaftsanspruch Antons doch nicht zu den staatsrechtlich verbrieften Rechten zu gehören; sonst würde er einen diesbezüglichen ausdrücklichen Beschluß der Stände nicht empfohlen haben 218). Dementsprechend schlägt er eine wohlüberlegte Taktik vor. Obwohl er überzeugt ist, daß die Stände ihre Pflicht tun werden, da es sich um eine „billige und vernünftige” (also nicht staatsrechtlich begründete) Forderung handelt 219) und in der Befürchtung, daß die Guisen diese Lücke der französischen Gesetzgebung zu ihrem Vorteil ausnützen könnten, hält er es für ratsam, die Gegner von vorneherein unschädlich zu machen. Von den beiden Möglichkeiten, die Feinde sofort zu beseitigen oder abzuwarten, bis sich die Gelegenheit findet, mit ihnen


214) Vgl. Isambert, a.a.O., 14,147ff.
215) 20,146: vides quo ludibrii inciderit antiquus regni illius splendor.
216) Der Inhalt des Protestes in MC. IV,582ff.
217) ib.: si quid ratione fieret tres ordines vocandi erant.
218) Dies bestätigt die oben geäußerte Annahme, daß der Rechtsanspruch auf die Regentschaft zu den „unbestimmten” Rechten gehörte.
219) ib. 283: il . . ny aura nulle difficulté que les estats ne passent ce qui est a desirer selon equité et raison. Diese Stelle widerlegt außerdem deutlich die durchaus unbegründete Behauptung Rankes (a.a.O., 147), daß Calvin „nicht viel von Ständen erwartete”.

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abzurechnen, scheint Calvin die zweite angemessener zu sein. Er würde es begrüßen, wenn die Guisen bei der Leiche des verstorbenen Königs Wache hielten, wie es sonst immer ihre Gewohnheit war 220) und deshalb den Verhandlungen der Stände fernblieben. Auf alle Fälle müßte ihnen jeder eigenmächtige Eingriff in die Staatsangelegenheiten bis zum Zusammentreten der Stände verwehrt werden.

Verrät dieser der politischen Klugheit und dem Rechtsbedürfnis des Reformators entsprungene Vorschlag das Bestreben, durch legitime Regelung der Regentschaftsfrage die Autorität der Stände zu stärken, so ist anzunehmen, daß die unerschrockene Sprache, die die Vertreter des Adels und des dritten Standes bei ihren Vorberatungen führen und trotz des königlichen Verbots auch in der Hauptversammlung zu führen beabsichtigen 221), nur möglich war, weil sie die Genfer Prediger auf ihrer Seite wußten. Unbedingt sicher ist die Tatsache, daß sowohl der Rechtsanspruch der Stände, die Regelung der religiösen Angelegenheiten in die Wege zu leiten, als auch der Inhalt ihrer diesbezüglichen Forderungen auf die Autorität und Initiative Calvins und Bezas zurückgehen: Am 27. Februar 1561 schreibt der letztere: In Gallia dilatus est statuum conventus ad Calendas Maii. Ibi speramus fore ut libere proponatur ecclesiarum causa 222). Dies zu verhindern, war allerdings von Anfang an


220) Calvins Erwartung hat sich nicht erfüllt. Die Guisen, die sonst den lebendigen König so streng bewachten, daß niemand ohne besondere Gnade zu ihm Zutritt hatte, versagten dem Verstorbenen die üblichen festlichen Begräbniszeremonien, um nicht den Versammlungen der Stände, von denen sie scharfe Maßnahmen gegen ihre Tätigkeit befürchteten, fernbleiben zu müssen. Sie begleiten nur seinen Leichnam nach St. Denis und ließen ihn in das Grab seines Vaters senken, so daß dann, wie Beza berichtet, das Sprichwort geprägt wurde: Lutheranorum more sepultus Lutheranorum hostis. 18,333, vgl. auch 18,283 A. 111.
221) Nur Colignys Beschwichtigung hielt sie davon ab; sie behielten sich aber vor, in der Zukunft ihre Mitwirkung bei der Bestellung der Staatsvormundschaft anzumelden (Hist. ecclest. I.437; L’histoire de France, S. 512) Auch die Königinmutter sollte ihre höchsten usurpierten Rechte verlieren. Vgl. Languet, Epistolae II,137: credo a multis hoc serio agi, ut mater Regis deturbetur de fastigio, quod occupavit.
222) 18,381.

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das Ziel der Politik des Kardinals von Lothringen. Er setzte es durch, daß das königliche Einberufungsedikt die Behandlung der Religionsfrage in der Hauptversammlung verbot. Da aber der größte Teil aller drei Stände in den Provinzen auf der Erledigung der Religionsfrage be stand und die einzelnen Gemeinden sogar die Abordnung von zwei Vertretern in die Ständeversammlung verlangten, versuchte der Kardinal die Abgeordneten für die Ständeversammlung zur Wahl eines gemeinsamen Generalredners zu bestimmen, um dadurch leichter die Ablehnung der Forderungen der Evangelischen zu erzielen. Aber auch dieser „Henkerplan”, wie ihn Beza nennt 223), scheiterte 224). Inzwischen macht Calvin den präsumptiven Regenten Anton von Navarra, ganz im Einklang mit seiner bisherigen Stellungnahme, Vorschläge. Er stützt sich auf das Edikt von Amboise vom März 1560, das den Evangelischen prinzipiell die Religionsfreiheit gewährt und die Möglichkeit gegeben hatte, ihre dahingehenden Wünsche vorzubringen 225). Allerdings weiß er, daß dieses Edikt später verändert und den Gläubigen der richtige Weg, die gewährte Freiheit in Anspruch zu nehmen, versperrt wurde 226). Da aber dieses Edikt durch Gewalt,


223) 18,334.
224) Nur die Geistlichkeit stimmte für ihn; der dritte Stand lehnte entschieden ab. Vgl. Des etats généraux Bd. X.470: Lesdits du tiers-état ont avisé que pour la grandeur et hautesse de mondit seigneur le cardinal, et qu’il est du nombre de ceux qui examineront et jugeront les remonstrances desdits états et autres grandes causes, ils n’auroient osé entreprendre le requerir pendre cette Charge, et avoient arrêté et conclus nommer un de leur état pour faire leurs remontrances particulieres — In ähnlichem Sinne äußert sich der Adel ib. 478. Vgl. Histoire ecclesiastique I,428.
225) 18,284: en quoy il est seulement a desirer que la liberté qui avoit esté donnee par le premier edict soit gardee: quon puisse presenter requestes. Tatsächlich besagt das Edikt (Arrest du Parlement sur un l’Enregistrement de la Deklaration du Roy de mois de Mars 1559 portant abolition et pardon générale pour le crime d’Heresie (Mem. d.C. I,336): Nous pardonnons à ceulx qui ont failly et se sont obliez au fait de la Religion . . si aucuns des prisonniers détenuz pour raison de la Religion, presenteroient Regueste pour en vestu à celuy Edict, estre mis en liberté, vous surceroyez et superceverez d’y toucher.
226) vray est, que cela avoit este change et que le fideles estoient forcloz de sonner mot (vgl. die Bestimmung des Ediktes von Romorantin vom Mai 1560: avons prohibé et defendu, prohibons et défendons toutes assemblees illicites et forces publiques: declarant ceux qui se trouveront en telles criminels nos ennemis et rebelles et sujets aux peines qui sont establis contre les criminels de leze majesté . . declarons aussi tous les predicuns non ayans puissance des prélats . . ennemis de nous et du repos public et criminels de leze majesté et subjects aux peines des séditieux . . Isambert 14,32ff).

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gegen die Ehre des Königs erlassen wurde, so mußte die gewährte Freiheit in Geltung bleiben 227), umsomehr als die inzwischen erfolgten Bittgesuche bereits angenommen wurden 228). Indem Calvin dem Navarreser alle diese Tatsachen in Erinnerung bringt, glaubt er mit gutem Recht, daß wenigstens eine „magere, provisorische” Verfügung erreicht werden kann, wonach die Evangelischen, die sich keiner Revolte schuldig gemacht und eine solche gar nicht im Sinne haben, nicht weiter um ihres Glaubens verfolgt werden, und ihnen, da sie ohne Religion nicht bleiben können, die Bekenntnisfreiheit, die Möglichkeit, sich öffentlich zu ihren Gottesdiensten zu versammeln, eingeräumt werde. Gleichzeitig möchte er den Verbannten freie Rückkehr und den Gefangenen Freiheit erwirken 229). Calvin geht in seiner Achtung vor den bisher erlassenen gesetzlichen Bestimmungen so weit, daß er die Gewährung der Bekenntnisfreiheit an die gesetzlich geforderte Bedingung knüpft, wonach den Evangelischen unter Androhung schwerer Strafen untersagt sein müßte, sich über die ihnen gesetzlich gezogenen Schranken hinauszuwagen; es dürfte von ihnen verlangt werden, sich bei den vorgesetzten königlichen Behörden zu melden, wobei jedes einzelne Glied der Gemeinde die Verantwortlichkeit für die anderen übernimmt und sich gleichzeitig verpflichtet, die gegen die Gesetze Verstoßenden anzuzeigen 230). Durch diese Achtung vor den Gesetzen glaubt Calvin der evangelischen Sache vorteilhafter dienen zu können als es die überhitzten Köpfe tun. Wird er von diesen deshalb der Trägheit beschuldigt, so weiß er, daß seine überlegende und wohlerwogene Betriebsamkeit (sedulitas) Gott mehr wohlgefällig ist und


227) 18,284.
228) Calvin denkt an die beiden protestantischen Bittschriften, die Coligny in der Versammlung zu Fontainebleau dem König Franz II. und seiner Mutter überreicht hatte, in denen der König an seine Pflicht erinnert wird, zwecks Wahrung der Sicherheit des Reiches die rechte Gottesverehrung wieder aufzurichten und den Bekennern des Evangeliums Bethäuser zu bewilligen, die Königinmutter ermahnt wird, den wahren Dienst Jesu Christi einzuführen und alle Irrtümer und Mißbrauche zu beseitigen, die seiner Herrschaft hinderlich sind (Vgl. Calvin an Bullinger, 18,210f, MC II,645ff).
229) 18,271; vgl. 290.
230) ib. 284ff.

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von den gemäßigten, billig urteilenden Menschen gutgeheißen wird 231). Sturm, dem Calvin diese seine Taktik offen dargelegt, ist auch besonnen genug, die Berechtigung dieses Verfahrens vollauf zu billigen 232). Nun verhehlt sich Calvin nicht, daß Anton allein nicht imstande ist, alle diese Wünsche durchzuführen, auch wenn er der herzhafteste und entschiedenste von allen Menschen wäre 233). Denn bis jetzt hat er nur das Gegenteil zur Genüge bewiesen. Der Blick des Reformators richtet sich von selbst auf die einberufenen drei Stände, die bereits zu Beginn der Versammlung viel Mut und Entschlossenheit zeigen. Nach dem Bericht Bezas 234) verlangt der Vertreter des dritten Standes, der Advokat Johann l’Ange, der sich über die Verachtung der Religion, das unreine und verschwenderische Leben der Geistlichkeit bitter beschwert, die Wiederherstellung der wahren Lehre und Zucht. Eine andere Frage sei nie so lebhaft und so oft. erörtert worden wie die religiöse. Ein Erfolg zugunsten der Evangelischen ist freilich auch nach dieser herzhaften Stellungnahme des dritten Standes nicht zu verzeichnen. Die von Hotoman und Bullinger gemeldete Nachricht, daß die Befreiung der wegen ihrer Religion im Gefängnis Schmachtenden durch ein Edikt verfügt worden sei, hat sich zwar als irrig erwiesen 235), aber die Zuversicht Calvins, die er hinsichtlich der Leistungsfähigkeit der Stände hegt, bleibt unerschüttert. Sie verfestigt sich, als die prinzipielle Forderung der Römischen, die Entscheidung der religiösen Frage nur dem allgemeinen Konzil zu überlassen, den Widerspruch der evangelischen


221) 18,270.
232) 18,290: bonus hic Nestor Calvinus mihi conqueritur quod multi sibi importuni sint, qui subito cupiunt orbem totum commutari. Videtur illi satis esse, et idem mihi videtur, si exsules revocentur, captivi liberentur, conventus privati moderati et pii non impediantur, libera sit vera invocatio et nuila necessitas idololatriae. Hoc si a rege Navarrae et a regio consilio possit obtineri, iniquissismus est qui aliquid conqueratur. Sturm gibt hiermit Schneckenbecher den Inhalt des Briefes Calvins an ihn (vom 16. XII, 1560 Op. 270) wieder; es ist unerfindlich, warum die Herausgeber der CR., die diesen Brief unter Nr. 3293 abgedruckt haben, einige Seiten später (290) von ihm nichts wissen wollen (litterae non exstant).
233) 18,270: quasi vero, etiamsi cordatissimus omnium ac maxime strenuus, in eius arbitrio situm sit praestare.
234) 18,345.
235) 18,308: confirmant etiam plerique edictum promulgatum esse ut omnes qui propter religionem in custodia et in vinculis essent, liberentur.

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Gemeinden hervorruft. Diese — an ihrer Spitze die Pariser — lassen sich zu unvorsichtigen Schritten verleiten. Sie wollen, vermutlich unter dem Eindruck des Diktats des Kardinals, dem Konzil ihr Bekenntnis vorlegen und gegen die bisherige Behandlung Einspruch erheben — ein Unterfangen, das nach Calvin aussichtslos ist, da die Feinde das Bekenntnis nicht annehmen werden, und sich mit aller Energie (à toute outrance) auf die Evangelischen stürzen werden. Diese müssen ihre Strategie jetzt auf die Stände konzentrieren 236). In der Ständeversammlung kann der Versuch gewagt werden nachzuweisen, daß das Konzil weder allgemein, noch legitim sei, und die Erklärung abgegeben werden, daß man von der bisherigen Praxis nicht abweichen werde. Denn auf dem Konzil werden nur dogmatische, dem Worte Gottes widersprechende Beschlüsse gefaßt werden. Die Möglichkeit, die abweichenden Lehren vorzutragen und die bisherigen Mißbräuche abzuschaffen, werde abgeschnitten werden, wie es ja dem Papst nur darauf ankomme, seine Herrschaft zu befestigen und die Reformation nicht durchzuführen. Die Stände müssen in einer milden Form (cela se pourroit toucher en forme plus dolce) dem König nahelegen, daß er und sein Rat einen andern Weg einschlagen müssen, um im Interesse seines Staates, der einzelnen Landschaften und Untertanen einen wohlgeordneten, alle Wirren ausschließenden Zustand herbeizuführen 237).

Daß die Stände diese Vorschläge Calvins annehmen, beweist der Bericht Bezas 238), ferner die Remonstrance sur la reformation des trois Etats de France 239) sowie die späteren Cahiers du Tiers Etat in Pontoise.


236) 18,377 II y a aultre raison quand aux estatz.
237) 18,377f.
238) 18,336: in summa tria petunt nostri: Unum, ut in libera et sancta synodo de causa nostra ex verbo Dei cognoscatur. Alterum, ut captivi omnes vel propter religionem vel propter seditionem (ut adversarii nostri falso vocant) dimittantur sine ulla abiurationis specie, et superiorum omnium dictorum et factorum amnestia constituatur. Tertium ut tantisper, dum de re tota semel decernatur, impune liceat nostris ad verbum Dei audiendum et administranda sacramenta convenire, additis autem conditionibus quae Regis consilio placuerint, ut omnis suspicio seditiosorum conventuum tollatur. Diese drei Wünsche wurden gleichzeitig, wie Beza berichtet, durch Coligny der Königinmutter überreicht, die sie dem Geheimrat vorzulegen versprach.
239) Etats généraux XII,337ff, MC II,437ff: celebration d’un concile . . . ➝

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Warum hat Calvin den Schwerpunkt in die Ständeversammlung verlegt? Warum sieht er vornehmlich in ihnen das Forum, vor dem die religiöse Frage aufgerollt, die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit verteidigt und errungen werden soll? Es sind im wesentlichen drei Beweggründe, die ihn dazu veranlaßt haben.

Wie bereits bemerkt, erwartet der Reformator von dem allgemeinen Konzil für die Sache der Evangelischen nichts. Nachdem der Papst Pius IV. die dritte Periode des von ihm am 29. November angekündigten Konzils trotz des Widerspruchs des deutschen Kaisers und Frankreichs als legitime Fortsetzung der früheren Verhandlungen 240) anerkannt hatte, bittet Calvin Coligny in einem Brief am 24. September 1561, dahin zu wirken, daß der französische König im Verein mit der Königin von England und den deutschen Fürsten un den evangelisch gesinnten schweizerischen Kantonen auf die Aufhebung des Konzils hinarbeiten soll. Sie sollen darauf hinweisen, daß weder der Ort einen sicheren Zugang bietet, noch das Konzil als frei bezeichnet werden kann, da die Römischen hier einseitig über die strittigen Dogmen bestimmen werden, ohne den Evangelischen vorher die Möglichkeit einer freimütigen Aussprache gegeben zu haben 241).


➝ que tous les différends soient decidés par la parole de Dieu, comme etant la vraie bouche à laquelle il faut éprouver toute doctrine, . . . si on y condamme ceux qui n’y auront été appellés . . ou bien si l’une des parties est juge en sa propre cause, ou si aucune chose y est décidé autrement que par la parole de Dieu, tant s’en faut qu’un tel concile amortit une doctrine à laquelle on prétendroit supprimer . . Que pendant que la définition desdits différends demeure suspendue et differée jusqu’audit concile, l’on supplie tres humblement le roi de laisser en leur repos et liberté ceux lesquels ont été jusqu’ici tenus pour hérétiques.
240) Vgl. das päpstliche Breve vom 15. Juli 1561 und dazu die Sitzungsberichte der Wiener Akademie d. Wissenschaften 135,107.
241) 18,733: que le roy . . s’ioignist avec la Royne d’Angleterre quavec les Princes Allemans, et les Souisses qui tiennent nostre partie, pour protester de la nullité de ce Concile de Triente, tant a cause du lieu auquel il ni a point seur acces, que pource quil nest point libre ni ordone, pour traiter en liberte: les articles qui sont auiourdhuy en different, veu quil ni a quune seule partie assise pour iuger a sa Phantasie sans que lautre soit ouie, et quil luy soit doné lieu pour maintenir la doctrine, laquele les Evecques tienent desia pour condamnee, sans entrer en examen ni dispute. Beachtenswert ist, daß Calvin in einer eventuellen Zusammenarbeit des Königs mit den schweizerischen Kantonen einen willkommenen Anlaß zur Erneuerung des politischen Paktes zwischen Frankreich und den Kantonen sieht.

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Calvins Vorschlag war sicher wohl überlegt; wußte er doch, daß der französische Hof, durch die innerpolitischen Ereignisse gedrängt, das Nationalkonzil vorgezogen und bei den Verhandlungen über das allgemeine Konzil Bedingungen gestellt hatte, die in Rom sehr unangenehm empfunden, ja als unannehmbar bezeichnet wurden 242). Es ist Calvin sicherlich auch nicht entgangen, daß die Zusage des Papstes, die Protestanten zu hören und ihnen Sicherheit gewähren zu wollen, nicht ernst gemeint war, daß es nach des Papstes wahrer Ueberzeugung „billiger wäre, den Ketzern die Gesetze aufzuerlegen und nicht von ihnen zu empfangen” 243). Wenn er trotzdem einige Monate später doch die Beschickung des Konzils durch Evangelische befürwortet und es den Bernern verübelt, daß sie dem Konzil fernbleiben wollen 244) so darf man daraus nicht den Schluß ziehen, daß Calvin inzwischen seine Bedenken aufgegeben hatte. Er tut dies nur aus der Erwägung heraus, daß die Evangelischen die Gelegenheit haben werden, den Gegnern in Trient ihre Bedingungen zu stellen und als Volkstribunen ihre Rechte zu verteidigen. Den Anlaß zu dieser Stellungnahme gab der dem Reformator durch Beza mitgeteilte Wunsch der Königinmutter, die Genfer möchten die Bedingungen für ein freies Konzil festlegen und die Züricher zu derselben Aktion anspornen. Beza, der bei der Unterredung mit den Sorbonnisten unzweideutig erklärt hatte, daß die Evangelischen ein freies Konzil nicht verwerfen, das bereits einberufene (das Konzil war am 15. Januar 1562 zusammengetreten), aber keineswegs für ein solches halten können 245), sieht in dem Entschluß der Katharina die Ueberzeugung, daß sie ihre Politik mit der Sache der


242) Bereits am 22. Januar 1561 berichtet Beza an Bullinger: ad concilium quod attinet Pontifex ad proximum pascha illud indixit. Fertur regis concilium (soll wohl heißen: consilium) petere conditiones quas certum est illud nunquam concessurum. Ita speramus fore ut evanescant illius conatus. Quod si qua libertatis specie Gallis concessa fuerit, frustra certe ille suum concilium postea quibusvis conditionibus obtulerit, adeo omnibus patent illius imposturae. Op. 18,336.
243) Sickel, Zur Geschichte des Konzils von Trient, 95ff. Le Plat, Monumentorum . . collectio IV,633ff.
244) 18,329.337.367.
245) 18, 273: addidimus de concilio, nos liberum concilium non detractare, sed cuiusmodi illud est quod nunc instituitur pro nullo a nobis existimari.

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Evangelischen verknüpfen müsse 246). In der Tat hatte die Regentin ein lebhaftes Interesse an der günstigen Regelung der religiösen Frage durch das allgemeine Konzil, da das inzwischen am 17. Januar 1562 verkündigte Toleranzedikt nur vorläufig bis zur Entscheidung des allgemeinen Konzils gelten sollte. Darum war Katharina bestrebt, im Einverständnis mit Spanien und dem deutschen Kaiser eine durchgreifende Reformation beim Konzil durchzusetzen 247). Calvin nahm den ihm gewordenen Auftrag an, arbeitete ein Gutachten über ein freies allgemeines Konzil aus und schickte die lateinische Uebersetzung des Gutachtens an Bullinger 248). Beachtenswert sind die Voraussetzungen, von denen aus Calvin sein Gutachten beurteilt haben will. Das Gutachten entspricht nicht seinen innersten Wünschen, sondern ist eine Angleichung an die Absichten der Königinmutter. Er rechnet dabei mit zwei Möglichkeiten: Entweder werden seine Vorschläge dem geheimen Rat des Königs zusagen; dann ist es sicher, daß die Papisten sie scharf ablehnen werden. Oder die letzteren werden genötigt, diesen Wünschen des Geheimen Rates sich zu fügen; dann ist die Lage der Evangelischen auf dem Konzil vorteilhafter, da sie hier nicht als passive Teilnehmer verschiedene Urteile der


246) 19,301: iam tandem intelligit (Regina) res suas cum nostra salute esse coniunctas.
247) Le Plat, a.a.O., V,147.
248) Der lateinische Text ist abgedruckt in Op. 10/1,176 der französische ursprüngliche in Op. 18,285ff. Da die Herausgeber der Opera die oben erwähnte Verhandlung Calvins mit Beza nicht zu kennen scheinen, glauben sie die Abfassung dieses Gutachtens an das Ende des Jahres 1560 verlegen zu müssen. Hätte Calvin damals dieses Gutachten geschrieben, so hätte er sicher nicht unterlassen, die Gemeinde zu Paris, die seine Ansichten über das Konzil wünschte, auf dieses Gutachten aufmerksam zu machen. Doch die Gemeinde wußte offenbar von diesem Gutachten nichts, ebenfalls die anderen Gemeinden. Demnach ist die Annahme Bonnets, der das Gutachten an die reformierten Gemeinden gerichtet denkt, abzulehnen. Vor allen Dingen spricht gegen die Abfassung im Jahre 1560 die Tatsache, daß Calvin in diesem Jahr noch an das Gelingen eines Nationalkonzils glaubt, während er in seinem Gutachten das Nationalkonvent entschieden ablehnt. Daß er nach der Einberufung des Konzils nach Trient doch noch von der Verlegung des Konzils an einen zentral gelegenen Ort (au milieu des nations) spricht, ist nicht auffallend. Hat doch der französische Hof im April desselben Jahres ebenfalls die Verlegung des Konzils an einen freien, auch für den Norden zugänglichen Ort (Konstanz, Augsburg, Worms) beantragt. (Le Plat, a.a.O., VI.ll); war doch der Papst auch nicht abgeneigt den Sitz des Konzils während der Tagung in Trient zu verlegen (Sickel, a.a.O., 88; . . . Lorsiquet, Correspondence de Babon de Bourdaitiere 1859, 50ff, wonach der Papst sich nicht von vornherein an einen bestimmten Ort binden will.

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Gegner über sich ergehen lassen, sondern gleichsam als durch den Willen des königlichen Rates geschützte Volkstribunen die Rechte ihrer Glaubensgenossen vertreten werden 249). Wenn also Calvin seinen bisherigen intransigenten Standpunkt aufgibt und im Unterschied von den deutschen Fürsten die Beschickung des Konzils rundweg ablehnt, die Evangelischen auf dem Konzil vertreten sehen möchte, so ist dies nur ein zunächst durch den Willen der Königinmutter bestimmter Versuch, dessen günstiger Ausgang Calvin zwar nicht feststeht, aber dem Prestige der Evangelischen nicht abträglich sein kann 250). Calvin würde aber diese französische Kabinettspolitik nicht mitgemacht haben, wenn er nicht der Ueberzeugung gewesen wäre, daß die von ihm aufgestellten Bedingungen wirklich einen Schritt nach vorwärts bedeuten, ob sie nun angenommen werden oder nicht. Denn unter den drei Punkten, die er als unerläßliche Voraussetzung eines freien Konzils anführt, ist die Freiheit des Verstehens die wichtigste. Diese aber wurde bis jetzt von den Gegnern abgelehnt. Sie gestanden den Evangelischen zu, ihre Reformationsvorschläge zu unterbreiten, über die sie aber in der Abwesenheit der evangelischen Gesandten nach ihrem Gutdünken, ohne die Erörterung der Gegengründe zuzulassen, entscheiden wollten. Wenn Calvin den Gegnern das Zugeständnis macht, daß sie über die Reformation der Kirche zu beraten haben, so will er ihnen eine entscheidende Stimme (voix decisives) doch nicht zubilligen, da sie in dem Streit eine Partei und daher nicht als kompetente Richter anzusehen sind. Ihre Freiheit ist außerdem durch den ihnen auferlegten Eid, dem Papst zu gehorchen, wesentlich beschränkt. Wird dementsprechend den Evangelischen auch keine entscheidende Stimme in dem Konzil eingeräumt, so sollen sie doch als gleichberechtigte Parteien freimütig ihre auf die Autorität


249) 19,328: Si visus fuero plus concedere adversae parti quam aequum sit, memineris non votis hic agendum. Duo tamen mihi fuerunt proposita ut conditiones nostras, ubi arriserint Regis concilio, fortiter repudient papistae quod certum est facturos. Deinde si ad subeundum iugum pertiacti fuerint, ne quid obsit nobis qualecumque concilium. Utilius enim duxi nos iliic sedere veluti tribunos plebis quam senatoribus permixtos pluribus sententiis obrui.
250) 19,338: quid expediat videbitis.

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der Schrift als die höchste Regel sich gründende Anschauung über den Gegenstand äußern. Daraus würde dann folgen, daß der Papst, auch wenn man ihm sonst die erste Stelle im Konzil anweist, diesem seinen Willen nicht aufzwingen darf, sondern sich unter die Beschlüsse des Konzils beugen, dieses aber ernsthaft auf die Abschaffung der Mißstände in der Lehre und den Sitten drängen muß. Bewegt sich diese Forderung in dem Rahmen der episkopalistischen Konziliartheorie, so ist die Begründung der rechtlichen Stellung, die Calvin den Evangelischen als gleichberechtigter Partei anweist, höchst beachtenswert und eigenartig. Wie bemerkt, weist Calvin den Evangelischen als Vertretern der Reformationskirchen (qui il y ceulx gens esleus de la partie de ceux qui desiderent et demandent la reformation de l’Eglise tant en la doctrine qu’aux moeurs) 251) die Aufgabe zu, die die Volkstribunen in Rom hatten, nämlich die Volksrechte zu verteidigen. Er trägt daher bewußt den der Einrichtung der Generalstände abgelauschten Wesenszug in die durch die Geschichte festgefügte Konzilorganisation hinein, um den von der kirchlichen Gesetzgebung bis jetzt ausgeschlossenen, als revolutionär proskribierten Ketzern das Recht der Rechtsetzung zu erwirken — ein Vorschlag von einer ungeahnten Tiefe und Mächtigkeit, dessen Annahme die bisherige Struktur ganz verändert hätte. Der Vorschlag ist in Trient nicht in Betracht gekommen, ein freigewordenes Verstehen nicht eingetreten. Die Einladung der Ketzer blieb aus. Die ursprünglich zweideutige Haltung des Kardinals von Lothringen endete mit seiner Unterwerfung unter den Papst; die „Reformationsbeschlüsse” wurden mit der Klausel abgefaßt, daß durch sie das Ansehen des apostolischen Stuhles unverletzt bestehe. Calvins Voraussage, die Römischen werden die Bedingungen nicht annehmen, hat sich erfüllt. Mit seinen Gedanken, das Gleichgewicht von Autorität und unaufgebbaren Gewissensrechten


251) 19,286.

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herzustellen, ist er allein geblieben, wie einst Rom in der Antike mit der Abgrenzung der Rechte des Senats und des Tribunats.

In der Ueberzeugung, daß nur das allgemeine Konzil die in der ganzen Christenheit vorhandenen Mißstände beseitigen kann, rückt Calvin jetzt von dem ihm vor zwei Jahren noch annehmbaren Gedanken eines Nationalkonzils ab. Wohl kann ein König die Wirren seines Landes durch ein Nationalkonzil zu beseitigen suchen, namentlich dann, wenn seine Nachbarn nicht geneigt sind, seine Reformabsichten zu unterstützen. Aber an sich ist das Nationalkonzil nur geeignet, noch mehr die Leidenschaften aufzupeitschen und die Zwietracht zu vermehren 252). Dieses Urteil hat Calvin aus den Verhandlungen und dem Ausgang des Kolloquiums in Poissy, das offiziell als Nationalkonzil bezeichnet wurde 253), gewonnen 254). Er hat von Anfang an vorausgesehen, daß die Bischöfe sich nie auf ein ernstes Gespräch einlassen werden, da die Evangelischen Bedingungen für die Verhandlung gestellt hatten, darunter die Forderung, daß die Bischöfe nicht als Richter, sondern als Partei auftreten, und alle Streitpunkte nur aus der Schrift, und zwar nach dem Urtext entschieden werden dürften 255). Wenn er auch an dem Glauben festhält, daß die Evangelischen den moralischen Sieg über ihre Gegner davontragen werden, so besorgt er doch, daß die Gegner, gereizt durch die aufgestellten Bedingungen, den Kampf nach einigen Spiegelfechtereien (umbratilis velitatio) plötzlich abbrechen werden, da der päpstliche Legat Hippolyt von Est, genannt Kardinal von Ferrara, durch seine Drohungen sie dazu ermutigen wird 256). Tatsächlich hat der Jesuit Lainez im Sinne des


252) 18,287: si on tenoit un concile partial, lequel neanmoins fust appelé universel, ce ne seroit qu’allumer le feu davantage et augmenter les discords.
253) In den Parlamentsakten MC. III,69.
254) Daß Calvin an das Nationalkonzil zu Poissy denkt, ergibt sich aus 18,683 Antequam ad te perveniant hae litterae, audita erunt tonitrua. Fulmen, nisi admodum fallor, non vibrabit, sed atrociter minabitur antequam discedat.
255) 16,688 Beza an Calvin am 12. September 1561. Vgl. Hist. ecclest. I,497.
256) 18,682ff. Auch Languet Ep. II,140 vermutet, daß die Aufgabe des Legaten war, die Unterredung mit den Keztern zu vereiteln und die Entscheidungen dem Konzil in Trient zu überlassen.

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Kardinals von Ferrara, der inzwischen dem Kanzler versprochen hatte, sich in seiner Eigenschaft als Legat nicht zu betätigen, die Kompetenz des Nationalkonzils für die Erledigung der religiösen Frage bestritten und dieses Recht nur dem allgemeinen Konzil zuerkannt 257). Es erscheint fast wie eine Ironie des Schicksals, daß Calvin einige Monate später diese Meinung der Erzfeinde der Evangelischen sich aneignet, daß er ferner für ein gedeihliches Fortschreiten der Arbeiten des allgemeinen Konzils dieselben Bedingungen stellt, die Beza und die evangelischen Geistlichen vor dem Beginn des Religionsgesprächs zu Poissy dem König vorlegten und die Calvin damals als hart und bedenklich bezeichnet hatte 258). Zeigt dies alles deutlich, daß Calvin bei dem Versuch, seine gerechte Sache durchzusetzen, den Grundsatz der Beweglichkeit und Anpassungsnotwendigkeit in den Verhandlungen vertritt, so ist bei der Beurteilung seines Verfahrens zu bedenken, daß er inzwischen die Berechtigung der von den Predigern gestellten Bedingungen nach dem Verlauf des Gesprächs in Poissy voll anerkannt hatte. Er mußte die Erfahrung machen, daß die Gegner den Gedanken eines Nationalkonzils nicht ernst nehmen 259). Sie sollen daher auf dem von ihnen gewünschten allgemeinen Konzil vor die Entscheidung gestellt werden, allerdings unter Kautelen, die ein würdiges und gedeihliches Verhandeln verbürgen 260).

Nach dem unbefriedigenden Ergebnis des Nationalkonzils hielt es der Hof für seine nächste Aufgabe, die


257) 18,752f; 19,7.
258) 18,683: ego . . si fuissent eorum (der Prediger) loco, veritus fuissem tam duras leges praescribere . . cavendum esse, ne si in aequo iure tuendo essetis nimium pertinaces, culpa in vos reiiceretur.
259) 18,738: etsi vero finem velitationi, in positum esse coniicio, serium certamen nullum fore arbitror.
260) Dies ist der einzige Grund, warum Calvin das Nationalkonzil ablehnt. Die Annahme, daß sein Widerwille gegen das Nationalkonzil persönliche Hintergründe hatte — „Calvin liebte es nicht, daß man irgendwelche Entscheidung ohne ihn treffe” (Crue, L’Action politique de Calvin 60) — wird durch zwei direkte Aussagen Calvins widerlegt: 18,683 (in einem Brief an Beza): de me ne verbum faceres quam-quam vehementer te rogavi, non desinis tamen ut video aliquid tentare: quod meo iudicio non expedit .... Non quod me pigeat laboris, aut uila pericula defugiam: sed ubi absunt satis idonei et probe instructi, non magnum praesentiae meae usum arbitror — 19,3: Ego moleste fero me nulla causa et absque ullo colore quibusdam esse suspectum ac si qua aemulatione pungerer, quod non fuerim accitus .... Tu autem optimus mihi es testis ut hanc provinciam semper defugerim.

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Gegensätze nicht zu verschärfen, sondern den Evangelischen, die inzwischen auch am Hof großen Anhang gefunden haben und auch im Lande an Zahl wuchsen, entgegenzukommen, und die bisherigen gegen sie erlassenen Gesetzesbestimmungen zu mildern. Im Vordergrund stand die Absicht, vornehmlich das sogenannte Juliedikt von 1561 zu ändern, das alle größeren Zusammenkünfte in Privathäusern, in denen gepredigt wird und die Sakramente anders als nach den Vorschriften der katholischen Kirche veranstaltet werden, bei Strafe des Todes und der Konfiskation verboten hatte 261). Um der Abänderung eine verfassungsmäßige Grundlage zu geben, hat die Regierung die Mitglieder aller Parlamente des Reiches zu einer Konferenz nach St. Germain im Januar 1562 einberufen. Nach der Erklärung des Kanzlers Hospital, daß es sich bei dem Milderungsversuch nicht um die Feststellung der Ueberlegenheit der einen Religion über die andere, sondern um das Interesse des Staates und ein friedliches Zusammenleben der Staatsgenossen handle, kam am 17. Januar 1562 ein Edikt zustande, das alle bisherigen Strafbestimmungen für diejenigen gottesdienstlichen Versammlungen, die bei Tageszeit und ohne Waffen außerhalb der Städte gehalten würden, aufhob, den Evangelischen die Religionsübungen gestattete, unter der eidlich bekräftigten Bedingung, keine andere Lehre als die in den Büchern des Alten und Neuen Testamentes und in dem Symbol von Nicea enthaltene zu vertreten, sich den bürgerlichen Gesetzen zu unterwerfen und ihre Synoden nicht ohne Erlaubnis der königlichen Beamten zu halten 262). Obwohl Calvin dieses Toleranzedikt nicht in allen Stücken billigt 263), so begrüßt er es im ganzen doch: „Wenn die Freiheit, die uns darin verheißen wurde, bleibt, dann fällt das Papsttum von selbst zusammen.” 264) In der Tat wurden dadurch die Evangelischen


261) Siehe den ausführlichen Text bei Isambert a.a.O. 14,109ff.
262) Der Wortlaut des Edikts bei Isambert 14,124f. MC lll,8ff.
263) Vgl. Beza an Calvin 19,319: fateor quidem edictum merito tibi in plerisque displicere. Ob hauptsächlich darum, daß die Kultusfreiheit nur auf die Vorstädte beschränkt bleiben sollte, wie Crue, a.a.O., 62, annimmt, ist mangels einer direkten Aussage Calvins nicht direkt zu entscheiden, aber höchst wahrscheinlich.
264) 19,359: Si maneat quae edicto nobis promissa (eine andere Lesart: permissa) est libertas, sponte concidet papatus.

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unter gewissen Bedingungen in den Frieden des Reiches, wie einst die deutschen Protestanten, aufgenommen 265).

Und nun mußte der Reformator von Beza erfahren, daß die große Körperschaft, die die Sicherung der gestzlichen Handhabung gleichsam besiegeln sollte, nämlich das Parlament zu Paris und das Parlament zu Dijon sich weigerten, das Edikt zu registrieren 266). Wenn das erstere zwar nach langwierigen Verhandlungen 267) das Edikt beglaubigen mußte, so tat es dies eben nicht spontan, sondern, wie es in den Akten heißt, unter dem Druck der dringenden Zeitumstände, aus Gehorsam gegen den Willen des Königs, ohne Billigung der neuen Religion und unter dem Vorbehalt, daß diese Beglaubigung nur provisorisch sei 268). Ueberdies wird dem Reformator berichtet, daß einige von den Mitgliedern des Parlamentes von Aix in der Provence an einem durch die Katholiken veranlaßten Aufstand teilnahmen, daß das Parlament von Toulouse stolz die Bestimmungen des Edikts umgehen möchte und daß nur dank der Entschlossenheit der Stadtobrigkeit (der „capitouls”) die religiösen Versammlungen der Evangelischen in der Vorstadt ermöglicht werden 269). An sich wollte Calvin die Autorität der Parlamente unangetastet lassen, aber nur, wenn sie sich nicht stolz und unfehlbar über die Gesetze stellten 270). Wenn aber selbst die


265) Ranke, a.a.O., 160.
266) 19,315.
267) Siehe darüber MC III, 15-93.
268) urgente necessitate temporis et obtemperando voluntati . . . . Domini regis, absque tamen approbatione novae Religionis; et id totum per modurn provisionis et donec aliter per dictum Dominum Regem fuit ordinatum.
269) 19,327.
270) Infolgedessen hat es Calvin auch später, im Oktober 1562, nicht gebilligt, daß das Pariser Parlament, das die Bestätigung des Friedens von Amboise verweigert hatte, durch den König ungebührlich gedemütigt wurde. Er verurteilt die Form der Demütigung, gibt aber zu, daß gegen die starre, stolze Haltung des Parlamentes ein gewaltsames Mittel angewendet werden mußte (19,173: Quamquam violento remedio opus fuit ad coercendam vesaniam, mihi tamen non placet pro imperio, et prope tyrannico more everti autoritatem quae duobus iam seculis illic viguerat). Die Auslegung, die Baron, a.a.O.; S. 96 A, dieser Stelle gibt: „Calvins Schätzung der Institution des Parlamentes . . . . . ging so weit, daß er dessen Rechte selbst da gewahrt wissen wollte, wo sie nicht zugunsten der Hugenotten angewandt wurden”, könnte leicht dahin mißverstanden werden, daß Calvin die Forderung der Eintragung mißbilligte, also gleichsam den den Evangelischen günstigen Frieden von Amboise boykottierte. Calvin ist mit den Befehlen des Königs einverstanden und sieht die Verletzung der „Autorität” (nicht der Rechte) des Parlamentes lediglich darin, daß die Gegenäußerungen des Parlamentes nicht bloß für ungesetzlich erklärt ➝

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ausgesprochenen Wahrer der Gesetzlichkeit versagen, dann wird man sich nicht wundern, daß das Vertrauen Calvins auf die Stände sich richtet, die mit Entschiedenheit vor dem König die gesetzliche Regelung der religiösen Frage gefordert hatten.

Wenn der dritte Stand außerdem noch andere Forderungen erhob, die dahin gingen, daß ohne die Bewilligung der Ständeversammlungen keine neuen finanziellen Auflagen ausgeschrieben werden sollten, daß der König, um das Gleichgewicht in den Finanzen herzustellen, eine ständische Kommission einsetzen möchte, durch die alles das zurückgenommen werden sollte, was durch die unehrliche Gewinnsucht der Finanzbeamten oder durch übermäßige Besoldungen in Privathände übergegangen wäre, daß eine Neuordnung hinsichtlich der geistigen Güter erfolgen sollte 271), so sind diese Forderungen allerdings nicht auf die Anregung des Reformators zurückzuführen. Sie entsprechen aber durchaus seinen Absichten. Die Folgeerscheinung des sonst kunstvoll gegliederten Systems von Beamten mit fest abgegrenzten Tätigkeiten und Finanzbezirken in Frankreich war eine Art von Feudalismus im Schatten der königlichen Günstlingswirtschaft. Die an die Stelle der mittelalterlichen seigneurs tretenden Beamten der zentralen königlichen Macht wurden zu willfährigen Organen des seine Geldbedürfnisse ungemein steigernden Monarchen, die mit Härte, geschützt durch die Autorität des Königs und ihre Immunität, das Volk finanziell aussaugen. Calvins Klagen gegen die aulici ministri, die in kurzer Zeit soviel Reichtum sammeln, daß sie große Besitztümer und Seigneurien erwerben, während der Adel mit den größten Schwierigkeiten zu kämpfen hatte 272) und namentlich das arme Volk (misera plebecula) besonders empfindlich und ungerecht betroffen wird — das alles ist ein Widerhall, der in den Wunschheften enthaltenen


➝ (utile enim fuit valere), sondern auf den Befehl des Königs die die Remonstranz beschließenden Protokolle in ihrer Gegenwart zerrissen wurden. Daß die Protokolle das richtige Maß überschritten haben, wird von Calvin zugestanden (nihil enim probrosum quam acta omnia, ubi modum excesserant, in eorum conspectu lacerari. Vgl. Isambert, a.a.O. 152ff.
271) Ranke, a.a.O., 155f.
272) 29,557.

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Beschwerden. Ebenso die Anklagen gegen die untergeordneten Finanzbeamten, die quaestores 273). Die Beamten, die „Trabanten” (satellites) des Königs, glauben, wie dieser über das Gesetz erhaben zu sein und trachten ihren ungesetzlichen Raub am Volk totzuschweigen 274). Erhebt der Reformator den schweren Vorwurf, den nach ihm später Bodin 275) dahin erweitert, daß alle Reichtümer des Staatsschatzes dem Raub der mächtigen Schmeichler anheimgefallen sind, so mußte ihm der von den Ständen von Pontoise 276) energisch vorgetragene Vorschlag, die Plünderer des Staatsschatzes zur Verantwortung zu ziehen und zur Rückgabe unendlicher Geldgeschenke zu zwingen, nur höchst vorteilhaft erscheinen, denn dadurch würden die Stände ihre höchste Pflicht, die Freiheiten des Volkes (libertas populi) zu wahren nur erfüllen 277).

 

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Die Stände von Pontoise waren nicht mehr versammelt, als Herzog von Guise durch das Blutbad von Vassy im März einen unheilvollen Bürgerkrieg entfesselte. Ob der Ueberfall von ihm beabsichtigt war oder nicht, ist nicht entschieden, wohl aber, daß er ihn nicht verhinderte und daher für die Kritik und die Folgen verantwortlich zu machen ist 278). Für Calvin war jetzt die Situation klar. Die durch das Januaredikt verbürgte Freiheit wurde verletzt und war in Gefahr, durch die Guisen ganz vernichtet zu werden 279). Die Guisen brachten die Königinmutter und den unerfahrenen König unter ihre Gewalt und suchten daher das legitimes Regime durch ein illegitimes zu ersetzen. Auch der legitime Prinz von Geblüt, Anton von Navarra hat sich auf die Seite der Guisen geschlagen und


273) Vgl. Op. 29,557 mit Etats gén. XI , 432.
274) 30,424.427.
275) De republica libri VI, 1591, S. 978.
276) Vgl. Bodin, a.a.O., 1054.
277) 2,1116.
278) So richtig Ranke, a.a.O., 169. Zu der ganzen Frage vgl. MC III,111ff und Ruble, L’assassinat de Francois de Lorraine, 160ff.
279) 19,359.

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dadurch den Anspruch auf die Legitimität verscherzt; er war von da ab für Calvin und Beza einfach „Julian der Abtrünnige”. Mit der Autorität des Königs aber war das Heil der Kirche verbunden 280). Calvin, der bis dahin immer wieder vor einem bewaffneten Widerstand abgeraten und das Blutvergießen verabscheut hatte, nimmt jetzt die Zügel in die Hand, organisiert die militärischen Aktionen, sammelt Gelder für Soldaten 281), wirbt in den Schweizer Kantonen Hilfstruppen. Dem Einwand, ob eine ausländische Hilfe zulässig sei, begegenet er in dem Brief an Bullinger durch den Hinweis darauf, daß die Gegner selbst im Ausland Truppen angeworben und damit den Anfang gemacht hatten 282).

Durch die Förderung des bewaffneten Widerstands verletzt also Calvin in keinem Punkt das Legitimitätsprinzip, denn er glaubt mit dem Kampf gegen die Gegner der religiösen Freiheit die mit dieser verknüpfte Autorität des legitimen Königs zu verteidigen. Er braucht jetzt daher nicht die Hilfe der Stände anzurufen; ein solches Unternehmen wäre nur bei ausgesprochener Feindschaft des Königs oder der Königinregentin angebracht gewesen. Man darf daher seinen jetzigen Standpunkt nicht auf die Formel bringen, daß seine Theorien verstummen und er sich entschlossen auf den Boden der Tatsachen stellt 283).

 

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Calvins Theorie von dem Widerstandsrecht und der Widerstandspflicht wurde erst später lebendig und wirklich, als in der Bartholomäusnacht das Pflaster von Paris


280) Wir können diese Stellungnahme Calvins erschließen aus einem Brief von Johannes Budé an Bullinger, Op. 19,394ff, der die Gedanken Calvins an Bullinger weiterleitet, da der Reformator verhindert war: ego tibi non do concilium, sed animum, non meum, sed fidelium omnium aperio. Utinam per otium Calvino nostro licuisset de his rebus ad te scribere, sed nec otium fuit.
281) 19,350.
282) 19,434: Hactenus dubitatum est, an accersenda essent extrema auxilia. Ego semper autor fui, ne a nobis initium fieret quia imitari nolo adversae partis impu-dentiam, quae nullam invidiam refugit. Nunc quia conducti sunt ab illis equites sclopetarii (Büchsenreiter) ex Germania, iusta erit nobis excusatio.
283) Gegen Schubert, a.a.O., 494.

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gerötet wurde. Da würde sie groß in ihrer Tiefe und Mächtigkeit. Die Männer, die das Widerstandsrecht und die Widerstandspflicht der Stände theoretisch zum Abwehrgebilde gegen die tyrannische Obrigkeit zu formen versuchen, die ersten Monarchenmachen Beza und Hotoman, sind Calvins Schüler. Beide kannten seine Gedanken, beide waren Zeugen seiner Bemühungen, in dem Kampf gegen die „stammfremden Henker” den Ständen die maß- und richtunggebende Aufgabe zuzuweisen und einzuschärfen. Vor allen Dingen war es der Jurist Hotoman, dem es nicht entgangen ist, wie der Reformator bestrebt war, die bis dahin unbestimmten Belange der Stände in das französische Staatsrecht einzubauen und damit zu befestigen, und mit der Einschränkung der Herrschermacht durch die Stände den materiellen Rechtsschutz der Volksfreiheiten zu sichern. So nahm Hotoman die Prinzipien Calvins auf und versuchte in seiner Schrift „De iure regni Galliae liuri tres”, zur Rechtfertigung des hugenottischen Widerstandes gegen das Königtum der Bartholomäusnacht das Ständerecht geschichtlich als das wirklich bestehende französische Staatsrecht zu erweisen, und die Institution der Stände in das Verfassungsrecht Frankreichs umfassend einzugliedern. Bedeutet die Tat Hotomans, wie allgemein anerkannt wird, für diese ganze Epoche einen Fortschritt, so ist die Grundidee auf den Reformator selbst zurückzuführen, der erst während der Kämpfe um die religiöse und Volksfreiheit ihre Lebenswichtigkeit erkannt und begründet hatte. Denn um diese Lebenswichtigkeit der Ständeeinrichtung und infolgedessen um ihre Verwurzelung in dem gesetzten Recht ist es dem Reformator zunächst zu tun. Daß diese Forderung in ihren letzten Folgerungen auf eine Befestigung des aristokratischen Bestandteiles in der Monarchie hindeutete, daß also das staatsrechtliche Problem letztlich zu einem Verfassungsproblem werden mußte, hat Calvin wohl erkannt, wenn er es auch nicht ausdrücklich betont. Doch stand für ihn die Verfassungsform, die Erklärung, daß die Verfassung Frankreichs als

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solche eine aristokratisch temperierte Monarchie sei, nicht im Vordergrund 284). Denn die bloße Feststellung des


284) In diesem Sinne muß die Auffassung Barons, der als die eigentliche Bedeutung der Widerstandslehre Calvins die Verankerung der Aristokratie in der Monarchie seiner Zeit sieht, eingeschränkt werden. Sie enthält einen Wahrheitskern, da Calvin mit der Hervorhebung der Wichtigkeit der Stände tatsächlich in die absolute Monarchie einen aristokratischen Bestandteil einarbeitet, bezw. die alten Rechte durch neue, von den Gegnern bis dahin nicht anerkannte, den Absolutismus stark einschränkende Bestimmungen zu erweitern sucht. Da aber Baron unbekannt ist, daß die Begründung der staatsrechtlichen Wichtigkeit der Stände Calvin erst im Laufe der Kämpfe um die religiöse Freiheit aufgegangen war, so hatte er gleichsam intuitiv die Wahrheit erfaßt. Denn die Gründe, die er für seine These anführt, können nicht überzeugen. Aus dem grundlegenden Satz von der Pflicht der magistratus populares, der sich bereits in der Institutio von 1536 (1,248) findet, in der Zeit also, in der Calvin den Vorrang der einzelnen Staatsformen nicht in seinen Gesichtskreis zieht (vgl. 1,232: sane valde otiosum est quis potissimus sit politiae Status, a privatis hominibus disputari quibus de constituenda re aliqua publica deliberare non licet), kann die Verknüpfung des Widerstandsrechtes mit dem Prinzip der aristokratisch beschränkten Monarchie nicht abgeleitet werden. Darum ist es unangebracht, dem Reformator deshalb eines Mangels an „wirklicher juristischer Konsequenz” zu bezichtigen, wie es durchaus unrichtig ist, daß Calvin die Lehre vom Widerstandsrecht der Stände nur in jenem Abschnitt der Institutio und „sonst nirgends theoretisch vorgetragen habe” (a.a.O., 95). In seiner Samuelhomilie, also gerade in der Zeit, in der die Wichtigkeit der Stände ihm in voller Wucht vor Augen steht, spricht der Reformator dreimal über diesen Gegenstand: 29,552; 30,496; 30,504. Damit fällt auch die durchaus unzulängliche Begründung dieses vermeintlich „auffallenden” Tatbestandes weg: „Vielleicht, daß Calvin bald erkannte, die Stände wichtiger Staaten würden sich wenigstens in der nächsten Zeit nicht zu Förderern der Reformation entwickeln Dann mußte es unklug scheinen, in der für die Praxis der Gegenwart bestimmten Schriften die Bedeutung dieser offenbar noch unreifen (?) Staatsorgane besonders zu unterstreichen”. Wenn B. trotzdem einige, allerdings spärliche Beispiele für die Unentbehrlichkeit der Stände anzuführen weiß, so schwächt er die Beweiskraft seiner These dadurch, daß er die Parlamente, die obersten Gerichtsbehörden, mit den Ständen identifiziert, ein Fehler, den B. vermieden hätte, wenn er den entsprechenden Bericht bei Isambert zur Vergleichung herangezogen hätte. — Höchst bedenklich erscheint ferner, wenn B. in den Ständen die „weltliche Parallele zu dem Amt der Aeltesten innerhalb der Kirche” zu sehen glaubt. Denn während die Ältesten als Vertreter des ganzen Körpers der Kirche (Op. 14,681; 36,412; 44,175) erscheinen, werden die Stände nirgends als Vertreter des Volkes erwähnt, sondern nur als Schützer der Volksfreiheiten, was B. einfach bestreitet (a.a.O., 92), ohne seine Ansicht quellenmäßig zu belegen. Wenn überhaupt der Versuch gemacht wird, die Widerstandslehre Calvins mit religiösen kirchlichen Gedanken in Zusammenhang zu bringen, was an sich nicht von der Hand zu weisen ist, so sollte man sich mehr nach den einschlägigen Beweisstellen umsehen, statt sich auf andere, den fremden Autoren entlehnten Vermutungen zu stützen. Ein abschreckendes Beispiel dieser Methode sind die Ausführungen von Fehr (Das Widerstandsrecht in „Mitteilungen des Instituts f. Oesterr. Gesch. Forschg.”, Bd. 38, S. 19ff), auf den auch B. Bezug nimmt. Fehr kombiniert die Anschauungen von Wolzendorff mit den Prinzipien Troeltschs, die dieser an dem Calvinismus abgelesen zu haben glaubt: „Die Auffassung, daß gegen pflichtvergessene Mitglieder (der Kirche Calvins) mit den schärfsten Strafen vorgegangen werden konnte, löste die Vorstellung aus, daß man auch pflichtvergessenen Herrschern widerstreben müsse”. Außerdem „führte die eigenartige Prädestinationslehre zu einer Stärkung der Individualität und zugleich zur Unfähigkeit, aus eigener Kraft das Gute zu tun. So werden die gegebenen Ordnungen und Gewalten anerkannt”; kurz: „eine Vermischung von Aristokratie und Herrentum mit der freien Initiative jedes verantwortlichen Einzelnen”. Abgesehen ➝

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staatsrechtlichen Tatbestandes hätte nicht gewirkt, wenn der Reformator den Ständen die ihren Rechten entsprechenden Pflichten nicht eingehämmert hätte. Er mußte es tun, da er die Überzeugung gewonnen hatte, daß in dem gegenwärtigen Augenblick die anderen mächtigen Faktoren, das Konzil und die Parlamente nicht willens waren, die Belange der Evangelischen zu vertreten. Die Erinnerung an das Pathos, mit dem der Reformator die Rechte und Pflichten der Stände in der bewegten und gefahrvollen Zeit vertreten hatte, war auch der wesentliche Antrieb der Monarchomachen in ihren Kämpfen gegen die tyrannische Gewalt. Es genügt, um dies zu erhärten, nur ein Seitenblick auf die deutschen Reformatoren. Luther und Melanchthon haben das Widerstandsrecht mit der verfassungsrechtlichen Stellung der Stände begründet 285). Und doch berufen sich die Monarchomachen kaum auf ihre Gedankengänge. Auch hätte der theoretische Satz der Institutio an sich nicht die Wirkung ausgelöst, wenn ihm Calvin nicht mit seiner Energie, mit der er im Anfang der sechziger Jahre praktisch


➝ von, daß Calvin nirgends die Widerstandslehre mit dem Kirchenzuchtsverfahren in Verbindung bringt, und die Monarchomachen, was hier besonders in Betracht kommen müßte, nie auch nur andeutungsweise auf diese Kombination eingehen, macht die Vermischung von Aristokratie und Herrentum mit der freien Initiative der Einzelnen nicht das Wesentliche der Widerstandslehre aus. Die Pflichten der Stände stehen außerhalb jedes Zusammenhangs mit der Initiative der Einzelnen. Die letztere wird ausdrücklich ausgeschlossen, da den Privaten jedes Widerstandsrecht abgesprochen wird. Es ist außerdem höchst gewagt, zwischen den Erwählten der Prädestinationslehre und den aristokratischen Ständen eine Analogie finden zu wollen. — Wenn die Frage nach dem Zusammenhang der Widerstandslehre mit der sonstigen Gedankenwelt Calvins angeschnitten werden sollte, so müßte man die Wurzeln in dem Ordnungsgedanken finden, worauf Calvin selbst hindeutet. Der legitime, durch die Stände ausgeübte Widerstand zielt hin auf die Herstellung des durch die Tyrannen verworrenen Ordnungszustandes (status perturbatus) und letzlich auf die Wahrung des göttlichen, die Herrscher in die Schranken der Billigkeit und Gerechtigkeit weisenden Willens (29,552).
285) Luther W.A. Tischreden IV, 236: Caesar (der deutsche Kaiser) non est monarcha in Germania, sicut Gallus et Anglus in suo regno sunt monarchae sed elestores septemviri sunt simul politica membra cum Caesare et sunt membra Caesaris; quorum cuilibet cura imperii imposita est, quamvis non aequali dignitatc Uli septemviri et prineipes quatenus sunt membra politiae et Caesaris . . . . non debent tacere in hac arte sollicitudinis; vgl. ib. 3,631: — Melanchthon CR 12,82f: Hic senatus et eligit Imperatorem, et si fit tyrannus, aut hostis verae doctrinae traditae in symbolis . . eripit ei imperium. Nec fiunt decreta a solo Imperatore sine adprobatione plurium ex hoc Senatu, qui etiam in conventibus facit προβούλευμα, de quo deinde deliberant caeteri Principes, cum quibus postes communis fit suffragatio: Sicut Athenis Senatus faciebat προβούλευμα de quo postea in concione deliberabatur: ita regnum in Germania temperatum est honestissima aristocratia.

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für die Wichtigkeit der Stände eintritt, die nötige Kraftwirkung verliehen und ihn dadurch praktisch bewährt hätte.

Nicht so sehr in der Verankerung der Aristokratie in der Monarchie, sondern in dem Pathos, mit dem Calvin für die ständischen Rechte und Pflichten eintritt, liegt die Bedeutung und das Geheimnis der geschichtlichen Fernwirkung der calvinischen Widerstandslehre.