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I.

Das Naturrecht.

 

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Calvins Anschauung über das Naturrecht ist erst in der letzten Zeit dargestellt und gewürdigt worden. In seinem großen Werk: „Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen” sucht Troeltsch die eigenartigen sozialen Prinzipien der religiösen Gemeinschaften vor allem in der Ausprägung des Verhältnisses des christlichen Ethos zu den sittlichen Problemen und Aufgaben des ausserreligiösen Lebens zu erfassen, dementsprechend die übernatürliche spirituale Sittlichkeit der beiden evangelischen Konfessionskirchen durch natürliche und allgemeine Kulturethik zu unterbauen. Das wesentliche Hilfsmittel dazu sieht er in den Begriffen des Naturgesetzes und des Naturrechts, die er bereits früher 1) in ihrer Entwickelung dargestellt und nach ihrer kulturgeschichtlichen Bedeutung gewürdigt hatte. Die Besonderheit der sonst mit lutherisch-melanchthonischen Formeln arbeitenden Auffassung Calvins zeigt sich nach Troeltsch in zwei scheinbaren Äußerlichkeiten. Einmal ist bei Calvin der Unterschied des „absoluten” und „relativen” Naturrechtes weit weniger betont als bei Luther. Der Dekalog und das Naturgesetz werden immer wieder als ewige unwandelbare Regel des Sittengesetzes bezeichnet; auf die Abwandelung durch die Bedingungen des Sündenstandes wird dabei nur gelegentlich, aber nie im Prinzip, Rücksicht genommen. Die zweite Eigentümlichkeit liegt in der Auffassung des Verhältnisses der ersten und zweiten Tafel des Dekalogs. Die Lehre Calvins weist aber auch einen anderen Geist auf. Die Hervorbringungen des relativen Naturgesetzes erscheinen bei Calvin fast nie von der Seite, wo sie


1) In seiner Schrift „Vernunft und Offenbarung”; in dem großen Aufsatz „Protestantisches Christentum und Kirche”; ferner: „Das stoische Naturrecht und das moderne profane Naturrecht” (Histor. Ztschr. Bd. 106) und vor allem die Studien in dem „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik”. Band 26. 27.

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zweckmäßige Veranstaltungen zur Bekämpfung des Bösen, zur Förderung des Guten und zur Verwirklichung der Ehre Gottes sind. 2)

Eine entgegengesetzte Stellung nimmt Lang 3) ein. Nach diesem spielt bei Calvins Beurteilung rechtlicher und sozialer Verhältnisse das Naturrecht keine Rolle. 4) Das Naturrecht müsse trotz seiner Anfänge in der Antike als ein durch und durch katholisches Gedankengebilde angesehen werden, das auf die Ausbildung des modernen Liberalismus unmittelbar eingewirkt habe 5). Wird die erstere These v. Beyerhaus 6) abgelehnt, so beschränkt dieser seine Darstellung, soweit sie auf das Naturrecht eingeht, dem Hauptthema entsprechend wesentlich auf das Verhältnis des Naturrechtes zu der Souveränität Gottes 7) — Wie dieser, weist auch Doumergue 8) Langs Behauptung zurück. Seine im Verhältnis zu den erwähnten Arbeiten ausführlichste Studie verfolgt vornehmlich den Zweck, Calvin als den Patron der modernen Menschen- und Bürgerrechte zu erweisen und seine „religiös-theologische” Naturrechtsauffassung gegen die „theokratisch-mittelalterliche” abzugrenzen.

Bei allen diesen Abhandlungen, soweit sie Calvins Bejahung des Naturrechtes zugeben, vermißt man eine nähere Erörterung der Momente, die beim Naturrechtsproblem in den Vordergrund gerückt werden müssen. Es fehlt die Beschreibung der Natur als Quelle und Ursprungsort des Naturgesetzes, sowie der psychologischen und ethischen Voraussetzungen des Naturrechtes. Es fehlt eine deutliche Abgrenzung der rein natürlichen Momente gegen die durch die christliche Erkenntnis bestimmten und bedingten, und die Darlegung der bei Calvin versuchten Synthese beider. Es fehlt die Antwort auf


2) Soziall. 657 ff.
3) „Die Reformation und das Naturrecht”, in den „Beiträgen zur Förderung christlicher Theologie”, Jahrgang 13, Heft 4; Göttinger Gel. Anz. 1912. Nr. 5.
4) Naturrecht, S 22.
5) ib. 46.
6) Studien zur Staatsanschauung Calvins, S. 66, Anm. 4.
7) S. 67 ff.
8) Jean Calvin V, 465.

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die Frage nach dem geschichtlichen Ursprung der Naturrechtslehre. Es fehlt vor allen Dingen die Erörterung der Zusammenhänge zwischen der Naturrechtslehre und der sonstigen Gedankenwelt Calvins.

 

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Der Begriff ius naturae ist bei Calvin nicht scharf umrissen; er wird mit dem lex naturae abwechselnd gebraucht. Einige Beispiele: Wird das Altersverhältnis der beiden Brüder Esau und Jakob auf die lex naturae zurückgeführt 9) so ist damit zweifellos das ius naturae gemeint. Umgekehrt würde man die aus der Königsherrschaft Gottes über die Welt sich ergebende Verpflichtung der Menschen zur Gottesverehrung 10) nicht auf das ius naturae, wie Calvin es tut, sondern auf die lex naturae gründen, wie ja überhaupt sonst die Ueberordnungs- und Unterordnungsverhältnisse bei ihm der lex naturae entspringen. Ist der Mensch ganz auf Christus, den souveränen König des Himmels und der Erde, angewiesen, so entspricht dies dem „Naturrecht”, das heißt dem Bruderverhältnis, das uns mit ihm verbindet 11), während man nach einer strengen Begriffsdistinktion die Grundlage dieser spiritualen Blutsverwandtschaft nicht in dem ius, sondern der lex naturae suchen würde. Wir dürfen in dieser Gleichsetzung umso weniger einen Mangel an strenger begrifflicher Prägung sehen, als auch die Antike und das Mittelalter beide Begriffe abwechselnd gebrauchen 12).


9) Op. 47,149.
10) Op. 31,243.
11) Op. 17,193: Nous sommes du tout à luy tant du droict de nature que pour le prix inestimable de son sang qui na pas espargne pour nostre salut.
12) Die Verwechselung findet sich bereits bei Cicero: de officiis 17,69 und öfter (Voigt, De Lehre vom ius naturale usw., S. 192). Die Gleichsetzung der beiden Begriffe bei den Kirchenvätern und im Mittelalter ist allgemein bekannt. In der Lehre des Mittelalters muß dies ganz besonders ins Gewicht fallen, da nach ihr das Naturgesetz bereits vor der Entstehung des Staates in Geltung war und das Dasein des Staates als Rechtsinstitution der durch die aus dem Naturrecht abgeleiteten Rechtssätze möglich war. (Vgl. Gierke, Althusius1, S. 772) — eine Theorie, die Calvin fremd ist.

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Sehen wir aber näher zu, so werden wir dem Reformator das Streben nach einer gewissen Abgrenzung der beiden Begriffe nicht absprechen können.

Es ist schon eine begriffliche Klärung, wenn Calvin von den mit der lex naturae identischen ius naturae die das tatsächliche Sein und Geschehen im Weltall (fabrica mundi, orbis machina, universitas mundi) beherrschenden und bedingenden Gesetze scheidet. Für diese, sowie für die unabänderlichen Notwendigkeiten des sozialen und politischen Lebens verwendet Calvin mit Vorliebe die Bezeichnung ordo naturae (ordre commun de nature) 13). Im Gegensatz zu dieser Ordnung steht die Verwirrung (confusion) 14).

Die lex naturae ist vornehmlich der Inbegriff der praktischen, dem Menschengeist angeborenen rechtlichen und sittlichen Prinzipien (iustitiae ac rectitudinis conceptiones), die die Griechen als προλἠψεις bezeichnet haben. 15) Damit ist aber der Inhalt der προλἠψεις nicht erschöpft. Calvin rechnet dazu die Ueberzeugung von dem Dasein Gottes und von der Notwendigkeit, ihn zu verehren, 16) womit er die Anschauung der Stoiker, vor allem Ciceros 17) und Senecas 18), wenn auch nicht vollständig, wiedergibt. Nach diesen gehört zu den προλἠψεις auch die Ueberzeugung von der Unsterblichkeit. Jedenfalls handelt es sich bei Calvin um die Gesetzgebung des Sollens. Denn das Gesetz vermittelt zunächst die Erkenntnis des Rechten und Billigen (notitia recti et aequi). Es hält sodann den Menschen die aus dieser Erkenntnis sich ergebende Regel der richtigen Lebensgestaltung (vitae instituendae regula) vor und ist daher vornehmlich das Mittel, die Menschen zu der richtigen Lebensnorm zu erziehen 19).


13) Op. 31,290, 490 continuus naturae ordo; 35,393: ordre admirable en nature ib. 378: ordre perpetuel; ib: 373: ordre commun de nature; 36,30: ordo naturae; 35,329: die Ordnung als organische Verbindung der Menschheit; 26, 311 ff; 33,313, 583 ff, 597, 599 (Ueberordnungs- und Unterordnungsverhältnisse; 2,197; 27,456: ordo politicus, ordre public.
14) 27,565; 33,613, 615; 35,191.
15) 49,37ff: constat absque dubio quasdam iustitiae ac rectitudinis conceptiones, quas Graeci προλἠψεις vocant, hominum animis esse naturaliter ingenitas.
16) 49,38.
17) Tusc. I, § 30 und 36, De legibus I, 16, 42-44.
18) Epistolae 117,6
19) Op. 2,2038.

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Das Gesetz ist demnach ein praktisches Naturgesetz, dessen Notwendigkeit und psychische Wirklichkeit nachgewiesen und beschrieben wird.

Wie alle Reformatoren und die ganze christliche Tradition, so knüpft Calvin an den bekannten paulinischen Gedanken Rom. 2, 14 an. Mit der allgemeinen Schuld sind auch die Heiden behaftet; haben sie ohne Gesetz gesündigt, so werden sie auch ohne Gesetz verloren gehen. „Weil es aber unvernünftig scheinen könnte, daß die Heiden ohne jedes vorangehende Gesetz verloren gehen sollten”, so muß bei ihnen an Stelle des Gesetzes das Gewissen treten. Der Zweck des praktischen Gesetzes ist also, den Menschen unentschuldbar zu machen 20). Die Heiden haben ein Gesetz ohne Gesetz, statt des geschriebenen das Naturgesetz 21). Das Naturgesetz bindet aber nicht bloß die Heiden; allen Menschen, die gerne gegeneinander nachsichtig sein und jede Empfindung für die Sünde ersticken wollen, nimmt das Gewissen den Vorwand der Unwissenheit. 22)

Die Darstellung der psychischen Wirklichkeit hängt eng mit der Bestimmung der Natur zusammen als der Quelle, aus der sich das sittliche Gesetz ergießt.

Mit der Uebernahme des ursprünglich stoischen Begriffs werden alle Züge abgestreift, die an den dynamischen Pantheismus der Antike erinnern. Die Quelle des sittlichen Gesetzes ist nicht die kosmische Natur, nicht die natura rerum, nicht die Grundzusammensetzung jedes Wesens, wie Gaius und Paulus lehren, nicht die Natur aller Lebewesen, wie Ulpian wollte, sondern die menschliche Natur, das „Herz”, das allerdings nach dem biblischen Sprachgebrauch mit Vernunft identisch ist, 23) in das Gott die Normen der Gerechtigkeit und Billigkeit hineingelegt,


20) Op. 2,204.
21) Op. 49,37: Habent ergo legem sine lege ... naturam opposuit (Paulus) legi scriptae, intelligens scilicet gentibus naturalem iustitiae fulgorem illucere, qui legis vicem suppleat. 24,720: naturaliter .. insculpta est boni et mali notitia hominibus, quo reddantur inexcusabiles: nec ulla unquam barbaries lucem hanc adeo exstinxit, quin ubique viguerit aliqua Iegum forma.
22) Ib.
23) Op. 49,38 nec vero cordis nomen pro sede affectuum, sed tantum pro intellectis capitur.

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hineingeschaffen hat 24). Hierin schließt sich Calvin der seit Augustin 25) traditionell gewordenen Anschauung an. Die Entstehung des praktischen Gesetzes ist aber nicht so vorzustellen, alsob das objektive alles Sein durchdringende Weltgesetz im Menschen zur denkenden Vernunft geworden wäre. Es geht aber auch nicht an, in der Vernunft darum die Trägerin der sittlichen Ideen zu suchen, da sie angeblich das eigentliche Wesen des Menschen ausmache. Die erstere, stoische Anschauung, namentlich ihre humanistische, zur Zeit Calvins durch Agrippa von Nettesheim und die Anhänger von Lucrez geschaffene Ausprägung, wird verworfen, da sie Gott zum schemenhaften Wesen herabwürdigt und mit goldenen Ketten des Ursachenzusammenhangs fesselt 26). Die zweite, von Seneca ausgebildete Vorstellung ist einseitig, da das wahrhaft Menschliche, das dem Gottesbild Entsprechende die ganze Seele umfaßt 27). Nun kann aber das Gesetz nicht dem Willen aufgeben, in ihn eingegraben worden sein, als ob der Mensch die Fähigkeit und das Streben hätte, das Gesetz zu erfüllen; damit würde man die Gnade Gottes und die Ohnmacht des natürlichen Vermögens gründlich mißverstehen. 28) Die Grundbegriffe des Sittlichen und — wie Calvin immer hinzufügt, — des Wahren können daher nur in der Vernunft verwurzelt sein. In der Tat gibt es eine Fähigkeit im Menschen, mithin eine Urteilskraft, die die ordnende Gesetzesregel aus sich heraussetzt. Das, was die römischen Juristen 29) ratio naturalis genannt haben, das bezeichnet Calvin mit dem paulinischen Ausdruck Gewissen. Wie die scientia dadurch entsteht, daß die Menschen mit ihrem erkennenden Geist (mente intelligentiaque) die Kenntnis des Objekts gewinnen, so ist die conscientia der Sinn für das göttliche Gericht, gleichsam ein innerer Zeuge im Menschen, der es nicht zuläßt, daß die Menschen ihre Sünden verheimlichen, sondern der sie immer wieder vor das


24) Op. 47,37: hanc legem naturaliter insculpsit omnium cordibus — conceptiones naturaliter ingenitae.
25) De div quaest. 53,2.
26) Op. 2,45; 8,359; 24,623; 32,107; 34,251; 40.33.114: 45,289.
27) Op. 2,136: hominis nomen ad eam transferendo praecipuam esse partem iudicant.
28) Op. 49,38.
29) Caius, Instit. I,1; I,89.

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Tribunal Gottes stellt. Das Gewissen ist ein Mittelding zwischen Gott und den Menschen, da es den Menschen nicht erlaubt, die Erkenntnis der Sünde in sich zu erdrücken, sondern sich zu dem Schuldbewußtsein durchzuringen. Die einfache Erkenntnis kann im Menschen eingeschlossen bleiben; dagegen treibt das Gewissen die Menschen, aus sich selbst herauszutreten und sich vor das Angesicht Gottes zu stellen; es ist ein Wächter, der die Geheimnisse des Herzens nicht in ihrer Dunkelheit beläßt, sondern sie in das Licht des göttlichen Gerichts rückt. So wird das Gewissen zu einem mahnenden Zeugen im Menschen, ja es vertritt die Stelle von tausend Zeugen 30). Wegen dieses dem Gewissen immanenten Zuges zur Klarheit kann es als die ratio bezeichnet werden, mit der der Mensch zwischen gut und böse unterscheidet, mit der er erkennt und urteilt, — ein natürliches auch durch die Sünde nicht auszutilgendes Geschenk, ein Zeichen des unsterblichen Geistes, der auch nach dem Fall nicht ganz vernichtet werden konnte. 31)

Im Gewissen richtet also Gott sein Tribunal auf; im Gewissen begegnen sich Gott und die Natur. 32) Darum bekommt der Satz, das Gott das Gesetz in die Natur des Menschen hineingelegt hat, eine bestimmtere psychologische Klarheit, wenn das Gewissen als der „Sinn” bezeichnet wird, in dem sich die sittliche Erkenntnis entfaltet. Bei alledem ist sich Calvin bewußt, daß nicht die volle Gesetzeserkenntnis, sondern nur Samenkörner der Gerechtigkeit der menschlichen Seele eingepflanzt sind. 33) Das Rechtswissen,


30) Op. 2,869.
31) Op.2,196: quum ergo ratio qua discernit homo inter bonum et malum, qua intelligit et iudicat, naturale donum sit, non potuit in totum deleri; 2,204: conscientiae agnitio, inter iustum et iniustum sufficienter discernentis; 2,135: conscientia quae inter bonum et malum disccrnens ... indubium est immortalis Spiritus Signum. 40,335: nemo quidem est, quem non pungat propria conscientia, quando insculpta est omnium cordibus lex Dei ... est enim non tantum frigida illa cognitio .. sed etiam multis tenebris implicita, ut qui sibi male conscius est, sponte tarnen obstupescat, dum sibi indulget; 2,267: non .. sinit nos perpetuum somnum sine sensu dormire nostra conscientia, quin intus testis sit ac monitrix corum, quae Deo debemus quin boni et mali discrimen nobis obiiciat atque ita nos accuset, dum ab officio discedimus.
32) Op. 2,267. Wir wissen, daß wir „natürlich” Gott zu gehorchen verpflichtet sind (ex naturae obligatione obsequendi necessitas nos manet).
33) Op. 49,38: nec ... hominibus inesse plenam legis cognitionem, sed quaedam duntaxat semina esse indita ipsorum ingenio.

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d.h. ein Wissen um die Grundbegriffe des Rechtlichen, die Wahrung und Erhaltung des Eigentums und die Betätigung der Vertragstreue, wird durch das Rechtsgewissen verschärft. Kraft des letzteren wird der Mensch durch die Macht der Wahrheit so überwältigt, daß er nicht anders kann als die Rechtsprinzipien, das Gerechte oder Billige, zu bejahen. 34) Daß diese innere Bejahung unter unheimlichen Kämpfen, aber auch mit innerer Freudigkeit erfolgen kann, darin weiß sich Calvin mit der Antike eins 35) Nach alledem kommt im Gewissen nur das sittliche Denken, nicht aber die sittliche Entscheidung zum Vorschein 36). Indem Calvin die Aufgabe des Gewissens innerhalb der natürlichen Sittlichkeit auf die Ausübung der sittlichen Urteilskraft beschränkt, berührt er sich mit den Anschauungen der anderen Reformatoren. 37)

Bei der Beurteilung der rechtlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse gebraucht Calvin auffallend häufig den Ausdruck sensus naturae, oder communis sensus, den man am passendsten übersetzen kann: natürliches, praktisches Empfinden. Dieses ist, wie das Gewissen, den Menschen angeboren 38) und leistet ihnen ähnliche Dienste wie jenes, darf aber nicht mit ihm verwechselt werden. Der sensus naturae regt sich gewöhnlich, wenn es sich um die Aufrechterhaltung oder Störung der Ordnung handelt, 39) wenn das Innere des Menschen sich gegen die Verletzung der öffentlichen Ehrbarkeit empört, 40) die Gerechtigkeit gebeugt und die Humanität vergessen wird. 41) Es ist, kurz


34) Op. 49,38 sic veritatis potentia vineuntur, ut non possint non approbare,
35) Ib. unde illae ethnicorum voces: amplissimum theatrum esse bonam conscientiam: malam vero Pessimum carnificem ac saevius quibuslibet furiis impios exagitare.
36) 49,38: Est igitur naturalis quaedam legis intelligentia, quae hoc bonum expetibile dictat, illud vero detestandum.
37) Für Luther vgl. WA 8, 606: Conscientia . . non est virtus operandi, sed virtus iudicandi. Zwingli Op. ed Schuler et Schulthess 6a,82: quod Deus ista scripsit in eorum cordibus, id est Deus mali et boni cognitionem eis indidit. Et simul attestante conscientia, hoc est intus sentiunt, quid rectum, quid pravum sit. Melanchthon CR. 15,578: Conscientia est totum argumentum seu iudicium in mente, quo recta approbamus et delicta improbamus; dasselbe CR. 13,196; 16,171.
38) Op. 24,661, sensus nobis divinitus ingenitus.
39) 24,605, 444.
40) ib. 641, 659, 645, 661 f.
41) ib. 611; 33,29; 24,669.

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gesagt, das Rechtsgefühl, in dem der Sinn für die Gerechtigkeit und der Sinn für die Ordnung, also der Sinn für sittliche und ästhetische Werte, verbunden sind, aus dem dann ein entsprechendes sittliches Urteil erfließt, das man als Rechtsgewissen bezeichnen kann. Das Rechtsgefühl darf aber nicht verwechselt werden mit dem bei Ulpian, wahrscheinlich im Anschluß an die Lehre Ciceros, gebrauchten animalischen sensus, der den Menschen und den Tieren gemeinsam ist. Denn dieser sensus ist eine Kollektivbezeichnung für die instinktiven Regungen und Kundgebungen des rein sinnlichen appetitus, (wie Zeugungstrieb, Fürsorge für die Nachkommenschaft und deren Schutz). Die rein animalische Empfindung, (sentiment) kennt Calvin auch. Weil sie aber rein instinktiv und auch den Tieren eigen ist, die kein Urteil und keine Vernunft haben, wird sie streng von dem sittlichen Rechtsgefühl geschieden und unterschieden. 42) Calvin muß allerdings zugestehen, daß die Tiere mit in ihren instinktiven Regungen die Menschen oft beschämen. 43) Das Rechtsgefühl als der Sinn


42) 33,292; il est vray, qu'il n’y aura iugement ni raison en un boeuf, ni en un asne: mais si est-ce que Dieu leur donne quelque sentiment, qui les conduit jusques là ou leur nature va; vgl. 5,141 — Ähnlich Melanchthon CR 21,117: Omitto .. ea quae cum brutis communia habemus, vitam tueri, gignereque et aliud ex sese proereare, quae in ius naturae referunt Iurisconsulti, ego naturales quosdam affectus animantibus communiter insitos voco. 16,385: Et quamquam aliquae στοργαὶ bonae congruunt cum inclinationibus belluarum, ut amor erga sobolem, sensus beneficii: tamen in tanta discordia affectuum eruditius est, legem naturae ad notitias revocare — Unter dieser Voraussetzung glaubt Luther, daß man eigentlich zwischen dem ius naturale, brutale und ius rationale unterscheiden müsse. Das erstere ist nach ihm überhaupt kein Recht, denn es drückt sich darin nur das bloß naturhafte Sein aus, während es sich beim Recht um ein Soll handelt. Die Juristen haben eigentlich kein ius naturale, sondern nur ein ius gentium, das aus der Vernunft des Menschen fließt: W.A. Tischr. 1,267: iureconsulti non proprie definiunt ius naturae. hominibus et bestiis commune est, quia necesse est in iure naturali distingui hominem tamquam dominum a ceteris bestiis, et est ei tribuendum aliquid excellentius. Rectius igitur loquerentur si diecrent aliud ius naturae brutale, aliud rationale .. iuris consulti igitur proprie non habent ius naturale, sed tantum ius gentium, quod profluit ex ratione humana. Ius enim non est factura .. sed ius naturae in theologia est quod non fit sed debet fieri. Iuristae faciunt res, quae fiunt et non debent fieri aut non coguntur; deinde si attribuitur homini ius naturae, quod iure consulti ponunt ergo omnia promiscua. — (Vgl. Melanchthon 16,393: Voco autem ius naturale id quoque quod iuris consulti vocant ius gentium). Diese charakteristische, soweit man sieht, bis jetzt von der Forschung nicht beachtete Stelle hätte Holl, Ges. Aufsätze I,207 für seine gegen Troeltsch gerichtete Behauptung, daß man bei Luther das Seiende und das Seinsollende nicht vermischen dürfe, heranziehen können.
43) 36,30: saepe enim bestiae naturae ordinem melius sequuntur et plus humanitatis prae se ferunt quam homines ipsi .. omnia animantia tantum diligentiae adhibere ➝

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für die harmonische Gestaltung der politischen und sozialen Ordnung ist auch nicht ohne weiteres identisch mit dem rein sozialen Trieb. Dieser ist Instinkt, Anlage und kommt dem Menschen, dem animal sociale 44) geradeso wie den Tieren zu. Die Tiere aber haben keinen Sinn für die gesetzliche Regelung der Gesellschaft, da sie in ihrer rein naturhaften Brutalität umherirren, ohne zu wissen, was das Gesetz ist; ja sie spotten über alle Verfassungen, um die sich die Menschen oft mühen. 45)

Ist demnach die rationale Natur der Ursprungsort und Ausgangspunkt der sittlich-rechtlichen, religiösen und intellektuellen Betätigungen, so ist das Naturgesetz das diesen die Norm anweisende Grundprinzip.

Aus dem Naturgesetz wird sodann das Naturrecht abgeleitet, d.h. das durch die lex naturae gebotene Recht, wie dies bereits bei Cicero und das ganze Mittelalter hindurch die landläufige Auffassung gewesen war. Die Natur ist die Personifikation des Naturgesetzes; sie hat dem Menschen das ius übertragen (contulerat) 46). Das Naturrecht darf durch keine sonstigen auf Zustimmung vieler ruhenden Sitten zerstört werden, da es aus der ureigenen Naturquelle fließt und in dem allgemein verbindlichen immerwährenden und unantastbaren Prinzip aller Gesetze begründet ist. 47) Das ist keine etwa nur vereinzelte Sondermeinung. 48) Neben anderen überaus deutlichen Erklärungen 40) müssen vor allem die das individuelle Freiheitsgebiet umschließenden Naturrechte, die subjektiven Personen- und Eigentumsrechte beachtet werden. Sie sind urtümlich und unantastbar,


➝ soleant in educando foetu, quum saepe mulieres naturae et humanitatis omnis oblitae liberos abiiciant.
44) 1,325: quoniam homo animal est natura sociale, naturali quoque instinctu ad fovendam conservandamque eam societatem propendet. Vgl. 5,20: natura indidit animalibus societatem in suo cuique genere.
45) 35,418ff. les asnons sont là en leur brutalité .. s’esgayent par les montages .. ils se mocquent de toutes les polices, ou les hommes travaillent tant.
46) Op. 23,585.
47) Op. 24,662: Quod naturale est, nullo consensu vel more potest deleri . . quandoquidem fluit ab ipso naturae fonte, et fundata est in generali omnium legum principio, quod perpetuum est ac inviolabile.
48) Gegen Lang Gött. Gel. Anz., 112, Nr. 5, S. 72: „durchaus vereinzelt”.
49) Op. 10/1, 236: Quod naturale est, nullo consensu vel more deleri potest. 24,237: Non video . . cur praetextu legis politicae aboleri debeat quod est ex iure naturae ideoque mutari nequit; ferner 24,657: Vulgo dicitur iura naturae insolubilja esse.

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da sie Naturrechte sind. So ist das Leben ein unveränderliches Gut; wer es jemanden raubt, begeht direkt einen Raub am Heiligtum (sacrilegium). Ebenfalls ist das Eigentumsrecht ein Naturrecht; denn die Natur lehrt uns, daß der Besitz zu betrachten ist, als ob er heilig wäre — ein Grundsatz, den das römische Recht, wie Calvin mit Befriedigung feststellt, mit seiner Forderung: ut ius suum cuique salvum maneat, und die Philosophen in Gänze anerkannt haben, wie ja auch jedermann sich naturgemäß gegen die Verletzung des Eigentums auflehnen muß 50). Der Besitzstörer verletzt l’ordre de nature 51) und versündigt sich gegen den allgemeinen Grundsatz der Billigkeit. 52) Das Personen- und Eigentumsrecht sind Freiheitsrechte, die der vis dominationis, den Auswüchsen der Herrschaftsrechte, der tyrannischen Ausbeutung der Privatpersonen und ihres Eigentums entgegengestellt werden 53). Die Freiheit ist mehr als ein halbes Leben. Wenn man sie jemand raubt, so begeht man Mord an ihm 54).

Nun ist freilich diese begriffliche Unterscheidung von ius naturae und lex naturae nicht überall streng durchgeführt und kann auch wegen der durchgreifenden Verwandschaft nicht durchgeführt werden. Bereits in der Institutio 1539 55) hebt der Reformator den prinzipiellen, übrigens allgemein


50) Op. 27,506: que nature a toujours enseigne que si les bornes n’estoient tenus et observées, il y auroit une horrible confusion. 24,676: nam ut certa sit cuique sua possessio terminos finiendis agris positos inanere intactos, ac si sacri essent. 27,576 l’ordre de nature qu’il avoir establi et qu’il vouloit qu’on observat comme sacré. 24,709, 699: Cuius (des achten Gebots) summa est, ut suum cuique ius salvum maneat . . quod ius ne miremur apud coeleste tribunal statui, quando a philosophis eadem prope tradita est doctrina . . omnes naturaliter abhorrent.
51) 27,566.
52) 27,566 si ceci n’estoit observe il n’y auroit nulle equité entre les hommes. 24,673: aequitatem semper et cum omnibus colendam esse.
53) 29,556: ex quibus (aus der Schilderung der tyrannischen Verletzung des Personen- und Eigentumsrechtes) discendum est, quantum sit libertatis donum et quam benigne deus cum populis illis agat, quibus eam largitur. Ib. 555 cogitandum quantum libertatis beneficium sit, cum deus illam alicui largitur.
54) 24,628: plus quam dimidium vitae fuit libertas. Hominem ergo privari tanto bono propemodum iugulare fuit. Daher ist die durch keine Stelle belegte Behauptung Barons (Calvins Staatsauffassung S. 92 und 113), daß Calvin „keine natürlichen durch die Obrigkeit zu schützenden Rechte kenne oder einen auffallend geringen Wert auf sie lege”, unbegründet.
55) Op. 1,112.

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reformatorischen 56) Satz hervor, daß der Dekalog Bezeugung und Bestätigung des Naturgesetzes ist. Bei der näheren Begründung dieses Grundsatzes ist es nicht zu vermeiden, daß die Begriffe lex und ius naturae abwechselnd gebraucht werden; aber auch da wird bei Calvin ein Streben nach begrifflicher Distinktion nicht ganz geleugnet werden können.

 

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Hatte Calvin bereits im Römerbrief-Kommentar diesen Grundsatz wiederholt, ohne die Grenzen zu verschweigen, innerhalb deren die Uebereinstimmung der beiden Tafeln des Gesetzes mit dem Naturgesetz gilt 57), so vergleicht er nach dem Beispiel Melanchthons im Jahre 1563 in „Mosis reliqui libri (II-V. Buch) quatuor in formam Harmoniae digesti 58) die zehn Gebote mit den anderen


56) Der Unterschied zeigt sich nur in der Betonung der einzelnen Momente. Während Luther die Feststellung in den Vordergrund stellt, daß nicht Moses der erste Verfasser des Dekalogs war, sondern die zehn Gebote von Anfang an in die Herzen aller Menschen eingegraben wurden (Disputat., herausg. von Drews: S. 408: Deca-logus non est Mosi lex, neque primus ipse eam dedit, sed decalogus est totius mundi, inscriptus et insculptus mentibus omnium a condito mundo; ib. S. 378: Ist es natürlich, Gott ehren, nicht Stelen, nicht ehebrechen, nicht falsch gezeugnis geben, nicht totschlagen, und es nicht new, das Moses gebeut, denn was Gott von hymel geben hat den Juden durch Mosen, das hat er auch geschrieben ynn aller menschen hertzen beyden den Juden und Heiden. W.A. 24,9, W. 16,431: Gott hat den Juden auch ein geschrieben gesetz, daß dies zehen gepot geben zum Überfluß, welche auch nicht anders sind denn das Gesetz der Natur, das uns natürlich ins Herz geschrieben) und Zwingli dabei besonders hervorhebt, daß Moses das Gesetz dem Volke geben konnte, da er den Geist Gottes, der in dem Naturgesetz waltet, ja das Gesetz Gottes lebendig in sich trug (Op. Schuler und Schultheß V, 263: Talis nimirum Moses fuit qui spiritum Dei vivam scriptam habebat in corde suo; VI, 352: Eadem lex . . postea a Mose tradita fuit, quae prius in cordibus exarata erat, I, 360: Das gsatz der Natur ist nut anders, denn das wysen und leiten des gottlichen Geistes) stellen sich Melanchthon und Calvin die Aufgabe, die Uebereinstimmung der einzelnen Gebote des Dekalogs mit den entsprechenden Inhalten des Naturgesetzes nachzuweisen, wobei Melanchthon viel ausführlicher als Calvin auf die verwandten Lehren der Philosophen und Gesetzgeber eingeht und vor allen Dingen den Dekalog der aristotelischen Sittenlehre anzugleichen sucht. (CR 21,392; CR 12,20; 21,400ff, 711ff) — Das Thema zusammengefaßt CR 21,715: Recensui Leges naturae iuxta seriem Decalogi; nam haec series perspicua est et viam, quam ratio monstrat, recte sequitur . . deinde eo prodest sequi hunc ordinem, ut consensus Legum naturae cum Decalogo appareat . . ut intelligamus ipsas Leges naturae divinas esse, et veram earum explicationem, demonstrationes et congruentes seu apud Philosphos seu apud Legumlatores magni faciamus, contrarios vero detestemur. Zur Uebereinstimmung mit Aristoteles vgl. CR 16,183ff mit 21,711ff und 21,117.
57) Op. 49,38.
58) Bd. 24, S. 209ff.

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Gesetzen und nimmt auf das Naturrecht öfter Bezug. Fügt man noch die zahlreichen in den anderen Schriften verstreuten Bemerkungen über das Naturrecht hinzu, so kann man die Stellung Calvins zum Naturrecht im Rahmen seiner Erläuterungen zum Dekalog und zu den verwandten Vorschriften der übrigen jüdischen Gesetzgebung klar bestimmen.

Hinsichtlich der zweiten Tafel beschränkt sich Calvin nicht auf die allgemeine Feststellung, daß kraft des angeborenen Naturgesetzes alle Menschen die Verbrechen gegen das sechste bis achte Gebot als wirkliche Sünden empfinden und sie daher bestrafen 59); sondern es werden die einzelnen Bestimmungen der jüdischen Gesetze auf das natürliche Empfinden zurückgeführt. Das Verbot des Tötens wird als Ausdruck des natürlichen Rechtsgefühls besonders eingeprägt, da durch das Töten die Reste des göttlichen Ebenbildes im Menschen vernichtet und damit Gott selbst beleidigt wird. 60) Wenn trotzdem den Verwandten des Getöteten erlaubt wird, den Verbrecher zu töten, so wird dies wieder mit dem natürlichen, allen Menschen eingepflanzten Triebe begründet, allerdings nur als ein Zugeständnis, da die Strafe sonst nicht durch eine Privatperson, sondern durch eine öffentliche Rechtsinstitution ausgeübt bezw. verhängt wird.— Der Ehebruch ist schon deshalb zu verurteilen, weil er das natürliche Gefühl der Ehrbarkeit verletzt 61). Die Frau darf nicht an einen Mann gebunden werden, der alle Naturgesetze vergißt 62). Die Ehe, die mit der Witwe des Bruders eingegangen wird, widerspricht dem mosaischen Gesetz geradeso wie dem allgemeinen Völkerrecht und dem unantastbaren Naturgesetz 63). Die Heiden, die sich in der


59) 49,38: Cur scortari et furari pudet, nisi quia utrumque malum censent? . . . adulterium legibus plectunt, et furtum et homicidium: bonam fidem in commerciis ac contractibus commendant.
60) 24,611.
61) vgl. oben S. 10.
62) 10/1,242: Non audemus hac necessitate mulierem obstringere, ut contubernio et thoro iungatur viro, qui omnes naturae leges obliviscitur.
63) 10/1,236; 38,568: ex legitimo naturae ordine, quia illud esset praeposterum, ut adolescentes et puellae pro libidine sibi accersant vel sponsos vel sponsas.

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Auffassung der sittlichen Reinheit gegen das Naturrecht versündigen, werden streng verurteilt. 64) — In das Gebiet des achten Gebotes fallen vor allem die Vorschriften über den Wucher, die sämtlich nach den Gesetzen der natürlichen Billigkeit (equite naturelle) beurteilt werden müssen 65). Auch sonstige im Grunde hemisphärische Bestimmungen des jüdischen Gesetzes, z.B. diejenigen über die diebische Freveltat auf dem Erntefeld (24,695) und über den dreschenden Ochsen (ib. 671), werden als ausdrücklich gegen das natürliche Empfinden sich richtende Unverschämtheit 66) oder als Versündigung gegen das Gesetz der Billigkeit, die auch für die Tiere gilt, verurteilt. In den Bereich des achten Gebots gehören auch die Vorschriften über das Verhalten gegen die Fremden, 67) die Unmündigen 68) und die Verleihung des Erstgeburtsrechtes an die Söhne aus einer bigamischen Ehe. 69) Das von Gott in alle Herzen eingegrabene Verbot des falschen Zeugnisses wird besonders dadurch noch verschärft, daß Gott es ausdrücklich schriftlich fixiert haben will. 70) Die Uebertretungen des zehnten Gebotes fallen vom Standpunkt des natürlichen Empfindens unter dasselbe sittliche Werturteil, mag der Gegenstand des Begehrens eine Person oder eine Sache sein. 71)


64) 24,660; vgl. außerdem 2,296: nonne Deo et naturae ab eo institutae repugnamus si non vitae nostrae genus ad facultatis nostrae modum aecommodamus. 26,311: C’est une chose execrable et contre nature, si un enfant ne cognoist ceux par lesquels il est venu en ce monde.
65) 10/1,248,264. Wenn Lang nur diese beiden Stellen anzuführen weiß und bemerkt (Naturrecht, S. 320), daß „sonst bei der Behandlung der Wucherfrage vom natürlichen Recht nicht mit einem Wort die Rede ist”, so hat er die Stelle Op. 24,681 ff übersehen: Si de re ipsa (sc. über Wucher) certo pronuntiandum est, non aliunde quam ex communi aequitatis regula sumenda est definitio . . unde sequitur usuras hodie non esse illicitas, nisi quatenus cum aequitate et fraterna coniunctione pugnant. Die communis aequitas ist zweifellos dasselbe wie die naturelle équité. Selbst bei der Besprechung der von Lang ausgeschlossenen Stelle Deut. 23,19 ist von der unverletzbaren Billigkeit die Rede: das Wuchergesetz ist zwar eine positive Bestimmung (loy politique), mais il y a la substance qui nous demeure, c’est à dire, l’équité est la droicture. Or ceste équité là est permanente, elle n’est pas seulement pour un temps .. toute équité et droicture est inviolable (Op. 28,115 verglichen mit 10/1,246: la loy de Moyse (Deut. 23,19) et politique, laquelle ne nous astraint point plus oultre que porte équité et la raison dhumanite).
66) Quod si sensus ipse communis naturae adeo crassam impudentiam repudiat.
67) 24,673.
68) ib. 677.
69) 24,709.
70) 24,627.
71) 49,38: non refert an alienae mulieris et possessionis et cuiusvis rei cupiditatem promittant.

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Besonders wichtig ist die Erklärung des fünften Gebots, da dieses nach der Anschauung Calvins und auch der anderen Reformatoren 72) nicht bloß das Verhältnis der Kinder zu den Eltern, sondern alle sozialen und staatlichen Ordnungen umfaßt. Das Rechts- und Pflichtverhältnis zwischen den Verwandten ist selbstverständlich ein natürliches 73). Wenn das fünfte Gebot nicht ein weiteres Herrschaftsgebiet umfaßte als das durch den Wortlaut des Gesetzes bezeichnete, so wäre das göttliche Gesetz nicht die vollkommene Norm des religiösen und sittlichen Lebens 74). Das einfache Rechtsgefühl befiehlt den Gehorsam und die nötige Ehrfurcht vor der Obrigkeit, sonst würde die menschliche Gesellschaft in ihren Grundlagen erschüttert 76).

Daß das Verhältnis zwischen der Obrigkeit und den Untertanen als ein naturgesetzliches betrachtet wird, sieht man am deutlichsten am Vergleich des letzteren mit der Ehe. 76). Wie die naturrechtlich gefaßte Verpflichtung der Untertanen gegen die Obrigkeit die natürliche Befugnis der letzteren einschließt, den Gehorsam von den Untertanen zu verlangen, 77) so ist auch der Gehorsam dem Tyrannen gegenüber eine Forderung des Naturgesetzes. Die Begründung dieser Forderung liegt einerseits in der


72) Luther W.A. 30/1 152: In dieses Gebot gehört auch weiter zu sagen von allerlei Gehorsam gegen Oberpersonen, die zu gebieten und zu regieren haben, denn aus der Eltern Oberheit fleußt und breitet sich aus alle andere. Melanchthon CR 21,703: orditur quartum praeceptum a primo gradu Imperii, scilicet a parentibus, qui de-bent esse regula aliorum gubernatorum, de quibus alibi dicitur ut Rom. 13. Ib. 705: Officia superiorum significata sunt in vocabulis patris et matris; Item in integro Decalogo qui universaliter est forma regiminis. et complectitur omnes virtutes et omnia officia boni patris et boni gubernatoris.
73) Op. 52,309: hoc genus officii est quod natura ipsa dictat. nunquam prorsus exstinguitur ius naturae quin debeant maiores natu tamquam sibi a Deo commissos, regere, aut saltem consulere quod possunt. In domesticis autem arctior est obligatio, nam eos duplici nomine curare debent, eo quod ipsorum sunt sanguis, et simul pars familiae, cui praesunt. Vgl. auch 53,468ff.
74) 24,605: Neque ac perfectam pie iusteque vivendi normam nos constitueret.
75) Ib. Principibus esse obediendum sensus ipse naturae dietat: nisi servi dominis suis pareant, evertitur societas humani generis. 24,358: Reverentiam quae hic exigitur, legitimis omnibus imperiis deberi ostendit ipse naturae sensus ac dictat. Daß wir vor jeder intellektuell überragenden Autorität Ehrfurcht haben sollen, lehrt uns die Natur (34,549).
76) Op. 24,605; 25,646; 29,549; 45,602; 51,800; 53,219: 36,656.
77) Vgl. 29,549. Sich gegen die Obrigkeit auflehnen heißt abolir l’ordre de nature; 27,314; 26,320: ceux qui sont rebelles à la supériorité legitime, sont comme ennemis de Dieu et de nature.

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Tatsache, daß in der Tyrannis immer ein Funken von Billigkeit hervorleuchtet, 78) wie ja auch durch die Fehler der Eltern das immerwährende Naturgesetz nicht aufgehoben werden kann 79); andererseits in der Erwägung, daß durch den Ungehorsam eine Störung des durchaus natürlichen Bandes (comme un lien naturel) und ein Zustand der tierischen Anarchie herbeigeführt würde. 80) Man sieht, daß Calvin bei seiner durchaus positivistischen Ableitung der Obrigkeit von dem göttlichen Willen und Gesetz diese doch tief in den natürlichen Verhältnissen verwurzelt denkt, was nicht als Widerspruch ausgelegt werden darf, wenn man bedenkt, daß Gott der Urheber des Naturgesetzes ist 81).

Im Lichte dieser Feststellung ist die so bestimmt vorgetragene Erklärung, daß bei Calvin die Beziehung auf den sensus naturae oder den sensus communis, die aequalitas naturaliter indita cunctis gentibus, die iura oder lex naturae nur äußerlich und oberflächlich sei, und die Behauptung, bei Calvins Beurteilung rechtlicher und sozialer Verhältnisse spiele das Naturrecht keine Rolle, in dieser Ausschließlichkeit unrichtig. 82)


78) 25,246: nullam unquam fuisse vel posse cogitari a Deo saevam et effraenam tyranni, in qua non appareat aliqua aequitatis species.
79) 24,603: hominum vitiis non tolli naturae legem.
80) 55,559: c’est afin que les hommes ne soyent comme chiens et chats.
81) Es ist daher unrichtig, wenn Lang a.a.O. S. 23 behauptet, bei der Behandlung des Rechtes der Obrigkeit oder der Gehorsamspflicht gegen tyrannische Regenten sei vom natürlichen Recht nicht mit einem Wort die Rede. Die von Lang herangezogenen und von uns im Text besprochenen Stellen (Op. 54,559 und 55,245) sprechen nicht für seine Auffassung, sondern, wie bemerkt, gegen ihn.
82) So Lang, Naturrecht, S. 22. Gött. Gelehrte Anzeigen a. a. O. S. 271. Während Lang in der ersteren Schrift trotz einiger von ihm herangezogenen, das Naturrecht positiv wertenden Zeugnisse aus der Institutio, den Consilia — andere derartige Aussagen seien ihm bei einer Durchforschung der Schrift Calvins nicht begegnet — namentlich auf Grund der Stelle aus dem 4. Buch der Institutio und der bereits erwähnten Stellen aus den Kommentaren zum Deuteronomium, Titus- und 1. Timotheusbrief zu dem Urteil gelangt war, die Natur spiele bei seiner Bedeutung rechtlicher und sozialer Verhältnisse keine Rolle, hat er, durch Beyerhaus aufmerksam gemacht, die „Harmonie” Calvins durchforscht und geglaubt, als Resultat der Ueberprüfung die Behauptung aufstellen zu müssen, daß er in seinem „Naturrecht” das grundsätzlich Richtige getroffen habe, da in der „Harmonie” das natürlich-sittliche Empfinden nur sozusagen gestreift werde und daß abgesehen von der einen Stelle 24,161 die Beziehungen auf das Naturrecht nur äußerlich und oberflächlich seien. Wenn L. diese Behauptung damit zu erhärten sucht, daß Calvin z.B. beim 7. Gebot zum Erweis, daß das Verbot des Ehebruchs auch die Hurerei umfasse, den communis sensus nur in zwei Sätzen erwähne, um daran die eigentlichen Argumente aus N. und A T. eingehend darzulegen, so ist diese Begründung ➝

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Etwas anders verhält sich die Sache, wenn man das natürlich sittliche Urteil den Vorschriften der ersten Tafel des Dekalogs gegenüberstellt. Uebereinstimmend müssen alle Menschen anerkennen, daß es einen Gott gibt, dem sie Verehrung und Anbetung schuldig sind. Wenn die Bösen bei der Mahnung, sich nicht gegen Gott aufzulehnen, erschrecken, so ist es ein Zeichen, daß ihnen ein ihrem Herzen aufgeprägtes natürliches Gefühl (sentiment de nature engravé en eux) innewohnt 83). Ueber dem „Daß” der Gottverbundenheit steht das „Was”. In der Bestimmung des Inhalts der Verehrung Gottes sowie der Art des religiös-sittlichen Verhältnisses zu ihm (Vertrauen, Lob seiner Kraft und Gerechtigkeit, Anrufung seines Namens) und des dem göttlichen Gesetz entsprechenden Kultus gehen die Urteile auseinander. Sie sind angesichts der göttlichen vollkommenen Norm als blind zu bezeichnen 84). Immerhin wird dem natürlichen Empfinden auch hier eine gewisse Erkenntnis eingeräumt. Dieses ringt sich nämlich zu der Wahrheit durch, daß es kein wohlgefälliges


➝ nicht besonders glücklich, denn in einem Abschnitt, der kaum zwei Spalten umfaßt, ist die positive Wertung des natürlichen Empfindens in drei Sätzen (nicht in zwei) gewichtig genug, namentlich, wenn man bedenkt, daß es sich um die Auslegung des Dekalogs und nicht des Naturgesetzes handelt. Wenn L. ferner darauf hinweist, daß der Wertschätzung des natürlichen, sittlichen Empfindens eine Reihe Aussagen gegenüberstehen, welche den sensus naturae und das commune ius gentium im Vergleich zu der Offenbarung Gottes fast verächtlich behandeln, und als Beleg dafür die beiden Stellen 346,648ff anführt, so wird eine eingehendere Untersuchung zu einem entgegengesetzten Urteil gelangen. In der letzteren Stelle wird keine Geringschätzung des commune ius gentium ausgesprochen. Im Gegenteil! Calvin hebt hier rühmend die Strenge der vorsinaitischen Strafurteile und der römischen lex Julia hervor und tadelt die Christen geradezu, daß sie in diesem Punkt laxer sind als die profani homines. Ueber die Stelle Op. 34,346 siehe unten. Die anderen von Lang erwähnten Aussagen Calvins über die profanae gentes, profani philosophi et terreni legislatores, sowie einzelne Bestimmungen Solons, des Zwölftafelgesetzes und des römischen Rechtes kommen für unsere Frage gar nicht in Betracht, da sie sich, wie L. selbst andeutet, auf die Bestimmungen des positiven Rechtes, Sakral- und Strafrechtes beziehen, mit Ausnahme von 610, wo aber wiederum die profani autores nicht getadelt, sondern indirekt gelobt werden, weil sie vor dem Alter die nötige Hochschätzung hatten, die ihnen von Natur diktiert war, wie ja auch der consenus populi in dieser Frage den Beweis geliefert hätte, daß diese lex in das Herz aller eingegraben war.
83) Op. 33,431.
84) 49,38: nec interest qualem fingant Deum, aut quot etiam Deos fabricent: satis est, quod Deum esse intelligunt; 2,205: si rationem nostram volumus ad Dei legem exigere, quae perfectae est iustitae exemplar, comperiemus, quam multis partibus caecutiat. Certe quae in prima tabula praecipue sunt, minime assequitur . . quae unquam, naturali sensu freta, subodorata est in his et similibus positum esse legitimum Dei cultum?

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Opfer ohne die entsprechende reine Gesinnung gibt; die einzelnen heidnischen Riten (auguria, precationes, arruspicina, victimae) sind nur Umkleidungen des bleibenden Gedankens, daß der Mensch ohne die göttliche Beihilfe nichts unternehmen kann. 85) So sind auch die Speiseverbote nur ein Ausfluß des natürlichen, wesentlich ästhetisch-praktischen 86) Empfindens, das auch die Heiden in höchstem Maße (ut plurimum) besaßen. Wenn Gott einige von den heidnischen abweichende Speiseverbote erlassen hatte, so wollte er damit die Eigenart des israelitischen Volkes auch in diesen rein formal-zeremonialen Satzungen bekunden, die als pädagogische Hilfsmittel später durch Christum beseitigt wurden. 87) Das Bilderverbot entspricht dem commune naturae principium; darum bekämpft Calvin die papistische Verteidigung der Bilderverehrung mit ihrer Fiktion, daß das Bilderverbot zu den veralteten, nur auf das israelitische Volk sich beschränkenden Bestimmungen gehörte 88).

Die den auf die Verehrung Gottes sich beziehenden Forderungen gezogene Grenze wird von Calvin zusammenfassend dahin bestimmt, daß sie nur einen leisen Vorgeschmack dessen besitzen, was Gott als eine ihm wohlgefällige Verehrung verlangt, und daß der Mensch von der richtigen Erkenntnis dieser Forderung recht weit entfernt ist 89). Der Grund liegt in der Macht des erbsündlich uns anhaftenden Irrtums, in dem selbstgefälligen und selbstgenugsamen Eigendünkel, der den Menschen über seinen wirklichen elenden Zustand hinwegtäuscht.

Dasselbe gilt, wenn auch in etwas beschränkterem


85) Op. 34,374: sensus naturae dictabat nihil posse feliciter absque ope divina tentari; die jüdischen Riten waren nur durch die circumstantia loci bedingte Aeußerungen dieses Gedankens, ib.
86) Daß es sich hier wesentlich um ein ästhetisches Empfinden handelt, beweisen die Sätze: Gott wollte durch das Verbot gewisser Speisen sein Volk zur Pflege der Reinheit anleiten (ut in ipso victu disserent munditiem colere). Es wird heutzutage niemand eine Wolfs- oder Löwenjagd veranstalten, um sich damit ein Luxusessen zu bereiten; auch wird niemand das Fleisch der Schlangen oder anderer giftigen Lebewesen als Nahrungsmittel begehren (24,347).
87) Durch diese einzig mögliche Deutung der Stelle wird die Auffassung Längs, daß hier der sensus naturae fast verächtlich behandelt werde, hinfällig.
88) 24,386.
89) Op. 2,267: homo per legem illam naturalem vix tenuiter degustat, quis Deo acceptus sit cultus; certe a recta eius ratione distat.

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Maße, von dem auf das „irdische”, das soziale und politische Leben sich richtenden sensus naturae. Obwohl das Naturgesetz sich auf diesem Gebiet viel intensiver 90) betätigen kann, als auf dem „himmlischen”, wo seine Notwendigkeit unbestreitbar und seine Tatsächlichkeit psychologisch nachweisbar ist, so ist doch seine Kraft nicht ungebrochen, sein Urteil nicht überall gesund und unversehrt 91). Gerade die auserlesensten Geister halten es für ungemein töricht, eine ungerechte und allzu herrische Regierung zu ertragen, wenn sich die Gelegenheit findet, sie abzuschütteln. Es ist ein Zeichen des sklavischen Geistes, eine solche Regierung zu erdulden; aber ehrenvoll und hochherzig ist es, diese umzustürzen. Auch die Rache für erlittene Beleidigungen wird von einigen Philosophen 92) keineswegs als Fehler betrachtet, besonders aber entgeht ihrem Scharfsinn bei der allgemeinen Beobachtung des Gesetzes die Berücksichtigung der Lust, deren verderbliche Wirkungen anzuerkennen der natürliche Mensch außerstande ist. Das Licht der Natur erlischt, bevor es diesen ersten Eingang zum Abgrund erreicht; denn, wenn die „Philosophen” die ungemäßigten Leidenschaften als Fehler bezeichnen, so verstehen sie darunter nur die besonders hervorstechenden Begierden; die argen, den Geist sanft kitzelnden Gelüste halten sie für nichts.

Wie das sittliche Urteil vielfach verdunkelt, so ist auch das sittliche Streben gelähmt durch den dem


90) Calvin selbst sagt 2,203: Ubi videtur mens humana esse aliquando quam in superioribus acutior; ib. 205: in secundae tabulae praeceptis aliquando plus habet intelligentiae.
91) 2,204: quum iudicium universale audis in boni et mali discrimine, ne sanum ubique et integrum esse putes.
92) Auch hier, wie sonst überall (vgl. 2,186ff.) sind die antiken Philosophen gemeint. Vor allem die Peripatetiker, die nach dem Zeugnis Ciceros (Tusc. IV, 17,38ff) per-turbari animos necesse dicunt esse, sed adhibent modum quendam, quem ultra progredi non opporteat (nebenbei bemerkt, hat Calvin die Tusc. gelesen und zitiert Op. 2,187) und Epikuräer, die die „suaves motiones” durchaus zulassen wollten. Damit will aber Calvin nicht den Stoikern beipflichten, die alle Affekte für Fehler und Krankheiten erklären (vgl. auch hier Cicero a.a.O. IV., 4, 10, 28). Die Affekte sind an sich nicht böse, weil sie zur schöpfungsmäßigen Bestimmtheit gehören; ihre Ausrottung würde die Zerstörung der Menschlichkeit bedeuten. Sie sind es nur in ihrer Zügellosigkeit und Maßlosigkeit, mit der die göttliche Ordnung in Widerstreit steht. Op. 2,242ff. vgl. auch Op. 49,405.422. Damit werden auch die Theorien der Peripatetiker über die Nützlichkeit des Zornes verurteilt. Hier stimmt Calvin mit Cicero (a.a.O. 19) und namentlich mit Seneca (de ira, c. 9), der in diesem Punkt auch Aristoteles (Ethik VII, 6) bekämpft.

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Menschen angeborenen Egoismus, den eigenen Stolz, der den wahren sittlichen Zustand verhüllt 93). Die Erkenntnis steht im Einklang mit dem bereits erwähnten Grundsatz Calvins, daß das Naturgesetz zwar das sittliche Urteil ermöglicht, nicht aber gleichzeitig die Kraft gibt, das Gebotene zu befolgen 94).

Trotzdem darf man aus der ernsthaften Betonung der Hemmungen nicht einseitige Folgerungen hinsichtlich der Wertschätzung des Naturgesetzes ziehen. Einseitig ist nämlich sowohl die Anschauung, daß die Abwandlungen des angeborenen Sittengesetzes durch die Bedingungen des Sündenstandes von Calvin nur gelegentlich, nicht im Prinzip berücksichtigt werden, 95) als auch die entgegengesetzte Behauptung, daß Calvin wegen seiner starken Ueberzeugung von der sündigen Verderbtheit dem Naturgesetz nur einen geringfügigen Wert beilege 96). Gegen die erstere Annahme spricht die Tatsache, daß die oben erwähnten Einschränkungen des Naturgesetzes in einem Zusammenhang stehen, der eine prinzipielle Bedeutung hat, in der Lehre vom Gesetz 97), in der Besprechung der Beschaffenheit des Sündenzustandes 98).

 

3

Wie schwer Calvin die Sündennot empfindet, wird man am besten ermessen können, wenn man seine Anschauung über die das Naturgesetz hemmende Kraft des Bösen mit der scheinbar ähnlichen Auffassung Ciceros vergleicht. Auch nach diesem hat das Naturgesetz und das natürliche Licht mit vielen Schwierigkeiten zu kämpfen, die natürlich eingepflanzten Samen der Tugenden werden nach Cicero ununterbrochen durch herrschende Verkehrtheit der


93) Op 2,267: ad hoc arrogantia et ambitione sic turgidus suique amore excaecatus est, ut se prospicere nondum queat, et velut in se descendere, quo submittere se ac deiicere discat suamque miseriam fateri.
94) Op. 49,38.
95) So Troeltsch, Soziallehren 661.
96) Lang, Gött. Gel. Anz. a.a.O. 272ff.
97) 2,266ff.
98) Op. 2,203ff.

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Meinungen, durch Irrtum, durch die Macht der Begierden, durch die öffentliche, mit den Fehlern leicht sich aussöhnende heuchlerische Meinung der Menge, durch gelehrte und weise Aussprüche der Dichter erstickt. Obwohl die Menschen zur Gemeinschaft durch das Naturrecht bestimmt sind, vernichtet die schlechte Gewohnheit die zarten natürlichen Funken 99). Da Calvin die Wurzeln der Verderbtheit nicht an der Oberfläche, in der schlechten Gewohnheit, sondern in der Tiefe der menschlichen Bosheit findet, 100) so deckt er gleichzeitig einen weiteren Fehler Ciceros und — man kann sagen: der ganzen Antike, soweit sie sich mit dieser grundlegenden Frage beschäftigt — unbarmherzig auf, nämlich den verkehrten Weg, den die Antike zur Beseitigung der Hemmungen einschlägt. Nach Cicero hilft sich die Natur selbst, indem das ihr eingeprägte Vernunftgesetz durch Aufstellung von Tugendidealen und Weisheitslehren den Menschen zur Selbsterkenntnis treibt, ihm die nötigen Mittel zur Erreichung der wahren Weisheit zeigt, ihn an seinen reinen Lebensursprung erinnert und dadurch den natürlichen, alle äußeren Hilfsmittel verachtenden Selbsterlösungsprozeß ermöglicht 101). Diesem rein intellektualistisch naturhaften Selbsterlösungsprozeß 102) stellt Calvin den die Wiedergeburt des


99) Tusc.Disp.III, 1-2: Parvulos nobis dedit (natura) igniculos, quos celeriter malis moribus opinionibusque depravati sic restinguimus, ut nusquam naturae lumen appareat. Sunt enim ingeniis nostris semina innata virtutum . . Nunc autem simu-latque editi in lucem et suseepti sumus in omni continuo pravitate et in summa opinionum perversitate versamur . . . Poetae speciem doctrinae sapientiaeque prae se tulerunt . . ad vitia consentiens multitudo . . fama popularis . . voluntatum libidine feruntur. — De leg. I, 12,33: ad participandum alium ab alio communicandumque inter omnes ius nos natura esse factos . . tantam autem esse corruptelam malae consuetudinis, ut ab ea tamquam igniculi exstiguantur a natura dati.
100) 2,211: maneat ergo hoc, non pravae duntaxat consuetudinis vitio tales esse homines, quales hic describuntur, sed naturae quoque pravitate.
101) De leg. I, 22,58: Profecto ita se res habet, ut, quoniam vitiorum omnium emendatricem legem esse oportet commendatricemque virtutum, ab ea vivendi doctrina ducatur. Ita fit, ut mater omnium bonarum rerum sit sapientia ... Haec enim una nos doeuit, ut nosmet ipsos nosceremus. Nam qui se ipse norit .. intelliget, quem ad modum a natura subornatius in vitam venerit quantaque instrumenta habeat ad obtinendam adipiscendamque sapientiam. — Tusc. III,3: Est profecto animi medicina philosophia, cuius auxilium non .. petendum est foris omnibusque opibus viribus, ut nosmet ipsi nobis mederi possimus.
102) Op. 2,187: haec ergo philosophorum sententiae summa est, humani intellectus rationem rectae gubernationi sufficere; voluntatem illi subiacentem, a sensu quidem ad mala sollicitari, sed, ut liberam electionem habet, impediri nequaquam posse quin rationem ducem per omnia sequatur.

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Menschen bewirkenden, den tragischen Kampf des Einzelnen gegen das immanente Böse leitenden und überwindenden Monergismus der göttlichen Gnade entgegen 103).

Das Urteil über die Verderbtheit der menschlichen Natur und die supranaturale Gnadenwirkung scheint nun wie alles Natürliche, so auch das Naturrecht zu entwerten. Es ist begreiflich, daß die zweite Theorie vom Gesichtspunkt des Calvinischen Erbsündenpessimismus aus diesen Schluß ziehen konnte, umsomehr, als nach ihrer Meinung Calvins Werturteile über das Naturgesetz nicht so günstig lauten wie z.B. diejenigen Melanchthons. Haben wir aber feststellen können, daß das Naturgesetz in der Gedankenwelt Calvins eine wichtigere Rolle spielt als diese Theorie annimmt, so scheint zwischen dem Erbsündenpessimismus und der Wertschätzung des Naturgesetzes eine Spannung vorhanden zu sein. Calvin hat aber dafür gesorgt, daß man ihn vor Mißverständnissen schützen kann, und es ist ein Mangel der letzteren Theorie, daß sie auf die von Calvin angewandten Denkmittel überhaupt nicht eingegangen ist.

Es steht fest, daß durch den Fall die Natur nicht gänzlich verderbt ist 104). Die Vernunft, mit der der Mensch Gutes und Böses unterscheidet, erkennt und urteilt, konnte, da sie ein natürliches Geschenk ist, nicht ganz vertilgt werden; in der verkehrten und verkommenen Natur leuchten bis heute noch die Funken der Vernünftigkeit. Ebenfalls geht der Wille nicht verloren, weil er von der Menschennatur unzertrennlich ist 105). Somit kann die Heilung des verkehrten Willens durch die Wiedergeburtsgnade nicht die Aufhebung des natürlich Bedingten bedeuten; die Seelenvermögen bleiben in der Sphäre des


103) Op. 215.
104) 2,211: ne hominis naturam in totum vitiosam putemus.
105) 2,196: quum .. ratio, qua discernit homo inter bonum et malum, qua intelligit et iudicat, naturale donum sit, non potuit in totum deleri .. in perversa et degenere natura micare adhuc scintillas, quae ostendant rationale esse animal. Sic voluntas quia inseparabilis est ab hominis naturae, non periit. — Op. 34,504; mais tant y a encore .. qu’ils discernent entre le bien et le mal. — Das alles ist ein allgemein reformatorisches Gedankengut; vgl. Luther W.A. 10/1,203: der gnaden liecht vertilgt das naturlich liecht nit, alß das drey und tzwei machen funff, ist gantz helle ym liecht der natur und das guttis zu tun, böses tzu meyden sey, ist auch helle und der gnaden liecht leschit dasselb nit auß.

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menschlichen Geistes. Die Vernunft bekommt nur eine neue Sehschärfe, mit der sie die himmlischen Geheimnisse schaut 106). Damit erlangt das wiedergeborene Ich die Fähigkeit, die göttlichen Wahrheiten zu erfassen 107). Der bekehrte Wille wird zwar von dem natürlichen unterschieden. Er wird in der Wiedergeburt befreit von allen schwankenden Wollungen, von den „unsymmetrischen Trieben” des rein naturhaften Daseins. 108) Aber der Wille als natürliches Vermögen bleibt 109).

Daß aber auch im unwiedergeborenen Zustand die Natur erhalten bleibt, ist die Wirkung der allgemeinen Gnade Gottes, die die Auswüchse der allgemeinen Verderbtheit in Schranken hält, ein kostbares Geschenk der göttlichen Milde, ohne das der Abfall die Zerreißung der ganzen Natur herbeiführen würde 110). Der allgemeinen Gnade ist es zu verdanken, daß alle Menschen, auch die profanen, sich um die Erforschung der Wahrheit mühen. Der Umstand, daß gerade die letzteren es in der Physik, in der Medizin, Mathematik, Dialektik, Rhetorik und Kunst zu hervorragenden Leistungen gebracht haben, ist ein Beweis dafür, daß die allgemeine vernünftige und erkenntnismäßige Erfassung der Wahrheit den Menschen von Natur eingegeben ist 111). Alles dies erinnert daran, daß der menschliche Geist, so sehr er von seiner ursprünglichen Vollkommenheit abgefallen war, doch immer mit ausgezeichneten Gottesgaben bekleidet und geschmückt ist. Solche Gaben dürfen wir überall hochschätzen, wo wir sie auch finden; sonst machen wir uns eines schnöden Undanks schuldig und müssen uns in diesem Stück durch die heidnischen Dichter beschämen lassen, die die Gesetze, die Philosophie und die Kunst von den Göttern


106) Op. 44,162.
107) Op. 2,426, 624; 55,246.
108) Op. 2,272ff. vgl. mit 2,242; 49,132.
109) 2,215: voluntatem dico aboleri, non quatenus est voluntas; quia in hominis conversione integrum manet quod primae est naturae.
110) 2,211: Hinc succurrere nobis debet, inter illam naturae corruptionem esse nonnullum gratiae Dei locum, non quae illam purget, sed intus cohibeat.
111) 2,198: Haec documenta apperte testantur universalem rationis et intelligentiae comprehensionem esse hominibus naturaliter inditam. — In diesem Punkt offenbart sich ein voller Einklang Calvins mit Luther. Vgl. des letzteren Tischreden W.A. 3,11: Sapientia et doctrina utilis et necessaria .. si Deus iratus omnes literatos e ➝

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herleiteten. Wenn selbst die „Psychiker” in der Erforschung der niedrigeren Dinge (gemeint ist die auf Gott und das Himmlische sich nicht beziehende Forschung) so viel Scharf- und Spürsinn bekunden, so sollen wir aus solchen Beispielen lernen, wieviel herrliche Gaben der Herr der menschlichen, der wahren Güter beraubten Natur übrig gelassen hat 112).

Die erwähnten Gaben sind aber nicht selbstverständliche, aus der in ihrer Gutheit belassenen Natur fließende Erscheinungen, sondern Wirkungen des heiligen Geistes, der in dieser Tätigkeit nicht seine heiligende Kraft entfaltet, sondern als belebende, bewegende, das All durchdringende Macht, als kosmisches Prinzip seine Gaben verteilt, je nach der Eigentümlichkeit, die Gott nach seiner Schöpfungsordnung jedem Wesen und jeder Art aufgedrückt


➝ mundo tolleret, tunc omnes homines plane essent bestiae et ferae; nulla sapientia, nulla religio, nullum ius, sed tantum confusio et rapinae ... Vulgus quidem mavult nullos sapientes neque contionatores neque gubernatores esse, ut libere suo more vivere possit; at illico periret vulgus, quia sine sapientia et legibus neque Turcae neque Tartari vivere possunt.
112) Op. 2,100; vgl. 34,503ff. en disant que l’esprit humain de nature est capable de cognoistre les choses d’ici bas, et qui concernent la vie presente: ce mot de nature n’empesche pas que ce ne soit un don de Dien, mais c’est pour signifier que cela est donne aux incredules aussi; et à ceux que Dien n’a point regenerez par son sainct Esprit .. c’est une chose commune aux fideles et aux incredules, de juger des choses d’ici bas. Et mesmes nous voyons les meschants et contempteurs de Dieu souventes fois etre plus aigus et plus prudents en leurs affaires .. Après tous auront quelques loix, quelque police et voyent bien qu’ils ne se peuvent point passer d’ordre pour conduire les affaires qui appartient a la vie humaine. — Auch hier stimmt Calvin ganz mit Luther überein. Vgl. des letzteren charakteristische Ausführungen W.A. 51/2,242ff. Gott ist ein milder, reicher herr, er wirfft gros Gold, Silber, Reichtum .. unter die Gottlosen .. also wirfft er auch unter sie hohe Vernunft, Weisheit, sprachen, Redekunst, das seine lieben Christen lauter kinder, narren und bettler gegen sie anzustehen sind... Und ist mein Gedancken, das Gott darumb gegeben und erhalten habe solche Heidnische bücher als der Poeten und Historien, Wie Homerum, Virgilium, Demosthenem, Ciceronem, Livium, Und hernach die alten feinen Juristen .. das die Heiden und Gottlosen auch haben solten jre Propheten, Aposteln und Theologos oder Prediger zum weltlichen regiment .. Denn weil Gott den Heiden oder der Vernunft hat wollen die zeitliche herrschaft geben, hat er ja auch müssen leute dazu geben, die es mit Weisheit und mut, dazu geneigt und geschickt weren und erhielten .. Wie wol alle Heiden gleich Heiden sind und alle gleich Menschen und vernünfftig gewesen, Haben doch etliche müssen auch Wunderleute unter jhnen sein .. welchen es die anderen nicht haben mügen gleich thun, .. denn gleich wie Gott jnn seinem heiligen volk nicht alle gleich Propheten oder gelehrt macht noch gleich hoch begabt, So hat er auch unter den Heiden die edle steine nicht so gemein gemacht wie die kiesling auff der Gassen .. Denn es ist noch keiner komen, Homero oder Alexandro gleich .. und so fort an bleibt auch unter den blinden Heiden solch wunder that Gottes, das nicht jhre Weisheit, sondern lauter Gottesgabe ist, wo sie etwas sonderliches gewest oder gethan haben.

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hatte 113). Steht aber diese schöpfungsmäßige Ungleichheit der Arten nicht im Widerspruch zu der Allgemeinheit der Anlage? Die zweifellos vorhandene Tatsache, die bereits Plato durch die Gleichsetzung von Erkenntnis und Erinnerung bestätigt, daß der Mensch allgemein mit Vernunft und Erkenntniskraft begabt ist, bedeutet noch nicht Gleichheit und Gleichmäßigkeit der Begabung, des Scharfsinns, kurz der Art, wie die einzelnen Menschen ihre Naturanlage auswirken lassen. So ist der Spürsinn und die methodische Behandlung auf allen Wissensgebieten ein Vorzug Weniger, (propria est paucorum), während doch fast allen die Energie innewohnt, mit der sie zu einer gewissen Stufe der Klarheit durchzudringen versuchen (communis energiae specimem est), sei es, daß sie die überlieferten Erkenntnisstoffe zu mehren versuchen, sei es, daß sie diese verfeinern und ausbilden.

In der allgemeinen Vernunftanlage ist also die Möglichkeit einer individuellen durch die besondere Geisteswirkung bedingten und emporgebildeten Entfaltung der Denkkraft gegeben 114). Die pathologischen Erscheinungen sollen die Menschen daran erinnern, daß alle besonderen Gaben und Fähigkeiten nicht menschliche Errungenschaften sind, sondern, daß auf der gemeinsamen Natur die besondere den Menschen nicht verpflichtete Gnade Gottes sich erhebt 115). Die inmitten der verderbten Menschheit vorhandenen unleugbaren Beweise einer gesunden, sittlichen Erkenntnis und des sittlichen Handelns können nicht auf die allgemein zugestandene Gewissensanlage zurückgeführt werden — denn trotz der besseren Einsicht kann der Mensch sich ins Böse stürzen 116) — sondern vorzüglich auf die „speziellen Gnadenerweisungen Gottes, die er verschiedenen Menschen und im gewissen Grad zeigt”.

In die Schöpferordnung und das daraus sich ergebende Ungleichheitssystem ordnet sich das Naturrecht ein, sofern dieses als Heilmittel beim Aufbau


113) Op. 2,199: Replet, movet vegetat omnia eiusdem spiritus virtute. idque secun-dum unius cuiusque generis proprietatem, quam ei creationis lege attribuit.
114) Op. 2,198.
115) Ib. 199ff.
116) Ib. 204ff.

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der menschlichen Gesellschaft in Betracht kommt. Ist der Mensch, wie Calvin mit Aristoteles einschärft, ein von der Natur für die Gesellschaft bestimmtes Wesen, sucht er als ein solches mit seinem natürlichem Instinkt die Sozietät zu fördern und zu erhalten, dann müssen wir erfahrungsgemäß (conspicimus) feststellen, daß ihm die Grundzüge bürgerlicher Ehrbarkeit und Ordnung eingeprägt sind. Man findet niemand, der nicht wüßte, daß der Bestand der menschlichen Sozietät in den Gesetzen verankert ist, deren Wesenszug ihm unbekannt wäre; denn die unablässige Bejahung der Gesetze, die nicht bloß bei den Völkern, sondern bei jedem einzelnen feststellbar ist, weist darauf hin, daß allen Menschen Samenkörner der Gesetze eingepflanzt sind, ohne daß sie dazu eine besondere Unterweisung nötig hätten. Wenn einige die Autorität der Gesetze untergraben und statt des Rechtes die zügellose Willkür einführen möchten, so tun sie es nicht deshalb, weil ihnen die Güte und Heiligkeit der Gesetze unbekannt ist, sondern sie lassen sich durch ihre unsinnige Leidenschaft so hinreissen, daß sie sich gegen die Vernunft auflehnen. Auch wenn sie über die grundlegenden Bestandteile des Gesetzes untereinander streiten, so stimmen sie doch in dem Wesenszug der Billigkeit überein; der Keim der bürgerlichen Ordnung ist allen Menschen gemeinsam 117).

Die allgemeine Anlage darf aber nicht so verstanden werden, als ob alle Menschen die Fähigkeit hätten, die Gesellschaftsordnung zu schaffen und die dazu nötigen Gesetze zu entwerfen — eine Aufgabe, der nur besonders Begabte gewachsen sind. Die Befähigung dazu ist vielmehr wiederum das Werk der erhaltenden Gnade, die auch in der antiken Welt Staatsmänner auf den Plan gerufen, ihnen den richtigen Sinn für Billigkeit, bürgerliche Ordnung und Disziplin eingeprägt hat. Darum führt Calvin zur Stütze seiner Behauptung, daß die hervorragenden Geistesgaben nur Wenigen verliehen werden, an erster Stelle die besonderen Leistungen der antiken Rechtsgelehrten und Gesetzgeber an 118). Auch ist es nicht


117) Op. 2,197; 34,503; 31,92.
118) 2,198: Si unicum veritatis fontem Dei spiritum esse reputamus, veritatem ipsam ➝

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jedermanns Sache, den Staat zu lenken. Darum hat Gott die Könige gleichsam zu neuen Menschen geformt; darum hat Plato in Anspielung auf eine homerische Fabel den Ausspruch getan, daß die Söhne der Könige mit einem besonderen Zeichen geschaffen werden; darum richtet Gott die zum Wohl des Menschengeschlechtes die zur Herrschaft Bestimmten oft mit einer heroischen Natur aus. Aus dieser Werkstätte Gottes gehen schließlich alle in der Geschichte rühmlich erwähnten großen Führer hervor. Die Herrscher werden daher im Alten Testament und durch Christus selbst sogar als „Götter” bezeichnet, da ihnen Gott eine Autorität „voll ehrfurchtsvoller Majestät” verliehen hat, 119) damit sie als seine Stellvertreter Recht schaffen und ihm in ihrem Beruf dienen.

Damit aber aus dem „Dienst” der Obrigkeit nicht der Schluß gezogen werde, das schließlich alle in dienenden Berufen Stehenden: die Bauern, Ochsenhirten und Schuster, Götter genannt werden könnten, muß die betreffende Bezeichnung als Ehrenname nur für diejenigen gelten, die eine hervorragende Stellung haben und mit der Macht der Weltbeherrschung ausgestattet sind 120). Wegen ihres Ursprungs und wegen des inneren Zusammenhanges der Obrigkeit mit Gott wird die „königliche Autorität” direkt zur „göttlichen” 121), und ihrem Träger ein Stempel ehrfurchtsvoller Majestät, Würde und Herrlichkeit aufgedrückt 122). Er nimmt dadurch eine Sonderstellung


➝ neque respuemus, neque contemnemus, ubicunque apparebit . . veritatem affuisisse antiquis iureconsultis negabimus, qui tanta aequitate civilem ordinem et dis-ciplinam prodiderunt? Vgl. Luther W.A. 51,211: Man hebt itzt an zu rhümen, das natürliche recht und natürliche Vernunft, als daraus geflossen sey alles geschriebene recht. Und ist ja war und wol gerhümet, aber da ist der feil (Fehler), das ein jglicher wil wehnen, Es sticke das natürliche recht inn seinem kopffe . . Wenn das natürliche recht und vernunfft jnn allen köpffen steckte . . so kundten die narren, kinder und weiber eben so wol regirn und kriegen als David, Augustus, Hannibal .. Ja alle menschen müsten gleich sein und keiner über den andern regirn. Welch eine auffrur und wüst ding solt hieraus werden? ... Aber nu hatts Gott also geschaffen, das die menschen ungleich sind und einer den anderen regirn sol . . Das edle Kleinod, so natürlich recht und vernunfft heisst, ist ein seltzam ding unter menschen kindern.
119) Op. 2,1116.
120) 47,252; 31,768; 31,451.
121) 30,130: auctoritas regia = potestas, quam a Domino acceperat 2,1095: divina autoritate praediti.
122) 40,712: insculptam esse Dei gloriam regibus. 33,597: imprimé une maiesté. 7,83: maiesté celeste. 30,488: maiestatem imprimere.

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ein, da er unvergleichliche Vorrechte besitzt 123). Die Sonderstellung wird öfter, namentlich in den französischen Kommentaren, durch die Redewendung ausgedrückt: Gott hat den Herrschern sein „besonderes” Zeichen (marque) aufgeprägt 124). Gebraucht der Reformator diesen Ausdruck sonst, wenn er von der religiösen Erwählung und Neuschaffung spricht, 125) um damit die dem Erwählten erwiesene Gnadenschuld zu bezeichnen, so haben wir in der die Könige zu ihrem Amt berufenden und sie dadurch mit besonderen Gnadengaben des Geistes ausrüstenden Handlung eine Gnadenwahl, die ein staatsrechtliches Gegenstück bilden soll zu der rein religiösen Erwählung. Calvin lehrt diesbezüglich mit einer jeden Zweifel ausschließenden Klarheit: „Gott hat die Könige, Fürsten und höchsten Obrigkeiten erwählt, um an ihnen seine Majestät im höchsten Grade (maxime) zu offenbaren, sie mit den Gaben seines heiligen Geistes bedacht und dies in dem Ehrennamen „Söhne Gottes” zum Ausdruck gebracht” 126).

Um den besonderen, den Erwählungscharakter, aus dem den Obrigkeiten beigelegten Prädikat „Sohne Gottes” abzuleiten, stellt Calvin die Könige in eine Reihe mit Propheten und Lehrern; wie diese, bekommen auch sie ein Zeichen der göttlichen Erwählung und der ihnen verliehenen Gaben und Wohltaten 127). Wie bei den Propheten, so tritt auch bei den Herrschern als eine besondere Wirkung des Geistes das „heroicum ingenium”, die „heroica virtus” hervor 128). Verleugnet der Begriff „heroisch” seine


123) 33,162: les princes et qui sont constituez en dignité, sont lieutenants de Dieu . . comme si Dieu les avoit privilegiez; 33,593. il semble bien que les Princes soyent privilegiez par dessus le reste du monde.
124) 35,160.163.597; 27,128.467.411; 53,554.
125) 27,297: La grace, qui nous est faite, quand Dieu nous choisit à soy et qu’il nous donne sa marque; 28,678ff. Dieu declare que nous sommes nouvelles creatures, lors qu’il nous choisit à soy ... c’est assavoir que Dieu imprime sa marque. 54,55 il luy piaist nous certifier de nostre election .. Que faut-il donc? . . qu’il nous a marquez afin de nous amener à l’heritage de vie.
126) 29,617. — 27,78: ils (Die irdischen Prinzen) sont honorables, entant que Dieu y a imprimé sa marque, mais d’eux-mesmes ils ne sont rien. Dasselbe 36,35-34,449: C’est pour le salut de tout un peuple, que Dieu donne son Esprit aux princes et aux magistrats et à toutes gens de iustice. 43,219: scimus sine Dei spiritu acutissimos homines fore prorsus ineptos ad gubernandum. 33,732 il y a gens . . que Dieu ait eslevez par dessus les autres et auquels il ait communiqué de son sainct Esprit en plus grande abondance.

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Herkunft aus der humanistischen und antiken Gedankenwelt keineswegs, so ist sein Inhalt bei Calvin doch ein anderer geworden. Der „heroische” Herrscher Calvins ist nicht wie derjenige der Humanisten Erasmus und Budé ein aufgeklärter, die Lebensverhältnisse nach Vernunftnormen meisternder Weisheitsapostel auf dem Thron, sondern ein willensmächtiger, entschlossener, die Verhältnisse mit innerer Ueberlegenheit und praktischer Klugheit beherrschender Wirker. Sein Vorbild ist Moses, ein Mann von überaus „reiner Tugend und heroischem Geist”, der sich durch die Widerwärtigkeiten und Häßlichkeiten des Lebens nicht unterkriegen läßt, sie mit Großmut erträgt und sich durch sie zu immer neuen Aufgaben aufraffen kann 129). Nicht ein verweichlichter und träger Herrscher kann die ihm anvertrauten Völker regieren, denn durch seine schwächliche Haltung muß die Willkür noch mehr um sich greifen 130). Nur durch eine kluge, und, wenn es sein muß, strenge und herzhafte Haltung dem Bösen gegenüber wird er den Friedfertigen zu ihrem Recht verhelfen. Darum bilden die höchsten Herrschertugenden: die prudentia und die strenuitas den Inhalt des heroicum ingenium und stehen im Gegensatz zu dem bloßen Wortheroismus 131). Hatte der Humanismus auch für diese Eigenschaften ein Verständnis, so fällt für Calvin die Bewußtseinseinstellung, aus der der Heroismus der Antike und der Renaissance sich herleiten, weg. Das selbstgenugsame, trotzig urwüchsige, auf seine Kraft pochende Individuum der Renaissance und sein Tugendstolz sind ein Wahnsinn (vesania), der durch den heiligen Geist nur gerügt wird. Die „Philosophen” suchen den Grund eines glücklichen Staatswesens in der Tugend des Menschen und können sich nicht


127) Op. 29,617 verissimum .. istud Deum essse regum et magistratum patrem; quod etiam prophetis et doctoribus commune est; quando quidem etiam notam specialem illi electionis divinae atque donorum et beneficiorum ipsorum habebant, quae in ipsis magis quam in aliis erant conspicua. Vgl. 45,27; 38,544; 31,46.
128) 43,327; 15,15; 15,330. Auch Luther kennt „fürstliche tugent”, welche man wol mag heissen Virtutes heroicas, Ritterliche tugent, welche man am Hercules, Hector, Achille und an anderen grossen Risen und herrn also nennet (W.A. 31/1,205).
129) 24,186.
130) 31,666; 2,1102; 55,245.
131) 40,590; 29,653.

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zu der Erkenntnis emporringen, daß ein „homo politicus” nichts anderes ist als ein Organ in der Hand Gottes. Wenn man die Voraussetzung (caput) aller Staatsphilosophie nicht beachtet, daß die Menschen nichts erreichen können, wenn Gott ihnen seine Hand nicht darreicht, mögen sie sonst mit Klugheit und Tugend ausgerüstet sein, daß unsere irdischen Verhältnisse von dem Gnadenwillen Gottes unbedingt abhängig sind, so bleibt man an die Erde gebunden und nährt und bewundert seinen Stolz 132). Nur Plato konnte sich zu einer höheren Einsicht aufschwingen, indem er lehrte, daß die außerordentlichen Tugenden der Herrscher göttlicher Herkunft sind. Aber diese Erkenntnis war nach Calvins Meinung nur eine leichtfertige Vermutung 133). Infolgedessen hat Calvin das bekannte Prinzip Platos nicht übernommen: „Wenn nicht die Philosophen Könige oder die Könige Philosophen wären, ist kein Ende des Unheils im staatlichen Leben und im menschlichen Dasein überhaupt möglich”, 134) ein Prinzip, das in den bekannten „Fürstenspiegeln” von Erasmus und Budé eine große Rolle spielt. Diesem Grundsatz würde er mit den Worten begegnen, die er in der Widmung seines Danielkommentars an die frommen Franzosen schreibt, „hic non prodeunt in medium philosophi, qui subtiliter in umbra et otio disserant de virtutibus: sed infatigabilis sanctorum virorum in studio pietatis constantia nos ad eorum imitationem clara voce invitat” 135), Vielmehr stellt er dem platonischen ἀνὴρ μετὰ φρονήσεως βασιλικός das Ideal eines Herrschers gegenüber, der mit einem heroischen Geist ausgerüstet, aber in demütigem Gehorsam seine göttliche Erwählung mit freiem Mut durch die Beförderung der Ehre Gottes betätigt, dabei aber nie das Gefühl loswerden darf, nur als Diener Gottes und des Volkes gelten zu können. Vor allem sind die wahren christlichen Herrscher, diejenigen, denen die Erkenntnis des Evangeliums zuteil geworden ist, verpflichtet, diese Erleuchtung nicht zu


132) 32,322.
133) 36,382.
134) Polit 473 d.
135) 18,616.

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verbergen, sondern sie über groß und klein zu verbreiten, und durch eine großmütige und entschlossene Zerstreuung von Irrtümern und Mißbräuchen das Evangelium in seiner Reinheit zu erhalten, ohne Rücksicht auf eine etwaige „Schmach”, der sie sich wegen ihres Zusammenhaltens mit den verachteten Kindern Gottes aussetzen 136). Durch die Aufnahme des Erwählungsgedankens und des damit verbundenen pneumatisch-charismatischen Wesenszuges hat Calvin das antike, in seiner römischen willensherrschaftlichen Struktur fortlebende Herrscherideal in eine höhere religiöse Lichtsphäre gerückt und es dadurch überwunden.

Man könnte allerdings darauf hinweisen, daß auch Erasmus die heidnische Kultur als ein Geschenk des heiligen Geistes wertet. 137) Aber die darin sich äußernde göttliche Güte ist nicht eine spezielle „liberalitas” oder „benignitas”, sondern die durch die lex communis allen sich zuwendende Huld Gottes, die eine Analogie in der innern Verfassung der Eltern hat, mit der sie die ihren Kindern rechtlich zukommende Herrschaft diesen überlassen 138).

Viel wichtiger aber ist die Tatsache, daß Calvins Lehre von der in der Schöpfungsordnung Gottes begründeten Unterscheidung der potentiellen naturrechtlichen Anlage und der durch die pneumatisch ausgerüsteten Organe bedingten Verwirklichung und Entfaltung des naturrechtlichen Sozietäts- und Ordnungsdranges eine energische Absage an das stoische egalitär rationalistische Naturrecht der goldenen Urzeit bedeutet. Baut sich das stoische naturrechtliche Gleichheits- und Freiheitsideal auf der individualistischen Auffassung des Menschen als einer selbstgenugsamen Persönlichkeit auf und trägt es als solches den Stempel der inneren UnWahrhaftigkeit, so wird Calvins Urteil verständlich, daß die Stoiker nur ein „steinernes Ideal” aufgestellt hatten, dem nichts Wirkliches entspricht. Denn sie hatten sich mit ihrem Denken in imaginäre Phantasien hineingestürzt, denen alle das Leben


136) 16,372; 17,197; 18,71. 197. 312. 316ff. 644.
137) Op. Amst. Ausg. V, 1743.
138) De libero arbitrio (Quellengesch. d. Protest. Heft 8. S. 83).

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tragende und vorwärts treibende Kraft fehlt 139). Der stoische Weise fühlt sich in der Kräftigkeit seines Selbstbewußtseins den Göttern gleich, schmückt sich mit der der Gottheit geraubten Beute und sucht die andern zu dieser Haltung zu erziehen 140). Ueberzeugt von ihrer außerordentlichen Würde, 141) gründeten die „stolzen Prahler” die „Prinzipien der Sittlichkeit” auf ihre unbeirrbare, von allem Aeußeren und Zwingenden unabhängige Meinung 142). Ein Individualismus, also, der den von ihnen gleichzeitig behaupteten, die Menschen in gemeinsamer Hingabe an das Naturgesetz sittlich verbindenden Universalismus entkräftet 143).

Trotzdem darf man einen Wahrheitskern in dem stoischen Irrtum nicht verkennen. Wenn die Stoa mit ihrer Forderung, in Uebereinstimmung mit der Natur zu leben, über die natürliche Würde des Menschen nicht hinauskommt, 144) so hat ihre natürliche Sittlichkeit mit ihrem Streben nach einem tugendhaften Leben, nach der Tugend um der Tugend willen, mit ihrem Eifer, das Gute um des Guten willen zu tun, deutlich bewiesen, daß die menschliche Natur nicht ganz ihre Reinheit eingebüßt 145) hatte.

 

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Diese Tatsache und das auch von der Stoa behauptete Vorhandensein des dem Menschen eingeborenen, im Gewissen und den sittlichen Urteilen sich bekundenden natürlichen sittlichen Gesetzes auf der einen, die erbsündliche Störung der menschlichen Natur und die daraus fließenden falschen sittlichen Urteile auf der anderen Seite gaben dem Reformator Anlaß, die Entstehung und die Bedeutung eines neuen, die Inhalte des Naturgesetzes bestätigenden,


139) Op. 2,520; 46,162;
140) Op. 48,405.
141) Op. 2,504.
142) Op. 48,406.
143) Vgl. Troeltsch, Soziallehren 53.
144) Op. 2,503ff.
145) 2,211: ipso tamen honestati studio documentum ediderunt nonnihil fuisse in natura sua puritatis.

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aber diese vertiefenden und erläuternden Sittengesetzes, das eben im Dekalog niedergelegt ist, zu begründen. „Wegen der Hartnäckigkeit und Stumpfheit des Menschen gab Gott ein besonderes geschriebenes Gesetz, um uns das, was das Naturgesetz nur dunkel erkennen läßt, recht gewiß zu machen” 146).

Die Ausweitung, Vertiefung und Verdeutlichung des Naturgesetzes durch das Sittengesetz äußert sich bezüglich der ersten Tafel des Dekalogs in der scharfen Forderung eines reinen religiös-sittlichen Verhältnisses. Obwohl das Naturgesetz des Gewissens die unbedingte Verpflichtung der Menschen gegen Gott verlangt, so fehlt doch dieser Verpflichtung der spirituale, durch Gehorsam geläuterte Wesenszug, das spirituale conscientiae obsequium, mit den hervorstechenden Aeußerungen der Anbetung, Danksagung, und die Verbindung der Ehrfurchtsmomente mit dem Gedanken der Liebe und Huld. Die naturgesetzlichen Bestimmungen lassen außerdem eine entschiedene Verwerfung der im Bilderkult und der Magie sich hervordrängenden Kreaturvergötterung vermissen 147). Dagegen ist die Betonung der Unmöglichkeit, von sich aus der absoluten Forderung Folge zu leisten, ein integrierender Bestandteil sowohl des natürlichen als auch des göttlichen Sittengesetzes 148).

Hinsichtlich der zweiten Tafel äußert sich die Ueberlegenheit des Dekalogs über das Naturgesetz in der Forderung des Gehorsams auch gegen unwürdige Träger der Autorität; 149) in der Motivierung des Verbots des Tötens mit dem Hinweis auf die Beleidigung des am Menschen sichtbar gewordenen Ebenbildes Gottes; 150) in der


146) Op. 2,267: Quae (scil. der Dekalog) certius testificaretur, quod in lege naturali nimis obscurum erat et mentem memoriamque nostram, excusso torpore, vividius feriret. — Op. 40,335: Nemo quidem est, quem non pungat propria conscientia quando insculpta est omnium cordibus lex Dei: et ita naturaliter discernimus inter bonum et malum, sed si reputamus quantus sit stupor noster in tegendis nostris vitiis, nom mirabimur prophetam cum hoc mandato (es bandelt sich um das Verbot des Götzendienstes) prodire ut scilicet abominationes nostrae nobis patefiant . . est enim non tantum frigida illa cognitio . . sed etiam multis tenebris implicita. ut qui sibi male conscius, tamen obstupescat, dum sibi indulget.
147) Op. 2,256; 26,379; 435.
148) 2,267ff; 24,262ff.
149) Op. 24,1403, 606.
150) Ib. 223, 325.

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Einschärfung, daß trotz des natürlichen Empfindens die Heiden doch die licentia scortandi und die daraus sich ergebenden corruptelae nicht abgelegt haben; in der Auslegung des Diebstahlsverbotes, wonach nicht bloß das brutale Stehlen verboten, sondern die liberalitas und beneficcntia und alle auf die menschliche Gesellschaft sich beziehenden Rücksichten verlangt werden; 151) in der Einbeziehung aller giftigen Zungensünden in das neunte Gebot, dessen Heiligkeit und Strenge in der Fixierung der dem natürlichen Empfinden unmittelbar einleuchtenden Forderung ganz besonders hervorgehoben wird; 152) in der Feststellung, daß das Urteil über die Begierde als Verlangen nach einem eitlen Gegenstand auch dann unangefochten bleiben muß, wenn der überlegende Wille dem versuchlichen Reiz nicht folgt 153). Alle diese Werturteile bedeuten die Ueberwindung der oben erwähnten antiken Auffassung, wonach nur die in ungewöhnlicher Stärke hervorbrechenden Leidenschaften als bösartig gewertet werden können 154).

Eindringlicher als in allen diesen Einzelheiten tritt die Ueberlegenheit des sittlichen Gesetzes über die Regungen der natürlichen Sittlichkeit hervor in der alle individuellen und sozialen Wollungen beherrschenden letztgiltigen Einheit, in der Kraft der reinen Gesinnung, die die Handlungen erst zu sittlichen stempelt; in dem sincerum boni studium, der sanctitas und puritas conscentiae 155). Ist der Inhalt des Gesetzes die Gottes-


151) Ib. 669, 627.
152) 24,627.
153) 2,202; 24,719ff. 49,124.
154) Eine gewisse Unausgeglichenheit läßt sich in diesem Punkt nicht leugnen. Denn nach dem früher Gesagten verfallen nur die insolentes et effraenati motus unter das abwertende Urteil. Der Widerspruch läßt sich wohl dadurch lösen, daß ein, wenn auch schwaches Verlangen nach eitlen Gegenständen den Geist (animus mirifice compositus 2,302) aus der Fassung zu bringen, der zügellosen Herrschaft der Affekte die Bahn zu bereiten und dadurch sowohl die Ordnungen Gottes (cum Dei ordinatione pugnant 2,242) und das Liebesgebot zu verletzen vermag. (2,302 contra dilectionis legem papitur). Die Unterscheidung der cupiditas von der durch die Zustimmung des Willens (consensio voluntatis, consilium) erfolgten libido will Calvin Augustin entnommen haben (1,420 und 2,302: ad hanc intelligentiam mihi primum viam aperuit Augustinus). Die diesbezüglchen Anschauungen Augustins finden sich Ep. 200 ad Asellicum quaestio 83 Schluß; in Ps. 118 und 145, homilio 45; Retract lib. 1, cap. 5; lib. de conscientia, c 8).
155) 2,565; 2,303.

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und Menschenliebe, so sind „im Sinne Jesu und der Apostel” 156) die Forderungen der zweiten Tafel dahin zu verstehen, daß die dabei vorausgesetzte Liebesgesinnung, die sinceritas dilectionis 157) ihre Quelle und ihren bestimmenden Grund in der Gottesliebe hat. Das vornehmste Ziel des Gesetzes ist daher in der Gestaltung des Lebens nach dem Urbild der göttlichen Reinheit, und, was dasselbe ist, in der Vereinigung der Menschen mit Gott zu suchen 158). Ist die Gottesliebe ohne den ungeheuchelten Glauben und die Reinheit des Gewissens ohne Gottesfurcht und Gehorsam undenkbar, so konnte die natürliche Sittlichkeit der Antike trotz ihres Strebens nach der Tugend um der Tugend willen das Gesinnungsideal doch nicht erreichen, da ihr das Glaubenslicht fehlte, ihre sittlichen Antriebe durch den Stolz und die Selbstliebe verunreinigt waren, und das letzte Endziel doch nicht auf Gott und seinen Willen gerichtet war. 159).

Ist die Verankerung des Gesinnungsantriebs in Glaube und Liebe allgemein reformatorisch, so liegt das Unterscheidende und Eigenartige der Auffassung Calvins nicht darin, daß bei ihm die Spannung zwischen der absoluten Liebesmoral der ersten Tafel und den Recht, Zwang und Gewalt einschließenden sozialen Forderungen der zweiten Tafel fehlt, auch nicht darin, daß nach ihm die Gesinnung mit Rücksicht auf die Erfüllung der Forderung der beiden Tafeln in unbedingtem Gehorsam lag 160).

Denn abgesehen davon, daß bei Luther die Liebesgesinnung nicht im schroffen Gegensatz steht zu den Zwangs- und Gewaltmaßnahmen des Staates — diese sind ja letzten Endes nur Auswirkungen der Liebe 161) — so ist auch bei Luther und Melanchthon der Gehorsam dasjenige, was


156) 2,304.
157) 2,298.
158) Op. 2,203: Quorsum vero spectet lex universa . . ut hominis vitam ad divinae puritatis exemplar formet . . huc ita respicit legis doctrina, ut hominem vitae sanctitate cum Deo suo coniungat; 49,253: Vera erga homines Caritas nisi ex Dei amore fluit, atque eius est testimonium, sicuti effectus.
159) Op. 2,565: Quum fidei luce carerent, non ad eum finem (der finis ist aber: quum perpetuum meminerimus recti finem, ut Deo serviatur, quidquid alio contendit, iam merito amittit recti nomen) ipsa retulerunt ad quem referre debuerant. Non fuisse ergo in illis veram justitiam, quia non actibus, sed finibus pensantur officia.
160) Gegen Troeltsch Soz. 663.
161) W.A. 19,625. E.A. 13,83. E.A. 513ff. W.A. 18,361; 41,324ff; 49,103ff.

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Gott unbedingt verlangt 162). Glaube und Gehorsam gehören zusammen, 163) wie Glaube und Liebe zusammengehören. — Andererseits ist nach Calvin der Gehorsam von der Liebe nicht zu trennen. Damit steht sein Satz, daß der Gehorsam (observantia) ein Zeugnis der in uns vorhandenen Gottesfurcht sei, keineswegs im Widerspruch. Denn Gott fürchten heißt, die ihm gebührende Ehre geben, oder eine solche Hochachtung bezeugen, daß wir das Verlangen haben, ihm zu gehorchen 164). Die Ehrfurcht ist eine freiwillige Furcht, die das Abhängigkeitsbewußtsein in sich schließt, sodaß die Menschen freiwillig Gott gehorchen 165). Der Gehorsam und Ehrfurcht vor Gott soll aber nicht bloß das Distanzgefühl bezeichnen, das wir dem erhabenen und gerechten Herrn gegenüber haben müssen, sondern auch das im Kindesbewußtsein sich emporringende Freiheitsgefühl. Mit einem feinen psychologischen Takt unterscheidet Calvin 166) in dem Begriff timor zwei Momente: den „honor” und die eigentliche „Furcht”. Obwohl diese beiden Momente einen einheitlichen religionspsychischen Akt darstellen (tametsi unus est), so entspringen sie einer doppelten Empfindung (sensus). Wir können uns nämlich auf Gott als Vater oder auf Gott als den Herrn bezogen denken. Das der ersteren Beziehung entspringende Gefühl ist Ehrfurcht oder Gehorsam, das der anderen die Furcht im engeren Sinne. Beide Stimmungen können in demselben Gemüt Platz greifen. Wer Gott als seinen Vater weiß, hat Grund genug, die Beleidigungen seines Gottes mehr als den Tod zu scheuen 167). Der Gehorsam ist eine freiwillige Beugung unter die göttliche Majestät,


162) W.A. 3,19: Requirit ... obedientiam solam. Hae sunt verae laudes obedientiae quae tantum est vel promissionum vel praeceptorum divinorum. Melanchthon CR 21,690: Mandatum de dilectione — postulare obedientiam necessariam, sicut et primi mandati obedientia est necessaria. 21,388: Lex Dei requirens perfectam obedientiam erga Deum, ac damnans eos, qui non praestant hanc perfectam obedientiam.
163) E.A. 4,197, 340. Vgl. Eger, Anschauungen Luthers vom Beruf 124ff.
164) 2,305: observantiam, qua ad testantum pium eius timorem . . . exerceamur Op. 26,458: Ce mot-ici importe . . reverence . . qu’on luy rend honneur qui est deu pour le servir . . craindre, c’est à dire, de luy porter une teile reverence que nul demandions de luy obeir.
165) 24,263; 27,36: or quant à la Reverence au à la Crainte ce n’est pas une crainte. c’est le Service et l’honneur que nous faissions à Dieu en nous submettant à luy.
166) Nebenbei bemerkt, geht diese psychologische Unterscheidung auf Didymus von ➝

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hervorgerufen und gestärkt durch die Gewißheit der Versöhnung. Denn niemand wird Gott die Ehrfurcht bezeugen, der es nicht mit dem versöhnten Vater zu tun hat, niemand wird sich bereit fühlen, fröhlich das Gesetz zu halten, der nicht überzeugt ist, daß sein Gehorsam Gott gefällt 168). Die Hochachtung setzt also die Liebe voraus, da Gott die Verehrung aus einem vollen Herzen verlangt; fehlt die Liebe, ist auch die Hochachtung verschwunden 169). Man muß noch weiter gehen: die Liebe ist die Quelle des Gehorsams und der Hochachtung; durch sie werden die letzteren erst rein und echt 170). Die aus der innigen Gemeinschaft mit Gott fließende, auf seine werbende Güte (gagner à soy par douceur) und rettende Gnade antwortende und in ihr ihre Lust und Ruhe findende freie reine Liebe, der ganze freie fröhliche Wille — das ist Gottesliebe, die das Gesetz verlangt. Alles dies sind offenbar gut lutherische Klänge 171). Sie widerlegen schlagend die Behauptung, 172) daß Calvin die lutherische Spiritualität, die Forderung der spiritualen, das Gute nur aus der Innerlichkeit ausströmenden Gotteinigkeit nicht kenne, sowie den Versuch, die Spiritualität Calvins nur auf die übrigens auch bei Luther und Melanchthon scharf


➝ Alexandrien zurück (Auslegung der 7 kath. Briefe (Migne, Patrol, M.S.G., 1749 Seite 118) zurück, der den passibilis timor der reverentia gegenüberstellt.
167) 2,419.
168) Op. 2,435; 31,335; 24,263, 247.
169) Op. 27,37: Ceste reverence - la demande aussi bien l’amour. Car Dieu veut estre honoré d’une affection cordiale . . Si donc nous n’avons ceste amour, la reverence aussi sera nulle, elle sera aneanti.
170) 26,439: Si cela (sc. Verehrung, Gehorsam, Furcht) ne procede d’une amour, et que nostre coeur s’y adresse franchement et sans contredit, qu’il desavoue tout, un tel Service ne luy est point agreable. 26,266: Dieu demande des Services volontaires, il ne veut pas seulement, que nous le servions par une crainte servile, mais il veut, que mesme nous prenions plaisir a l’honorer. Or cela ne se peut faire que nous ne l’aimions. Ainsi notons que le commencement d’obeissance et comme la source, et le fundament de la racine, c’est amour de Dieu, que nous ne soyons point forcez de venir à luy, mais que nous y prenions nostre plaisir singulier: cognoissions aussi que c’est nostre vraye beatitude, et que nous ne demandions sinon d’estre gouvernez selon sa volonté, et d’y estre du tout conforméz. 24,723: Quoties audimus . . diligite Jehovam etc. veniat nobis in memoriam Deum se nobis amabilem reddere, ut libenter et qua decet alacritate amplectamur quidquid iubet. 26,267: Que si ceste amour ici est en nous: il n’y a nulle doute, que nous ne luy obeissions et que sa Loy ne domine a nos pensees et nos affections et en tous nos membres.
171) Vgl. die Belege bei Holl, a.a.O. 160, 206.
172) Troeltsch, a.a.O.

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gekennzeichnete 173) radikale Strenge und Gesinnungsmäßigkeit der Motive zu beschränken.

Verschieden ist allerdings die Art, wie sich Luther und Calvin die Auswirkungen des Gesinnungsantriebs in der Nächstenliebe denken. Während nach Luther der Gerechte durch „Lieb und Lust” zu Gott getrieben wird, ein „frei, willig, fröhlich Leben dem Nächsten zu dienen umbsonst” 174) ohne über den sittlichen Antrieb weiter zu reflektieren, begnügt sich Calvin mit dieser „quellenden, von inwendig aus dem Herzen fließenden” Liebe nicht 175). Die Nächstenliebe, die gegenseitige Hilfeleistung der Glieder des christlichen Körpers ist „kein freiwilliges Werk, sondern vielmehr die Durchführung dessen, was das Naturgesetz uns auferlegt, dessen Ablehnung eine Ungeheuerlichkeit wäre” 176). Die Nächstenliebe ist eine Pflicht, von der sich niemand befreien kann 177). Diese deutlich an Kant erinnernde Ableitung des sittlichen Handelns aus Pflicht und Achtung vor dem göttlichen Gesetz prägt der ganzen Lebenshaltung den Stempel einer reflektierenden, immer wieder an Gottes Gesetz sich orientierenden Sachlichkeit auf. Die Pflicht zur Hilfsbereitschaft gegen den Nächsten ist im Grunde die Verpflichtung, von dem Gebrauch der uns zum Wohle des Nächsten nur verliehenen Gaben Gott Rechenschaft zu geben 178). Damit soll keineswegs einer kaltblütigen Pflichterfüllung das Wort geredet werden. Alle Wohltaten, die wir den Menschen erweisen, müssen aus einem aufrichtigen Liebesgefühl fließen; die Not des Nächsten muß uns innerlich so angehen, als ob es sich um unsere eigene handelte 179). Wenn sich also die Bruderliebe nach allen Seiten furchtbringend


173) W.A. 3,25.292. Melanchthon CR 21,124. 388.
174) W.A. 7,36.
175) E.A. 19,307.
176) 2,511: Siquidem officiorum inter membra communicatio nihil gratuitum habere creditur, sed potius solutio esse eius quod naturae lege debitum negare prodigiosum esset.
177) Ib. Hac quoque ratione fiet, ut ne liberatum se putet, qui uno genere officii defunctus fuerit.
178) 2,509ff; 2,306: Si veram diligenti lineam tenere libet, non in hominem primum convertendi sunt oculi, sed in Deum, qui amorem quem sibi deferemus, ad universos homines diffundi iubet. Ut sit hoc perpetuum fundamentum: qualiscumque sit homo diligendum tamen esse quia diligitur Deus.

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auswirkt, dann kommt es zu einer harmonischen, nach Gottes Willen und Gesetz geordneten Lebensgestaltung 180). Es wäre aber verfehlt, wollte man diese Lebensauffassung als Nomismus brandmarken. Der Nomismus ist gegeben, wenn man ein unpersönliches Gesetz zur Grundlage des sittlichen Lebens macht und den Gehorsam als Verdienst wertet. Das göttliche Gesetz ist aber nach Calvin ein lebendiger Ausdruck des höchst persönlichen spiritualen Willens Gottes 181). Befolgt man diesen Willen, so tut man es nicht aus Zwang, sondern aus Liebe zu Gott und darum freiwillig. Die Kraft des Gehorsams ist kein Verdienst, sondern ein Geschenk der die vollkommene Gerechtigkeit Christi uns zurechenden freien Gnade Gottes 182). Der Nomismus verschüttet die Ursprungsquelle des sittlichen Lebens, die Gesinnung, und läßt das Handeln in einzelnen Taten sich erschöpfen. Derjenige, der dem Gesetz Gottes nicht gleichgültig gegenübersteht, sondern in ihm die unbedingte Autorität erblickt, wird das Wesen und den Geist des Gesetzes nach dem Wesen und dem Geist des Gesetzgebers beurteilen 183).

 

5

Wird demgemäß dem göttlichen Gesetz eine durchgreifende Ueberlegenheit über das natürliche zugestanden, so macht doch Calvin den Versuch, gerade auf dem Gebiete der Nächstenliebe die beiden Gesetze einander näherzubringen. „Im Gesetz (Gottes) wird uns die Befolgung


179) Op. 2,511: Ille enim implet (sc. caritatis numeros), non qui Omnibus caritatis officiis solummodo defungitur . . sed qui ex sincero amoris affectu id facit . . eius quem ope sua indigere conspiciunt, personam suscipiant oportet, ac fortunae deinde misereantur ac si eam sentirent ipsi ac sustinerent, ut misericordiae atque humanitatis sensu ad ferendas alli suppetias, non aliter quam sibi, ferantur.
180) 2,305: Tum optime ad Dei voluntatem compositam fore vitam nostram, quum omni ex parte fructuosissima fuerit.
181) 2,369.
182) 2,254.
183) 2,270: Gott ist spiritualis legislator.

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des Rechtes und der Billigkeit unter den Menschen vorgeschrieben”, so bestimmt Calvin den Inhalt der Nächstenliebe 184). Die beiden Begriffe: Recht und Billigkeit sind aus der Popularphilosophie, und dem römischen Recht in die kanonische und germanische Rechtswelt übergegangene fast populäre Kardinalbegriffe des Naturrechtes. Um zu bestimmen, wie der Reformator den Sinn der überkommenen antiken Lehrbegriffe dem Inhalt des christlichen Liebesgesetzes angleicht, muß vorerst die Frage erledigt werden, welche Inhaltsbedeutung er den betreffenden Begriffen beilegt, da diese bekanntlich sowohl von der antiken Jurisprudenz als auch von der modernen, diese erklärenden Rechtsgeschichtswissenschaft immer noch verschieden gedeutet werden 185).

Bereits in seinem Senecakommentar hat Calvin im Anschluß an Budé 186) das aequum et bonum im Gegensatz gegen das strenge Recht als eine Norm aufgefaßt, die die Bestimmugen des letzteren mildert 187). Die Billigkeit ist Mäßigung, die in der Mitte steht zwischen der absoluten, die Strafen unerbittlich fordernden Strenge und der übermäßigen, hie und da unterschiedslos geübten Milde 188). — Von einer solchen Gegenüberstellung von Recht und Billigkeit macht Calvin namentlich in seiner Gotteslehre und zwar unter Verwendung der juristischen termini technici reichlich Gebrauch. Gott verlangt von uns, nach bestem Recht


184) 2,305: In lege nobis tantum praescribi iuris et aequitatis inter homines observantiam.
185) Vgl. Voigt, Die Lehre vom ius naturae, aequum et bonum . . der Römer, S. 5 und öfter; Krueger, Geschichte der Quellen und Literatur des röm. Rechtes, S. 124ff. Rümelin, Die Billigkeit im Recht, S. 18ff.
186) Annot. in Pandectas 1562, S. 1.
187) Op. 5,119: Satis ostendit Budaeus in suis annotationibus, quid esset aequum et bonum, quod iuri summo seu rigori iuris opponitur. Nam quum ius omnia recta et inflexibilia exigat, aequitas de iure aliquid remittit. — Die von Calvin erwähnte ähnliche Unterscheidung der Griechen zwischen dem ἐπιεικὲς, und τὸ κατὰ τὸν νόμον δίκαιον ist die aristotelische: vgl. Nik. Eth. V, 141137b,11: τὸ ἐπιεικὲς δίκαιον μέν ἐστιν, οὖ κατὰ νόμον δὲ, ἀλλ᾽ ἐπανόρθωμα νομίμου δικαίου; vgl. auch VIII, 15,1162b,21: ἔοικε δέ, καθάπερ τὸ δίκαιόν ἐστι διττόν, τὸ μὲν ἄγαφον, τὸ δὲ κατὰ νόμον. Ueber dieselbe Unterscheidung bei den römischen Juristen vgl. Voigt a.a.O. 357ff, 391ff und 492ff.
188) Ib. 33: Ostendit (Seneca) neque iustam esse severitatem, quae praecise adeo et inexorabiliter poenas exigit, neque videri clementiam inter virtutes numerandam, quae passim ac promiscue se exhibet . . . Consectarium est, laudabilem esse moderationem, quae aliquid ex utroque temperet — Dasselbe Melanchthon CR 16,233.

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die absolute Erfüllung seiner Forderungen. Da diese als Pflichtleistung der Vergeltung nicht wert ist, tritt Gott von seinem Recht zurück, wenn er uns den Lohn für unsere Leistungen in Aussicht stellt 189). Auch darin zeigt sich Gottes Güte und Liebe, daß er seine Erhabenheit und Autorität nicht unbedingt gelten läßt, sondern sich zu den Menschenkindern herabläßt, indem er mit ihnen den Bund schließt 190). Sein Gesetz bringt seine unerbittliche Strenge zum Vorschein, die uns zum Verzweifeln bringen müßte, wenn er uns nicht von dieser Knechtschaft befreite 191).

Bei einem derartigen Spannungsverhältnis zwischen Recht und Billigkeit könnte es auf den ersten Blick auffallend scheinen, daß Calvin in der oben erwähnten Stelle der Institutio beide in seine grundlegende Bestimmung der Nächstenliebe aufgenommen hat, da nur die Billigkeit dem Wesen der letzteren zu entsprechen scheint. Durch ein ähnliches Bedenken, durch die Gegenüberstellung von Liebe und Recht, Freiheit und Zwang, hatten bekanntlich die Täufer der Reformation ein Problem aufgedrängt. Calvin weicht dem Problem nicht aus. Gegen die anabaptistische einseitige, Staat und Recht verneinende Lösung betont er, daß es im Interesse der Liebe liegt, wenn das Recht und die damit zusammenhängende Ordnung aufrecht erhalten bleibe. Wen die echte Liebe beseelt, dem wird es nicht in den Sinn kommen, seinen Bruder zu verletzten; er wird vielmehr trachten, daß jedermann sein Recht unverletzt bleibe und daß alle gegen das Unrecht geschützt werden.


189) Op. 26,103: Quand il (Gott) useroit de plus grande rigueur beaucoup, si est-ce qu’encores ne pouvons-nous pas nous accquiter du devoir que nous avons envers luy. Or il se demet de ceste autorité-là, comme s’il quittoit une partie du son droit . . Il se monstre liberal de nous quitter son droit.
190) Op. 2,269: Nam quum eius maiestati cum nostris omnibus sumus obaerrati iure optimo, quidquid requirit a nobis, tamquam debitum reposcit; debiti autem solutio remuneratione digna non est. Iure igitur suo decedit, quum praemium proponit nostris obsequiis. 26,242: II est vray qu’il y a une distance infinie entre vous et moy et je vous pourroye ce que bon me semblera: . . mais voici, je me demets de mon droit . . je suis donc ici prest de contracter par article. 28,245ff: II se demet de son droit . . car il aime beaucoup mieux que ses enfants le servent franchement que s’il les contraignoit par rigueur extreme. 26,104: II est vray, que si Dieu usoit simplement de son droict, voir en nous declarant ce que nous luy devons, et qu’il usast de ceste rigueur simple il faudroit que nous le fissions.
191) Op. 7,206: Pendant que ceste rigueur a lieu, nous sommes tous forclos d’espérance de vie.

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Dann muß er aber die Obrigkeit als den Hort des Friedens und der Billigkeit bejahen und verteidigen. Es beleidigt daher die Liebe, wer die Anarchie und die unmittelbar aus ihr folgende allgemeine Verwirrung verursacht. Man wahrt die Liebe, wenn man dem Gesetz gehorcht; bei der Obrigkeit als Trägerin des Gesetzes und des Rechtes ruht ein nicht geringer Teil der Liebe 192). So steht auch die obrigkeitliche Strafe im Dienste der Liebe. Es versündigen sich gegen die Menschheit und ihre Ordnungen, die unter der Vorspiegelung der Humanität die Barmherzigkeit gegen die Schuldigen fordern. Denn mit der unbedingten Schonung des Einzelnen kann man viele Unschuldigen ins Verderben bringen 193). Darum soll die Obrigkeit die Strenge des Gesetzes walten lassen, fest und großmütig („constance et magnanimite”) bleiben, namentlich wo es sich um ausgesprochene Gottesfeinde handelt, dabei aber alle Rachesucht und Leidenschaft fahren lassen und mit den Verlorenen Mitleid haben 194). Es gibt aber auch Fälle,


192) Op. 49,252ff: Qui vera caritate praeditus erit, numquam ei in mentem veniet fratres laedere. Quid aliud tota lex vetat quam ne proximo aliquam noxam inferemus . . quum magistratus pacis ac aequitatis sint praesides: qui suum cuique ius salvum esse cupit, et omnes ab iniuria tutos vivere, is ordinem magistratuum quantum in se erit tuebitur . . . ac si dixisset, quum postulo ut principibas pareatis, non aliud requiro quam quod ex lege dilectionis debent praestare omnes fideles. Nam si bonis bene esse vultis . . debetis studere ut leges ut iudicia valeant, ut legum praesides populum habeant obsequentem . . ergo violat caritatem si quis ἀναρχίαν inducit, quam statim consequitur rerum omnium perturbatio . . Ita optime confirmat (sc. Paulus) quod praecepit de obedientia magistratui deferenda, in quo posita est non minima pars caritatis. Op. 26,313ff: S. Paul nous rameine à la charité, quand il expose ce commendement d’obeyr aux Magistrats. Car il monstre que si nous ne avons point ceste douceur en nous, de plier le col, quand nostre Seigneur nous met un ioug dessus, que nous n’avons nulle charité envers nos prochains: si nous appetons confusion et meslinge, et que les supérieurs n’ayent plus nulle reverence, il faudra que tout vienne en brigandage. Il vaudroit beaucoup mieux que chacun vesquist à part, et sans compagnie, que de voir une teile confusion.
193) Op. 27,556, 564, 575. Eine ähnliche Haltung bei Luther W.A. 18,361. 389. 393.
194) Op. 27,560; 26,502ff. 498; 27,588. — 2,1102: Nunc si vera eorum est iustitia, stricto gladio sontes et impios persequi: gladium recondant et puras a sanguiue manus contineant, dum perditi homines nefarie per caedes interim et strages gras-santur, summa sese impietate obstringent; tantum abest, ut bonitatis et laudem inde referant. Facessat modo abscissa saevaque asperitas, et tribunal illud quod reorum scopulus iure nominetur. 54,158: Je vous prie, quelle miséricorde sera-ce, qu’on espargne un seul homme et cependant que mille pauvres âmes s’en aillent en perdition . . Faut-il la estre esmeu de miséricorde envers un loup, et cependant, qu’on laisse les pauvres brebis, et les agneaux que nostre Seigneur ha en un soin singulier, qu’on les laisse, dis-je perir? Demgemäß muß auch die innere Stellung zu einem ausgesprochen Feind des Evangeliums geregelt werden. In seinem bekannten Briet an die Herzogin von Ferrara (20,244f.) vertritt der Reformator den Standpunkt, ➝

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wo man von dem strengen Recht keinen Gebrauch macht; es gibt ein „Gesetz der Billigkeit”, das bei den „würdigen” Schuldigen allerdings mit aller Vorsicht zur Anwendung kommen kann 195). Mit dieser Lösung, die lebhaft an diejenige Luthers erinnert 196), würde Calvin jedes Bedenken gegen seine Bestimmung der Nächstenliebe zerstreuen. Aber dieses Bedenken ist nicht angebracht.

Denn Calvin hat keineswegs den Gegensatz von unbeugsamem, strengem Recht und Billigkeit, vom positiven Gesetz und Naturgesetz im Auge, wenn er die christliche Liebe als Beobachtung von Recht und Billigkeit unter den Menschen aufgefaßt haben will. Vergleicht man nämlich diese Definition der Institutio mit der Deutung der Grundprinzipien der zweiten Tafel in der Deuteronomiumhomilie, sowie mit zahlreichen Stellen, in denen die beiden Begriffe droiture et équité bezw. droit et équité nebeneinander gestellt werden, so wird man finden, daß sie als Bezeichnungen für Rechtsgefühl und rechtsmäßige Gesinnung synonym gebraucht werden 197).


➝ daß man die Feinde des Evangeliums nicht so behandeln dürfe, wie die Mitglieder der Kirche, daß man das Böse an ihnen hassen müsse, ohne sich an ihre Person zu halten, daß man sie aber nicht, ohne ein gewisses Merkmal ihrer Verwerfung zu sehen, sofort zu den Verdammten rechnen dürfe, vielmehr das Urteil besonnen zurückstellen und dieses nur dem höchsten Richter überlassen müsse.
195) Op. 27,547: Ouand donc il a fait ainsi une loy d’ équité pour avoir pitié de celuy qui merite qu’on regard à luy, incontient les mechans sont subtils, et attirent cela à eux. II faut bien donc qu’il y ait prudence en cest endroit, afin d’empescher ceux qui voudroyent abuser des privileges, qui ne sont sinon par ceux que le meritent, et en sont dignes.
196) Vgl. W.A. 14,686: Exigit enim charitas, ut publice paci provideatur; sed nisi mali coerceantur, pax constare non potest. Quare charitatis est, leges strenue et sinne misericordia administrare in vindictam malorum, ut serventur boni et pii. Rursus charitatis est, legum rigorem aequitate remitti, ut misericordiam consequatur, qui similis quidem est malo et nocenti et tamen nec malus nec nocens est.
197) Vgl. 96,309: Cheminer avec nos prochains en tous droit et équité mit 28,339 cheminer en toute équité avec les hommes; Op. 25,220 rectum et aequitas. Vgl. 2,302 neque vero sine causa tantam rectitudinem exigat. Nam quis aequum esse negat . . 26,303 und 27,405: droiture et équité parallel mit integrité (der Gesinnung) et droiture. 28,120: que nous usions d’ équité et droicture en tous nos actes. 27,449: pervertis toute droiture et equité. 27,546: que nous advisions à la droiture et equité. 328: que nous gardions equité et droiture envers tous hommes. 26,331: quand il (Dieu) nous ameine à ceste equité et droiture. 28,221: avoir droiture et equité en nous. 227 und 320: suyvre teile equité et droiture. 27,416: cheminer en droivture et equité; que la droiture et equité soit suyvie en toutes personnes. 24,191: aequitas et rectitudo. — 26,267 und 499: droiture et equité als Abglanz des göttlichen Rechtsempfindens und die natürliche Rechtsidee als eine dauernde Norm der positiven Ordnungen und Gesetze (2,1106:) aequitas ➝

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Der Inhalt der droiture et equité wird dahin bestimmt, daß jedem das Seine, sein Recht zukommt, daß der eine sich dem andern in wahrer Brüderlichkeit, Humanität und Loyalität mitteile und alles tue, was er für sich von dem andern verlangt 198).

Mit der Humanität, Loyalität und Brüderlichkeit wird die droiture und equité direkt identifiziert 199). Wird nun diese droiture et equité gegen jedes Theoretisieren über das Recht zum Prinzip der aktiven Nächstenliebe erhoben 200), so stimmt dies alles vollständig mit der prinzipiellen Aussage über die Nächstenliebe in der Institutio überein, wonach die von Gott befohlene Befolgung des Rechtes und der Billigkeit jeden Egoismus, der direkt als „iniquum” gebrandmarkt wird, ausschließen soll 201). Die Selbstliebe gehört ja zu der Natur des Menschen; es bedarf daher keines besonderen Gesetzes, das diesen an sich schon unmäßigen Egoismus noch mehr entfachen würde 202).


➝ quia naturalis est non nisi una omnium (legum) esse potest mit 28,115: quand . . nous trouverons quelque loy il faut regarder à quel commandement eile se doit rapporter: là dessus si la loy es politique . . mais il y a la substance qui nous demeure, c’est-à-dire l’equité et la droiture. Or ceste equité-la est permanente; 28,211: nous savons que la police terrienne est ordonné à ceste fin, qu’un chacun vive paisiblement . . que droit et equité regne.
198) Op. 26,309: Seconde table de la Loy, ou Dieu nous monstre comme nous avons a converser ici tous ensemble; que nous qu communiquions avec les hommes en toute integrité et droiture, rendons à chacun ce qui luy appartient . . . cheminer avec nos prochains en toute droiture et equité et que nous vivions ensemble en teile communion et concorde qu’un chacun ne soit point adonné a soy. 33,66: Et ceste droiture tend la qu’un chacun ne se retire point à part, pour chercher son profit mais que nous communiquions ensemble. Dasselbe 28,6.
199) Op. 28,220ff, 230; 26,117, 331.
200) 45,220: Ubi propria utilitas agitur nemo nostrum est qui non articulate et subtiliter disserat, quid rectum sit. Ergo singuli in suum commodum acutos se ostendunt aequitatis magistros; qui fit, ut non eadem in promptu occurrat cognitio, ubi aliena vel utilitas, vel iactura in quaestionem venit, nisi quia nobis tantum sapere volumus, nemo autem proximis suis consulit? . . Regnaret . . . procul dubio inter nos perfecta aequitas, si activae ut ita loquar, caritatis tam fideles essemus discipuli, quam acuti sumus passivae doctores. (Hier unterscheidet sich Calvin von Melanchthon, der die Gebote der zweiten Tafel nur unter dem Gesichtspunkt des Gehorsams betrachtet. Ist dieser Gesichtspunkt Calvin keineswegs fremd, so wird das Moment der Liebe bei allen Geboten (mit Ausnahme des siebenten, da es selbstverständlich schien, durchgeführt). Beim fünften Gebot 26,313; 24,602, beim sechsten Gebot 24,612, beim achten Gebot 24,699; 2,298, beim neunten Gebot 26,363; 2,301, beim zehnten 2,302.
201) 2,305: Quo plane perspicuum est, non nostri ipsius amorem, sed Dei et proximi observationem mandatorum esse; optimeque ac sanctissime eum vivere qui quam minimum fieri potest, sibi vivit ac studet; neminem vero eo peius nec iniquius vivere qui sibi duntaxat vivit ac studet suaque duntaxat cogitat ac quaerit.

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Das die Liebe fordernde göttliche Gesetz ist eine radikale Verneinung jedes selbstischen Triebes. Man glaubt Kant zu hören, wenn Calvin erklärt: Es gibt im ganzen göttlichen Gesetz keine Silbe, die die Regel aufstellt, wie der Mensch nach seinem Vorteil oder Schaden handeln soll 203). Dem göttlichen Gebot der sich selbst verleugnenden, auf das Wohl der anderen, auch der Fernsten, ja sogar der Feinde, sich richtenden Liebe, kommt aber auch dem natürlichen Empfinden entgegen. Denn trotz des allen Menschen von Natur anhaftenden egoistischen Triebes ringt sich in der Menschheit, die die spezielle christliche Offenbarung nicht kennt, also auch in der Heidenwelt, ein richtiger, durch die Natur selbst diktierter Grundsatz durch, daß alle Menschen als Träger des Ebenbildes Gottes Gegenstände der Liebe sein müssen 204). Aus dieser Erwägung ergibt sich die große Synthese der natürlichen aus dem Herzen der Menschen herausstrahlenden 205) Forderung mit der christlichen Lebensregel 206).

Diese Synthese ist allerdings nicht neu. Unter den Reformatoren ist es vorzüglich Zwingli, der diesen Gedanken wiederholt in den Vordergrund „der göttlichen und menschlichen Gerechtigkeit” stellt 207). Luther ist der Satz: „Alles, was ihr wollt, daß euch die Leute tun sollen, das


202) ib.
203) Ib: In tota vero lege syllaba una non legitur, quae regulam homini de iis statuat quae carnis suae commodo facturus aut ommissurus sit.
204) Op. 27,329: Les Payens ont bien seu dire cela: Combien que tont le genre humain soit allié, toutes fois que les voisins qui s’entrecognoissent, doivent avoir une amitié speciale pour se soubvenir. Et de faict sans qu’on lise l’Escriture Saincte, chacun saura bien alleguer ceci . . Et qui apprent ceste lecon? Nature 53,160. Tous sont d’une mesme nature, l’image de Dieu est imprimé en eux, il y a comme un lien inseparable.
205) 45,220: Ad aequitatis regulam quae in cordibus nostris lucet. 45,187: natura ipsa dictat.
206) Regula illi iuris ipsius naturalis, quam dominus Jesus Christus partem summae legis et prophetarum statuit: ne videlicet faciamus alteri, quod factum von vellemus nobis 10/1,264). Rien n’entrevienne qui naccorde avec équité naturelle, et si on examine la chose Selon la reigle de Christ: ascavoir ce que vous voules que les hommes vous fassent etc. elle ne soit trouver convenir partout (Op. 10/1,248) dasselbe 31,148.
207) Vgl. Op. ed. Schuler et Schulthess 1,439. Das gsatz der Natur ist: Das du willt dir beschehen das thu eim andren ouch! 5,7: Ergo vero imaginem hanc similitudinem esse puto quod nos naturae ius dicimus: Quod tibi vis fieri, aliis facito, sowie die zahlreichen Belege bei Bräseke, Zwingli und das Naturrecht, S. 36, Anm. 1.

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tut ihr ihnen auch” das Gesetz der reinen und unverderbten Natur, das mit der Liebe identisch ist 208). Bei Melanchthon ist der Satz wiederum ein Beweis für die „iustitia distributiva et communicativa” des Aristoteles 209). Sonst trägt Melanchthon wie Calvin in die antike Billigkeit christliche Züge hinein. Nach ihm ist der Grundzug des Evangeliums im Unterschied von dem auf dem Gebiet des Gesetzes sich betätigenden rigor iuris und ius strictum die aequitas 210). Während aber Zwingli und die Reformatoren die Billigkeit als das Hauptmoment der christlichen Liebe bezeichnen, fügt Calvin auch noch das allerdings mit der Billigkeit identische „Recht” hinzu. Diese rein formale Differenz berührt die inhaltliche Uebereinstimmung mit der reformatorischen Auffassung der Nächstenliebe in keiner Weise. Sie will nur das im Wesen der Billigkeit bereits eingeschlossene, von den anderen Reformatoren daher nicht besonders hervorgehobene Moment kräftig herausstellen, daß die Liebe es auch mit der Wahrung der subjektiven Rechte (maintenir de droicts de nos prochains) zu tun habe, daß die wahre Gemeinschaft nur in der Verbindung der Rechte mit den entsprechenden Pflichten bestehen kann. Zwei Prinzipien sind hier einheitlich verbunden: Die Anschauung, daß die Bejahung der subjektiven Rechte eine sittliche Pflicht ist, und die Mahnung, daß die Persönlichkeit mit allen ihren Rechten nicht ein absolutes Individuum sein darf, sondern daß an sie die Forderung der Billigkeit ergeht, ihre Individualrechte im Interesse der Gesamtheit einzuschränken, sich in die Gemeinschaft der anderen, die gleich ihr berechtigt und verpflichtet sind, einzustellen 211).

Weil dieser Gedanke nicht bloß gelegentlich ausgesprochen wird und eine prinzipielle Bedeutung beansprucht, ist die Frage nach dessen Herkunft nicht nebensächlich. — Die Forderung der „droiture”, jedem das Seine zu geben, ist ein antikes, nach dem Zeugnis


208) Op. ex. 12,185, W.A. 2,120; wörtlich übereinstimmend mit Calvin: E.A. 8,67.
209) CR 16,370,379.
210) CR 11,923.
211) vgl. unten S. [?].

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Platos 212) auf Simonides zurückweisendes „praeceptum iuris” der römischen Rechtswissenschaft. Wenn diese Forderung anderwärts als eine feste und unvergängliche Willensäußerung der Gerechtigkeit 213) bezeichnet und direkt mit der aequitas totius rei identifiziert wird 214), wenn Cicero das ius suum cuique tribuere das einemal im Anschluß an Plato und die Stoiker als einen charakteristischen Zug der institia 215), das andere Mal als eine Äußerung der aequitas 216) bezeichnet, so weicht Calvin von der die iustitia und aequitas zusammenfassenden antiken Auffassung insofern nicht ab, als auch er, wenn auch nur selten, seine „droiture” der „iustice” angleicht 217). Die Seltenheit erklärt sich wohl daraus daß Calvin im Laufe der Zeit eine andere Bedeutung der iustitia aufgegangen ist. Diese ist nicht mehr das platonische und stoische διανεμητικὸν (ἀπονεμητικὸν) τῆς ἀξίας (τοῦ κατ᾽ ἀξίαν) ἑκάστῳ, sondern Treue 218). Man wird die Vermutung aussprechen dürfen, daß Calvin in diesem Punkt von Cicero abhängig ist und seine Nebeneinanderstellung von droiture et equité diesem entnommen hat, ohne den Begriffsanarchismus, den sich Cicero in dieser Materie zuschulden kommen ließ, mitzumachen 219). In seinen „Leges” 220) faßt Cicero die rein naturrechtlich verstandenen Begriffe ius et equitas als Synonyma auf, und stellt ihren jeden Egoismusgedanken


212) De rep. I,331e.
213) D 16,3,10,1
214) D 16,3,31,1; vgl. Rümelin, a.a.O. 27, Amn. 2.
215) De fin. 5,23,65: Quae animi affectio suum cuique tribuens . . iustitia dicitur: andere Stellen bei Voigt, a.a.O. 190,207.
216) De off. II,22.78ff: Aequitatem, quae tollitur omnis, si habere suum cuique non licet.
217) 26,335: II sera traitté quand aux biens, que nous ne devons estre larrons, que nous ne devons point dire faux temoignage entre nos prochains: cela se rapporte à la justice ou droiture. Or si nous voulons garder à chacun soin droict, nous ne ferrons nulle force, ni injure aux personnes; vgl. 26,267, die Nebeneinanderstellung: justice et droiture, justice et equité.
218) 38,53: Iustitia . . non est rependere cuique iustam mercedem, sed latius extenditur, quando quidam accipitur pro fide. Es handelt sich allerdings um die göttliche Gerechtigkeit, die aber als Vorbild der menschlichen hingestellt wird. 38,229 nec enim iustum intelligit quod iustam cuique mercedem reddat, sed quod optimus sit suorum custos et erga eos beneficus, quod piis omnibus fidem praestet ac servet promissa, cum eos eripit nec tantem opprimi sinit.
219) Vgl. dazu Voigt a.a.O., S. 40ff.
220) I,18,48.

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ausschließenden Inhalt, mit demjenigen der iustitia, benignitas und liberalitas zusammen 221). Wenn überdies Cicero an anderen Stellen die Gerechtigkeit und Wohltätigkeit als die die Gemeinschaft erhaltenden, die Weltliebe in sich einschließenden Tugenden preist, denen dann die aequitas als Prinzip sich zugesellt 222), so ist dies in Einklang mit der calvinischen Anschauung, die die Tugenden: humanité et liberalité gerade mit der „heidnischen” Weltliebe in Zusammenhang bringt 223). Indem Calvin daher den Inhalt der christlichen Nächstenliebe mit der equité naturelle, der regula iuris naturalis zusammenfaßt, so wird er hauptsächlich an die Antike gedacht haben, die übrigens die Zusammengehörigkeit der aequitas mit dem ius naturale ausführlich begründet und dieses Verhältnis auf einen prägnanten, auch bei Calvin vorkommenden Ausdruck: naturalis aequitas gebracht hat 224). In der Verbindung der natürlichen Forderungen mit den Geboten der christlichen Nächstenliebe kommt wiederum der humanistische Einschlag der calvinischen Ethik zum Vorschein, der umso bemerkenswerter ist, als selbst das humanistische Oberhaupt des französischen christlichen Humanismus, Budé, diese Synthese nicht zu vollziehen wagt und die Forderungen des Evangeliums bezw. der Bergpredigt von den Inhalten des Natur- und Völkerrechtes streng scheidet 225).


221) Ib. Etenim omnes viri boni ipsam aequitatem et ius ipsum amant . . per se ius est expetendum et colendum. Quod si ius, etiam iustitia . . ut enim quisque maxime ad suum commodum refert, quaecumque agit, ita minime est vir bonus . . ubi enim beneficus, si nemo ulterius causa benigne facit.
222) Voigt, 190, 207.
223) Op. 27,330ff. Vgl. namentlich 330: Car soit en prestant, soit en donnant, il n’y a point de liberalité le plus souvent aux hommes; mais chacun regardera à son profit — Daß auch die römische Jurisprudenz die iustitia und aequitas mit der humanitas zusammenstellt, dazu vergl. Voigt, a.a.O. 362, 491, Rümelin, S. 27ff.
224) Voigt, 364ff, 451.
225) Opera omnia 1557, S. 142: Illud vero vehementer incommodum accidit philosophari hac via auspicantibus, idque vicio iuris gentium evenit quod pene iuris naturalis vim obtinuit ante servatoris adventum, nec magnopere postea exolevit. Nam cum in artibus ac disciplinis humanis, inter enuntiata rata atque confessa censeantur ea quae αὐτόπιστα dicuntur, id est primae et communes animi notiones, mentibus humanis suapte evidentia anticipatae: e contrario cum philosophiae tum vero Christianismi praecipua dictata, sensui communi sunt paradoxa, prudentiae eo amplius urbanae a primoribusque cultae omnino antidoxa: cuiusmodi illa sunt apophthegmata, ex ipsius evangelii et servatoris doctrina oriunda, et sapientia coelesti. Es folgen dann die einzelnen christlichen von der Antike abweichenden Grundsätze: vgl. auch ib. 111.

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Indessen der Einfluß der Antike reicht bei Calvin noch tiefer, tief bis in die letzten Grundlagen seiner organischen Lebens- und Weltauffassung hinein. Die harmonische Verbindung von Rechten und Pflichten ist nämlich die Voraussetzung für die Bildung und Aufrechterhaltung jedes Organismus. Wer sich in falscher Erhabenheit und satter Selbstgenügsamkeit von den anderen trennt, der versündigt sich gegen die mit dem natürlichen Band zusammengefügte Menschheit und das ihr eingeprägte göttliche Ebenbild, und zerstört damit die Naturordnung, was ebenso revolutionär und verwerflich ist wie die Auflehnung eines Gliedes gegen den ganzen Körper 226). Das alles sind christliche Kerngedanken, aber, wie Calvin sofort einschärft, auch den „Heiden” bekannt 227). Zweifellos denkt Calvin in erster Linie an die stoische Idee eines großen Menschheitsverbandes, einer societas generis humani (societas hominum), eine organische, die ganze Menschheit umfassende Einheit, wie sie ihm namentlich bei Cicero begegnet war. Man braucht nur die oben angeführten Stellen mit einer einzigen, aber charakteristischen Ciceros, de off. III,5, 24 zu vergleichen, um die auffallende Aehnlichkeit sofort festzustellen: detrahere igitur aliquid alteri, et hominem hominis incommodo suum augere commodum, magis est contra naturam quam mors . . quam cetera quae possunt aut corpori accidere aut rebus externis. Nam principio tollit convictum humanum et societatem. Si enim sie erimus affecti, ut propter suum quisque emolumentum spoliet aut violet alterum,


226) Vgl. besonders 27,329 und 53,160, 27,328: Lien de nature qui est commun en tout le genre humain, 54,559: il faut que nous cognoissons qu’il y a comme un lien naturel qui nous oblige tellement que je ne puis alleguer, que ce ne dov rien à cestuy-ci ou à cestuy-là: car, il faudroit que il me separasse de la compagnie des hommes. 51,765: Dieu nous a creez et nous nourrit aussi à telle condition que nous soyons comme une masse. Car s’il y a plusieurs doigts en un Corps humain, s’il y a plusieurs nerfs, cela ne fait pas que tous ne soyent un, et qu’un membre s’empesche de secourir à l’autre comme à soy-mesme. Car c’est contre nature que le corps se bande et qu’il veuille faire un division. 26,10: S’il est question qu’un chacun aide à son prochain, qu’on s’abstienne de mal et de nuissance, il faut que les hommes pensent que le Dieu les a unis, et qu’il les a creez à son image.
227) 26,9: les Payens ont bien connu cela (das heißt den Gedanken, daß alle Menschen das Ebenbild Gottes tragen und daß ein Gemeinschaftsband über ihnen besteht).

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disrumpi necesse est eam, quae maxime est secundum naturam humani generis societatem. Ut si unum quidque membrum sensum hunc haberet ut posse putare se valere, si proximi membri valetudinem ad se traduxisset, debilitari et interire totum corpus necesse esset: sic si unus quisque nostrum ad se rapiat commoda aliorum detrahatque, quod cuique possit, emolumenti sui gratia, societas hominum et communitas evertatur necesse est. Nach Cicero und Calvin ist also die Betätigung des Naturrechts nach dem diesem immanenten Grundsatz der Billigkeit der bewirkende und tragende Grund der Organismus und der Organismus der Zweckursache des ganzen sittlichen und sozialen Strebens. Ein Gedanke, der für die Staatslehre Calvins von großer Bedeutung ist. Denn die Voraussetzungen, die hier Calvin für die Entstehung des großen Weltorganismus angibt, gelten auch vom Staat. Calvin ist aber nicht der einzige unter den Reformatoren, der diese Gedanken im Anschluß an die Antike entwickelt. Nach Melanchthon ist die leitende Idee der naturrechtlichen, auf die zweite Tafel sich beziehenden Bestimmungen, die Lebensgemeinschaft 228), die Voraussetzung des öffentlichen Friedens. Auch in der Bestimmung der die Individuen mit ihren Rechten und Pflichten zusammenfassenden Einheit lehnen sich beide Reformatoren an Cicero an.

 

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Da ergeht an die Menschen die Forderung, die Menschlichkeit und Brüderlichkeit, entsprechend dem Prinzip der droiture et equité, zu pflegen 229). Denn die Menschheit ist nicht bloß natürlich gegeben, sondern naturrechtlich und sittlich aufgegeben. Gott ist


228) CR 21,119: Quia nascimur in quandam communem vitae societatem neminem laede, sed officiis quosvis iuvato. Si fieri nequit, ut prorsus nemo laedatur, hoc agatur, ut paucissimi laedantur, sublatis iis qui publicam quietem interturbant . . ceterum per contractus alii aliorum in opiam sublevent . . res dividunto propter publicam pacem.
229) 27,328: il faut donc que nous gardions equité et droicture envers tous hommes, car là nous contemplons nostre nature.

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nicht bloß Schöpfer, sondern auch Vater der Menschheit 230). Da die Menschheit eine organische Gemeinschaft ist, so ist sie ein Material der Menschlichkeit, der Humanität 231).

Aber dieses höchstwertige Ziel, die Förderung der Menschen und Friedensgemeinschaft bleibt doch ein Ideal, wenn die tatsächliche Verwirklichung der naturrechtlichen Forderung ins Auge gefaßt wird. Schon die antike Begründung, daß die harmonische Lebensgemeinschaft unter den Menschen erstrebt werden soll, da alle Menschen als vernunftbegabte Wesen Söhne Gottes sind 232), trifft, so erhaben sie auch ist, in Wirklichkeit nicht zu. Denn auf der Menschheit lastet die Sündennot, die das Ebenbild Gottes nur schwerlich durchschimmern läßt. Daher kann der Ehrenname „Söhne Gottes” im Grunde nur den mit der erleuchteten Vernunft, Gerechtigkeit und Heiligkeit, mit dem Adoptionsgeist ausgestatteten Gläubigen beigelegt werden; infolgedessen kann die spezielle Bruderliebe eigentlich nur in der Christusgemeinschaft, die deswegen unendlich höher steht als die natürlichen Menschheitsbande, sich auswirken 233). Zwar hat die Antike in ihrer allgemeinen Welt- und Menschheitsliebe verschiedene Stufen der natürlichen Liebesgemeinschaft unterschieden; 234) zu der Höhe der christlichen Liebes- und Lebensauffassung hatte sie sich aber nicht aufschwingen können, da sie im Rahmen des philosophischen Lebens bleibt und das höchste Ziel, den Ruhm Gottes, nicht kennt 235).

Trotzdem muß die Forderung der Humanität zur Festigung der Menschen- und Friedensgemeinschaft aufrechterhalten bleiben und gerade die Christen verpflichten,


230) Ib. 479ff.
231) 26,23; 27,330. 333; 51,760. 765; 27,479.
232) VgL Cicero, De leg. I,7,23: Est igitur, quoniam nihil est ratione melius eaque et in nomine et in Deo, prima hominum cum deo rationis societas.
233) 27,328: mais cependant les domestiques de la foy sont unis d’un lien plus prochain avec nous, c’est donc bien raison que nous leurs portions une fraternité speciale. 26,331: plus sacré que ce lien de nature.
234) Vgl. die verschiedenen Stufen bei Cicero, de off. I,17,53ff.
235) 26,393: Que nous ne menions point une vie philosophique comme des Payens, pour vivre honestement avec les hommes: mais que l’honneur de Dieu surtout nous soit recommandé et que nous commencions sur tout par ce bout-la.

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umso mehr als die anderen sich stolz von dem Ganzen trennen wollen (27,479ff). Die Spannung zwischen dem Ideal und der rauhen Wirklichkeit kann allerdings nicht übersehen werden. Im Gegenteil, die durch die Sünde verursachte Verwirrung sittlicher Begriffe und die daraus sich ergebende Unsicherheit sittlicher Haltung, die Unmöglichkeit, den vernünftigen Regeln des Rechtes und der Billigkeit zu folgen, läßt den Abstand des ursprünglichen sinnlosen Zustandes von dem der gegenwärtigen Wirklichkeit in umso grellerem Licht erscheinen. Wären die Menschen in ihrem ursprünglichen Zustand geblieben, so wären sie nur der Herrschaft der Vernunft unterworfen gewesen, ein Verhältnis, dem jede sklavische Form der Heteronomie gefehlt hätte. In diesem Zustand hätte man keine Gesetze, keine Schwertgewalt gebraucht. Jeder hätte das Gesetz, den Ausdruck der Vernunft und des göttlichen Willens, in sich getragen; jedermann hätte dann in Freiheit über sich selbst und Gott über alle geherrscht. Der mit dem Gesetz Gottes freiwillig übereinstimmende Wille, die harmonische Verbindung der Theonomie und Autonomie, hätte eine wunderbare Herrschaftsform hervorgebracht, die viel herrlicher gewesen wäre als alle Herrschaftsformen der Welt 236). Durch die Sünde ist ein ganz


236) Op. 35,417ff./170; 27,409: Si les hommes estoyent demeurez en leur intégrité, ils seroyent suiets à raison, non point par une forme de servitude, mais chacun domineroit tellement sur soy, que Dieu regneroit pour tout: il ne faudroit point alors ne de loix, ne de justice, ne de glaive pour l’executer quand les hommes s’adonnent à mal: il ne faudroit rien de tout cela: car chacun seroit pour soy et loy et raison, chacun auroit la volonté de Dieu imprimée en son coeur. Et une telle suiettion ainsi-volontaire, seroit plus noble et plus excellente, que tous les empires du monde. Si nous estions demeurez en integrité de nature, telle que Dieu avoit creee: l’ordre de iustice, qu’on appelle, ne seroit point tant requis: d’autant qu’un chacun porteroit la Loy en son coeur, tellement qu’il ne faudroit nulle contrainte pour nous ranger: chacun sauroit la regle, et d’un accord nous suyvrions ce qui seroit bon et iuste. Si cela estoit, il est certain qu’on verroit l’equité et la droiture regner entre les des hommes et ne faudroit point tant de loix, ne tant de iustices . . car chacun seroit son maistre et docteur, chacun auroit une iustice enclose en soi, tellement qu’il ne seroit la besoin qu’on vinst devant le juge, il ne faudroit ne sergens, ni advocats, ne procez. — Derselbe Gedanke findet sich auch bei Luther E.A. 22,60: Wenn alle Welt rechte Christen wären, so wäre kein König Schwert noch Recht noth oder nütz. Denn wozu solts ihn? dieweil sie den heiligen Geist im Herzen haben, der sie lehret und macht daß sie niemand unrecht tun . . darumb ist unmöglich, daß unter den Christen sollte weltlich Schwert und Recht zu schaffen finden; sintemal sie viel mehr tun von ihn selbst denn alle Recht und Lehre fordern mugen.

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anderer Zustand eingetreten. Statt der freiwilligen Unterwerfung unter das immanente Gesetz eine sklavische Unterordnung unter das selbstherrliche System der Sünde, die Herrschaft der die Menschen unter ihre Autorität beugenden Gesetze 237). So sind die Gesetze und die ganze irdische Gewaltherrschaft ein Spiegel unserer Verkehrtheit; die Prinzipien der Vernunft und der Billigkeit müssen durch den Zwang verwirklicht werden 238).

Am ursprünglichen Ideal gemessen, sind die Zwangsinstitutionen, vor allem der Staat, sichtbare Zeichen des Abfalls und Zerfalls des menschlichen Geschlechts. An ihrem Zweck gemessen, sind sie notwendige, überaus wertvolle, durch Gottes Güte geschaffene Heilmittel zur Erhaltung des Menschengeschlechtes und zum Schutz der menschlichen Gesellschaft 239). Der immer wiederkehrende Satz, daß der Staat, der als Schöpferordnung und göttliche Setzung das größte leistet, was dieses der vollen Entfaltung des Reiches Gottes entgegenharrende Leben (vie transitoire) aufweist, den Bestand des menschlichen Geschlechtes und der menschlichen Gesellschaft zu schützen und zu sichern hat 240), ist aus dem Gegensatz verständlich, in dem sich Calvin zu den anarchistischen Schwärmern befand. Er sah in ihren spiritualistisch gefärbten Schlagworten keine bloßen Ideologien, nicht einen „unpraktischen und phantastischen Unsinn” 241), sondern aus dem Anarchismus des Geistes stieg vor seinen Augen


237) 53,418: mais d’autant que nous sommes corrompus, il faut que nous soyons tenus en servitude: car en cela Dieu nous monstre que nous ne sommes pas capables de nous gouverner . . Et . . il y aura les lois et la police qui tiendront les hommes sous le ioug.
238) 27,409: Toutes fois et quantes qu’on parle de la police terrienne, cognoissons, que là nous avons un miroir de nostre perversité: d’autant qu’il faut que par force nous soyons amenez à suyvre equité et raison.
239) 27,409: nous sommes bien admoenestez . . de nous humblier, voyons que nos vices requierent une telle medicine. Mais tant y a que nous devons magnifier la bonté de Dieu, de ce qu’encores il a voulu provois à ce que tout n’allast point en confusion . . Cognoissons donc une bonté admirable de nostre Dieu . . cognoissant que c’est un don singulier de Dieu, et un moyen de conserver le genre humain.
240) 49,249: ius imperii in humani generis salutem a Deo ordinatum est. 25,266ff: proinde quum magistratus ac principes Deus ad conservationem humani generis creaverit. Ib. 426: Ordinati ad humani generis conservationem. 26,313: Conserver le genre humain; 49,250: ad tuendam hominum societatem . . unicum remedium quo ab interitu vindicetur humanum genus.

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der Anarchismus der Tat empor. In das Mäntelchen der Spiritualität hüllt sich bei den Täufern die alles verwirrende und zerstörende Tierheit und Dämonie 242). Die anarchistische Zerstörungswut kann nur der Staat als Träger der Schwertgewalt abwehren; sie läßt sich nicht durch Liebesgesinnung so verschwindend kleiner Zahl der Frommen beseitigen 243). Nur eine starke, im Rahmen der Gesetze allmächtige Staatsgewalt bietet die Bürgschaft für die Erhaltung der menschlichen Gesellschaft 244).

Man sieht: das Naturrecht des Urstands oder, wie man es gewöhnlich bezeichnet, das absolute Naturrecht bleibt ein Ideal, das sich in der rauhen Wirklichkeit der Gegenwart nicht durchsetzen kann. Wenn statt der Freiheitsgesetze des Urstandes die Zwangsbestimmungen und Sanktionen herrschen, so ist damit die Verbindung zwischen der Idee und der Wirklichkeit noch nicht zerrissen. In den Gesetzen, die die Obrigkeit zur Aufrechterhaltung des Staatsbestandes und der Gesellschaft erläßt, ist die unveräußerliche Idee der Billigkeit enthalten 245). Der Zweck des Staates, den Bestand des Menschengeschlechtes zu sichern, entspricht ferner dem natürlich dem Menschen eingegeben, durch die Sünde nicht ausgerotteten Trieb nach Gesellschaft, nach ihrer Förderung und Erhaltung. Die Notwendigkeit der Gesetze als Mittel des Zusammenseins und der Ordnung wird nicht erst durch eine positive Menschenordnung oder die Lehre des Gesetzes dem Einzelnen eingeschärft 246). Die Hervorhebung des gesellschaftlichen Urtriebes richtet sich gegen die Lehre von der Urhaftigkeit der egoistischen Selbsterhaltungstriebe,


241) Gegen Troeltsch, Soziall. 660.
242) 36,83: Fanatici homines, qui ius gladii omnemque politiam et ordlnem exterminare conantur sind Feinde des menschlichen Geschlechtes; 53,133: Sous ombre de Chrestienté ils taschoyent d’abolir tout ordre qu’il n’y est plus de police en ce monde; sie sind diables qui eussent voulu pervertir toute humanité et mettre une teile confusion et si horrible, qu’il vaudroit mieux que les homines devenus bestes brutes. 2,1096: excipiunt qui anarchiam inducere cuperent . . in quo non suam modo inscitiam sed diabolicum fastum produnt, dum perfectionem sibi arrogant cuius ne centesima quidem pars in illis conspicitur. Dasselbe 49,248ff
243) 43,348.
244) 31,452.
245) Siehe unten die 2. Abhandlung.
246) 2,197.

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wie diese bereits von den Epikuräern und Cyrenaikern verkündigt worden war 247). Dagegen wird die Behauptung von Aristoteles, daß der Staat aus dem natürlichen gesellschaftlichen Urtrieb entstanden sei, von Calvin zwar nicht direkt, aber indirekt abgelehnt. Die Annahme Calvins, daß der israelitische Staat aus der Familie entstanden ist 248), besagt noch nicht, daß der Ursprung des Staates in dem Gesellschaftstrieb als solchem verwurzelt ist, vielmehr muß der Ursprung des Staates, wie aller innerweltlichen Ordnungen, direkt auf die Setzung Gottes zurückgeführt werden. Nicht bloß sein Dasein, sondern auch sein Sosein, ja sogar seine entarteten Formen sind gottgewollt. Es läßt sich nicht feststellen, warum zu gewissen Zeiten und an gewissen Orten gerade diese Staatsformen auftauchen, wie es auch unverständlich bleibt, warum plötzlich ausgebrochene Revolutionen die Gestalt der Welt verändern 249). Dem rationalen Zweck des Staates, die Gesellschaft zu schützen, wird also der irrationale Grund, die göttliche Setzung, gegenübergestellt. Damit wendet sich Calvin offenbar gegen eine auf Aristoteles zurückgehende Richtung in der mittelalterlichen Staatsphilosophie, die als die causa impulsiva oder remota die Natur, die Quelle des im Menschen wirksamen Bedürfnisses und Triebes zum geselligen Leben betrachtet, während sie die staatliche Vereinigung selbst auf die freie und vernünftige Tat des Menschen zurückführt 250). — Der Stagirite hat bekanntlich seine Theorie in den Satz verdichtet, daß der Schöpfer des ersten Staates als Urheber der höchsten Güter angesehen werden muß. Wohl kann Calvin eine Strecke mit den „Staatsphilosophen” zusammengehen, entsprechend seinem uns bereits bekannten Prinzip, daß die Staatsphilosophen am Aufbau


247) Bereits in seinem Senecakommentar (5,40) bezieht sich Calvin ausdrücklich auf den grundlegenden klassischen Satz des Aristoteles im 3. Buch der Politik (12,78b, 17-22; vgl. 12,25b). Die im Kommentar herangezogenen Stellen aus Cicero (De officiis II, De finibus II) aus Platos Schrift an Archytas und aus Senecas 7. Buch De beneficiis und Epistolae morales VI, 48 (bei Teubner V, 4, cap. 7) sind direkt gegen die Epikuräer und Cyrenaiker gerichtet.
248) 29,242.
249) 2,1114; 38,544; 23,197; 53,547ff; 55,244: 49,294; 40,575ff; 35,268.
250) Gierke, Althusius 95; Genossenschaftsrecht III, 629.

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des Staates mitarbeiten sollen. Diese fassen „sehr geistvoll alles zusammen, was zweckdienlich erscheint; sie zeigen sehr scharfsinnig die Ursachen und Gründe, die bei der Errichtung eines Staatswesens in Betracht kommen; sie legen die Fehler bloß, die den Ordnungsstand eines Staates verderben und tragen alles in diesem Punkt Wissensnotwendige zusammen” 251). In der Hauptsache trennen sich aber die Wege. Die Philosophen vergessen, daß auch ihre genialen Fündlein doch Wirkungen der allgemeinen Gnade sind, die ihnen diese Fähigkeiten verliehen hatte, daß die Staatsmänner nur Organe in der Hand Gottes sind, und die Bedingungen eines glücklichen Zustandes und das Geheimnis des Erfolges in Gott allein ruhen. Die durchaus irdisch (in terra reptare) orientierte der Lehre des hl. Geistes widersprechende Staatsphilosophie greift in die himmlischen Rechte des souveränen Gottes ein, indem sie stolz alle Errungenschaften nur sich selbst und ihrer eigenen Kraft zuschreibt 252). Die Ausführungen Calvins stehen mit der bereits erwähnten Betonung der natürlich fundierten besonderen Gaben der Gesetzgeber und Staatsphilosophen nicht im Widerspruch. Sie wollen letztere nicht leugnen, nur die stolzen Folgerungen hinsichtlich des Ursprungs und der eigentlichen ersten bewirkenden Ursache tadeln. Die Betonung der göttlichen Urkausalität wird auch dazu beigetragen haben, daß Calvin den naturrechtlichen Ursprung des Staates im Sinne von Aristoteles wenigstens indirekt ablehnt. Seine Anschauung würde sich also nicht weit von derjenigen einiger mittelalterlichen Publizisten entfernen, die den irrationalen Grund mit dem rationalen zu vereinigen suchten, indem sie in Gott die irrationale causa remota des rational gedachten Gesellschaftstriebes als nächster immanenten Ursache des Staatswesens erblickten 253).


251) 32,322.
252) Ib. Ut laus omnis prosperi successus penes unum Deum maneat; 33,733: II est vray, qu'il y aura les ordonnances et polices humaines, auxquelles il se laut assuiettir: mais encore le tout se rapporte à luy, et en depend. — In dieser kräftigen Betonung der bewirkenden Kausalität Gottes im Staatswesen stimmt Calvin mit Luther überein. Vgl. E.A. 20,48-109, namentlich 48,60, 66ff und W.A. 19,262.
253) Gierke, Althusius 63; Genossenschaftsrecht III, S. 629.

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Demnach sind bei der Entstehung des Staates drei Ursachen zu unterscheiden: die veranlassende: die menschliche Sünde; die bewirkende: die göttliche Güte und die Zweckursache: die Erhaltung des menschlichen Geschlechtes. Selbstverständlich ist die Unterscheidung nur eine begriffliche; in der Tat wirken ja alle diese Ursachen zusammen. Dies muß im Auge behalten werden, da, sobald eine von diesen Ursachen zu der beherrschenden gemacht wird, die calvinische Bewertung des Staates leicht in ein schiefes Licht gerückt werden kann. Das ist der Fall bei der Annahme, daß die Bedingungen des Sündenstandes bei Calvin nur gelegentlich, nie im Prinzip herangezogen werden 254). Es ist richtig, daß der Staat an den Hauptstellen nie als bloßes Gegengewicht des Sündenstandes erscheint, sondern immer zugleich als heilige und gute Ordnung unmittelbar auf Gott zurückgeführt wird. Nur darf man sich die Sache nicht so vorstellen, daß der Staat als eine heilige und gute Ordnung und der Staat als Gegengewicht des Sündenstandes zwei verschiedene Wertbegriffe seien, wie Troeltsch anzunehmen scheint, der infolgedessen die nach seiner Meinung von Calvin bevorzugte Wertschätzung des Staates als heilige Ordnung der augustinischen und lutherischen Bewertung gegenüberstellt 255). Die oben angeführten Stellen beweisen ja zur Genüge, daß der Staat gerade in seiner Eigenschaft als Heilmittel gegen das Böse eine gottgewollte, heilige Ordnung ist. Auch in der Institutio wird das Sündenmoment vorausgesetzt, wo die negative, das Böse abwehrende Tätigkeit des Staates geschildert wird (2,1097, 1099ff). Troeltsch könnte sich allerdings auf eine wichtige, von ihm übrigens gar nicht beachtete Stelle Inst. IV,22,4 (2,1095) berufen, die die Ableitung des Staates aus der menschlichen Verderbtheit direkt abzulehnen scheint: Eodem (auf die Beglaubigung der obrigkeitlichen Würde durch die göttliche Autorität) pertinent quod sapientia Dei per os Salomonis (Prov. 8, 14) affirmat suum esse opus, quod reges regnant et consiliarii decernunt iusta; quod principes principatum gerunt, et


254) Troeltsch, Soziall. 661ff.
255) „Eine schroffe Aeußerung über den Staat im augustinischen und lutherischen Sinn sucht man bei Calvin vergeblich” Ib. Anm. 350.

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munifici omnes iudices terrae. Perinde enim istud valet ac si dictum esset, non humana perversitate fieri ut penes reges et praefectos alios sit in terris omnium arbitrium, sed divina providentia et sancta ordinatione, cui sic visum est res hominum moderari 256). Wir dürfen aber nicht vergessen, daß diese Auslassung sich gegen die täuferische Anschauung über den Ursprung des Staates richtet. Die Täufer haben nämlich in den die vollkommenen Christenmenschen nichts angehenden Geschäften des Staates eine Stütze ihrer Auffassung gesehen, wonach der Staat seinen Ursprung nur der Unwissenheit und Unvollkommenheit der Menschen verdanke; sie haben darum die bewirkende Ursache, die göttliche Setzung bei der Entstehung des Staates, ausgeschaltet. Bedeutet demnach die kräftige Betonung der göttlichen Ursächlichkeit keineswegs die Verneinung der menschlichen Verkehrtheit, sondern die Ablehnung der aus dieser gezogenen falschen Folgerung hinsichtlich der wahren bewirkenden Ursache, so darf aus der Wertbestimmung des Staates als einer guten, heiligen Ordnung nicht der Schluß gezogen werden, daß für Calvin die Tätigkeiten des Staates nur nach ihrer positiven rationalen, Gesellschaft und Kirche fördernden Seite in Betracht kommen. Calvin würde sich sicherlich dagegen verwahren, daß die Tätigkeit des Staates nur nach ihrer positiven, rationellen, Gesellschaft und Kirche fördernden Seite in Betracht kommt. Die auf den Schutz der beiden Tafeln, der religiösen und sittlichen Belange, sich erstreckende Tätigkeit des Staates ist selbstverständlich eine positive. Die Aufrechterhaltung des reinen Gottesdienstes, der reinen Lehre und des Bestandes der Kirche geschieht aber nicht ohne die Abwehr der religiösen Auswirkungen der Sünde: des Götzendienstes und der Gotteslästerung (idololatria, sacrilegia, blasphemiae, religionis offensiones). Ebenfalls hat die Förderung des allgemeinen Friedens, die Aufrechterhaltung der Gemeinschaft der Einzelnen untereinander und die Hochhaltung der öffentlichen


256) Dasselbe 49,250: Ergo hic docet (Paulus) in quem finem instituti sint a domine magistratus: cuius etiam effectus semper exstaret nisi culpa nostra corrumpentur tam praeclara et salubris institutio.

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Ehrbarkeit ihr negatives Gegenstück in der Ahndung des den Kindern, Witwen, Unschuldigen und Fremden angetanen Unrechtes 257). Mit dieser Verbindung der positiv aufbauenden und fördernden, mit der negativen, das Böse niederhaltenden Tätigkeit sieht Calvin die ordnende Aufgabe des Staates und rückt damit entschieden in die Nähe Luthers 258).

 

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Der Zusammenhang zwischen der Idee und dem tatsächlichen Zustand kommt des weiteren auch darin zur Erscheinung, daß der Staat die naturrechtlich verankerten sittlichen Belange, die Billigkeit und Humanität und ihre religiösen Wurzeln, die Frömmigkeit und die reine Lehre schützt 259). Aus der wohlgeordneten Herrschaft fließt, wie Calvin nach 1. Tim. 2, 2 schließt, das harmonische friedliche Zusammenleben, die ungehinderte Betätigung der Frömmigkeit und die im Zeichen der Humanität stehende öffentliche Ehrenhaftigkeit 260). Diese drei hervorstechenden Merkmale sind nach Calvins Ansicht freilich nur eine kurze Zusammenfassung der vom Staate zu schützenden Güter und könnten „erweitert” werden 261). Diese „Erweiterung” besteht, wie wir bereits wissen, in


257) 2,1094, 1099ff.
258) Die beliebte, auch von Troeltsch befolgte Methode, die Staatsauffassung Luthers nur nach seiner mönchisch-augustinischen Einstellung zu beurteilen, sollte endgültig fallen gelassen werden. Zwar hat der Augustinismus auch in der Staatslehre Luthers seine Spuren hinterlassen. Den Satz: Das weltliche Regiment ist das unterste und geringste Regiment Gottes (W.A. 23,514) würde man sicherlich nicht bei Calvin finden (vgl. Op. 31,768ff). Wenn in der Begründung seiner These Luther die negativen Tätigkeiten des Staates hervorhebt „er straft nur die Bösen und wehret den Unordigen”, so kommen fast um dieselbe Zeit (nach 1527) bei ihm Aussagen vor, die auf entschieden positive Tätigkeiten des Staates hinweisen. Die Obrigkeit ist „Hand, Rohre und Mittel, durch die Gott alle Güter uns vermittelt” (W.A. 30/1,136); die Fürsten sind der teuerste Schatz und das köstlichste Kleinod auf Erden (ib., 153), ja sogar Heilande (31/1,205) und fleischgewordene Götter (43,514). Es ist das allernötigste für die weltliche Obrigkeit und Regiment zu bitten, „durch welche uns Gott allermeist unser tägliches Brot und alle Gemächlichkeit dieses Lebens erhält, so besonders den Frieden und die Sicherheit (30/1,204; 36,429; 30/2,554). Der Herrscher soll vor allen Dingen Gottes Ehre schützen, handhaben und mit allem Ernst fördern (Enders, Luthers Briefwechsel 12,194).
259) Vgl. oben S. 44ff.
260) 52,667.
261) 53,130: il est vray que ceci se pourroit deduire plus au long.

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dem Schutz der natürlichen Freiheitsrechte. Gott hat den Obrigkeiten die Zwangsgewalt anvertraut, damit sie die Freiheitsrechte jedes Einzelnen schützen und ihre freie Ausübung verbürgen 262). Dies geschieht durch die Gesetze, die, um ihre Aufgabe erfüllen zu können, fest und dauerhaft sein müssen 263). Durch den Schutz der Gesetze und Obrigkeit werden die subjektiven Rechte der Einzelnen zu subjektiv-öffentlichen Rechten erhoben. So ist die Freiheit der Zweck des Zwanges, der Rechtszwang der Gesetze will die Freiheit und den Frieden wahren 264). Aber auch umgekehrt. Indem der Einzelne sein Recht verteidigt, verteidigt er damit das Recht der Allgemeinheit, das objektive Recht, das „bonum publicum” 265). Verteidigt er aber sein Recht, so versündigt er sich nicht gegen die naturrechtlichen Regeln der Billigkeit und der Liebe, denn er strebt dadurch die Aufrechterhaltung der Ordnung an. Würden die Rechte der Einzelnen angetastet, so würde dadurch die Grundlage des Rechtes erschüttert, die Anarchie bevorzugt, der Friede gestört und damit die Liebe verletzt. Wer also sein Recht verteidigt, der verteidigt innerhalb des engen Raumes das Recht und damit zugleich die unerläßliche Ordnung der Gemeinschaft. Der Einzelne kann und soll sein Recht suchen, wo es für die Aufrechterhaltung des objektiven Rechtes notwendig oder wünschenswert erscheint, wo es um des Gesamtwohls willen, mithin aus Liebe geschieht 266).

Somit verfolgt der auf sein subjektives Recht pochende Einzelne den Zweck, den auch der das subjektive Recht


262) 28,214: Dieu a voulu armer les magistrats pour maintenir le droit d’un chacun pour ne point souffrir que nul soit outragé en sa personne ou en ses biens.
263) 41,8: hoc quidem laude dignum est in legibus, nempe ut sancta sit illarum autoritas . . ut subinde variae feruntur leges necesse est multis afferri iniuriam: quia nulluni cuiusquam privati ius erit stabile nisi ubi lex perpetua . . Sic non potest vigere ulla aequitas, ubi mutatio in legibus tantum habet licentiae.
264) 2,1107: ut eius manu ac praesidiis adversus flagitiorum hominum et iniurjas defensi quietam et securam vitam agamus.
265) ib. 1108: perniciosi hominis conatus impedire, ne rei publjcae noceat.
266) 49, 252ff: Quum postulo ut principibus pareatis, non aliud requiro quam quod ex lege dilectionis debent praestare omnes fideles. Nam si bonis bene esse vultis (quodquidem nolle esset inhumanum) debetis studere ut leges et iudicia valeant, ut legum praesides populum habeant obsequentem, quorum beneficio tranquillitas omnibus constat. Ergo violat caritatem si quis ἀναρχίαν inducit, quam statim consequitur rerum omnium perturbatio.

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durchsetzende Staat vor Augen haben muß, nämlich die Erhaltung der Ordnung als Vorbedingung zur Aufrechterhaltung der menschlichen Gesellschaft. Das Recht steht nicht über der Ordnung, sondern diese über dem Recht. In dem Rechtsstreit um Mein und Dein, in dem das starke, für alle gleiche Recht angewandt wird 267), handelt es sich um die Aufrechterhaltung der Ordnung 268). Durch die richtige Verteilung von Strafe und Lohn wird nach Solons altem Spruch der Bestand des Staates gewahrt, durch das unrichtige Verfahren sinkt die ganze Disziplin des Staates in sich zusammen 269). Der zum Wohle der communitas angewandte rechtliche Zwang bezweckt die Ordnung und den damit bedingten Frieden und die Verhütung der Anarchie 270). Darum dienen die berechtigten Kriege (legitima bella) 271) der Wiederherstellung der Ordnung; durch sie werden die aufrührerischen auf die Zerstörung der Gesetzesdisziplin und des privaten und allgemeinen Friedens hinzielenden Bewegungen unterdrückt und die Unordnung (confusion) beseitigt 272). Die richtige Art der Kriegsführung besteht darin, daß der Einzelne sich mit seinem Willen in den Willen des Ganzen einfüge und nicht seine eigene, sondern die Bewegung des Ganzen vollziehe; sonst entsteht eine allgemeine Unordnung 273). Die Ordnung erstreckt sich auf alle sozialen und kulturellen Verhältnisse des Staates und darf von diesem nicht losgelöst werden 274). Selbst die Wissenschaften, die doctrinae liberales, sind Vorbedingungen für die Erhaltung der Ordnung. Diese Ueberzeugung hielt Calvin seinen humanistisch denkenden Zeitgenossen vor. Auf


267) 2,1099; 25,640.
268) 29,584: ne quam confusionem capere sinant potentioribus in alios saevientibus, sed suum cuique tribuatur.
269) 2,1100.
270) 2,260: haec coacta expressaque iustitia necessaria est publicae hominum communitati, cuius hic tranquillitas consulitur. dum cavetur ne omnia permisceantur tumultu, quod fieret si omnia omnibus licerent.
271) Calvin äußert sich über den Krieg verhältnismäßig seltener als Luther. Wie nach diesem, so ist auch nach Calvin nur der Verteidigungskrieg berechtigt; Jeder aus Geiz und Ehrgeiz vom Zaun gebrochene Krieg ist Verbrechen. 26,12; 27,609.
272) 2,1102ff; 26,12; 36,83: bellum per se damnandum non est: subsidium enim est conservandae rei publicae.
273) confusion generale 27,610ff; 23,675.
274) wie die modernen Theoretiker annehmen; so z.B. Wolzendorff („Der reine Staat”).

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den Vorwurf des Bischofs von St. L’Aigle (Aquitanus), durch die religiösen Streitigkeiten in Frankreich wären die schönen Wissenschaften zerstört und eine barbarische Unordnung eingeführt, wendet Calvin im Namen der Evangelischen ein, daß die Aufrechterhaltung der staatlichen Ordnung (ordinis et politiae) den Evangelischen sehr am Herzen liegt, daß die Sorge um die Wissenschaften ihn und die Seinen bewegt 275). Der Ordnungsbegriff beherrscht das Denken des Reformators so sehr, daß er unter der „ordinatio” (Uebersetzung des neutestamentlichen diatage Röm. 13, v. 2) nicht bloß politischen Stand (ordo politicus) sondern Ordnungszustand (im Unterschied von der ἀταξία) verstehen will 276). Ohne Ordnung ist auch der Friede ein Unding; denn dann sind die Menschen in ihrer natürlichen Unduldsamkeit viel schlimmer als die Tiere, die sich in den Wäldern noch verhältnismäßig gut vertragen 277). Uebt der Staat seine ordnende Tätigkeit nicht energisch genug aus, duldet er, daß die Häretiker die Einheit des Glaubens zerstören, die Kirche verwirren und darum Gott den Ruhm rauben, so entsteht eine „verworrene Mischung” 278). Läßt der Staat die Meinung aufkommen, daß das wahre Leben nicht mehr ist denn Essen und Trinken, läßt er es zu, daß die Unsittlichkeit in Wort und Tat sich breit mache und die dagegen ergriffenen Maßnahmen mißachtet oder sogar verspottet werden, dann ist es besser, daß die Menschheit untergeht, statt in einer totalen Konfusion (confusion par tout, toute dissolution) 279) erhalten zu bleiben.

Es ist direkt ein Pathos der Ordnung, daß Calvin bei der Regelung der Lebensverhältnisse beseelt und ihn zu gesteigerter Aktivität drängt. Auch bei Luther spielt der Ordnungsgedanke eine große Rolle, namentlich in der Zeit seiner Kämpfe mit den „Schleichern und Winkelpredigern”. Luther will aber die Einführung bezw. Wiederherstellung geordneter Zustände nicht selbst in die Hand


275) 8,81; vgl. auch 49,325.
276) 45,249.
277) 53,134.
278) ib. 140ff.
279) ib. 143ff.

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nehmen. Es leitet ihn dabei sein unverwüstlicher Optimismus, sein Glaube, daß Gott überall, wo der kirchliche und gesellschaftliche Organismus gestört wird, die Ordnung ersetzen will. Sein Vorsehungsglaube und Pflicht bewußtsein geben ihm den Mut, die Entwickelung der Dinge dem lebendigen Gott, und die Wiederherstellung der Ordnung dem Zucht- und Strafverfahren der Obrigkeit zu überlassen. Anders Calvin. Zwar ist sein Vertrauen auf Gott und die von ihm eingesetzte Obrigkeit als Sachwalterin der Ordnung ebenso ausgeprägt wie bei Luther; er revolutioniert aber nicht bloß mit einem heiligen Fanatismus alle Kräfte für rücksichtslose Durchsetzung der Ordnung auf allen Gebieten, sondern er nimmt die Regelung oft selbst in die Hand. Während Luther groß ist in dem Glauben an sein Ideal, groß in seiner Bescheidenheit und Schüchternheit, liegt Calvins Stärke in dem Versuch, die Wirklichkeit möglichst bald dem Ideal näherzubringen. Gott tritt in die Mitte und will, sofern er Urheber seiner Ordnung ist, daß wir in ihr seine Gegenwart erkennen 280).

Trotzdem würde Calvin, der Ordnungsmensch höheren Ranges sein Pathos nicht auswirken lassen, wenn er nicht überzeugt wäre, daß der Ordnungsgedanke allen Menschen von Natur eingegeben ist 281). Daß der Ordnungssinn sich nicht überall betätigt, liegt wieder an der Macht der durch die Sünde immer wieder sich entfesselnden Leidenschaften, die nicht bloß das persönliche- und gesellschaftliche Leben verwirren, sondern auch die große Weltharmonie stören 282). Und doch bricht aus allen Hemmungen der Ordnungssinn hervor, der als Rechtssinn oder Rechtsgefühl gegen die Verletzungen der Grundsätze der Humanität, Billigkeit und Gerechtigkeit reagiert, da solche Störungen


280) Op. 2,778.
281) 2,197ff: civilis ordinis universales impressiones inesse omnium hominum animis.
282) 37,635: Turbamus et coelum et terram nostris peccatis. Nam si essemus rite compositi in Dei obsequio, certe omnia elementa nobis accinerent atque ita cerneremus in mundo quasi angelicam melodiam. Sed quia tumultuantur nostrae cupiditates adversus Deum . . necesse est ut rursum et deorsum omnia turbentur . . ergo et imputanda haec intemperies omnium elementorum nostris peccatis.
283) wie oben ausgeführt.

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den Bestand des Ganzen bedrohen und unterwühlen 283), den Bestand des Ganzen bedrohenden Wurzeln sieht 283). Der Ordnungsbegriff ist bei Calvin geradeso wie das Rechtsgefühl ästhetisch gefärbt; der Ordnungstrieb ist ein Lustgefühl der harmonischen Einheit. Wie es in dem Makrokosmos eine geschlossene, harmonische, symmetrische Einheit in der Mannigfaltigkeit der eigenartigen Einzeldinge (Symmetrie, Proportion, convenance et temperature, fermeté, varieté) 284), einen wunderbaren Zusammenhang der Grundbestandteile (pulcherrima elementorum compositio) gibt — zweifellos ein platonischer Gedanke, der den Kosmos ästhetisch als eine harmonische Vereinigung zwischen dem Vielfachen und Einen, als eine παλίντονος ἁρμονίκη auffaßt, — so hat auch der ordo als Binde- und Erhaltungsmittel der menschlichen Gesellschaft, und zwar in seiner Bedeutung als Stand und Zustand eine ästhetische Färbung. Als Gegensatz zu dem verworrenen und zersplitterten Chaos (confusum et dissipatum chaos) 285) gehören der pulcherrimus ordo und die symmetria zusammen 286). Die Anarchie ist daher nicht bloß ethisch zu verurteilen, da sie die Gemeinschaft stört, sondern sie ist auch unästhetisch, weil sie den Schönheitssinn beleidigt.

Die Ordnung als Binde- und Erhaltungsmittel der menschlichen Gesellschaft setzt aber die Mannigfaltigkeit und Gliederung innerhalb des Ganzen voraus, d.h. die Gesellschaft muß als organischer Körper vorgestellt werden; sie kann nur erhalten werden, wenn sie organisch verfaßt ist 287). Der Ordnungsgedanke wird damit als Erscheinungs- und Betätigungsform des organischen Systems aufgefaßt. Nur bei einem Gesellschaftskörper, d.h. einer organischen Größe, deren Struktur zwar nur dem menschlichen Körper analoge Wesenszüge aufweist, die aber trotzdem


284) 35.367ff. 401. 433ff; 32,88.
285) 49,503.
286) 49,238.
287) 49,504: Nullum corpus sine muitiplici membrorum symmetria statum suum retinere docet, ut sciamus tam publicae quam privatae saluti consulere dum quisque suis partibus fungitur . . Deum hanc symmetriam ordinasse, idque in utilitatem totius corporis quia aliter permanere in statu nequeat.

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ein natürliches Gefüge ist 288), kann man von der Ordnung reden, d.h. von einer harmonischen Zusammenstimmung der eigenartigen, nach ihren Tätigkeiten und Fähigkeiten abgestuften Glieder, die eingereiht in das Ganze mit ihren Gaben an den ihnen zugewiesenen Ort zur Bildung, Umgestaltung und Förderung des Ganzen wesentlich beitragen. Bedingten sich das Wirken für die Gemeinschaft und die Durchsetzung des Einzelnen in seiner Eigenart gegenseitig, so ist dieses organische Leben einer Symphonie vergleichbar, in der es verschiedene Töne gibt, die aber in einem bestimmten Verhältnis aufeinandergestimmt einen Wohlklang ergeben 289). Das alles ist ein platonischer, von Cicero übernommener und bereits durch Augustin ins Christliche übertragener Gedanke 290).

 

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Aus dem organischen Prinzip ergeben sich nun wichtige Bestimmungen über den Charakter der natürlichen Freiheitsrechte und deren Verhältnis zu dem absoluten Naturrecht. Dies muß besonders hervorgehoben werden, da bei den Werturteilen über den Calvinismus als Träger und Begründer der modernen Menschen- und Bürgerrechte 291) in die Grundbegriffe moderne


288) 29,583: aptissima similitudo illa a corpore humano ducta ad hominum coniunctionem indictandam; Der Organismus als natürliches Gefüge: 49,504: perverti naturae ordinem.
289) 49,504: membra inter se differre facultatibus et officiis, ut mutuant inter se colligationem habeant ad corpus unum conservandum. ib. 497: Sicuti in symphonia varii sunt cantus, sed tali proportione inter se temperati ut unum efficiant concen-tum.
290) Vgl. Cicero De rep. II, cap. 42,69: Ut enim in fidibus aut tibiis atque ut in cantu ipso ac vocibus concentus est quidam tenendus ex distinctis sonis, quem immutatum aut discrepantem aures eruditae ferre non possunt, isque concentus ex dissimillimarum vocum moderatione concors tamen efficitur et congruens, sic ex summi et infimi et mediis et interiectis ordinibus ut sonis moderata ratione civitas consensu dissimillimarum concinit et quae harmonia a musicis dicjtur in cantu, ae est in civitate concordia. Dasselbe bei Augustin, De civ. Dei II,21.
291) hauptsächlich Doumergue: vgl. neben seinem Calvinwerk noch seine Abhandlungen: Calvin, le fondateur des libertés modernes in, Revue de theologie et des questions religieuses VII; Les origines historiques de la Déclaration des droits de l’homme et du citoyen 1905; in der Sammlung: Calvin et l'Entente S. 807-840.

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Züge hineingetragen und daraus Folgerungen gezogen werden, die dem ursprünglichen Calvinismus fremd sind.

Das Problem lautet: Können unter der Zwangsinstitution der gegenwärtigen Wirklichkeit die natürlichen Freiheitsrechte bestehen?

Es ist ein Mißverständnis, wenn man die Freiheit der absoluten Willkür gleichsetzt, die jede Ordnung zu Boden schlägt, das Chaos einführt, während die gemäßigte Freiheit den Gehorsam einschließt, der die gegebenen Ueber- und Unterordnungsverhältnisse bejaht 292). Die naturrechtliche Freiheit darf auch nicht mit der inneren spirituellen Freiheit verwechselt werden 293). Durch Beseitigung dieser Verflechtung müssen auch die radikalen Folgerungen verneint werden, durch die die Gegner die positiven Ordnungen zu erschüttern glauben. Vor allem die alle Bindungen niederreißenden Gleichheitsbestrebungen, die in der demagogischen Wunderlichkeit der Fragestellung gipfeln: warum ist dieser größer als ich? 294). Die Art der Antwort muß nach Calvin zwei verschiedene Gedankenreihen verbinden und begrenzen, wenn ein so wichtiges Schlagwort einen richtigen Wahrheitskern hüllen und im Einklang mit einer festen Lebensordnung stehen soll. Wohl sind die Menschen von Natur gleich, gleich in ihrem Kreaturverhältnis und Erlösungsbedürfnis; wohl haben sie den gleichen Stammvater Adam; wohl haben sie gemeinsam die Arche Noahs verlassen und kehren durch eine andere Tür, die ihnen der Mittler öffnet, vor das Angesicht Gottes zurück 295). Weil sie alle dasselbe Ebenbild


292) 29,643tf: Ne hoc . . esto amuleti et alexipharmaci loco adversus omnem confusionem ne nimia libertas ulli concedatur . . ut populi discant oboedientiam: nam dum optime res geruntur quam ordinem constitutum omnes observare tenentur. Contra vero sumam regnare confusionen, ubi nullae leges neque disciplina, sed ex suae libidinis arbitrio vivere sibi omnes permittunt.
293) 2,1093: Spiritualis libertas cum politica scrvitudine optime stare potest. 53,804: la servitude que nous rendons à nos superieurs est sculement selon la chair et que nos ames . . ne laissent pas toujours libres et franches quand à Dieu . . il ne nous a affranchis quand au corps, car il a voulu qu’il y ait les principautez et seigneuries en ce monde: ce qui ne estre que l’un ne soit subiet, et que l’autre ait préeminence.
294) 53,799: Pourquoy — celuy-là se fera-il plus graud que moy?
295) 51,159ff; 26,321; 51,799; 52,595.

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Gottes tragen, ist auch die aus dieser Gleichheit unmittelbar quellende Brüderlichkeit für sie eine Gabe und Aufgabe zugleich. — Aber diese Brüderlichkeit berührt in keiner Weise die sozialen Unterschiede, die überlegenen Ordnungen in der Familie und der Gesellschaft, sie verwischt nicht die Grenze zwischen öffentlicher und privatrechtlicher Lebensgestaltung 296). Ebenfalls gibt es trotz der natürlichen Gleichheit fest umrissene Berufsverschiedenheiten und dementsprechende Würdenabstufungen, ein gegliedertes Ordnungsganzes, in das sich jeder Einzelne freiwillig einfügen muß 297). Die unbestreitbare Gleichheit aller Menschen vor Gott, die durch das ihnen eingeprägte Gottesebenbild klar gekennzeichnete Gleichwertigkeit, bedeutet noch nicht Gleichartigkeit ihrer intellektuellen Begabung 298) und ihrer Leistungsfähigkeit auf allen Gebieten des menschlichen Zusammenlebens. Wollten die Menschen, auf ihre natürliche Gleichheit pochend, und ihrem ureigentümlichen Drang folgend nur herrschen und gar nicht gehorchen, so würden die dadurch bedingten Ueberordnungs- und Unterordnungsverhältnisse aufhören; es müßte ein Tierzustand mit allen seinen chaotischen Erscheinungen einbrechen 299). Die Ordnung


296) 53,554: Nous sommes freres, et cela n’empeschera point que l’un ne soit maistre et l’autre valet, que l’un ne soit pere et l’autre enfant, qu’un ne soit en office de magistrat, et l’autre personne privé.
297) 26,321: nous sommes d’une mesme nature: tous cela emporte que les hommes sont pareils. Mais cependant puis qu’il a pleu à Dieu de mettre certains degrez: il faut revenir là, et observer cest ordre, que celuy qui a quelque préeminence et dignité, soit recogneu pour tel qu’on honore . . Il est vray que les hommes voudroyent bien estre exemptez de toute servitude: mais puis que Dieu a institué un ordre divers, il nous y faut ranger de bon coeur et non point par force. — Zu der natürlichen Gleichheit 34,658: nous avons un Createur, duquelle nous sommes tous descendus, et que nous sommes du nature semblable; ib. 659: nous sommes d’une nature semblable.
298) 2,199, 213.
299) 51,799ff; 36,400: in statu rite ordinato persona servi et domini distingui debent. — Mit dieser Auffassung stand Calvin nicht allein. Nach Luther müssen Ordnung und Unterschiede sein und bleiben, die weltliche Obrigkeit muß höher gewertet werden als die Untertanen. Wo diese Unterschiede und Ordnungen im weltlichen Regiment nicht wären, würden die Stärkeren die Schwächeren unter die Füße treten und ein wüstes Wesen entstehen in der Welt (W.A. 28,445). Die „aufrührerischen Bauern” haben Luther den Standpunkt aufgedrängt, daß „in der Welt Ungleichheit bleiben soll, daß ein König und Fürst mehr sei denn seine Untertanen. Wer nun da eine Gleichheit machen wollte, daß der Knecht so viel ➝

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das Binde- und Erhaltungsmittel der menschlichen Gesellschaft setzt, wie gesagt, die Mannigfaltigkeit und Gliederung und darum die Ungleichheit der Gaben und Aufgaben, Würden und Leistungen innerhalb des gesellschaftlichen Körpers voraus 300).

Die Spannung zwischen der natürlichen Gleichheit und der gliedhaften Ungleichheit verliert ihre Kraft, wenn man erwägt, daß beide, Gleichheit und Ungleichheit, in dem Setzungswillen Gottes begründet sind 301) und daß beide nach ihrem innersten Wert sittlich betont sein müssen. Gleichheit und Ungleichheit verpflichten. Die Untertanen sollen bedenken, daß die Vorgesetzten trotz ihrer überlegenen Stellung nicht aufhören Brüder der Untergeordneten zu sein, daß beide zusammen zu der würdevollen, großen Zahl der Gotteskinder gehören, daß es also den ersteren ein leichtes sein muß, den letzteren den schuldigen Gehorsam zu leisten, ihnen die gebührende Ehrerbietung zu bezeugen und alle revolutionären Gelüste fahren zu lassen, umsomehr, als sie dadurch dem allerhöchsten willensmächtigen Herrn gehorchen. Umgekehrt sollen die Uebergeordneten ihre Autorität


➝ gelten soll als sein Herr, der würde ein „sehr löbliches Regiment anrichten” (W.A. 52,137; vgl. ib. 55: Der Bauer will ein Bürger, der Edelmann ein Graf, der Fürst ein Kaiser sein, das ist ein Beweis, daß sie außer Christo sind und nichts von ihm wissen. Darum singen sie: Ehr und Lob sei hienieden auf Erden den roten Gulden, den Talern, meiner Gewalt, Gunst, Kunst etc. Nun singt getrost, liebe Gesellen. Was gilt’s aber, es soll ein Eselsgesang daraus werden, das sich hoch anhebt und wird ein Icka daraus. 45,534: Der gemeine Pöbel ist nicht gerne noch gutwillig Untertan und wollte viel lieber des Gehorsams und des Zwanges los und frei sein. Darum müssen Könige und Herren im Regimente sitzen bleiben und der Pöbel mag ja auch bös und ungehorsam sein, dennoch unten bleiben; sonst würde bald alles in Trümmern gehen. 29,599: Der tolle Pöbel . . schaut das weltliche Reich für einen Jammer, Zwang, Not an, die auf seinem Halse liegt, weil ein Gottloser nicht so sehr die Ordnung sieht.
300) 49,503ff; 53,552; 51,803.
301) 26,321: cela ne vient point de ce que l’un vaille mieux que l’autre: mais c’est pource que Dieu a voulu que ceux ausquels il a donné quelque préeminence soyent ainsi en honneur . . Dieu a institué un ordre divers. 51,801: toutes ces disputes sont inutiles et frivoles quand chacun dira, Et de quoy suis-ie tenu à cestuy-ci? Et pourquoy un tel me tiendra le pied sur la gorge? Qui luy a donné plus d’authorité qu’à moy? Or il nous faut faire silence, puis que Dieu a prononcé qu’il le veut ainsi. 53,548: ce n’est point à nous . . il distribue à chacun la condition en laquelle il veut qu’on soit. 34,659: celuy qui a creé le maistre, il a creé le serviteur.

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nicht mißbrauchen und in ihrer Höherstellung nicht das Vorrecht einer über den „commun rang” sich erhebenden Willkür erblicken, sondern ihre Untertanen wie Brüder behandeln 302). Gilt darnach der Grundsatz, daß jeder an seinem ihm gewiesenen Ort seine ihm zukommende Pflicht zu erfüllen habe, 303) so müssen alle aus dem Ungleichheitsproblem sich ergebenden Bedenken weichen, wenn man nach der Regel verfährt: die mit der Ungleichheit gegebenen Vorrechte und Würden sind nur erhöhte Rechte auf erhöhte Pflichten. Diese immer wieder eingeschärfte, 304) das Gleichgewicht von Rechten und Pflichten darstellende Regel entspricht durchaus dem Prinzip der Wertgleichheit. Calvin wird zur Erörterung dieses Problems durch die Quertreibereien der staatsfeindlichen Wiedertäufer gedrängt, deren utopistische, alle geschichtlich gegebenen, rechtlichen Bindungen verneinende Gleichheitsschwärmerei die Gegner des Evangeliums mit der Anschauung der Reformation verwechselten und dieser den Stempel der Revolution aufzudrücken bemüht waren 305). In der Lösung Calvins wird die natürliche Gleichheit in das höhere Gebiet der sittlichen Gleichheit, der Gleichheit gegenüber der sittlichen Forderung, erhoben. Die ungleich verteilten


302) 34,656ff; 53,554ff; 34,709; 35,50. 164; 27,479.
303) 34,660: tel ordre qu’un chacun s’acquite de son devoir selon sa vocation.
304) 25,629: Selon donc qu’une charge est plus honorable, elle est aussi de plus grand travail. ib 632: quand il piaist à Dieu de nous mettre du bien entre mains, ou de nous elever en quelque estat, qu’il nous oblige, et qu’il y a un lieu tant plus estroit, et que nous aurons un conte tant plus difficile à rendre. 25,638: plus droits et plus iustes ont besoin d’estre admonestez ceux que Dieu aura honorez . . ils ont besoin qu’on leur declare leur devoir. 51,533: celuy qui est le plus excellent de tous les autres, est plus obligé à faire valoir ce que Dieu luy a commis en charge. 28,255: ceux qui ont le plus exellence, et qui sont bien prlvez du monde, encore ont-ils beaucoup de taches. 25,630: d’autant plus qu’un homme sera eleve, il est obligé aussi et à Dieu et à ceux sur lesquels il preside, comme il n’y a nulle préeminence sans charge, voire sans servitude. 27,468: Dieu t’oblige beaucoup plus que les personnes privées, afin que tu cognoisses quel est ton devoir: c’est que tu sois mieux enseigné que tous les autres et que tu leur dois monstrer exemples. 51,515: celuy qui sera le plus exellent . . d’autant plus est-il tenu à Dieu.
305) 53,551: on dira que l’Evangelie met confusion . . . qu’elle fait maistres ceux qui devroyent estre valets: et à l’opposite. Et puis, qu’elle donne licence de pervertir tout droict et raison . . que la doctrine que nous portons, est cause de ravir aux hommes ce qui leur appartient, et de mettre confusion aux grans et aux petits. Vgl. 51,802ff.

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Gaben verpflichten zu ungleichen Aufgaben und zu einem gegenseitigen Austausch der Fähigkeiten. Die Ungleichheit der Gaben und Aufgaben unter der gleichen, alle unbedingt verpflichtenden sittlichen Forderung ist für Calvin die Voraussetzung für den Bestand des Staates als eines Organismus. Darum empfindet der Mensch seine soziale Schranken und Bindungen nicht als unabwendbares Schicksal, sondern als von Gott zum Besten der Menschheit (pour nostre bien) gesetzte Möglichkeiten, um die seinen Kräften entsprechenden Pflichten zu erfüllen. Darum wird er weder willenlos seine Bestimmung ertragen, noch revolutionär die Fesseln sprengen wollen, sondern sich freiwillig (volontairement, affection franche) geduldig (en toute patience) und getreu innerhalb der gegebenen Grenzen halten. Der stärkste Antrieb, diese seelische Haltung zu erzeugen und zu erhalten, ist die Ehrfurcht vor der göttlichen Majestät, 306) das Bewußtsein, daß Gott, der uns in diese Lebenslage versetzt, die im Unterordnungsverhältnis geleistete Pflichterfüllung als einen ihm selbst erwiesenen Dienst von uns verlangt und empfängt, und die daraus fließende Beruhigung, daß der die sozialen Bindungen setzende souveräne Wille in dieser Begrenzung nur sein innerstes Wesen offenbaren will, nämlich die Liebe 307). Prägnant wird der Gleichheitsgedanke mit dem Unterordnungsprinzip in einem Satz zusammengefaßt: etsi autem aliis alios praeesse utile est, servanda erit tamen ut inter fratres aequabilitas (23,179).

Die geschilderte Stellungnahme Calvins zu dem Gleichheits- und Ungleichheitsproblem läßt den Versuch, die Gleichheitsfrage bei Calvin mit den Schlagworten der modernen Demokratie: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit lösen zu wollen 308) als mißlungen erscheinen. Die herangezogenen Stellen, die nur die Gleichheit vor Gott bezeugen 309), dürfen im Sinne der demokratischen


306) 35,657: La reverence que nous portions à sa maiesté qu’un chacun s’acquite de son devoir, tellement que Dieu soit servi en degré souverain.
307) 51,804ff; 27,192. 608.
308) Doumergue, S. 441.
309) Doumergue, S. 442. Die herangezogenen Stellen Op. 58,59, 65 und 34,657ff betonen gegenüber den Anmaßungen, mit denen die Hochgestellten die Untergeordneten ihr Ueberordnungsverhältnis fühlen lassen und gegenüber der allgemeinen Meinung, die kritiklos alles äußerlich Große bewundert und das Kleine verachtet, ➝

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Schlagworte nicht gedeutet werden. Der Versuch verfehlt auch sein eigentliches Ziel, die Bedeutung des Gleichheits- und Brüderlichkeitsprinzips für die Bestimmung der „demokratischen, von Calvin vermeintlich bevorzugten” 310) Staatsform zu erweisen, da in allen herangezogenen Belegen kein Hinweis in dieser Richtung zu finden ist. Es bezeugen vielmehr die anderen, von Doumergue und der bisherigen Forschung gar nicht benutzten Quellen das Gegenteil. Wir haben bereits gesehen, daß nach Calvins Ueberzeugung die absolute Freiheit im Sinne vager und blinder Willkür mit ihren zur Gesetzlosigkeit treibenden Ueberhebungen, als auch die absoluten, alles nivellierenden Gleichheitsbestrebungen mit der offenbaren Tendenz, die urtümlichen Herrschaftstriebe unter Mißachtung aller vernünftigen Ueberlegungen zu betätigen, zu Verwirrungen und zum Untergang des Staates führen müssen. Alles das sind Merkmale der äußersten Demokratie, die von Calvin energisch abgelehnt wird. Er kennt die Massenpsychologie. Wo der Menge unbedingte Entscheidungsbefugnisse eingeräumt werden, da läßt sie sich von den verschiedensten Affekten leiten 311). Die sogenannte „öffentliche Meinung” ist eine tyrannische Gewalt, denn wo die Menge in ihrer Mehrheit sich


➝ die Gleichheit aller sozialen Schichten vor Gott. Die die Eigenart der einzelnen Glieder des Organismus im Sinne der persönlichen Ungleichheit scharf kennzeichnende Auslegung Calvins (49,503ff) versucht Doumergue 442, Anm. 1 abzuschwächen. Calvin bekämpfe an dieser Stelle (1. Korinth. 12, 17, 20) nur die Gleichmacherei (égalitarisme), d.h. die Identität der Individuen. Wenn unter dem „égalitarisme” die Gleichheit von Pflicht und Fähigkeiten verstanden werden sollte, so wäre gegen diese Deutung Doumergues nichts einzuwenden. Wenn er aber aus den Aussagen Calvins herauslesen will, daß der Reformator die Gleichheit der Individuen der Gleichheit der verschiedenen Stände gegenüberstellen, d.h. die Gleichheit der Gemeinschaftsgruppen annehmen wollte, so ist diese Konstruktion höchst bedenklich. In seinem Kommentar zu Tit. 2, 11 ist es Calvin nicht um den Gleichheitsgedanken zu tun, sondern um die Sinndeutung des Begriffs πάντες, von dem er allerdings annimmt, daß er nicht individuell, sondern kollektiv verstanden werden muß. Die Konstruktion macht ferner die Gleichheit der Einzelnen vor Gott, — denn nur um diese handelt es sich in den von Doumergue angeführten Stellen, — illusorisch. Schließlich führt die Zusammenfassung der „modernen demokratischen Gleichheit” mit der Gleichheit vor Gott sich selbst ad absurdum, denn das ist eben das Hervorstechende an dem modernen demokratischen Gleichheitsprinzip, daß es gerade den Einzelnen die gleichen angeborenen Menschenrechte einräumen will.
310) a.a.O., S. 440.
311) 2,796.

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zusammenrottet, da werden die selbständigen Geister sofort zum Schweigen gebracht. Die leicht erregbare neuerungssüchtige Menge lärmt gerne: turba est turbulenta 312), wenn sie nicht durch überlegene Geister gemeistert wird. Ohne Führer gleicht sie einem von Stürmen gepeitschten Meer 313). Das Sprichwort: turba est turbulenta verdankt seine Entstehung dem Verhalten des aus den verschiedensten Schichten der peregrini zusamengesetzten römischen Pöbels, der Volksrevolutionen entfesselt und dadurch den Staat innerlich zerklüftet hatte 314). Mit dieser gefährlichen Gesinnungsbeweglichkeit rechnen eben die Demagogen, die in den Verfassungslokalen sich um die Gunst des Volkes bewerben und dabei die gemeinsten Kniffe anwenden, so daß oft die zügellosesten und liederlichsten Elemente ans Ruder kommen 315).

Wie sehr Calvin die Gleichheitsschwärmerei des absoluten Naturrechts ablehnt, sieht man ferner am deutlichsten an seiner Anschauung über das Eigentum. Man wird seine diesbezüglichen Ausführungen gebührend werten können, wenn man sie mit den früheren Eigentumstheorien vergleicht.

Die klassischen römischen Rechtsphilosophen und später die Glossatoren haben das Verhältnis des Privateigentums zu dem Gesamteigentum bezw. die Einordnung dieser beiden Wirtschaftordnungen unter das Recht eingehend erörtert 316). Dabei hat man streng zwischen der kulturlosen Urzeit und der Kulturperiode unterschieden. Nach der Anschauung der römischen Juristen beginnt das Privateigentum erst mit der anhebenden Kultur. Die frühere Periode war die Zeit der


312) Op. 38,320; 24,444.
313) 25,192: populus enim nisi alieno consilio regatur, instar maris est obnoxii multis tempestatibus.
314) 5,16. Das Sprichwort wird von Varro, apud Gellium, 13,11.3, erwähnt.
315) 25,635: on brigue par les tavernes, on ordonne . . ceux qui sont les plus dissolus et desbordez. 35,150: aux tavernes on briguera, on fera des entreprinses les plus vilains du monde. Quand . . les magistrats, qui seront esleus, parviennent par tel moyen diabolique à leur degré: il faut bien, que les meschans dominent.
316) Vgl. zum Folgenden die Darstellung der sozialen und politischen Theorien von R.W. und A.I. Carlyle: A History of the Medieval Political Theory in the West. 2 Bde. 1903, 1909, und P. Oertmann, Die Volkswirtschaftslehre des corpus iuris civilis. 1891.

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Willkürherrschaft, des Krieges aller gegen alle. Man mußte damals nicht bloß die nicht rechtsfähigen Tiere, die sich der Sachen bemächtigten, bezwingen, sondern auch die herrenlosen Sachen an sich reißen (okkupieren). Der Akt der Okkupation war eine Wohltat, deren Vollzug dann Rechtskraft bekam, indem der Besitzergreifer gegen etwaige Störungen seines Eigentums durch die Fiktion geschützt wurde, daß für den status quo das Naturrecht zu gelten habe. Und auch fernerhin, in dem Kulturzustand erwirbt man nach dem ius gentium das Eigentumsrecht entweder durch den Sieg über die Feinde, oder nach dem ius civile durch Uebertragung der früher einem anderen gehörigen Sache auf den jetzigen Eigentümer. Immerhin galt es als ein naturrechtlicher Grundsatz, daß die res nullius (wie die Fische des Meeres und das Wild der Berge) durch Occupation in das rechtsmäßige Eigentum eines Einzelnen übergehen dürfen. Die Glossatoren (Johannes Bassianus, Placentius und Azo) gehen noch weiter und nehmen wohl unter dem Einfluß des germanischen Rechtes an, daß auch für die Urzeit das Recht gegolten habe, in dem Sinn nämlich, daß hier kraft des Naturrechtes alle Dinge gemeinsam waren, daß dann später in der Kulturperiode durch Okkupation das Privateigentum nach dem ius civile und gentium entstanden sei. Indem nun auf diese Weise das Gesamteigentum und Privateigentum aus verschiedenen Rechtsquellen (das erstere aus dem Naturrecht, das letztere aus dem Völker- und bürgerlichen Recht) ableiteten, boten sie dem kanonischen Recht eine willkommene Gelegenheit, für die urchristliche Zeit einen Kommunismus anzunehmen. Nach Gratian muß ursprünglich die Nutznießung aller Dinge, die es auf dieser Welt gibt, gemeinsam sein. So hätten es die weisesten Griechen (Plato) für Freunde, die Apostel und ihre Schüler für sich gehalten. Rufinus sagt es gerade heraus, daß es für alle den Dingen gegenüber nur eine Freiheit und gemeinsamen Besitz habe. Eine Annäherung an die Distinktionen der Glossatoren ist es allerdings, wenn Stephan von Tournai, um doch das Privateigentum zu retten, eine merkwürdige Unterscheidung macht: man

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könnte sagen, daß es nach dem eigentlichen göttlichen, d.h. natürlichen Recht kein Privateigentum gibt, nach dem kanonischen aber das von den Menschen gewissermaßen durch die göttlichen Inspiration geworden ist, doch manches Privateigentum ist.

Die Unterscheidung des Privateigentums und des gemeinsamen Eigentums und die damit bedingte verschiedene Wertung der Kultur- und Vorkulturperioden fehlt bei Calvin ganz. Ein herrenloses oder gemeinsames Eigentum für die Urzeit ist für ihn ausgeschlossen, da Gott bei der Schöpfung dem ersten Menschen die ganze Kreatur zum Besitz bestimmt hatte. Dieses Besitzrecht haben Adam durch seinen Fall und seine Nachfolger mit ihm verloren, einem Vasallen gleich, dem, nachdem er an seinem Herrn Verrat begangen hatte, alle Güter konfisziert werden 317).

Dagegen stimmt Calvin mit dem römischen Recht überein, wenn er die von dem besiegten Feinde erbeuteten Gegenstände in den rechtmäßigen Besitz (iure spolii) des Siegers übergehen läßt 318). Leider fehlt ein Beleg dafür, wie sich Calvin die römisch-rechtliche Lehre von der Okkupation des herrenlosen Eigentums denkt. Die Unterwerfung der vier Städte durch Nimrod ist entweder auf eine Gründung oder auf die Vertreibung der früheren Eigentümer zurückzuführen 319). Wie sehr Calvin die Unterscheidung der Glossatoren und des kanonischen Rechtes samt allen Spitzfindigkeiten fernlag, sieht man am deutlichsten an seiner Beurteilung des sogenannten christlichen Kommunismus. Nicht Aufhebung des Privateigentums, sondern eine intensive Hilfe für die Armen; nicht Gleichmacherei, sondern eine gemäßigte Verteilung der Güter strebte der christliche Kommunismus an 320). Er war darin dem Kommunismus der „Freunde” gleich,


317) 35,420ff: il est vray qu’en la creation du monde toutes bestes ont esté donnees à Adam afin qu’il en fust maistre et seigneur: mais nous avons perdu ceste posession, comme quand un vassal aura fait quelque laschete ou trahison à son prince, son bien est confisqué, il sera debouté du tout.
318) 24,131: iure belli licet spolia ex hostibus colligere.
319) 23,159.
320) 47,96: non aequalis fuit bonorum partitio, moderata dispensatio . . ne quis egestate ultra modum premeretur.

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artete aber nicht zu Weibergemeinschaft aus 321). Hebt also die urchristliche Gemeinschaft das Wirtschaftsleben nicht auf 322), so muß man auch noch bedenken, daß der urchristliche Zustand ein idealer, auf der innigen frommen Seelengemeinschaft beruhender war 323) und nicht eine allgemein bindende Norm abgeben wollte 324). Demnach ist nur das Privateigentum und die daraus sich ergebende richtige Scheidung und Unterscheidung der dem Einzelnen in verschiedenem Maße von Gott verliehenen Güter, die einzige mögliche Grundlage der sozialen Regelung und damit der Ordnung. Das Recht des Urchristentums konnte in der vorstaatlichen Zeit nicht durchgesetzt werden. Erst unter einem legitimen Herrscher (qui ad rerum gubernacula sedent) ist es möglich, daß jeder dem andern das Seine gibt und darum ein gegenseitiger Wechsel- und Handelsverkehr stattfindet, während für die frühere Zeit nur eine tierische Zerfleischung (laniatio) anzunehmen ist 325). Weicht in diesem Punkt Calvin sowohl von dem klassischen Recht als auch von der Glosse ab, so findet er sich mit einem Teil der letzteren zusammen in der Meinung, daß die Staatsgewalt über dem Privateigentum nur ein Hoheits- bzw. Schutzrecht habe 326). Er stimmt weiter mit ihnen in der uns bereits bekannten Anschauung überein, daß die Staatsgewalt überall da, wo das allgemeine Wohl es erfordert, zur Einschränkung der Privatrechte befugt ist, wenn dies nur aus vernünftigem Grund geschieht 327).


321) ib. 60.
322) ib. 60: communitas ista quam Lucas commendat, non tollit oeconomiam.
323) ib. 96: quum talis bonorum communicatio esse nequeat, nisi ubi viget pius consensus regnatque cor unum et anima una.
324) ib. 96ff: neque hic universis legem praescribit Lucas quam necesse habeant sequi: nec sine exceptione de omnibus loquitur, ut possit colligi non fuisse pro Christianis habitos, nisi qui sua omnia venderent.
325) Op. 29,583ff.
326) Op. 29,554.
327) Da diese Auffassung trotz einiger Verschiedenheiten im einzelnen ein durchgehender Grundsatz der mittelalterlichen Publizisten war (zu den von Gierke, Althusius, 279ff, angeführten Stellen seien noch diese hinzugefügt: Jason: in 1. Barbarius col. 7 de offic. Praet: Felinus, de rescrip. num. 63 und 65, Thomas von Aquino, de regimine princip., cap. 11), könnte es müßig scheinen, einen bestimmten mittelalterlichen Autor als unmittelbare Vorlage für die Anschauung Calvins feststellen zu wollen. Trotzdem ist hier eine sichere Spur zu entdecken. Calvin erörtert in seiner 29. Samuelishomilie die „ratio” der Tyrannen, um ihr in derselben Homilie sowie in der 36. das ius regni eines legitimen Herrschers entgegenzustellen, wobei ➝

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Weil nun dieses Zugeständnis an die Staatsmacht weder eine Sicherstellung des Privateigentums gegenüber etwaigen Eingriffen der Staatsgewalt, noch als Aequivalent für dieses Zugeständnis die Entschädigungspflicht verlangt, ja im Senecakommentar das absolutistische Enteignungsrecht sogar ohne Widerspruch hingenommen wird, hat man in der Stellung Calvins zu dem Eigentumsbegriff eine „gewisse Unausgeglichenheit'' sehen wollen 328). Man wird aber der Anschauung Calvins gerecht, wenn man seine Auslegung der Deuteronomiumstelle (Kap. 19, 14-15 in Op. 27,565ff) sich vergegenwärtigt. Hier sieht Calvin nicht bloß in dem durch die Fürsten aus Ehrgeiz und Habgier entfesselten Krieg eine Verletzung der Naturordnung, sondern er verurteilt jede Grenzverwirrung als Verletzung des Naturrechts. Allerdings wird diese Verletzung nicht bloß an den Fürsten, sondern an allen Untertanen getadelt, aber die Verfehlung der Fürsten wird als besonders schwer empfunden 329). Dadurch wird den Fürsten jeder ungerechte Eingriff in die Eigentumsrechte seiner Untertanen glatt verboten. Dieses Verbot steht ganz im Einklang mit den in der Institutio 1536 (Op. 1,230) und den späteren im Samuelkommentar entwickelten Grundsätzen. Dort bezweckt die an die Obrigkeit ergehende Forderung: ut suum


➝ er den Inhalt des der tyrannischen Herrschaft entgegengesetzten ius regium, Deut 16 u. 17 zu entnehmen glaubt. Dasselbe Verfahren finden wir bei Bartolus in seinem Tractatus de regimine civitatis (consilia quaestiones et tractatus 1547). Vor allem ist es bezeichnend, daß die Enteignung der 1. Samuelis cap. 8,14,15 aufgezählten Sachen mit der Erhebung von Steuern und Abgaben identifiziert wird, was vor Calvin in demselben Maße bereits Bartolus und zwar unter Heranziehung der einschlägigen römisch-rechtlichen Bestimmungen getan hat. Vgl. namentlich diese Sätze: Alia autem debet facere rex quae ponuntur XXXIII q. v. c. regum est et c. rex debet . . Sed licet ibi ponatur quid lex facere debeat et qualis in se debeat esse: non tamen ibi ponitur quid ab subditis possit exigere Respondet expensas maiestati regiae congruentes facere debeat. Sed hoc habemus expressum X. colu. quae sint rega c. l. ubi dicitur, quod ad regem pertinet omnia tributa. vectigalia et census publici, quae ibi specialiter dominantur et quod ad regem etiam pertinet ex causa necessaria ponere collectas, ut ibi dicitur et etiam iure Digestorum probatur, quod reges habeant omnem potestatem.
328) Beyerhaus, a.a.O.
329) 36,320: quod dicit (der Herrscher): terminos populorum sustuli, tantundem valet ac Propagavi fines meae dominationis, aliasque regiones meis finibus adiunxi. et earum distinctio et terminus tolleretur. Quemadmodum si diceremus, regem Qalliae fines Britanniae, Burgundiae, Aquitaniae, Provinciae et aliarum regionum sustulisse quum eas pro regno coniunxit.

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cuique salvum sit et incolume, nicht bloß den Schutz gegenüber privaten Eingriffen, sondern verlangt von der Obrigkeit den Verzicht auf das Enteignungsrecht 330) Denn die über die tatsächlichen öffentlichen Bedürfnisse hinaus eingetriebenen Steuern, mit denen die „misera plebs” ohne Grund geplagt wird, entspringen der tyrannica rapacitas des Fürsten. Das im Samuelkommentar dem Herrscher eingeräumte Recht, in „Fällen dringender Not” außerordentliche Unterstützungen zu erheben, geht daher über die Forderung der Institutio nicht hinaus; denn die „dringende Not” hat mit der tyrannischen rapacitas nichts zu tun. Auch die Forderungen des Samuelkommentars stehen nicht im Widerspruch mit dem „absolutistischen Selbstzeugnis” Neros: qualem quisque sortem statumque habeat, in manu mea posita est, und der Auslegung, die Calvin diesem Worte gibt: dicit .. Nero in facili sibi esse locupletari quoslibet et ... etiam fortunis spoliare. Der Grundsatz des Samuelkommentars: neque enim talis est eorum (der Untertanen) subiectio, ut ipsis abuti ad libidinem principibus liceat: sed tranquille et quiete ac pacifice acceptis a Deo quemque bonis et facultatibus uti et frui opportet, quae proinde non sunt in regum potestate sine discrimine et causae cognitione posita, ist zu vergleichen mit der fast gleichzeitigen Aeußerung in dem Danielkommentar (40,713): ego haec verba (quos volebat occidere, occidebat, quos volebat percutere percutiebat) non referro ad libidinem tyrannicam, quasi Nebuchadnezar iugularet multos innoxios sine ulla ratione: deinde quod spoliaverit multos suis fortunis, et alios ditaverit, sive honore et opibus ornaverit. Ego non ita accipio, sed quod in eius arbitrio fuerit vel occidere vel dare vitam: item, alios extollere, alios autem deiicere. Calvin nimmt demnach an, daß die legitimen Herrscher, zu denen er in seinem Senecakommentar Nero, in dem Danielkommentar Nebukadnezar rechnet, ihre Eingriffe in das Privateigentum aus rationeller Ueberlegung vornehmen und nicht in die Kategorie der willkürlich verfahrenden Tyrannen gehören. — Die


330) Gegen Beyerhaus, 69.

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Behauptung, daß die Entschädigungspflicht ein am Anfang des 16. Jahrhunderts feststehender Grundsatz war 331), und der damit zusammenhängende, wenn auch stillschweigend erhobene Vorwurf gegen Calvin, daß er wie diese die Entschädigungspflicht verlangt, müssen auf ein richtiges Maß gebracht werden. Die erstere Behauptung ist in dieser Ausschließlichkeit nicht zutreffend, denn es steht fest, daß z.B. die Glossatoren in diesem Punkt nicht durchaus einig waren; 332) außerdem hatte man wieder vielfach teils bei allgemeinen und jeden Einzelnen betreffenden Gesetzesakten, teils in Notfällen Ausnahmen von diesem Grundsatz zugegeben 333). Aber auch der Vorwurf gegen Calvin ist nicht stichhaltig. Die Entschädigungspflicht wurde nur bei der Enteignung (Expropriation) verlangt. Calvin spricht aber nicht von dem Expropriationsrecht, sondern von dem Besteuerungsrecht des Herrschers. Die Steuern waren ja im Unterschied von den Expropriationsmaßnahmen „Zwangsbeiträge der Personen oder Einzelwirtschaften an den Staat zwecks Deckung des öffentlichen Finanzbedarfes, welche ohne Rücksicht auf eine spezielle Gegenleistung in gesetzlich bestimmten Abgaben geleistet wurden” 334). Dieser Unterschied war keineswegs eine moderne Begriffsdistinktion; er ist bereits im Mittelalter gemacht worden. Das Expropriationsrecht war viel schwerwiegender als das Besteuerungsrecht. Das zeigt sich darin, daß die Scholastiker, vor allem Lessius und Lujo, das Besteuerungsrecht als ein kleineres Uebel aus dem Expropriationsrecht ableiteten 335). Uebrigens gehört zwar nicht die Entschädigungspflicht, wohl aber die Hoffnung auf eine künftige bessere Zeit nach Calvin zu den Imponderabilien,


331) Wie Beyerhaus, a.a.O., 70 mit Georg Meyer, Das Recht der Expropriation, Seite 116, annimmt.
332) Dies wird selbst von Meyer a.a.O. 92-94 zugegeben.
333) Gierke, Althus. 270.
334) Amberg, Die Steuer in der Rechtsphilosophie der Scholastiker; im Arch. f. Rechts- und Wirtschaftsphilosophie, Bd. 2, Beiheft 3, S. 1.
335) So sagt Lujo: Wenn ein Statthalter aus einem öffentlich-rechtlichen Grunde einem einzelnen Bürger seine Sache enteignen kann, weshalb soll er dann nicht mehrere Bürger zusammen zu geringeren Beiträgen an das öffentliche Staatsbedürfnis verpflichten können? Es ist doch einfacher, eine große Leistung von vielen gemeinschaftlich als von einem Einzelnen allein zu verlangen, weil eben auf diese Weise die Last verteilt wird, wie es bei den Steuern der Fall ist. Zitiert bei Amberg, a.a.O., S. 32.

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die die Herrscher bei Auferlegung von Lasten beachten sollten 336).

Ist daher die Stellung Calvins zum Eigentum keineswegs schwankend und widerspruchsvoll, so wird man schließlich auch den Grund zurückweisen müssen, der für diese Unausgeglichenheit angeführt wird, nämlich die Vereinigung theologischer und juristischer Gesichtspunkte. Es ist von vornherein uncalvinisch gedacht, wenn man bei ihm von einem Antagonismus der juristischen und theologischen Auffassung, in diesem konkreten Fall von einem Widerstreit zwischen dem Naturrecht und göttlichen Recht inbezug auf die Bestimmung der Eigentumsverhältnisse spricht. Nicht bloß das den Herrschern zugestandene Recht, Steuern zu erheben, sondern auch das subjektive Recht der Untertanen, der Anspruch auf das Eigentum, gründet sich auf das allen gemeinsame Naturrecht 337). Wenn aber diese naturrechtlich begründete Eigentumssphäre zugleich als Gabe Gottes gewertet wird 338), so wird damit kein Gegensatz statuiert, im Gegenteil: das allen Menschen gebührende Recht bekommt gerade dadurch, daß es nicht als etwas Zufälliges ihm anhaftet (non fortuito), sondern auf der Bestimmung des absoluten Willens beruht, eine Festigkeit ; der Besitz dieses Rechtes wird zu einem friedlichen und ruhevollen Genuß 339). Es ist eine wunderbare Dialektik in dem Denken Calvins: Das Erworbene und täglich zu Erwerbende im Leben erscheint zugleich als etwas Empfangenes, freier Gnade Entsprungenes; die Freiheit der Menschen ist nicht ein von Gott unabhängiges Vermögen, ein


336) 29,554: Si reges ex animi sui sententia et pro voluntate sua rem publicam gerant . . certum est subditos rapinis et compilationibus comprimendos, sine spe ulla futurae melioris conditionis, sed potius summo metu oppressionis.
337) 29,558: quod tamquam ius commune et naturale locum apud omnes gentes habuit.
338) 24,49: fateor eius (sc. der Gerechtigkeit) esse proprium tueri ius suum cuique, prohibere furta damnare fraudes. Sed videamus quidnam sit cuiusque? Quis suum esse iactabit nisi quod a Deo datum est? Et quidem et precario possideant singuli quod Deo placet, cui liberum est singulis momentis auferre quod dedit. 2,298: Sic enim cogitandum est unicuique evenisse quod possidet non fortuita sorte, sed ex distributione summi rerum omnium Domini; non posse igitur perverti malis artibus facultates cuiuspiam, quin fraus divinae dispensationi fiat.
339) 29,554: tranquille et quiete ac pacifice acceptis a Deo bonis et facultatibus uti et frui oporteat.

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selbstverständlicher Besitz, sondern etwas durch Gott Gesetzes und immerfort aus ihm Quellendes 340). Es bewahrheitet sich auch in diesem Punkt, daß für Calvin alle rechtlichen und sittlichen Zustände in ihrer religiösen Abzweckung einen Gipfelpunkt erreichen, in dem alle Spannungen des Lebens und Handelns zur Ruhe kommen, wo man bei allem Gehorsam den vorgesetzten Instanzen gegenüber doch sein Freiheitsrecht behauptet, das durch willkürliche Akte jener nicht mißbraucht werden darf. Aber gerade in dieser Spannung, die darin zum Ausdruck kommt, daß Calvin einerseits die Gehorsamspflicht der Untertanen verlangt und andererseits die willkürlichen Absichten der höchsten Macht durch das Gemeinwohl bindet, hat man eine Vereinigung der theologischen und juristischen Gesichtspunkte gesehen und eben darum bei ihm eine glatte Formulierung des Eigentumsbegriffs vermißt. Indessen von einem Widerspruch zwischen den beiden Gesichtspunkten könnte gesprochen werden, wenn Calvin absoluten Gehorsam um jeden Preis, also auch bei eklatanten Verletzungen verlangt hätte. Das ist aber, wie sein Widerstandsrecht zeigt 341), nicht der Fall. Gerade hier sieht man, wie geschickt und folgerichtig Calvin die beiden Blickfelder unterscheidet. Bei der Verletzung des göttlichen Rechtes wird der theologische, besser gesagt religiöse Gesichtspunkt angewandt, der die Kündigung des Gehorsams direkt fordert; bei der Schmälerung der menschlichen Rechte, zu denen ja auch die Vermögensfreiheit gehört, kommen die durch das positive Recht aufgestellten Schranken zur Geltung, die Anrufung der legitimen Wächter der Volksfreiheit. Hier wird der Gehorsam der Untertanen mit Recht nicht aufgekündigt, es werden nur die ihn auf schwere Proben stellenden Hemmungen beseitigt. So können bei diesem rein staatsrechtlichen Gesichtspunkt beide Interessen, die Gehorsamspflicht der Untertanen und die Gebundenheit der höchsten Macht an das Gemeinwohl zur Geltung kommen. Das hat aber seinen tieferen Grund darin, daß


340) 29,556: quantum sit libertatis donum et quam benigne Deus cum populis suis agat, quibus eam largitur.
341) Vgl. unten Aufsatz 3.

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Calvin zwei Auswüchse weislich vermeidet. Auf der einen Seite die Absolutheit der staatlichen Macht, auf der anderen Seite die Absolutheit des auf seine natürliche Freiheit pochenden Individuums. Denn nicht das absolute Ich stellt die Forderung auf, daß sich um seinetwillen die Staatsmacht Beschränkung auferlegen soll. Die Schranke der staatlichen Macht ist neben der Wahrung der Autorität die Rücksicht auf das allgemeine Wohl.

Wir haben eine klare Zusamenfassung des objektiven Rechts der Obrigkeit und der subjektiven Rechte der Einzelnen vor uns. Die natürlichen Freiheitsrechte, das Recht auf Eigentum und Leben, sind nicht absolut, da der Staat in die Individualsphäre aus einem auf das Staatswohl gerichteten Rechtsgrund (iusta causa, ratio) eingreifen kann. In das Eigentumsrecht greift der Staat mit seiner Steuergesetzgebung; in das Recht auf das Leben durch die Forderung der Militärpflicht, die in ihren äußersten Auswirkungen, in dem Kriegsfall, den Einsatz des Lebens fordert (29,554). Aber der Zwang des Staates und der Obrigkeitsorgane darf nicht absolut tyrannisch, sondern durch Recht und Gesetz bedingt sein. Damit sind die Untertanen und die Staatsgewalt aufeinander angewiesen im Interesse der beide bindenden Rechtsordnung. Es stehen also nicht die subjektiven Rechte über dem Obrigkeitsrecht, der Staat verfügt aber auch nicht absolut über die Rechte der Einzelnen. Vielmehr sind die Rechte und Pflichten beider in einen übersubjektiven Zusammenhang der Rechtsordnung eingefügt.

Diese Synthese hat Calvin bereits in der Institutio 1543 (Op. 1,1105) bei der Besprechung der Staatsformen vollzogen. Der Vorzug der glücklichsten Staatsform, der Aristokratie oder der Mischform von Aristokratie und Demokratie, besteht darin, daß in ihr die auf ein richtiges Maß beschränkte Freiheit (ad eam quam decet moderationem composita), die gesetzlich festgesetzte Freiheit, von einer längeren Dauer sein kann, da die aristokratische „aus scharfsinnigen und klugen Männern” bestehende Obrigkeit viel

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eher geneigt und befähigt ist, die Freiheit des Volkes (in der französischen Ausgabe Op. 4,1134: franchise du peuple) zu wahren. Während nämlich der Monarch nicht imstande ist, seinen Willen leicht in Einklang mit Recht und Gerechtigkeit zu bringen, können die Mitglieder eines aristokratischen Ratskollegiums einander unterstützen, ermahnen und belehren, so daß, wenn einer von ihnen sich über Gebühr erheben wollte, er mehrere neben sich hat, die seine Handlungen überprüfen und ihn des besseren belehren können (plures sint ad cohibendam eius libidinem censores ac magistri; vgl. 32,57: rara virtus est eum qui omnia potest, ita esse temperantem, ut nihil licentiae sibi permittat). Diese gesetzlich beschränkte Freiheit, die mit der absoluten von allen Bindungen losgelösten Willkür nichts zu tun hat und gleichzeitig die Verneinung einer reinen Demokratie bedeutet 342), ist aber, wie die nachfolgenden Abschnitte über die Macht der Obrigkeit hinsichtlich ihres Eingriffs in das Eigentum der Untertanen gegen alle tyrannischen Mißgriffe zeigen, (2,1110f) zunächst die uns bekannte bürgerliche Freiheit. — Es wird ein Zustand geschildert, in dem die natürlichen subjektiven Rechte der Einzelnen durch die Staatsgewalt gewährleistet und geschützt, aber auch im Interesse des Staatswohls begrenzt werden.

Allerdings deckt der Begriff der gemäßigten Freiheit noch einen weiteren Bedeutungsinhalt. Die gemäßigste Freiheit als Merkmal des glücklichsten Staatswesen ist, so führt Calvin aus, nicht bloß ein überkommener Lehrbegriff der Staatsphilosophie, sondern eine in der Geschichte hervortretende konstitutive Größe. Das von ihm verkündete Ideal des besten Staatswesens findet nämlich Calvin bestätigt durch die in der Geschichte vorgenommenen Versuche (experimentum), ihrer Verwirklichung, namentlich in der Einrichtung einer der Demokratie benachbarten Aristokratie in Israel, die für ihn eine besondere Bedeutung gewinnt, da sie durch Gottes Autorität eingeführt, und daher vorbildlich ist (ib.). Sie ist „unus ex statibus memoria dignis” mit seinem als praefectura Dei gedachtem


342) Vgl. oben S. 66 ff.

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Verwaltungssystem (administratio) 343), ein Freiheitszustand unter den Gesetzen, in dem das Volk von öffentlichen, an die Gesetze sich haltenden, von ihm selbst gewählten und verantwortlichen Männern regiert wird 344). Die Freiheit besteht in dem Recht des Volkes, seine Leiter selbst zu wählen und damit indirekt an der Verwaltungsgewalt teilzunehmen. Sie ist daher eine politische Freiheit. Sie ist nicht absolut, sondern eine Freiheit unter den Gesetzen 345). An diese politische Freiheit wird gedacht, wenn die Einrichtung der siebzig Männer, die Israel vorstehen sollten, beschrieben wird. Sie werden gewählt „populi suffragiis” und zwar nicht leichtfertig, aufs Geradewohl (temere, promiscue) aus der Masse des Volkes, sondern aus „dem Standesältesten und den Häuptern des Volkes”, Männer, die beim Volk angesehen waren und durch besondere Tugenden die Eignung zur Leitung bezeugten, ohne vorher eine bestimmte Verwaltungsprovinz zugeteilt bekommen zu haben (25,171). Wenn auch sonst die politische Wahlfreiheit als ein besonderes Geschenk Gottes bezeichnet wird 346), so stimmt ihr Bedeutungsinhalt ganz mit derjenigen in der Institutio dargelegten „libertas ad moderationem composita . . et rite constituta”, mit der Freiheit unter den Gesetzen überein. Das zeigt sich in der Art, wie die (politische) Wahlfreiheit sich auswirkt. Die zu erstrebende Wahlart ist zwar das aktive allgemeine Wahlrecht 347), aber diese äußert sich vornehmlich 348) in der bloßen Zustimmung des Volkes (consensus populi) zu einer bereits von maßgebenden Autoritäten getroffenen Wahl (24,190). Das passive Wahlrecht ist ebenso nicht allgemein, sondern


343) 49,242ff.; 29,187.
344) 27,459ff.
345) ib. d’estre en liberté et que les lois cependant dominassent. Car c’est une chose plus supportable, que nous ayons des gouverneurs, qui soyent choisis et eleus et qui exercent estre suiets aux lois.
346) 25,635: Dieu nous fait ceste grace, voir, ce privilege, qui n’est point commun à tout peuple, de lire gens qui gouvernent. 27,411: cognoissons, que c’est un don inistimable, si Deu permet qu’un peuple ait liberté d’elire iuges et magistrats.
347) 43,375: Hie enim maxime est optabilis status populi creare omnibus suffragiis pastores. — Unter den pastores sind nicht bloß die Geistlichen zu verstehen, sondern nach dem Zusammenhang alle Leiter des Gemeinwesens.
348) auf dem kirchlichen Gebiet allgemein.

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mit Rücksicht darauf, daß nur geeignete Männer die Leitung übernehmen dürfen und nicht zuletzt im Hinblick auf die Majestät Gottes, die durch religiös und sittlich minderwertige obrigkeitlichen Funktionäre beleidigt würde, wesentlich eingeschränkt (25,635; 29,365). Diese Verbindung des allgemeinen, aber doch im Grunde begrenzten aktiven Wahlrechts mit der beschränkten passiven ist das Merkmal einer gemäßigten politischen Freiheit. Nur durch die Einschränkung des passiven Wahlrechts ist die Möglichkeit, den Gesetzen durch wirklich geeignete Obrigkeiten zur Herrschaft zu verhelfen, gewährleistet 349).

Wir sehen: auch bei der Erörterung der politischen Freiheit weist der Reformator sowohl die Obrigkeit als auch die ihre Freiheit betätigenden Untertanen in gesetzliche Schranken; die absolute Staatsmacht und die absolute Freiheit werden ausgeschlossen. Das bedeutet aber die Verneinung des absoluten Naturrechtes, dem überdies durch die Beseitigung des Gleichheitsprinzips und durch die Anerkennung der Ueber- und Unterordnungsverhältnisse jeder Daseinsgrund entzogen wird. Man kann daher, wenn man den Unterschied vom absoluten Recht deutlich hervorheben will, die übersubjektive, die Obrigkeit und Untertanen bindende Rechts- und Gesetzesordnung als Ausfluß des relativen Naturrechtes bezeichnen.

 

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Es ist aber lehrreich, daß Calvin, der Wirklichkeitsmensch und praktische Politiker, trotzdem nicht bei dem Gegebenen, dessen Berechtigung in der göttlichen, autoritativen Setzung und in der sündhaften Wirklichkeit begründet, stehen bleibt, sondern darüber hinaus das Ideal eines freieren Rechtes zeichnet und die Verinnerlichung der Ueber- und Unterordnungsverhältnisse anstrebt, ohne dem Phantom des absoluten Naturrechts nachzujagen. In


349) 29,556: ubi magistratus legibus sunt subditi nihilque moliunt a se ipsis, sed ratione et consilio rem gerunt, cuius etiam tandem rationem sunt reddituri.

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dem Genesiskommentar (23,158ff) beschreibt er den ältesten Weltzustand als eine ideale Aera, in der das Ueberordnungs- und Unterordnungsverhältnis nicht als königlich-öffentliches Herrschaftssystem, sondern als eine Art bürgerliche, in den Schranken der modestia sich haltende Einrichtung angesehen wurde. Die Vorgesetzten, die mehr Autorität als Macht besaßen, haben sich in ihrer Herrschaft so eingeschränkt, daß sie die Niedrigeren (minores) als Gleichwertige behandelten; diese blickten wiederum mit Verehrung zu jenen empor und unterwarfen sich freiwillig, ohne Zwang. Es war ein Gott wohlgefälliger, mittelmäßiger (mediocris) Zustand, von dem sich die nachfolgende Tyrannis eines Nimrod deutlich abhob. Entsprechend diesem in einem kleinen Orts- und Zeitraum verwirklichten Ideal sind die Forderungen für eine tief innerliche Gestaltung des Staatswesens. Der Staat ist nicht bloß eine rechtlich vergesellschaftete Verbindung von Menschen, wie Calvin bereits in seinem Senecakommentar (5,96) im Anschluß an Cicero annimmt, sondern ein geistig-sittlicher Organismus. Diese Auffassung ist die notwendige Folge seiner Lehre vom Naturrecht, sofern sich dieses in der positiven Gesetzgebung verwirklicht 350). Ist das mit dem Naturgesetz übereinstimmende, auf dem Billigkeits- und Liebesprinzip ruhende Sittengesetz der Kern aller positiven Gesetze, an den die Obrigkeit und die Untertanen gebunden sind, so ist es folgerichtig, wenn die Obrigkeit ihren Beruf als einen sittlichen auffaßt, nicht tyrannisch, sondern väterlich und gerecht regiert, und die Untertanen nicht sklavisch, sondern willig und aufrichtig gehorchen. Das Verhältnis zwischen der Obrigkeit und den Untertanen wird vertieft und verinnerlicht, wenn es geradezu als eine Verbindung von Brüdern bezeichnet wird, ein Verhältnis, in dem das Recht als ius fraternae coniunctionis zum Bindemittel zwischen Haupt und Gliedern im Staatswesen wird. Die Gegenseitigkeit von Pflichten zwischen dem Staatsoberhaupt und den Untertanen wird mit der mutua obligatio capitis et


350) siehe die II. Abhandlung.
351) 24,371: ne putent ideo ius fraternae coniunctionis esse abolitum, ➝

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membrorum verglichen 351). Gilt dies bei allen Formen der organischen Ueber- und Unterordnungsverhältnisse 352), so ist es klar, wie sehr der die Zwangskategorien in sittliche verwandelnde organische Gedanke auf die Versittlichung des Staates und aller gesellschaftlichen Verbände hinarbeiten mußte. Diesem Bestreben kam aber das Naturrecht in seinem Wesenszug entgegen. Kann das strenge Recht durch die Billigkeit gemildert werden, sind die Begriffe Rechtsgefühl und Rechtsempfinden inhaltlich dem sittlichen Urteil nahe, so muß schließlich das Recht nicht als Knecht des Zwanges, sondern dieser als Knecht des Rechtes gelten und soll nur als Mittel zur Durchsetzung des höheren sittlichen Zieles, des Wohles der Gemeinschaft dienen. Der Zwang kommt nur bei denen zur Anwendung, die nicht aus innerem Drang der Gerechtigkeit folgen, sondern nur durch Drohungen und Sanktionen dazu zu bringen sind 353). Damit also wird die Grenze zwischen Recht und Sittlichkeit nicht gänzlich verwischt, so wird doch zugleich eingeschärft, daß die Bindung an die transsubjektive Rechtsordnung nur dann hemmungslos, frei und freudig sich vollziehen kann, wenn sie zugleich als Erfüllung des spiritualen an die Gesinnung des Menschen sich wendenden Willens Gottes betrachtet wird, der als Urheber der Rechtsordnungen den Menschen den Sinn für die Gemeinschaft eingeschaffen und jede stolze, gottlose Zerreißung der natürlichen Prinzipien verabscheut 354).


➝ quia toto populo sint (reges) praefecti: quin potius umnes studeant fovere tamquam membra.
352) 27,480: quand un homme sera en dignité ou qui aura dequoy pour estre tenu en credit: s’il est tente de s’oublier, qu’il regarde: Je ne suis pas toutes fois separé d’avec le reste du corps, ie n’en suis que un membre: et ceux qui sont inferieurs à moy, ne laissent point d’estre mes freres. 35,164: un qui est en autorité publique regarde de gouverner des suiets telement qu’il les cognoisse comme ses freres.
353) 2,260: non voluntaria submissione, sed inviti ac resistentes, tantum timoris violentia ad legis studium trahantur.
354) 24,607: voluit Deus impiam superbiam quae naturae principia convelleret horrori esse.

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Dieser Erkenntnis scheint aber die Tatsache zu widersprechen, daß Gott selbst sich über die Prinzipien des Naturrechts hinwegsetzt. Wird dies von Calvin restlos zugegeben, so beruhigt er sich nicht damit, die Antinomie zwischen der Erhabenheit Gottes und dem Naturgesetz einfach festzustellen. Das Durchbrechen des Naturrechtes, das aus den sie bezeugenden Schriftstellen nicht wegzudeuten ist, gehört aber nicht zu dem eigentlichen oder gewöhnlichen Tun Gottes; sonst wäre das „Recht des Naturrechtes” wie der Bestand der Seinsgesetze illusorisch. Die Frage ist nur, welchen Motiven das außerordentliche Tun Gottes entspricht und ob es eine generelle Aufhebung des Naturrechts bedeutet 355).

Daß die Prädestinationslehre die Problematik des Naturrechts berühren muß, ist wegen des bereits von Paulus in den Erwählungsgedanken eingeflochtenen Erstgeburtsrechtes der beiden Isaakbrüder begreiflich. Trotzdem geht Calvin in der systematischen Erörterung der Prädestinationslehre auf das Problem: Gott und das Naturrecht, nicht näher ein, sondern beschränkt sich auf die Feststellung, daß die schenkende Gnade als solche in der ungleichen Behandlung der Menschen zur Erscheinung kommt 356).


355) Vgl. zum Folgenden die Ausführungen von Beyerhaus, S. 72ff. der die Durchbrechung des Naturrechts mit Recht feststellt, aber die aus den angegebenen Motiven von Calvin selbst hinsichtlich des Naturrechtes gezogenen Schlüsse übergeht, wodurch die Problematik des Naturrechts noch problematischer erscheint.
356) 2,685: ut minime ab eo exigenda sit aequalis gratiae partitio, cuius inaequaljtas ipsum vere esse gratuitam demonstrat. Offenbar eine rationale Lösung, die auch bei Melanchton sich findet. Vergleiche CR 15,682: videt Paulus haec longe posita esse supra conspectum rationis humanae: quare interpellat ipse sese et argumentum commune, quod omnibus sanis in mentem venire necesse est, proponit et diluit. Si Esau et Jacob sunt pares, Deus utrumque eligere et reicere debuit, quia iustus iudex reddit paria paribus. Paria paribus reddenda sunt cum solvitur debitum; In donatione vel cum agitur per misericordiam, nihil opus est paria reddere paribus. Dasselbe 15,981. Vgl. dazu die irrationale Lösung Luthers W.A.24,37: Also haben wir das Göttliche urteil von den zweyen brüdern, das was da hoch ist. für Gott nichts sey und müsse herunter geworffen werden und was nidrig ist, für yhm hoch ist und obligen müsse, Auff das da gewehret werde beydr: aller vermessenheit und verzweivelung und die armen trost und trotz haben, aber die großen und gewaltigen sich furchten und demütigen. Dasselbe W.A. 24.681 in bezug auf Ephraim und Manasse.

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Dagegen wird in der Homilie über 1. Samuelis 16 (Op. 30,176ff) das Naturrechtsproblem mit der Prädestinationslehre eng verknüpft. Wenn Gott bei seiner Erwählung das von ihm und seinem Gesetz gut geheißene und in seinem Volk immer beobachtete natürliche Vorrecht der Erstgeburt nicht berücksichtigt, so will er damit der überströmenden Anmaßung der Menschen entgegentreten, die in ihrem Wahn, Gott müsse ihre Tugenden mit seiner Liebe belohnen, vergessen, daß die Erwählung von keinen menschlichen Ursachen, von keinem menschlichen Rat abhängig, und der Grund in Gottes Herrscherwillen zu suchen ist. Durch die Nichtachtung des Erstgeburtsrechtes wird aber die natürliche Ordnung auf keine Weise umgestoßen. Dieser außerordentliche Weg soll vielmehr die Menschen daran erinnern, daß die himmlischen Güter aus seiner reinen Gnadenquelle fließen 357). „Die wohl überlegte Aenderung des Naturrechtes” 358) ist also nur eine Abweichung von der Naturordnung, 359) aber nicht eine kühne Durchbrechung der Naturordnung, die dadurch keineswegs entwertet oder außer Kraft gesetzt wird 360).

Sonst wird das Problem Prädestination und Naturrecht nur einmal aufgerollt, und zwar bezeichnenderweise


357) 30,169: Deum eligentem aliquos nun pendere ab ullis causis humanis nullamque neque personarum neque consiliorum, neque illius rei quae ab hominibus proficiscatur habere rationem: sed in se uno causam reperire. Quod etsi nobis novum et insolens videatur, sie tamen illum operari necesse est, ut omnis gloriandi occasio nobis adimatur. Quis enim primogeniturae ius inter homines instituit, quod ipse Deus approbavit, nisi Dei spiritu afflati homines, quibus primogenitos ornare hac praerogativa visum est, ut sint reliquorum domini et caput? Et semper observatum ius istum in Dei populo divinaque lege comprobatum. Quandoquidem igitur Deus naturae ordinem instituit, quare eundem invertit, annon eo delectatur? Minime gentium evertit, sed quoniam fere turgemus superbia ac arrogantia, et nobis videmur digni quos Deus amore suo propter ingenitas virtutes complectatur, necesse est ipsum extraordinaria via progredi, ut . . sciamus, bene spiritualia ab ipsius mera gratia sola promanare.
358) 23,586: ac si non Deus saepe consulto ius naturae mutaret: ut sciamus in mero eius arbitrio esse positum quod gratis confert.
359) Vgl. 47,397: prater ordinem. Charakteristisch ist die Bemerkung Calvins zu Deut. V, Vers 4 (26,436): Die Gerechtigkeit Gottes ist eine so unantastbare Sache, daß dadurch die Ordnung der Natur in den meisten Fällen aufgehoben werden müßte. Trotzdem bleibt bei allen Revolutionen, die als Folge der strafenden Gerechtigkeit eintreten, die Naturordnung innerlich unverändert.
360) Angesichts des minime gentium evertit ist der Ausdruck „eine kühne Durchbrechung” (Beyerhaus, a.a.O.) nicht passend.

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nicht spontan, sondern als Auseinandersetzung mit dem Einwand Castellios, daß die Prädestination der natürlichen Liebe widerspreche 361). Die Lösung Calvins, daß Gott an die den Geschöpfen gegebenen Gesetze nicht gebunden sei, ist eine typische; sie kehrt nämlich als Antwort auf die anderen mit der Prädestinationslehre nicht zusammenhängenden Fragestellungen wieder, in denen der Widerstreit zwischen den souveränen göttlichen Akten und dem Naturgesetz ganz offenkundig zutage tritt.

Das ist der Fall bei der Ex. 3, 20ff, 11, 2ff berichteten, von Gott gebotenen Beraubung der Aegypter. Der scheinbare Widerspruch (videtur) zwischen der göttlichen, die Naturrechte des Einzelnen, also auch das Eigentum schützenden Gerechtigkeit 362) und der die Forderungen des 8. Gebots außer Acht lassenden Handlungsweise Gottes sind behoben, wenn man bedenkt, daß das nur ein von Gott den Menschen verliehenes Geschenk ist, über das er frei verfügen kann, da er an die menschlichen Gesetze nicht gebunden ist. Diese Handlungsweise Gottes ist nur eine vereinzelte Erscheinung; es wäre verkehrt, das Beispiel ohne besonderen Auftrag Gottes nachzuahmen 363). Auch die Zurechnung und Bestrafung der allgemeinen Menschheitssünde sowie die Heimsuchung der Sünde der Väter an den Nachkommen wird damit begründet, daß Gott sich selbst Gesetz ist, dabei aber hervorgehoben, daß dieses Straf verfahren nicht eine blinde, unterschiedslos die Verworfenen mit den Unschuldigen durcheinandermischende Gewalttat ist, sondern daß auch hier Gott das höchste Recht mit der Billigkeit verbindet 364). — Vollends bei den schwersten und heikelsten Situationen, in denen das Allernatürlichste von dem Natürlichen, die Eltern- und Bruderliebe im Interesse der unverkürzten Ehre Gottes zurückgestellt werden muß, wird mit allem Nachdruck


361) Vgl. Beyerhaus, a.a.O. 73, Scheibe, Calvins Prädestinationslehre, 75ff.
362) Op. 24,49: Eius esse proprium tueri ius suum cuique, prohibere furta . .
363) ib. 31ff: neminerimus tarnen singulare exemplum hic narrari, cuius absque speciali Dei mandato perversa imitatio esset.
364) ib. 631: eum sibi esse legem, nec coeco impetu ruere in exercenda vindieta, ut insontes reprobis commisceat, sed . . ut suum rigorem optima aequitate temperet. 28,192: c’est à sa facon, qui nous est incomprehensible, c’est à dire qu’il ne fait rien sans equité.

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betont, daß die Hintanstellung der natürlichen Pflichten die Naturordnung nicht verändert, daß bei der notwendig gewordenen Wahl zwischen Gott und den natürlichen Pflichten Gott das Uebergewicht behalten muß, 365) dessen Wille auch in diesem Fall die sicherste Regel der Gerechtigkeit bleibt 366). Wenn man darin einen andern von Luthers Ethik abweichenden Geist feststellt und behauptet, daß für Luther die natürliche Liebesordnung (in ihrer urständlichen Vollkommenheit) mit dem göttlichen Sittengesetz identisch sei, bei Calvin das natürliche Liebesgesetz und das positive göttliche Gesetz der bedingungslosen Verherrlichung der Souveränität Gottes unter Umständen auseinandertrete, 367) so ist dem entgegenzuhalten, daß Luther noch in schärferen Worten die Unbedingtheit der göttlichen Forderung in den Vordergrund rückt, als Calvin 368).

Es geht bei Gott nicht Macht vor Recht. Er handelt


365) Diese wichtigen Momente werden von Beyerhaus (a.a.O. 74) nicht erwähnt, wodurch leicht ein schiefes Bild entstehen kann.
366) Op. 29,142ff zu Deut. 23, 9: non pas que Dieu ait voulu changer l’ordre de nature, mais c’est pour monstrer quand il est question d’exercer leur charge, qu’il ne soyent point destournez par aucun regard mondain, que rien ne les empesche que du tout fidelement il n’executent ce que Dieu leur commande. II ne faut point que celuy qui voudra servir à Dieu oublie pere et mere, pour ne se point acquiter du devoir naturel qu’il a: mais il faut qu’il prefere Dieu à tous hommes. — Zu Ephes. 6, 1 bemerkt Calvin (Op. 51,228ff): praeter naturae legem, quae recepta est inter omnes gentes, Dei quoque autoritate sancitam docet filiorum obedientiam. Inde tamen sequitur, eatenus obediendum esse parentibus, ne laedatur erga Deum pietas, quae primum gradum obtinet. Nam si ad Dei institutum tamquam ad suam regulain exigenda est filiorum subiiectio: praeposterum foret, per eam ab ipso Deo abduci . . Neque enim disputare fas est aut in controversiam revocare quale sit quod statuit is, cuis voluntas certissima est regula iustitiae et rectitudinis.
367) Troeltsch, a.a.O., 641 Anm.
368) Vgl. W.A. 32,400: Also kan sich ein Christ leichtlich inn die Sachen richten, das er sich beide gegen feind und freund recht halte und jedermann liebe, segne, wo es des nehesten person betrifft, aber doch daneben, was Gott und sein Wort angehet, nichts lasse, zu nahe geschehen, sondern dasselb über und für alles setze, alles drüber zusetze, niemand angesehen, es sei freund odder feind . . Was Gottes Wort belanget, das sollte keine freundschaft noch liebe gewarten, das ich dawidder thun solt, ob du auch mein nehester bester freund werest, Sondern wei du dasselb nicht leiden wilt, so wil ich solch gebet und segen über dich sprechen, das dich Gott zuschmettere inn die erden. Gerne wil ich dir dienen, aber nicht dazu, das du Gottes wort wilt unbstoßen, da soltu mich nicht zu bringen, noch vermögen, das ich dir einen trunck wassers solt geben. Summa, menschen sol man lieben und dienen, aber Gott über alles, das wo man die selbe hinderen odder weren wil, da gilt keine liebe noch dienst mehr, denn es heißet: deinen feind soltu lieben und guts tun, aber Gottes feinden muß ich auch feind sein, das ich nicht mit in widder Gott anlauffe. Dasselbe W.A. 47.267.

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nicht willkürlich und tyrannisch 369). Da man nicht annehmen kann, daß Gott entsprechend dem Sittengesetz handeln will, aber nicht handeln kann, weil er nichts gegen seinen Willen verfügt, so müssen wir in allen göttlichen Willensäußerungen und Taten, die uns unbegreiflich scheinen, eine uns unbekannte Gerechtigkeit voraussetzen und an diese glauben. Wir wollen eben darin unsere Ehre suchen, Gottes Recht als ein ureigenstes Recht gelten zu lassen 370). Dieses Recht ist aber ein gerechtes Recht, denn der göttliche Wille ist die Regel der höchsten Rechtlichkeit, begründet in der besten Vernunft und der höchsten Billigkeit 371). Weil dieses ureigenste, höchst vernünftige, alle tyrannischen Akte ausschließende 372) göttliche Recht, in dessen Hervorhebung Calvin mit Luther übereinstimmt 373), das Naturrecht nach der ausdrücklichen Aussage des Reformators nicht aufheben will, so ist der Schluß, den man gerade mit Rücksicht auf die Souveränitätslehre Calvins hat ziehen wollen, nämlich daß diese den Reformator dem Naturrecht entfremdet hatte, ungerechtfertigt 374).


369) Op. 49,185.
370) 24,224: nihil nobis honorificum, quam Deo ius suum asserere et in suum attollere eius gloriam, ut emineat. Vgl. auch 34,340ff.
371) 49,187: rectissimae aequitatis regula. 9,245: voluntas haec, etsi neque aliunde pendet nec aliam habet priorem causam, in optima tamen ratione summaque aequitate fundata est. Nam quum legis fraeno indigeat hominum intemperies, ulla est Dei ratio, qui sibi ipse lex est et cuius voluntas est regula optime rectitudinis. Op. 9,713: voluntas (Dei) summa est iustitiae regula. 9,258: summa aequitatis regula. 8,361: rationum omnium ratio. 2,872: perfecta omnis iustitiae ac sanetitatis regula. 58,38: regle de iustice, sagesse et equité. 51,786: sa volonté est une regle certaine et infaillible, de laquelle il n’est nullement licite de decliner ni à dextre ni à senestre. 26,267: Dieu est fontaine de toute sagesse, de toute vertu, de tout droiture et equité.
372) Op. 49,185.
373) W.A. 18,712: Deus est, cuius voluntatis nulla est causa nec ratio, quae illi ceu regula aut mensura praescribatur, cum nihil sit illi aequale aut superius, sed ipsa est regula omnium. Si enim esset illi aliqua regula vel mensura aut causa aut ratio, iam nee dei voluntas esse posset. Non enim quia sie debet et debuit velle, ideo rectum est, quod vult, sed contra: quia ipse, sie vult, ideo rectum est quod vult.
374) So abermals Lang Gött. Gel. Anz. 272. Wenn dieser überdies in Ergänzung der diesbezüglichen Ausführungen von Beyerhaus als Stütze seiner Annahme, die Betonung des göttlichen Willens mache das gelegentliche Anspielen auf den sensus naturae vollkommen gegenstandslos, die Stelle 24,403 anführt, so übersieht er, daß das darin enthaltene Verbot: quidquid humanum cum Dei mandato miscere nichts mit dem Naturrecht zu tun hat, daß aber der gegen den Aberglauben der Bilderverehrung sich richtende Satz ausdrücklich auf das mit dem Worte Gottes übereinstimmende Naturrecht Bezug nimmt (24,386 porro hinc refellitur stolida ➝

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Somit bleibt das Naturrecht unter der göttlichen Souveränität unerschüttert. Und zwar, wie wir jetzt zusammenfassend sagen können, trotz der Erbsündennot, ja vielleicht gerade wegen der Erbsündennot. Denn das Naturrecht ist die durch die allgemeine Gnade in der zerrütteten Natur erhaltene schöpfungsmäßig differenzierte Fähigkeit der Menschen, an der Lösung der zum Aufbau der Menschheit unumgänglichen Aufgaben mitzuarbeiten. Es entspricht dem Charakter der allgemeinen Gnade und der kosmischen Wirkung des hl. Geistes, daß allen Menschen die Samenkörner des Rechtes und der Billigkeit, der Sinn für Ordnung und der Zug zur Gemeinschaft von Natur eingeboren sind. Wird in dieser Hinsicht eine Ueber-einstimmung zwischen dem Naturrecht und dem Sittengesetz festgestellt, so erfahren die Inhalte des ersteren durch das letztere Verdeutlichung, Vertiefung und Ausweitung, vor allen Dingen werden die natürlichen individualen und sozialen Regungen durch das Sittengesetz, die Offenbarung des rein spiritualen Willens Gottes, einheitlich geregelt durch die Kraft des im Glauben, Lieben, Gehorsam und Ehrfurcht verankerten Gesinnungsantrieb. Die Angleichung der christlich bestimmten Inhalte an die außerchristlichen geschieht ständig unter Berücksichtigung der Antike, wie ja auch die Naturrechtslehre Calvins unter Umgehung des Mittelalters unmittelbar von den Kardinalbegriffen der antiken, besonders der stoischen Lehre ausgeht, wobei der Abstand von dieser geflissentlich gewahrt wird. Muß Calvin viel entschiedener als die Stoa den Unterschied zwischen dem absoluten, egalitären Naturrecht und dem relativen betonen, so tritt in der inhaltlichen Bestimmung des letzteren die Eigenart der calvinischen Naturrechtslehre ganz besonders hervor. Sie besteht in der engen Verknüpfung des Naturrechtes mit dem organischen Gedanken, wodurch die schroffen, in der


➝ papistarum inscitia, qui prohibitionem hanc (Bilderverbot) ad veterem populum restringunt . . quasi vero Judaeos compellet Paulus, dum ex communi naturae principio ratiocinatur). Die Stelle 24,284: Was Gott geboten hat, ist ein cultus legitimus, die menschlichen Gedankenfündlein dagegen ein cultus adulterinus, widerlegt nicht die naturrechtichen Forderungen, sondern den päpstlichen Kultus (quum vero pompae omnes cultus papalis congeries sit vanarum traditionum).

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Verabsolutierung des objektiven Zwangsrechtes und der subjektiven Naturrechte verwurzelten Gegensätze gemildert und die Ethisierung der gesellschaftlichen Ueber- und Unterordnungsverhältnisse angebahnt wird. Es wird die nächste Aufgabe der Forschung sein, zu zeigen, wie diese eigenartige Auffassung des relativen Naturrechtes in der Geschichte fortgewirkt hat. Jedenfalls braucht man jetzt nicht mehr es als Problem zu bezeichnen, warum das Naturrecht sich „gleich einem unaufhaltsamen Strom in den reformierten Protestantismus ergossen hatte” 375), da die Voraussetzung, daß „Calvin zu dem Naturrecht eine weniger günstige Haltung eingenommen hatte”, als unbegründet aufgegeben werden kann.


375) Lang, Naturrecht, 40.