4. Die Leistung der Kirche für den Staat

Überblickt man die im Neuen Testament an die Christen gerichteten Mahnungen hinsichtlich ihres Verhältnisses zum Staate, so ist es gewiß berechtigt, die 1. Tim. 2, 1 ausgesprochene Mahnung zur Fürbitte als die intimste und als die alle anderen zugleich umfassende und radikalisierende in den Mittelpunkt zu stellen. Man muß dabei nur beachten, wie umfassend diese besondere Mahnung schon als solche ist. Dazu werden ja die Christen aufgefordert, „Bitten, Anbetungen, Fürbitten und Danksagungen” darzubringen für alle Menschen und im besonderen für die Könige und alle, die in behördlicher Stellung sind. Sagt die Stelle eigentlich weniger als dies: daß die Kirche nicht nur beiläufig, nicht nur in einer ihrer Funktionen neben anderen, sondern in dem ganzen Tun, in welchem sie als Kirche existiert, wie für alle Menschen, so im besonderen für die Träger des Staates vor Gott einzustehen hat? Einzustehen, das heißt

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aber — denn das besagt doch das ὑπέρ — an ihrer Stelle die Anrufung Gottes zu vollziehen, die sie nicht selber vollziehen können, wohl auch nicht vollziehen wollen und die doch vollzogen werden muß, weil sie ihre der Kirche so heilsame und um der Predigt der Rechtfertigung willen für alle Menschen so unentbehrliche ἐξουσία nur von Gott her haben und erhalten kann. Weit entfernt davon, daß der Staat Gegenstand der Anbetung werden könnte, ist er, sind seine Vertreter und Träger vielmehr dessen bedürftig, daß für sie gebeten wird. Daß dies geschieht, das ist, grundsätzlich und umfassend gesagt, die Leistung der Kirche für den Staat. Könnte sie ihn deutlicher an seine Schranken und könnte sie sich selber deutlicher an ihre Freiheit ihm gegenüber erinnern, als indem sie so für ihn einsteht? Dieses Einstehen der Kirche für den Staat soll aber offenbar geschehen ohne danach zu fragen, ob der vom Staat der Kirche zu leistende Gegendienst tatsächlich geleistet wird. Und erst recht ohne danach zu fragen, ob die Träger des Staates dessen im Einzelnen würdig sind. Wie könnte schon danach gefragt werden, wenn es sich um diese Leistung handelt? Gerade sie würde offenbar umso nötiger, je negativer jene Frage beantwortet werden müßte. Wie ja überhaupt, was Rechtfertigung ist, umso deutlicher wird, je mehr der ihrer teilhaftige Mensch als ein ernstlicher, wirklicher Sünder vor Gott und den Menschen sichtbar wird. Also: der den Christen aufgetragene Priesterdienst kann auch durch die fatalste Beantwortung jener Frage nicht aufgehalten sondern nur beschleunigt, es kann die Verantwortlichkeit der Kirche für den Staat auch dadurch, daß dieser vielleicht der brutalste Unrechtsstaat ist, nicht vermindert, sondern nur vermehrt werden.

Es hätte dem Verständnis des „Seid untertan ...!” Röm. 13, 1 und Par. gewiß gedient, wenn man nicht so oft wie gebannt in abstracto gerade auf diese Mahnung gestarrt, sondern beachtet hätte, in welchen Zusammenhang sie durch jene wesensgemäß übergeordnete erste Mahnung gerückt ist. Kann dieses „Untertansein” grundsätzlich etwas Anderes bedeuten als die jener priesterlichen Stellung der Gemeinde als solcher entsprechende praktische Haltung ihrer Glieder? Ὑποτάσσεσθαί τινι heißt ja auch gar nicht direkt und absolut „jemandem untertan sein” sondern: jemandem in seiner ihm zukommenden Stellung respektieren.

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Es handelt sich um ein Untertansein, das durch den Rahmen, in dem es stattfindet, nämlich durch eine bestimmte τάξις zugleich bestimmt und begrenzt ist. Die τάξις ist aber in diesem Fall wie in den anderen, in denen das Verbum vorkommt, nicht etwa durch die betreffenden Respektspersonen selbst aufgerichtet, sondern beruht nach v 2 auf der διαταγὴ τοῦ θεοῦ, der ordinatio Dei. Auf Grund und im Sinn dieser göttlichen Anordnung also sind jene zu respektieren. In was Anderem kann aber der anordnungsmäßige Respekt vor den staatlichen Respektspersonen bestehen als darin, daß die Christen sich ihnen gegenüber in die Stellung von solchen begeben, die unter allen Umständen das Beste, nämlich das Recht und das heißt den Schutz der Predigt von der Rechtfertigung von ihnen erwarten, die aber u.U. auch bereit sind, diese Predigt ihrerseits damit zu vollstrecken, daß sie von jenen statt Recht zu empfangen Unrecht leiden, die also so oder so ihre ihnen von Gott gegebene, bezw. sie selbst als von Gott eingesetzte ἐξουσία anerkennen werden? Würden sie das nicht tun, würden sie sich dieser διαταγή widersetzen und also der Staatsgewalt jenen durch die göttliche Anordnung bestimmten und begrenzten Respekt verweigern, dann würden sie sich eben damit nach v 2 Gott selbst widersetzen und es müßte ihnen dann ihre Existenz im Bereich der Staatsgewalt zum Gericht werden. Nicht rechnend mit jenem positiven göttlichen Auftrag des Staates und nicht bereit, wenn es sein muß, auch Unrecht von ihm zu erleiden, würden sie eo ipso zu jenen κακοί gehören, die seine Gewalt fürchten müssen, denen er mit seinem Schwert mit der ihm verliehenen Zwangsgewalt offen oder heimlich — „die Macht als solche ist böse” — nur Vollstrecker des göttlichen Zorngerichts, nur der fürchterliche Exponent der Verlorenheit dieses Äons sein könnte (v 4-5).

Aber eben: diese Röm. 13 gebotene Respektierung der Staatsgewalt wird sich ja von jener priesterlichen Funktion der Kirche ihm gegenüber theoretisch und praktisch gar nicht lösen lassen. In einer abstrakten und absoluten Fügsamkeit gegenüber den Absichten und Unternehmungen der Staatsgewalt kann sie unmöglich bestehen. Nur schon darum nicht, weil nicht nur nach der Apokalypse sondern auch nach Paulus damit zu rechnen ist, daß die Staatsgewalt ihrerseits sich der Widersetzlichkeit

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gegen den Herrn aller Herren, gegen die göttliche Anordnung, der sie ihre Gewalt verdankt, schuldig machen könnte. Bleibt es auch dann bei dem Respekt ihr gegenüber, so wird die Fügsamkeit in diesem Fall nur noch eine passive und auch als solche doch nur eine beschränkte sein können. Das ὑποτάσσεσθαι kann auf keinen Fall bedeuten, daß die Kirche und ihre Glieder die Absichten und Unternehmungen der Staatsgewalt auch dann von sich aus bejahen und freiwillig fördern werden, wenn diese statt auf den Schutz auf die Unterdrückung der Predigt von der Rechtfertigung gerichtet sein sollte. Die Christen werden ihr auch dann nichts schuldig bleiben von dem, was ihr als der Verwalterin des öffentlichen Rechtes, als Ordnungsmacht unentbehrlich ist und zukommt: „Steuer, dem die Steuer, Zoll, dem der Zoll, Furcht, dem die Furcht, Ehre dem, dem (als Repräsentant und Träger der ἐξουσία) Ehre gebührt” — auch dann, wenn er mit dieser ἐξουσία Mißbrauch treibt, bezw. wenn diese ἐξουσία in seinem Verhalten ihre dämonische Widersetzlichkeit gegen den Herrn aller Herren offenbar macht. Die Christen werden nach Matth. 22, 21 auch dann dem Kaiser geben, was des Kaisers ist, d.h. dasjenige, was ihm — nicht als dem guten oder schlechten Kaiser, sondern schlechthin als dem Kaiser — nun einmal zukommt: dasjenige Recht, das er auch dann hat, wenn er das Recht ins Unrecht verkehrt. Von Gott eingesetzte ἐξουσία ist und bleibt er ja, wie früher gezeigt, auch dann und so kann ihm dasjenige, was ihm daraufhin gebührt, auch dann nicht vorenthalten werden. Eben so unerbittlich muß es aber auch dabei bleiben, daß Christen Gott zu geben haben, was Gottes ist: ebenso unerbittlich dabei, daß die Kirche Kirche sein und bleiben muß. Das kann also das von den Christen verlangte ὑποτάσσεσθαι nicht bedeuten, daß sie sich auch die direkt oder indirekt gegen die Freiheit ihrer Verkündigung gerichteten Absichten und Unternehmungen der Staatsgewalt zu eigen machen, daß sie die Verantwortlichkeit dafür auch auf sich selbst nehmen könnten. Wohlverstanden: das ὑποτάσσεσθαι wird auch dann nicht aufhören. Aber eben als ὑποτασσόμενοι, eben im Respekt vor der Staatsgewalt werden sie dann, indem sie nicht aufhören, ihr gegenüber ihre Schuldigkeit zu erfüllen, nur ihre Opfer sein, in ihrem konkreten Wollen und Vollbringen aber sich nicht verantwortlich, gerade nicht „von Herzen” beteiligen

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können und gerade als ὑποτασσόμενοι werden sie das nicht verbergen können, sondern — entscheidend damit, daß die Predigt von der Rechtfertigung unter allen Umständen weitergeht — öffentlich zum Ausdruck bringen müssen. Nicht gegen den Staat, sondern als Leistung der Kirche für den Staat wird auch das geschehen! Ist doch ihr Respekt vor der Staatsgewalt ein Annex der priesterlichen Funktion, in der sie ihm gegenüberstehen. Würden sie doch gerade das Entscheidende, das sie für den Staat tun können und müssen, unterlassen, wenn es unter ihnen zu einer aktiven Fügsamkeit, zu einer Bejahung gegenüber dem direkt oder indirekt auf die Unterdrückung der Freiheit des Wortes Gottes gerichteten Wollen und Tun der Staatsgewalt kommen würde. Denn mit der Freiheit des Wortes Gottes steht und fällt auch die Möglichkeit der Fürbitte für die Staatsgewalt. Dann würden sie objektiv und faktisch zu Staatsfeinden, wenn sie sich einer jene Freiheit bedrohenden Staatsgewalt gegenüber etwa nicht in jenen Abstand begeben oder wenn sie ihr diesen ihren Abstand — einen höchst gelassenen, höchst überlegenen, höchst warnenden Abstand! — verbergen würden. Dann wäre Jesus objektiv und faktisch ein Staatsfeind gewesen, wenn er es etwa nicht gewagt hätte, seinen Landesherrn Herodes gelegentlich in aller Ruhe einen „Fuchs” zu nennen (Luk. 13, 32). Gerade der auf verkehrten Weg geratenen Staatsgewalt gegenüber kann die Anordnung Gottes, der sie ihre Existenz verdankt und damit sie selber nicht besser geehrt werden als durch diese, die kritische Form des ihr unter allen Umständen zu leistenden Respektes. Was kann denn für eine solche Staatsgewalt überhaupt geleistet werden, als die Fürbitte? Und wie können die Christen sie leisten, wenn sie etwa die Verkehrtheit der Staatsgewalt bejahend, zu Verrätern an ihrer eigenen Sache geworden sein sollten? Was für ein Respekt dem Staat gegenüber sollte das sein, was solchen Verrat bedeuten würde?

Wir haben nach dieser Erörterung des ὑποτάσσεσθαι von Röm. 13, 1 in seinem Zusammenhang mit 1. Tim. 2, 1 freie Bahn zu grundsätzlicher Einsicht in das Wesen der Leistung, die die Kirche als Organ der göttlichen Rechtfertigung dem Staate als dem Organ des menschlichen Rechtes schuldig ist, die der

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Staat von ihr erwarten darf, und mit der sie dem Staate, wenn sie im Gehorsam steht, tatsächlich dienen wird. Wir hörten: es gibt eine wechselseitige Garantie zwischen diesen beiden Bereichen. Wir fragen jetzt: Welches ist die Garantie, die die Kirche dem Staate zu bieten hat?

Nach allem, was uns als konstitutiv für das Verhältnis der beiden Bereiche entgegengetreten ist, ist zunächst die Antwort zu geben: daß es außer der Kirche keine Stelle in der Welt gibt, in der ein grundsätzliches Wissen um die Berechtigung und Notwendigkeit des Staates vorhanden ist und zur Aussprache kommt. Vor allen anderen Stellen aus kann der Staat und kann jeder einzelne Staat mit seiner Bemühung um menschliches Recht grundsätzlich problematisiert werden. Von der die göttliche Rechtfertigung allen Menschen verkündigenden Kirche her kann das nicht geschehen. Denn für die Kirche ist die Autorität des Staates eingeschlossen in die Autorität ihres Herrn Jesus Christus. Die Kirche lebt in der Erwartung des ewigen Staates und in dieser Erwartung ehrt sie auch den irdischen, erwartet sie immer wieder das Beste von ihm: daß er in seiner Weise, im Raum „aller Menschen” eben dem Herrn diene, den die Glaubenden jetzt schon als ihren Heiland lieben. Die Kirche erwartet vom Staate um der freien Predigt der Rechtfertigung willen, daß er Staat sei und also Recht schaffe und spreche. Die Kirche ehrt den Staat aber auch dann, wenn er diese Erwartung nicht erfüllt. Sie verteidigt dann den Staat gegen den Staat, sie repräsentiert dann, indem sie Gott gibt, was Gottes ist, indem sie Gott mehr gehorcht als den Menschen, mit ihrer Fürbitte die einzige Möglichkeit, den Staat wieder herzustellen und vor dem Untergang zu retten. Die Staaten mögen entstehen und vergehen, die politischen Konzeptionen mögen sich wandeln, die Politik als solche mag die Menschen interessieren oder nicht interessieren — ein Faktor aber muß immer wieder staatserhaltender, ja staatsbegründender Faktor sein, und das ist quer durch alle Entwicklungen und Wandlungen hindurch die christliche Kirche. Was wissen denn die Staatsmänner und Politiker selber von einer letzten Berechtigung und Notwendigkeit ihres Tuns? Wer oder was gibt ihnen die Gewißheit, daß dieses ihr Tun nicht als solches Eitelkeit ist, auch wenn sie es noch so ernst nehmen? Um nicht zu

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reden von den Anderen, deren Verantwortung für die Polis und ihr Recht die Staatsmänner ja nur repräsentieren können und auf deren Mitarbeit sie doch so entscheidend angewiesen sind! Wie die göttliche Rechtfertigung das rechtliche Kontinuum ist, so ist die Kirche das politische Kontinuum. Und daß sie das ist, das ist ihre erste und grundlegende Leistung für den Staat. Sie braucht nur wirklich Kirche zu sein, dann ist sie es tatsächlich. Der Staat aber empfängt diese Leistung und lebt heimlich davon, ob er darum weiß und dafür dankbar ist oder nicht, ob er es so wahrhaben oder nicht wahrhaben will.

Wir betreten nur scheinbar eine niedere Sphäre, wenn wir zweitens unter nochmaligen Verweis auf Röm. 13, 5-7 daran erinnern, daß eben die Kirche von ihren Gliedern mit einem Nachdruck, wie er keiner anderen Instanz zu Gebote steht, die Erfüllung jener Pflichten verlangt, von deren Leistung noch nicht die Güte oder Schlechtigkeit eines Staates, wohl aber der Bestand jedes Staates als solchen abhängig ist. Daß Steuern und Zölle dem Staat wirklich gehören, daß seine Gesetze und ihre Vertreter als solche wirklich in Furcht und Ehrerbietung zu anerkennen sind, das kann vorbehaltlos und ernstlich bindend nur von der göttlichen Rechtfertigung des sündigen Menschen her gesagt werden, weil es von da aus allein gegen die Sophismen und Entschuldigungen des sich selbst rechtfertigenden und darum gerade vor dem Recht heimlich immer auf der Flucht begriffenen Menschen in Schutz genommen ist. Die Kirche weiß, daß der Staat gerade das wirkliche und eigentliche menschliche Recht, das ius unum et necessarium, nämlich das Freiheitsrecht der Rechtfertigungspredigt weder aufrichten noch schützen könnte, wenn ihm das, was ihm gebührt, damit er als Garant des Rechtes überhaupt bestehen kann, nicht geleistet wird, und darum fordert sie, daß ihm das unter allen Umständen geleitet werde.

Man würden nun freilich viel darum geben, wenn uns Röm. 13 und im übrigen Neuen Testament gleich etwas ausführlicher darüber Bescheid gegeben wäre, was unter diesen vom Christen erwarteten und von ihm zu erfüllenden politischen Pflichten im Einzelnen zu verstehen und nicht zu verstehen sei. Hier entstehen Fragen, deren Beantwortung wir nicht direkt, sondern nur indirekt: in einer sinnvollen Verlängerung der

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dort gegebenen Antworten aus dem Neuen Testament ablesen können.

Könnte es z.B. Röm. 13, 7 auch heißen: τῷ τὸν ὅρκον τὸν ὅρκον? Gehört zu den selbstverständlich zu erfüllenden Pflichten auch eine von der Staatsgewalt vielleicht verlangte Eidesleistung? Die Reformatoren haben die Frage bekanntlich bejaht und man möchte im Blick auf Matth. 5, 33f. wohl wünschen, daß sie es wenigstens nicht ganz so unbedenklich getan hätten. Das ist, auch wenn man sie bejaht, sicher, daß ein staatlicher Eid dann (im Respekt vor dem Staat!) nicht geleistet werden kann, wenn er als Totalitätseid (d.h. als Verpflichtung auf einen Namen, der faktisch den Sinn und die Kraft eines Gottesmannes hat) eo ipso jene aktive Gefügsamkeit gegen die die Freiheit des Wortes Gottes bedrohende Staatsgewalt und damit für die Christen jenen Verrat der Kirche und ihres Herrn bedeutet.

Gehört auch der Militärdienst zu jenen selbstverständlich zu erfüllenden Pflichten? Die Reformatoren haben auch diese Frage bejaht und wieder möchte man wünschen, daß sie es etwas weniger munter getan hätten. Daß der Staat die mörderische Natur dieses Äons hat, das wird daran, daß er auch nach Röm. 13 das Schwert trägt, besonders sichtbar. Man wird doch in der Sache jedenfalls grundsätzlich nicht zu einem anderen Ergebnis kommen können als die Reformatoren. Menschliches Recht bedarf der Garantie durch menschliche Gewalt. Der Mensch wäre nicht der der göttlichen Rechtfertigung bedürftige Sünder, wenn es anders wäre. Der von außen oder von innen mit Gewalt bedrohte Staat wird sich wohl dazu rüsten müssen, Gewalt mit Gewalt abzutreiben, um fernerhin Staat sein zu können. Es müssen schon sehr gewichtige Mißtrauensgründe gegen ihn vorliegen, wenn der Christ berechtigt und berufen sein sollte, ihm dabei seinen Dienst zu verweigern — wenn gar die Kirche als solche berechtigt und berufen sein sollte, an dieser Stelle Nein zu sagen. Ein grundsätzliches christliches Nein kann es hier unmöglich geben, weil es das grundsätzliche Nein zum irdischen Staat als solchem sein müßte, das als solches unmöglich christlich sein kann. Und ich möchte im Blick auf die schweizerische Landesverteidigung im Besonderen hinzufügen: hier und also für uns kann es bestimmt auch kein praktisches Nein geben. Man kann gegen die Art, wie der Staat sich in der Schweiz

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als Rechtsstaat zu bestätigen versucht, viele und schwere Bedenken haben und wird darum doch sinnvoller Weise nicht behaupten können, daß er der Kirche als das Tier aus dem Abgrund von Apc. 13 gegenüberstehe. Wohl aber kann und muß das heute von mehr als einem anderen Staat gesagt werden, dem gegenüber unsere Rechtsordnung zu verteidigen der Mühe wert ist; und da dem so ist, ist es gerade heute auch christlich sinnvoll und recht, unsere Grenzen zu sichern, und wenn der Staat in der Schweiz dies tut, so ist nicht abzusehen, inwiefern die Kirche in der Schweiz sich dabei nicht in aller Bestimmtheit hinter ihn stellen sollte30a).

Anders steht es mit der Frage, ob der Staat das Recht hat, zur Verstärkung seiner Macht seine Untertanen und Bürger in irgend einer Form innerlich für sich in Anspruch zu nehmen und also eine von ihm her bestimmte Weltanschauung oder doch weltanschauungsmäßige Sentiments und Ressentiments von ihnen zu fordern. Diese Frage ist vom Neuen Testament her rundweg zu verneinen. Forderungen dieser Art dürften in keiner Verlängerung der Linie von Röm. 13 möglich und also von Rechts wegen weder zu erheben noch zu beachten sein. Hier droht vielmehr in irgend einer Nähe oder Ferne das Tier aus dem Abgrund, während der rechte Staat gerade diesen Anspruch weder nötig hat noch auch erheben wird. Die Forderung der Liebe ist Röm. 13 deutlich genug von den Forderungen, deren Erfüllung wir dem Staate schuldig sind, abgehoben. Wenn der Staat anfängt, Liebe zu fordern, dann ist er immer schon im Begriff, zur Kirche eines falschen Gottes und damit zum Unrechtsstaat zu werden. Der Rechtsstaat braucht keine Liebe, sondern nüchterne Taten einer entschlossenen Verantwortlichkeit. Eben diese sind es, die ihm durch die Kirche der Rechtfertigung gewährleistet werden.

Viel beschwerlicher, weil grundsätzlicher, ist eine andere scheinbare Lücke in der neutestamentliche Belehrung. Sie besteht darin, daß das Neue Testament konkret nur im Blick auf einen reinen Obrigkeitsstaat und also von den Christen nur als von Untertanen, nicht aber als von für den Staat in ihrer eigenen


30a) Es versteht sich von selbst, daß dasselbe auch von der Kirche in der Tschechoslowakei, in Holland, Dänemark, Skandinavien, Frankreich und vor allem England zu sagen ist.

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Person mitverantwortlichen Bürgern zu reden scheint. Politische Pflichterfüllung erschöpft sich aber für uns hoffentlich nicht im Steuerzahlen und in sonstiger passiver Gesetzmäßigkeit. Politische Pflichterfüllung heißt für uns darüber hinaus: Verantwortliches Wählen der Obrigkeit, verantwortliches Entscheiden über die gelten sollenden Gesetze, verantwortliches Achten auf ihre Durchführung, mit einem Wort aktives politisches Handeln, das dann wohl auch politischen Kampf bedeuten kann und muß. Wenn die Kirche dem modernen Staat nicht gerade diese Form politischer Pflichterfüllung zu garantieren hätte, was hätte sie ihm, dem „demokratischen” Staate, dann überhaupt zu bieten? Die Frage muß nun offenbar gestellt werden, ob wir uns auch da in einer legitimen Verlängerung der Linie von Röm. 13 bewegen? Man wagt scheinbar viel, wenn man sie zu bejahen wagt. Sie muß aber eindeutig bejaht werden. Alles kommt jetzt darauf an, ob es mit jenem Zusammenhang des ὑποτάσσεσθαι von Röm. 13 mit der Mahnung zur Fürbitte von 1. Tim. 2 seine Richtigkeit hat. Ist nämlich das Gebet der Christen für den Staat das Maß und die Norm des ὑποτάσσεσθαι und dieses ein Annex zu jenem, zu der priesterlichen Funktion der Kirche, wird dieses Gebet ernst genommen als verantwortliches Eintreten der Christen für den Staat, dann ist schon damit das die Stelle Röm. 13 scheinbar — aber offenbar doch nur scheinbar — beherrschende Schema eines rein passiven Untertanenstandes der Christen durchbrochen. Dann fragt es sich ernstlich, ob es ein Zufall ist, daß es gerade im Bereich der christlichen Kirche im Laufe der Zeit gerade zu „demokratischen”, d.h. auf der verantwortlichen Betätigung aller Bürger sich aufbauender Staaten gekommen ist30b). Kann ein ernsthaftes Gebet auf die Länge ohne die entsprechende Arbeit bleiben? Kann man Gott um etwas bitten, das man nicht in den Grenzen seiner Möglichkeiten herbeizuführen im selben


30b) Zu denen sinngemäß auch „Monarchien” wie die englische, holländische usw. zu rechnen sind! — Die Phrase von der gleichen Affinität bzw. Nichtaffinität aller möglichen Staatsformen dem Evangelium gegenüber, ist nicht nur abgenützt, sondern falsch. Daß man in einer Demokratie zur Hölle fahren und unter einer Pöbelherrschaft oder Diktatur selig werden kann, das ist wahr. Es ist aber nicht wahr, daß man als Christ ebenso ernstlich die Pöbelherrschaft oder Diktatur bejahen, wollen, erstreben kann wie die Demokratie.

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Augenblick entschlossen und bereit ist? Kann man also beten, daß der Staat uns erhalten, und zwar als Rechtsstaat erhalten bleiben oder zum Rechtsstaat wieder werden möchte, ohne sich in eigener Person, in eigener Besinnung und mit eigener Tat dafür einzusetzen, daß dies geschehe, ohne mit der Schottischen Konfession31) den ernstlichen Willen zu haben und zu bekennen: vitae bonorum adesse, tyrannidem opprimere, ab infirmioribus vim improbum defendere, ohne also gegebenen Falles mit Zwingli32) auch damit zu rechnen, daß solche Machthaber, die untrüwlich und uffer der schnur Christi faren wurdind, „mit Gott entsetzt” werden müssen? Kann man der Staatsgewalt jenen schuldigen Respekt entgegenbringen, ohne ihre Sache mit allen diesen Konsequenzen zu seiner eigenen zu machen? Gerade im Blick auf den intimsten und zentralsten Gehalt der neutestamentlichen Mahnung würde ich also sagen, daß wir uns, wenn irgendwo, dann gerade in der Verlängerung der neutestamentlichen Linie im Sinne des „demokratischen” Staatsbegriffs auf dem Boden legitimer Auslegung befinden. Die Diastase zwischen Rechtfertigung und Recht, zwischen ἐκκλησία und πόλις, die Fremdlingschaft der Christen in diesem anderen Bereich wird da nicht aufgehoben, wohl aber wird da der ganze, unausweichliche Ernst der neutestamentlichen Weisung noch viel schärfer ins Licht gerückt, wo es klar ist, daß die Christen den irdischen Staat nicht nur erdulden, sondern wollen müssen, und daß sie ihn nicht als Pilatus-Staat, sondern nur als Rechtsstaat wollen können: daß es also ein äußeres Entfliehen aus jenem anderen, dem politischen Bereich, nicht gibt, daß sie, indem sie ganz in der Kirche, ganz auf die zukünftige Polis ausgerichtet sind, ebenso ganz in Schuld und Verantwortung auch der irdischen Polis verfallen und verpflichtet, ebenso ganz zum Arbeiten und (es sei denn!) zum Kampf wie zum Gebet für sie aufgerufen sind, daß für den Charakter des Staates als Rechtsstaat ein jeder von ihnen mit haftbar ist. Und gerade der „demokratische” Staat könnte ebensogut erkennen wie verkennen, daß er eine treuere, vollständigere Pflichterfüllung nirgendswoher erwarten kann als von den Genossen des ihm als Staat so fremden Bereichs der auf die göttliche Rechtfertigung begründeten ἐκκλησία.


31) Art. 14.
32) Schlußreden, Art. 42.

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Es bleibt uns hinsichtlich der dem Staat durch die Kirche zu gebenden Garantie noch ein letzter Kreis zu ziehen übrig. Wir erinnern uns, wie die neutestamentliche Mahnung gewissermaßen gipfelt in dem Hinweis darauf, daß die Christen letztlich und entscheidend durch ihr ἀγαθοποιεῖν dem Kaiser zu geben haben, was des Kaisers ist. Was heißt das aber, wenn wir unter diesem ἀγαθοποιεῖν nicht eine neutrale moralische Bravheit, sondern ihr im Glauben an Jesus Christus gelebtes Leben, das Leben der Kinder Gottes, das Leben der Kirche als solches, zu verstehen haben? Es heißt dann doch wohl, daß die entscheidende Leistung der Kirche für den Staat schlicht darin besteht, daß sie ihren Raum als Kirche behauptet und ausfüllt. Indem sie das tut, wird aufs Beste auch für den ganz anderen Raum des Staates gesorgt. Indem sie die göttliche Rechtfertigung verkündigt, wird aufs Beste auch der Aufrichtung und Erhaltung des menschlichen Rechtes gedient. Keine direkte Aktion, die sie, in wohlmeinendem Eifer selber halb oder ganz politisch handelnd, unternehmen und durchführen könnte, könnte auch nur von ferne mit der positiven Relevanz derjenigen Aktion verglichen werden, in der sie, ganz apolitisch, ganz ohne Eingriff in die stattlichen Belange, das kommende Königreich Christi und also die Rechtfertigung allein durch den Glauben verkündigt: die rechte schriftgemäße Predigt und Unterweisung und die rechte schriftgemäße Verwaltung der Sakramente. Indem sie diese Aktion vollzieht, ist sie es, die, im geschöpflichen Raum betrachtet, den Staat begründet und erhält. Der Staat wird, wenn er weise ist, im letzten Grund nichts als eben dies von ihr erwarten und verlangen, weil darin alles, was sie für ihn leisten kann, darin auch jene ganze umfassende politische Verpflichtung ihrer Glieder enthalten ist. — Und mann kann und darf die Sache jetzt noch zugespitzter formulieren: Die Garantierung des Staates durch die Kirche geschieht entscheidend eben dadurch, daß die Kirche die Garantie des Staates für sich selber, d.h. seine Garantie der Freiheit ihrer Botschaft in Anspruch nimmt. Es mag merkwürdig klingen, aber es ist so: darin erschöpft sich das, was von der göttlichen Rechtfertigung aus zu der Frage und zu den Fragen des menschlichen Rechtes zu sagen ist: die Kirche muß die Freiheit haben, die göttliche Rechtfertigung zu verkündigen. Der Staat wird

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in dem Maß seine eigentliche Möglichkeit verwirklichen und also Rechtsstaat sein, als er der Kirche diese Freiheit nicht nur positiv läßt, sondern aktiv gibt, d.h. in dem Maß, als er ehrlich und folgerichtig der Staat sein will, in dessen Raue — ob als Landeskirche oder Freikirche ist eine sekundäre Frage — die Kirche existiert, die diese Freiheit von rechtswegen hat. Wir wissen: der irdische Staat ist weder berufen noch fähig, das ewige Recht des himmlischen Jerusalem auf Erden aufzurichten, weil dazu überhaupt keine Menschenhand berufen und fähig ist. Er ist aber berufen und fähig, menschliches Recht aufzurichten. Und was menschliches Recht ist, das mißt sich nicht an irgend einem romantischen oder liberalen Naturrecht, sondern schlicht an dem konkreten Freiheitsrecht, das die Kirche für ihr Wort, sofern es das Wort Gottes ist, in Anspruch nehmen muß. Dieses Freiheitsrecht bedeutet die Begründung, die Erhaltung, die Wiederherstellung alles — wirklich alles Menschenrechtes. Man lasse es darauf ankommen, ob es mehr braucht als dies! Wo dieses Freiheitsrecht anerkannt ist und wo von der rechten Kirche der rechte Gebrauch davon gemacht wird, da gibt es — die freie Predigt von der Rechtfertigung wird dafür sorgen, daß die Dinge an ihren Ort zu stehen kommen — in gegenseitiger Bestimmung und Begrenzung legitime menschliche Autorität und ebenso legitime menschliche Selbstbestimmung, da fällt zu Boden die Tyrannei hier und die Anarchie dort, der Faszismus ebenso wie der Bolschewismus, da steigt auf die Ordnung der menschlichen Dinge, die Gerechtigkeit, die Weisheit und der Friede, die Billigkeit und die Fürsorge, die zu dieser Ordnung vonnöten sind. Nicht als der Himmel (nicht einmal als ein kleiner Himmel!) auf Erden! Nur so wie sie auf Erden und in dieser Zeit aufsteigen können, aber so, wie sie tatsächlich schon auf Erden und in dieser Zeit, in einer Welt der Sünde und der Sünder aufsteigen können. Kein ewiger, kein unversuchlicher, kein sündloser Salomo — es wird dafür gesorgt sein, daß er sich als das Gegenteil von dem allem immer wieder erweisen wird — aber immerhin Salomo, immerhin ein Abbild dessen, dessen Reich ein Reich des Friedens ohne Grenzen noch Ende sein wird. Das ist’s, was die Kirche dem Staate anzubieten hat, indem sie ihrerseits nichts anderes als Freiheit von ihm haben will. Gerade damit redet sie ihn selbst auf seine beste, seine eigentliche

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Möglichkeit an. Was kann er mehr verlangen und was kann ihm dienlicher sein als dies: so unerbittlich ernst genommen zu werden?

Wir kennen alle die Maxime Friedrichs des Großen: Suum cuique. Sie steht, was weniger bekannt ist, als Definition des menschlichen Rechts, als Zusammenfassung der Funktionen des rechten Staates schon in Calvins Institutio: ut suum cuique salvum sit et incolume33). Es beruht aber — und das hat Calvin nicht gesagt, das müssen wir erst wieder zu entdecken und zu lernen versuchen — auf der Rechtfertigung des sündigen Menschen in Jesus Christus und also auf der Ausrichtung der zentralen Botschaft der christlichen Kirche, daß eben dies in allen Dimensionen wahr und gültig werde in der großen Vorläufigkeit dieses Äons, in der großen Vorläufigkeit auch des Gegenübers von Kirche und Staat in der uns zwischen Jesu Christi Auferstehung und seiner Wiederkunft gelassenen Zeit der göttlichen Geduld:

Suum cuique.

 


33) Instit. IV 20, 3. Und es kann — darauf hat mich Dr. Arnold Ehrhard in Lörrach freundlich aufmerksam gemacht — kein Zweifel bestehen, daß Calvin hier seinerseits Ulpian bezw. Cicero zitiert hat, welcher laut De Leg. I 6, 19 eine Vermutung kannte, nach der „lex” Graeco nomine (νὀμος) a suum cuique tribuendo seinen Namen hätte.