1. Das Gegenüber von Kirche und Staat als solches

Auch ich halte es für richtig und wichtig, zunächst auf das „Gegenüber” von Jesus und Pilatus hinzuweisen. Die Reformation hat in ihrer Lehre von Kirche und Staat, soweit ich sehe, in den ganzen doch ziemlich inhaltsreichen evangelischen Texten, die sich mit dieser Begegnung beschäftigen, nur an dem Wort Joh. 18, 36: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt” Interesse genommen. Sie hätte es offenbar als eine Störung ihrer Gedanken über den Kurfürsten von Sachsen oder den Rat von Zürich und Genf empfunden, hätte sie sich dabei allzu intensiv gerade an Pilatus erinnern lassen müssen. Aber wäre hier nur Störung zu erwarten gewesen und nicht vielleicht gerade eine bessere Begründung dessen, was sie in dieser Sache sagen wollte? Hier ist jedenfalls Einiges nachzuholen8).


8 Gerade in dem hier Folgenden sind mir nun freilich die in einem ganz andern Zusammenhang angestellten Erwägungen Calvins über das sub Pontio Pilato im Credo indirekt sehr aufschlußreich gewesen:
Pourquoy n’est il dict simplement en un mot qu’il est mort, mais est parlé de Ponce Pilate, soubz lequel il a souffert?
Cela n’est pas seulement pour nous asseurer de la certitude de l’histoire: mais est aussi pour signifier, que sa mort emporte condemnation.
Comment cela?
Il est mort, pour souffrir la peine qui nous estoit deue, et par ce moyen nous en delivrer. Or pource que nous estions coulpables devant le jugement de Dieu comme mal-faicteurs: pour representer nostre personne, il a voulu comparoistre devant le siege d’un iuge terrein, et estre condamné par la bouche d’iceluy: pour nous absoudre au throne du Iuge celeste.
Neantmoins Pilate la prononce innocent et ainsi il ne le condamne pas, comme s’il en estoit digne (Matth. 27, 24; Luc. 23, 14).
Il y a l’un et l’autre. C’est qu’il est iustifié par le temoignage du iuge, pour ➝

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In der Tat: Der Staat in seiner Dämonisierung und damit sein Charakter als Macht dieses Äons auf der einen, die Heimatlosigkeit der Kirche in diesem Äon auf der anderen Seite — das wird in dieser Begegnung „grell” genug sichtbar: Hatten die Archonten dieses Äons9) die Weisheit Gottes, die „wir”, die Apostel, reden zu den Vollkommenen, erkannt, „so hätten sie den Herrn der Herrlichkeit nicht gekreuzigt”. Sie zeigten dort, daß sie sie nicht erkannt haben (1. Kor. 2, 6f.). — Aber die Belehrung über die Diastase zwischen Kirche und Staat war und ist nicht die einzige Belehrung, die die Gemeinde aus den mit der Begegnung von Jesus und Pilatus beschäftigten Texten zu gewinnen hat.

Ich verweise zunächst auf Joh. 19, 11: Hier bestätigt Jesus dem Pilatus ausdrücklich, daß er ἐξουσία über ihn habe und zwar nicht eine zufällige, oder angemaßte, sondern eine ihm „von oben” gegebene 10). Und diese ἐξουσία ist gar nicht etwa an sich und als solche eine Macht des Bösen, der Feindschaft gegen Jesus und seinen Anspruch. Pilatus selbst hat die Sache in dem vorangehenden v 10 dahin formuliert: „Ich habe Macht, dich frei zu sprechen und ich habe Macht, dich zu kreuzigen”. Sie konnte als von Gott gegebene Macht und ohne diesen Charakter zu verlieren, Jesus gegenüber so und so gebraucht werden. Wäre Jesus von Pilatus frei gesprochen worden, dann hätte das zwar gewiß nicht bedeutet: die Legitimierung


➝ monstrer, qu’il ne souffre point pour ses demerites, mais pour les nostres: et cependant est condamné solennellement par la sentence d’iceluy mesme, pour denoter, qu’il est vrayment nostre pleige, recevant la condamnation pour nous afin de nous en acquiter.
C’est bien dit. Car s’il estoit pecheur, il ne seroit pas capable de souffrir la mort pour les autres: et neantmoins, afin que sa condemnation nous soit delivrance, il faut qu’il soit reputé entre les iniques (Jes. 53, 12).
Ie l’entens ainsi.
(Catéchisme de l’Eglise de Genève 1542, Bekenntnisschriften und Kirchenordnungen der nach Gottes Wort reformierten Kirchen, München 1937f, Heft 1, S. 9).
9) Archonten werden Röm. 13, 3 die Beamten des Staates genannt!
10) Es scheint mir angesichts dieser Stelle nicht gut möglich, so allgemein wie H. Schlier (Die Beurteilung des Staates im Neuen Testament Z.d.Z. 1932 S. 312) es tut, zu sagen: „Der irdische Staat hat keine Möglichkeit, über dieses Reich und seine Vertreter ein Urteil abzugeben”. Eben dazu ist er hier offenbar durch die Synagoge des alten Bundes (im Sinne der Evangelien sicher non sine Deo) dringend genug aufgerufen.

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Jesu als des Königs, der dazu geboren und in die Welt gekommen ist, daß er für die Wahrheit zeuge (Joh. 18, 37). Diese Legitimierung konnte und kann keines Pilatus Sache sein. Der Staat ist in der Wahrheitsfrage neutral: „Was ist Wahrheit?” (Joh. 18, 38). Wohl aber hätte dies und also die der Archonten dieses Äons als solchen mögliche Erkenntnis der Weisheit Gottes (1. Kor. 2, 8) bedeutet: Jesu Legitimierung, den Anspruch, dieser König zu sein, mit lauter Stimme unter den Menschen erheben zu dürfen: die rechtliche Freigabe der Verkündigung der Rechtfertigung! Pilatus hat Jesus nicht freigesprochen. Er hat seine Macht dazu gebraucht, Jesus zu kreuzigen. Jesus hat aber ausdrücklich anerkannt, daß sie auch so die ihm von Gott gegebene Macht sei. Unterwarf er sich damit nach der Meinung des Evangelisten dem Willen und Spruch einer allgemeinen göttlichen Vorsehung? Oder war dem Evangelisten etwa das wichtig an diesem anderen Gebrauch, den Pilatus von seiner ἐξουσία machte, daß er statt Recht zu sprechen dem Unrecht im Gewande des Rechtes seinen Lauf ließ? War hier nur das oder doch vorzugsweise das zu sehen und zu würdigen, daß der Staat sich mit dieser Entscheidung gegen die Kirche wendete? Nein, was jetzt, in diesem Gebrauch der ἐξουσία des Staatsmannes geschah, eben das war ja das einzig Mögliche, was in Vollstreckung des gnädigen Willens des Vaters Jesu Christi geschehen konnte! Eben indem er (immerhin im Gewande des Rechtes! in Ausübung der ihm von Gott gegebenen ἐξουσία) dem Unrecht seinen Lauf ließ, war er ja das menschlich geschöpfliche Werkzeug der durch diese Kreuzigung ein für allemal zu vollziehenden Rechtfertigung des sündigen Menschen. Man bedenke die geradezu unübersehbare Bedeutsamkeit des Vorganges im Lichte der paulinischen Botschaft: Indem Pilatus Jesus aus den Händen der Juden entgegennimmt, um ihn geißeln und kreuzigen zu lassen, ist er sozusagen der Mittelsmann, der ihn übernimmt im Namen der Heidenschaft, die eben damit ihre Solidarität mit der Sünde Israels offenbart, eben damit aber auch eintritt in die Gemeinschaft von Israels Verheißung. Was wäre aller Rechtsschutz, den der Staat dort der Kirche gewähren konnte und sollte, gewesen neben diesem Tun, in welchem er ja, menschlich gesehen, geradezu zum Begründer der Kirche wurde? Als welcher er sich denn auch

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z.B. in dem Zeugnis des Centurio unter dem Kreuz (Mk. 15, 39) allen anderen Bekenntnissen vorangehend, ausdrücklich bestätigt hat. Das ist eine Belehrung, die die Kirche aus dem Gegenüber von Jesus und Pilatus jedenfalls auch zu gewinnen hat: Gerade der dämonisierte Staat kann wohl das Böse wollen, um dann doch in eminenter Weise das Gute tun zu müssen. Er kann seinem Dienst nicht entlaufen. Er entläuft ihm hier so wenig, wie er ihm nach Luk. 13, 1-5 entlaufen kann, wo derselbe Pilatus, zum Mörder an jenen Galiläern geworden, in der gleichen Weise zum Instrument des Bußrufes werden muß wie der ebenso mörderisch einstürzende Turm von Siloah. Eben darum kann dem Staat seine Ehre nicht verloren geben. Eben darum muß seinen Vertretern nach dem Neuen Testament unter allen Umständen Ehre erwiesen werden (Röm. 13, 8; 1. Petr. 2, 17).

In dieselbe Richtung weist bei den Synoptikern die Barabbas-Episode. Was tut denn Pilatus, indem er den „berüchtigten” (Matth. 27, 16), den „wegen Aufruhrs und Totschlages ins Gefängnis gesetzten” (Luk. 23, 25) Barabbas frei gibt, den von ihm selbst als unschuldig erkannten Jesus aber preisgibt zur Geißelung und Kreuzigung? Man wird doch bei aller Wunderlichkeit dieser Justiz nicht übersehen dürfen: eben in diesem Tun des Staatsmannes konnte bestimmt keiner unter den ersten Lesern der Evangelien an etwas Anderes denken als an das Tun Gottes, in welchem er „den, der von keiner Sünde wußte, für uns zur Sünde machte, damit wir in ihm Gerechtigkeit Gottes würden” (2. Kor. 5, 21). Was tut hier der höchst ungerechte menschliche Richter? Er vollstreckt gerade als solcher in eminenter, in direkter Weise den Spruch des höchst gerechten göttlichen Richters. Wo wäre die Kirche, wenn dieser an der Stelle des unschuldigen Jesus frei gegebene Barabbas, wenn also dieser dämonisierte Staat nicht wäre?

Man sollte aber endlich in den Pilatustexten auch dies nicht übersehen: Jesus wurde nicht verurteilt als staatsgefährlicher „König der Juden”, obwohl er nach Matth. 27, 11; Mark. 15, 2 dieser zu sein selber bekannte11). Jesus wurde genau genommen überhaupt nicht verurteilt. Alle vier Evangelien überbieten sich vielmehr in der Feststellung: Pilatus erklärte ihn für unschuldig,


11) Es ist nicht richtig, daß Jesus einer „politischen Anklage zum Opfer gefallen” ist (so G. Dehn, Engel und Obrigkeit, Theol. Aufsätze 1936 S. 91).

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für einen Gerechten! (Matth. 27, 19, 24; Mk. 15, 14; Luk. 23, 14, 15, 22; Joh. 18, 38; 19, 4, 6)11a). Der Zusammenhang mit der Rechtfertigung wird nun auch nach dieser Seite sichtbar: Derselbe Pilatus, der sich zum Werkzeug der von Gott zur Rechtfertigung des sündigen Menschen beschlossenen Tötung machen, der die Freilassung des Verbrechers Barabbas vollziehen muß — derselbe Pilatus muß nun auch die Voraussetzung dieses Geschehens: die Gerechtigkeit Christi ausdrücklich und öffentlich bestätigen und — wohlverstanden! — eben darin bewegt er sich in der eigentlichen Bahn seines Amtes. „Pilatus suchte ihn frei zu lassen” (Joh. 19, 12). Eben in diesem (als solchem freilich nicht vollstreckten) freisprechenden Urteil ist er bei seiner Sache. Eben in dieser Richtung möchte der Staat sein wahres Gesicht zeigen. Zeigte er es wirklich, dann mußte der Freispruch erfolgen, dann mußte er der Kirche Rechtsschutz gewähren! Daß dies faktisch nicht geschah, das wird von de Evangelisten unzweideutig als ein Abweichen des Pilatus von seiner Linie, als ein Versagen des Staates charakterisiert: er „überweißt” Jesus zur Kreuzigung, weil er dem Volke Genüge leisten wollte (Mk. 15, 15). Die politische Anklage gegen Jesus als solche war für Pilatus offenbar gegenstandslos, aber er „entschied, ihr Begehren solle ausgeführt werden” (Luk. 23, 24). „Nehmet ihr ihn und kreuziget ihn!” (Joh. 19, 6) — mit staatlichem Recht und staatlicher Rechtsprechung hat diese Entscheidung nichts zu tun — wie denn auch die Juden bestätigen: „Wir haben ein Gesetz und nach dem Gesetz muß er sterben” (Joh. 19, 7). Nicht nach dem Gesetz des Staates, sondern trotz des Gesetzes des Staates, nach diesem ganz anderen Gesetz und indem der Staatsmann nicht bei seiner Sache war, mußte Jesus sterben. Ihr, die Juden, habt Jesus getötet! heißt


11a) Professor Ernst Wolf in Halle verdanke ich folgende Lesefrucht: „Am Aschermittwoch küßt und beschenkt der Kaiser die Kinder seiner Waisenhäuser, belehnt, oder vielmehr belastet später beim Umzug vor allen Leuten den Justizminister mit dem „Tintenfaß des Pilatus”, spricht, indem er es auf des Gebeugten Nacken stellt: „Richte nach Gerechtigkeit wie er.” Ein direktes Erinnern an die tadellos korrekte Haltung römischer Justiz in Sachen eben dieses Heilsmysteriums schien den Fortsetzern des Imperium romanum während der Karwoche nicht übel angebracht; Syrern und Abessiniern galt der „Landpfleger” nebst seiner Gattin Procla sogar für heilig”. (Sir Galahad, Byzanz. Von Kaisern, Engeln und Eunuchen. 1937. E.P.  Tal & Co. Vgl., Wien, S. 87/88).

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es darum (mit Ausnahme von 1. Kor. 2, 8) regelmäßig im Neuen Testament (Act. 2, 23; 3, 15; 7, 51; 1. Thess. 2, 15). Der dämonisierte Staat ist offenbar gerade in diesem Gegenüber nicht etwa der Staat, der zuviel, sondern der zu wenig Staat ist, der im entscheidenden Augenblick sich selber treu zu sein unterläßt. Selbstverabsolutierung des Staates? Hätte sich doch Pilatus als Staatsmann absolut ernst genommen! Er mußte ja seine ἐξουσία anders gebrauchen, als er es getan hat. Daß er sie dennoch so brauchte, wie er es tat, das konnte nicht hindern, daß sie sich als von oben ihm gegebene nun erst recht erwies. Er konnte sie aber nicht brauchen, wie er es getan hat, ohne sich damit in Widerspruch zu seinem Amt zu setzen, ohne, im Gewande des Rechts handelnd, das Recht, das er hochhalten sollte, niederzutreten, eben damit aber zu bezeugen, daß er, seinem Auftrag entsprechend, anders hätte entscheiden müssen. Wird er, indem er das Recht beugt, zum unfreiwilligen Vollstrecker und Verkündiger der göttlichen Rechtfertigung, so macht er doch zugleich sichtbar, daß eine wirkliche menschliche Rechtsprechung, ein wirkliches Zeigen des wahren Gesichts des Staates unfehlbar die Legitimierung der freien und bewußten Verkündigung derselben göttlichen Rechtfertigung, des Reiches Christi, das nicht von dieser Welt ist, hätte bedeuten müssen.

Wir werden diese doppelte positive Bestimmung des Gegenübers der beiden Bereiche, wie sie gerade in diesem kritischsten Falle sichtbar wird, nicht wieder aus den Augen verlieren dürfen. Man kann gerade im Blick auf diesen kritischsten Fall nicht wohl sagen, daß die Rechtsordnung des Staates „mit der der Erlösungsordnungen nicht zu tun” habe, daß wir uns hier im Bereich des ersten und nicht des zweiten Glaubensartikels befänden12). Nein, gerade Pontius Pilatus gehört nun einmal nicht nur ins Credo, sondern wirklich in dessen zweiten Artikel!


12) So G. Dehn, a.a.O. S. 97 und 106.