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4. Kapitel

 

Recht, Staat, Kirche

 

§ 1. Recht und Staat

Wir kommen nun zu einer Frage, die nicht weniger alt ist als die nach dem Naturrecht: ist das Recht dem Staat übergeordnet, oder ist der Staat für das Recht maßgebend? 42). Hier besteht unter den Scholastikern ein endloser Meinungsstreit, der mit den subtilen Distinktionen des Suarez in De legibus abschließt; aber ebenso ist an den Streit der Legisten um das römische Recht zu erinnern. In unseren Tagen scheint das Problem zum Abschluß gekommen zu sein, und zwar vermöge der Allmacht des Staates, der das Recht nach seinem Ermessen so oder so lenkt, so daß es den Begriff der Gerechtigkeit überhaupt nicht mehr gibt 43). Aber was uns noch ernster erscheint, ist die Tatsache, daß diese Haltung des Staates durch K. Barth scheinbar für gerechtfertigt worden ist, zwar nicht explizit, aber immerhin dadurch, daß der Staat sich so ansehen ließ, als sei er für die Gerechtigkeit maßgebend und als ordne er das Recht an.

Die biblische Lehre ist an diesem Punkt schlechthin fest: der Staat ist dem Recht untergeordnet. Er ist es in zweierlei Hinsicht. Erstens ist er nicht der Schöpfer des Rechtes. Dieses hat sein Dasein unabhängig vom Staate und in der unmittelbaren Bezogenheit auf die Gerechtigkeit Gottes. Das menschliche Recht ist schlechthin kein rationales Produkt nach dem Maßstab des Menschen, das seine Geltung vom Staate empfinge. Sollte der Staat ihm übergeordnet werden, so müßte es aber ein rein rationales Erzeugnis sein. Dies ist nun tatsächlich die moderne Auffassung: weil der Staat der Vernunft gehorcht, so kann er das Recht schaffen, das er will; denn dies ist ja ebenfalls von der Vernunft abhängig. Leitet sich aber das Recht aus einer anderen Quelle her und gehorcht es einer anderen Regel, so verliert der Staat seine Gewalt darüber. Das Recht empfängt vom Staate nichts; seine Autorität empfängt es von Gott, wie der Staat selber, und ein Grund für die Überordnung des einen oder des anderen besteht nicht. Darüber hinaus jedoch ist das menschliche Recht Zeichen einer Gerechtigkeit


42) Roubier, a.a.O. S. 42-62.
43) Eine radikale Rechtfertigung dieser Auffassung bietet Kelsen, Allgemeine Staatslehre, 1925: der Zwang des Staates ist mit dem Recht genau identisch, und zwar unabhängig von seinem Grund und seinem Zweck. Das ist die Antithese gegenüber der Offenbarung! Es sei auch bemerkt, daß dies die faschistische Anschauung ist. „Der Staat ist als der ethische Wille der Allgemeinheit der Schöpfer des Rechtes” (Mussolini, Encyclopedia Italiana, Artikel Fascismo).

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Gottes, wie der Staat Zeichen geistiger Mächte ist (und nicht bloß Zeichen!). Hier besteht also wieder ein gewisser Parallelismus zwischen Staat und Recht; es wäre lohnend, dem nachzugehen, aber hier ist das nicht durchführbar; denn es würde eine gesonderte Untersuchung über den Staat bedingen. In diesem Zusammenhang gibt es jedenfalls keinerlei Überordnung des Staates.

Die Schrift jedoch lehrt uns im Gegenteil, daß der Staat dem Recht untergeordnet ist, oder schärfer ausgedrückt: daß der Staat auf das Recht hin eingerichtet ist — der Staat ist für das Recht geschaffen! So ist Salomo König, um nach Recht und Gerechtigkeit zu regieren (2. Chron. 9, 8). Der Zweck, den Gott mit der Verleihung der Macht an Salomo verfolgt, ist in Wirklichkeit die Herrschaft von Recht und Gerechtigkeit. Der Staat besteht also nur, weil es ein Recht gibt! Weil es eine Gerechtigkeit Gottes gibt, darum gibt es „Autoritäten”. Genau dies sagt Paulus: die Obergewalt, die „Autorität”, ist Dienerin Gottes zum Guten (Röm. 13, 4). So bestimmt also nicht der Staat, was gut oder was Recht ist, sondern im Gegenteil bestimmt das Gute, das Recht das Handeln des Staates. Das nämliche wollen alle Propheten sagen, wenn sie den Königen von Israel oder den Lenkern der Völker Verkehrung des Rechtes vorwerfen; sie werden verdammt, weil sie sich über das Recht gestellt haben, weil sie tatsächlich den Anspruch erhoben haben, das Recht fahren zu lassen oder es ihrem Urteil zu unterwerfen. Was gut ist, das sagt nicht der Staat, sondern das Recht. Unbestreitbar ist in Röm. 13, 4 unter dem „Guten” die Unterstellung unter ein gerechtes Recht verstanden und nicht ein moralisch oder geistig Gutes; gemeint ist also in Wirklichkeit das Gute, das der Mensch tun kann, indem er dem Gesetz gehorcht, und das er jedenfalls nicht beiseitelassen kann, weil es zum Werk der Erhaltung der Welt hinzugehört. Eine Bestätigung ergibt sich aus den auf diese Stelle folgenden Versen, wo vom Gehorsam die Rede ist, und zwar nicht nur aus Furcht vor der „Strafe”, sondern „auch um das Gewissens willen” (V. 5). Dieser Gehorsam aber gilt in erster Linie nicht den Befehlen des Staates, sondern dem Recht, das im bürgerlichen Leben Kriterium des Guten ist. Auf jeden Fall hat der Staat nicht das Böse, die Sünde zu strafen. Das Böse, um das es sich für ihn handelt, ist vielmehr der Ungehorsam gegen das Gesetz.

So gibt das Recht dem Staate einen Sinn, einen Daseinsgehalt, ein Ziel. Er ist nicht sein Herr, sondern sein Diener. Aber wieso? Worin besteht die Rolle des Staates genau?

 

Wir stoßen hier auf eine Aufgabe des Staates, die uns zwar nicht kraft Offenbarung als eine Notwendigkeit gegeben ist, in unserer Zeit aber derartigen Umfang angenommen hat, daß man sie nicht mit Stillschweigen übergehen kann: der Staat gibt dem Recht Ausdruck. Heutzutage verhält man sich überhaupt so, als schüfe der Staat das Recht, und selbst wenn das als Theorie nicht angenommen wird, so ist es doch die Lage. In Wirklichkeit hat der Staat, wie wir sahen, diese Aufgabe nicht. Er kann allerdings, ohne das dies notwendig der Fall ist, die Funktion haben, dem Recht Ausdruck zu geben, d.h. er kann angesichts eines in seinen Elementen bereits bestehenden Rechtes berufen sein, es zu formulieren.

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Wir treffen hier zwei Hypothesen an. Nach der ersten hat der Staat im Grunde lediglich eine konstatierende Aufgabe. So ist es z.B. bei einem Gewohnheitsrecht der Fall. Die Gemeinschaft besitzt rechtliche Gepflogenheiten. Das Volk baut allmählich sein Rechtsgebäude auf, und der Staat stellt lediglich fest, daß diese Gepflogenheiten wirklich rechtliche sind und das Recht wirklich ein Recht ist. Er setzt nichts Nennenswertes hinzu, ja, es könnte streng genommen seine Aktivität in dieser Hinsicht unterbleiben. Hier liegt also der Fall einer möglichen vollständigen Trennung von Recht und Staat vor.

Nach der zweiten Hypothese hat der Staat eine urteilende Aufgabe. Das bedeutet: der Einzelmensch oder die Gesamtheit erweisen sich außerstande, von sich aus die zur Herbeiführung eines systematisierten Rechtes erforderlichen Urteile zu fällen. Man überträgt die Sache also gleichsam an jemand anders. Normalerweise wird das der Staat sein, der nun die Urteile formuliert, deren Aufgabe wir kennenlernten. Diese Urteile müssen nun in zwei Richtungen gehen: sie sind einerseits richterlicher Natur, d.h. sie konstituieren das Recht vom besonderen Fall her; dann übt also der Staat selbst richterliche Funktionen aus (die nicht etwa mit Notwendigkeit an ihn gebunden sind!), — andererseits handelt es sich um allgemein rechtliche Urteile, die vom Boden einer Anerkennung der Menschenrechte und der Institutionen aus die Systematisierung des Rechtes bewirken; das ist also die gesetzgeberische Funktion, die keineswegs rechtsschöpferisch ist, sondern sich lediglich in jenen Urteilen ausdrückt 44). Es ist also wichtig zu unterstreichen, daß diese Aufgabe des Staates, die man heutzutage für die wesentliche hält, im Blick auf die biblischen Begriffe von Recht und Autorität in Wirklichkeit als bloß kontingent ausgewiesen ist.

 

Die beiden anderen Aufgaben des Staates sind uns dagegen als unerläßlich gegeben; sie bilden den wirklichen Zusammenhang von Staat und Recht: Der Staat sanktioniert das Recht und er hütet es.

Der Staat sanktioniert das Recht — er wird fast durchweg als eine exekutive Gewalt gedacht. Er trägt das Schwert, und wir sahen oben, inwiefern sich sein Gebrauch rechtfertigt. Der Staat hat also die Aufgabe, das Recht wirksam zu machen, ihm die Macht zur Seite zu stellen. Nun kann man das Recht ohne die Sanktion nicht verstehen. Eben hier liegt der wesentliche Unterschied zwischen Recht und Moral: neben dem Recht steht die Sanktion, die es von einer außenstehenden Autorität erhält. Solange das Recht in der Gestalt einer impliziten Regel oder des moralischen Zwanges oder des lediglich geltend gemachten individuellen Anspruchs besteht, ist es noch kein Recht. Das wird es erst von dem Zeitpunkt an, wo ihm der Staat eine Sanktion beilegt. Ja, man findet sogar ganze Rechtssysteme, die einzig von einem bestimmten Typus der Sanktion her aufgebaut sind; so


44) Ich nähere mich hier der von den Juristen der Schule des „freien Rechtes” vertretenen Auffassung, wie sie vor allem von F. Geny (Méthodes d’interprétation et sources en droit privé positif 2 1919) und hernach von Gurvitch ausgesprochen wurde. Für diese Juristen ist das Recht ein Produkt gesellschaftlicher Kräfte, und es ist von Hause aus Gewohnheits- oder Vertragsrecht. Erst wenn es besteht, ist der Staat berufen, ihm eines Tages seine „Zustimmung” zu geben.

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z.B. das praetorianische System im römischen Recht. Zwischen Recht und Staat besteht also eine zwiefache Bewegung: einerseits ist der Staat allein für das Recht da, aber auf der anderen Seite existiert das Recht nur dann, wenn ihm der Staat seine Kraft verleiht.

Es muß jedoch bemerkt werden, daß jene Sanktion nicht mit der Autorität des Rechtes verwechselt werden darf, wie es oft, besonders heutzutage geschieht. Das Recht hat nicht deshalb Autorität über die Menschen, weil der Staat das Schwert in seinen Dienst stellt. Die Autorität des Rechtes kommt daher, daß es vom göttlichen Recht abhängig ist; kraft dieser Tatsache wird es von den Menschen als Recht angenommen. Das Schwert bestraft die Übertretung dessen, was die Menschen bereits als Recht anerkennen. Es kann sie indessen durchaus nicht zwingen, etwas als Recht anzuerkennen, was sie eben nicht dafür ansehen! Es vermag nicht ein mißbräuchliches Recht in ein gerechtes zu verwandeln, es kann nicht bewirken, daß etwas Recht wird, was keines ist, oder daß im Gewissen der Menschen ein Recht Autorität gewinnt, das keine besitzt! Es existiert einzig und allein „zur Strafe über den, der Böses tut” (Röm. 13, 4).

Die letzte Aufgabe des Staates, nicht weniger notwendig als die eben genannte, besteht darin, daß der Staat der Hüter des Rechtes ist 45). Er muß seinem Volke das Beispiel der Innehaltung von Recht und Gerechtigkeit geben. Gerade deshalb ist die Ungerechtigkeit des Staates ernster zu nehmen als jede andere; denn er hat „Autorität”. Wir müssen uns dazu an das Auftreten der Propheten gegenüber Königen erinnern, die das Recht verletzten (Nathan und David, Elia und Ahab ...). Die Macht des Staates ist derart, daß man da, wo er das Recht verletzt, von der Vernichtung des Rechtes sprechen kann; es ist aus mit dem Recht, wenn der Staat sich selber zu seinem Maßstab macht und wenn er seinen Willen mit der Gerechtigkeit verwechselt (vgl. z.B. Hes. 28, 2). Aber positiv betrachtet ist der Staat insofern der Hüter des Rechtes, als er es ja aufrechterhalten muß, und zwar nicht allein durch das Schwert und die Sanktion, sondern durch die Erhaltung des Zusammenhangs in der Gesellschaft! Der Staat hat einen Auftrag am Leben der menschlichen Gesellschaften in ihrer Gesamtheit, und er muß sich um die denkbar besten Lebensbedingungen mühen. Wie wichtig in diesem Bereich das Recht ist, sahen wir bereits und werden wir weiter sehen. Der Staat muß also dem Recht seinen echten Charakter als Recht erhalten, damit das Recht seine wahre Aufgabe erfüllen kann. Im besonderen muß der Staat bei aller Wahrung der grundlegenden Gegebenheiten des Rechtes doch über die Notwendigkeit seiner Entwicklung wachen. Deshalb wird in der Schrift dem Lenker des Staates die Weisheit beigegeben, so wie sie etwa Salomo empfängt, um wirklich Hüter des Rechtes sein zu können.

 

Unsere Erwägungen über den Staat führen uns auf zwei neue Fragen. Mit der Sanktion verbindet sich die Frage der Wirksamkeit des Rechtes, mit der dem Staate gegebenen Aufgabe, Hüter des Rechtes zu sein, die Frage nach der Bedeutung des Rechtes innerhalb des Volkes.


45) S. de Diétrich, a.a.O. S. 51.

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Auch die Wirksamkeit des Rechtes stellt ein reichlich aktuelles Problem dar! Das 19. Jahrhundert hat sich auf die Vorstellung eingelassen, das Recht müßte, um wirksam zu sein, realistisch gestaltet werden. Heute müssen wir feststellen, daß es in unserer Gesellschaft schlechterdings wirkungslos ist. Öfters trifft man dann auch noch Idealisten, die behaupten, es sei nach allem gar nicht so wichtig, ob das Recht wirksam sei, es müsse nur gerecht sein!

Nach allem nun, was wir bisher gesehen haben, dürfte es offenkundig erscheinen, daß das Recht wirksam sein muß. Das heißt: es muß dafür sorgen, daß auf Erden irgendwie eine Ordnung regiert, daß bestimmte Menschenrechte von allen anerkannt werden und irgendeine Autorität geachtet wird. Wenn das Recht den Zweck nicht erfüllt, zu dem Gott es bestimmt hat, so ist es kein Recht mehr. Es erfüllt diesen Zweck aber nicht, wenn es wirkungslos ist. Wenn Volk, Nation und Recht auseinanderfallen, so kann man sagen, daß das Recht vor Gott nicht mehr zählt, selbst dann nicht, wenn es alle Bedingungen der Gerechtigkeit im Sinn der Rechtswissenschaft oder der Philosophie erfüllt und allen staatlichen Forderungen entspricht! Die Wirksamkeit des Rechtes ist für Gott einer der Gründe dafür, daß es überhaupt Recht gibt. Was sollte man von einem Heilmittel denken, das zwar allen Erfordernissen der chemischen oder biologischen Theorien entspräche, aber nicht wirkte?! Genau so steht es aber mit einem solchen Recht. Man kann also sagen, daß ein unwirksames Recht mit Sicherheit ein ungerechtes Recht ist (im Sinn der Gerechtigkeit, wie wir sie bestimmten). Indessen gilt — darauf muß man achten — das Gegenteil nicht ohne weiteres. Man kann nicht behaupten, daß ein wirksames Recht damit auch gerecht sei. Eine Identität zwischen Wirksamkeit und Gerechtigkeit besteht nicht. Ein wirksames Recht ist nicht notwendig gerecht. Namentlich besteht hier die Gefahr, daß der Staat seine Machtbefugnis überschreitet; er kann ja versuchen, die Autorität des Rechtes durch seine eigene zu ersetzen und das Recht allein aus der Sanktion heraus leben zu lassen. Das Recht vermag während einer gewissen Zeit in dieser Weise sein Dasein zu behaupten und sich unter Drohung Respekt zu verschaffen; aber trotzdem, ungeachtet seiner zeitweiligen Wirksamkeit, hat man dann ein ungerechtes Recht vor sich. Den Erfolg eines Rechtes auf dem Gebiet der Politik oder der Gesellschaft kann man in keiner Weise als Beweis für sein Gerechtsein betrachten. Es ergibt sich also hier lediglich ein negatives Kriterium, das allerdings innerhalb seiner Grenzen völlig eindeutig ist.

Wie soll man sich nun die Bedeutung der Wirksamkeit des Rechtes erklären?

Ein Recht kann aus zwei Ursachen wirkungslos werden. Die erste liegt vor, wenn das Recht lediglich der erstarrte, einseitige Ausdruck bestimmter richtiger Wahrheiten ist. Diese Gefahr lauert bei jedem System, das auf das Naturrecht begründet ist. Hier handelt es sich entweder darum, Vernünftiges, Natürliches zu tun, oder aber: ein Recht zu schaffen, das sich den „unwandelbaren Prinzipien der Gerechtigkeit” annähert, und das heißt: ein Rechtssystem, das auf die gesellschaftliche Wirklichkeit keinen Bedacht nimmt, sondern die Tendenz hat, sich ihr von außen aufzuzwingen und sie von abstrakten Vorstellungen aus zu reglementieren. Da sich aber dieses

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Recht von der Wirklichkeit ablöst, so hört es bald auf, sie zu beeinflussen. Dies steht aber, wie wir sahen, in klaffendem Widerspruch zu dem Begriff des Rechtes, der seinen Mittelpunkt in der Gerechtigkeit Gottes hat, wie wir sie in der Offenbarung bezeugt finden.

Die zweite Ursache für das Unwirksamwerden des Rechtes liegt genau umgekehrt. Hier nimmt man auf die wirtschaftliche oder gesellschaftliche Wirklichkeit entscheidend Bedacht; man dekretiert, das Recht könne lediglich ihr Ausdruck sein, müsse sich mit ihr zusammen entwickeln und ihr in jeder ihrer Tendenzen folgen. (Das ist übrigens trotz des Realismus dieser Haltung in Wirklichkeit eine andere Form für die Vorstellung des Naturrechts!) Nunmehr verliert das Recht seinen normativen Charakter vollständig; es beschränkt sich darauf, die aufeinanderfolgenden technischen Entwicklungen zu bestätigen, und erhebt, wenn sie etwa ungerecht sind, keinen Anspruch darauf, ihnen den Star stechen oder widersprechen zu dürfen. Man hat eingesehen, daß das Recht die Wirklichkeit nicht ganz beiseitelassen kann, und daraus hat man den Schluß gezogen, es müsse, um wirksam zu sein, dieser Wirklichkeit einfach folgen. Aber das ist dann nur eine andere Art von Wirkungslosigkeit — wozu soll ein Recht dienen, das einen gesellschaftlichen Zustand lediglich wiedergibt, statt ihn auszurichten? Wir bekommen dann eine Sammlung von unzusammenhängenden, äußerst wandelbaren Gesetzen, die die Gesellschaft unberührt lassen. Ein solches Recht muß schließlich die von uns entwickelten konstitutiven Elemente des Rechtes, nämlich die Institutionen und die Menschenrechte, beiseitelassen, und das Urteil wird in Ermangelung jedes Anhaltspunktes ins Leere hinein gesprochen. So hört denn auch dieses Recht auf, Recht zu sein.

Diese summarische Analyse zeigt uns, daß Wirksamkeit zwar ein Kriterium des Rechtes ist, aber nicht das einzige. Das macht es uns leichter, den Irrtum der Realisten zu verstehen: sie erklären das Wirksamwerden des Rechtes für wichtig, meinen dabei jedoch, um es herbeizuführen, sei jede Politik gut und seien alle Mittel recht. Das ist aber nicht zutreffend. Es sind nicht alle Mittel gut! Weil das menschliche Recht voll und ganz vom göttlichen abhängig ist und buchstäblich nicht außerhalb der Gerechtigkeit Gottes existiert, so kann es nur dann wirksam sein, wenn der normale Zusammenhang zwischen ihm und dem göttlichen Recht erhalten bleibt, und der Begriff des menschlichen Rechtes derart ist, daß jener Zusammenhang besteht. Ein vor Gott ungerechtes Recht ist also ein Recht ohne Autorität. Ein Recht, das die Menschenrechte übergeht, ist unbenutzbar, ein Recht, das die geschaffenen Institutionen beiseiteläßt, ist ohne Zusammenhang. Fraglos kann die politische Macht es eine Zeitlang mit Zwang aufrechterhalten, aber letztlich wird sich ein solches Recht als unwirksam erweisen und bei Fortbestehen der politischen Macht durch die offene Willkür des Staates ersetzt werden. So führt ein unter den dargelegten Verhältnissen unwirksam gewordenes Recht entweder, wenn nämlich die politische Gewalt selbst schwächer wird, zur Anarchie, oder — im umgekehrten Falle — zu einer an die Stelle der Gerechtigkeit tretenden Willkür.

 

Das Recht ist eine der Nation gewährte Lebensgarantie. Eine Nation ohne Recht kann es nicht geben; denn nach dem, was uns Gott von der

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Welt der Nationen offenbart, erhält sich diese allein durch das Recht. „Gerechtigkeit erhöhet ein Volk; aber die Sünde ist der Leute Verderben” (Spr. 14, 34). Die Fürsorge dafür, daß die Nation aus der Gerechtigkeit heraus lebt, ist vornehmlich dem Staate anvertraut: „Ein König richtet das Land auf durchs Recht” (Spr. 29, 4). Und wie das Land, so stärkt auch der Staat durch das Recht seine Macht: „Durch Gerechtigkeit wird der Thron befestigt” (Spr. 16, 12). Diese Gerechtigkeit übt der Staat nun, genau genommen, im Urteil aus. Hier begegnet uns also erneut die besondere Rolle des Staates; sie wird namentlich von dem Wort hervorgehoben: „Man tue den Gottlosen hinweg vor dem König, so wird sein Thron mit Gerechtigkeit befestigt” (Spr. 25, 5). So hängen hier zwei Dinge zusammen: das Urteil, das der Staat gegen den Bösewicht ergehen lassen soll, und die Befestigung des Thrones durch die in diesem Urteil bekundete Gerechtigkeit.

So ist der Staat als Hüter des Rechtes für die Erhaltung der Nation verantwortlich; denn nur durch das Recht kann die Nation leben. Wenn dagegen der Staat das Recht entstellt, so ist die Nation zum Sterben verdammt; denn der Staat hat das Volk Gerechtigkeit zu lehren. „Höret doch, ihr Häupter im Hause Jakob und ihr Fürsten im Hause Israel! Ihr solltet’s billig sein, die das Recht wüßten!” (Micha 3, 1). Die Verantwortlichkeit der „Häupter” ist so groß, daß das ganze Volk ihnen nachgezogen wird, wenn sie Böses tun. „Darum wird Zion um euretwillen wie ein Acker gepflügt werden, und Jerusalem wird zum Steinhaufen werden ...” (Micha 3, 12)!

Ein Element dieser Solidarität zwischen Staat und Nation, die wir hier nicht völlig analysieren können, ist gerade das Problem des Rechtes. Weil die Nation nur kraft des Rechtes leben kann und der Staat der Hüter des Rechtes ist, so wird, wenn dieser das Recht verkehrt, die Nation in die Ungerechtigkeit hineingezogen und verfällt dem Todesurteil. Das ist der Sinn der Worte Michas, die zwischen den oben erwähnten Stellen stehen: „So höret doch dies, ... ihr Fürsten im Hause Israel, die ihr das Recht verschmähet und alles, was aufrichtig ist, verkehret, die ihr Zion mit Blut bauet und Jerusalem mit Unrecht. Ihre Häupter richten um Geschenke ..., verlassen sich auf den Herrn und sprechen: Ist nicht der Herr unter uns?” (Micha 3, 9-11).

Dieser Michastelle entspricht genau das erste Kapitel bei Habakuk; auch hier wird die Zerrüttung des Landes um der herrschenden Ungerechtigkeit willen angedroht: „Das Gesetz hat kein Leben, die Gerechtigkeit keine Kraft; denn der Gottlose triumphiert über den Gerechten, und es ergehen ungerechte Urteile” (Hab. 1, 4). Die gesamte Botschaft der Propheten ist im Blick auf diese Einheit des Lebens der Nationen mit der Existenz des Rechts oder der Übung der Gerechtigkeit einhellig und widerspruchslos. Es kann sich dabei natürlich nicht um einen formalen Zusammenhang oder lediglich um einen Zusammenhang im Sinne politischer Ordnung handeln. Das heißt: hier liegt nicht — wie wir stets versucht sind anzunehmen — eine Tatsachenfeststellung vor, etwa: ein straffes Recht ist für eine Nation Bedingung eines glückhaften Daseins, und letztlich erreicht die Gewalt nichts. Wir haben hier ganz etwas anderes vor uns als einen Weisheitsspruch, wie ihn jedes Volk finden könnte; es ist vielmehr eine normative Wahrheit,

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die Ausdruck des Willens Gottes ist, daß ein Volk ohne Recht nicht von selber fällt, sondern fällt, weil Gott es verdammt. Wenn Gott nicht der Richter der Völker ist, dann sind Gewalt oder Realismus die beste Politik; denn dann gibt es kein göttliches Recht, und deshalb hat auch das menschliche keinen Daseinsgrund mehr.

Denn — und das entspricht nun dem normativen Charakter jener Prophetenworte — wenn eine Nation zum Tode verdammt wird, weil sie kein Recht mehr hat, so liegt das nicht daran, daß das Recht einen Wert in sich selber trüge; aus sich selbst ist es kein Lebenselement! Nein, die Ursache liegt darin, daß sich im Rechte Gottes Recht bekundet und also ein Volk, das kein menschliches Recht besitzt, eben damit die göttliche Gerechtigkeit verletzt, weil eben das Volk, das keine menschliche Gerechtigkeit hat, eben damit den Beweis erbringt, daß es den Bund mit Gott zerbrochen hat. Wir nannten bereits die Stelle bei Jesaja: „Sie übertreten das Gesetz ... und lassen fahren den ewigen Bund” (Jes. 24, 5). In diesem Sinne müssen wir aber besonders die zitierten Stellen aus den Sprüchen verstehen. Wir zitierten sie nach ihrem vordergründigen Sinne; aber wir müssen sie auch in ihrem biblischen Rahmen einordnen und dürfen in ihnen also nicht den Ausdruck eines politischen Naturalismus sehen und ihnen — was auf das gleiche hinausläuft — ihre christologische Bedeutung nicht rauben.

 

§ 2. Die Rolle der Kirche im Bereich des Rechtes

In diesen wenigen Zeilen können wir nicht von den Fragen des Kirchenrechts oder des kanonischen Rechtes sprechen. Es geht hier einzig um die Aufgabe der Kirche in der Welt, im Bereich des Rechtes, soweit also die Kirche ihren Platz in einer Nation und gegenüber einem Staate hat und für diese weitgehend die Verantwortung vor Gott trägt.

Bezüglich der Kirche gilt nun zuerst, daß sie als Inhaberin eines Rechtes im Staate auftreten kann. Sie ist eine Körperschaft; als solche hat sie ihre Rechte und besitzt den Anspruch auf deren Anerkennung seitens der politischen Gewalt. Der sichtbare Zusammenhang zwischen Kirche und Staat ist in erster Linie ein rechtlicher. Wenn nun die Rolle des Staates im Recht unserer Umschreibung entspricht, so ist es ersichtlich recht und billig, daß der Staat jenen rechtlichen Zusammenhang zum Ausdruck bringt, und zwar unter Berücksichtigung der Rechte der Kirche, die — wie alle anderen — durch Ursprung und Zweck der Kirche bestimmt sind.

So muß die Kirche zunächst als Rechtssubjekt anerkannt werden. Es kann nicht genügen, daß sich der Staat im Blick auf die Kirche unwissend stellt: der Status der Kirche ist ein — wie wir sehen werden, beherrschender — Bestandteil des vom Staate konstituierten Rechtes, genau so wie die Anerkennung der Rechte irgendeines anderen Rechtssubjektes 46). Eine nähere Bestimmung der Rechte der Kirche können wir hier nicht unternehmen. Eines dieser Rechte aber ist für uns von unmittelbarer Wichtigkeit: die


46) Vgl. Scholten, Das Recht und der christliche Glaube.

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Kirche ist durch das Wort und für das Wort begründet. Dies steht mit der „rechtlichen” Funktion des Kirche in unmittelbarem Zusammenhang; sie muß dann nämlich ein grundlegendes Recht besitzen: die Freiheit zur Verkündigung des Wortes Gottes. Das ist ja das Erste, wozu sie von Gott gesandt ist, und der Staat wird von dem Augenblick an ein ungerechter Staat, wo er ihr die Möglichkeit zur Verkündigung des Evangeliums raubt. Das ist oft ausgesprochen worden. Aber die Verkündigung des Evangeliums besteht nicht bloß in der Ausrichtung der frohen Botschaft von der Sündenvergebung an sich! Sie umfaßt auch die Verkündigung aller konkreten Folgerungen aus dieser frohen Botschaft. Evangelium verkündigen, das heißt auch: die Tatsache kundmachen, daß Jesus Christus Herr der Schöpfung ist — und zwar mit allem, was in diese Botschaft eingeschlossen ist, und allem, was daraus folgt! Es ist daher nicht wahr, daß Predigt und Glaube „Privatsache” seien. Vielmehr müssen beide ein Handeln sein, das das gesamte Leben bindend beeinflußt. Wenn die Kirche politisch Stellung bezieht oder ein Urteil über das Recht abgibt, so tut sie damit nichts anderes als Evangelium zu verkündigen — sofern ihre politische Stellungnahme nicht Ausdruck eines Interesses oder der Moralismus ist.

Das gesamte Handeln der Kirche im Bereich des Rechtes hängt an dieser Freiheit für das Wort, die sie fordern kann. Und hier — auf dem Gebiet des Rechts — besteht ihre Funktion darin, zu zeigen, daß es noch eine andere Gerechtigkeit gibt als die des Rechtes. „Die Kirche ist berufen, diese Gerechtigkeit — die von Christus in uns gewirkte — gleichzeitig anzukündigen und als bestehend zu bekunden.
1. Sie soll sie ankündigen; denn sie weiß, daß der auferstandene Christus kraft seiner Erhöhung zur Rechten Gottes, des Vaters, zum Herrn der ganzen Schöpfung eingesetzt ist und daß er wiederkommt, um die Erde zu richten. Das bedeutet, daß er schon jetzt der Richter ist, nicht bloß der Kirche, die ihn anerkennt, sondern auch der Welt, die nichts von ihm wissen will.
2. Sie soll jene Gerechtigkeit zugleich als bestehend bekunden; denn als Leib Christi, als Gemeinschaft der Gläubigen soll sich die Kirche von jener Gerechtigkeit regieren lassen, und nicht von den Normen der Welt.
Aus diesen beiden Feststellungen ergeben sich ersichtlich gewisse Folgerungen:
a) Die Kirche kann kein autonomes Recht anerkennen, das nicht Grundlage und Ziel in Gott hätte ... Sie soll also die Gerechtigkeit Gottes predigen und Gesetzgebern wie Behörden, Behörden wie Staatsoberhäuptern in Erinnerung bringen, daß es Einen souveränen Herrn gibt, vor dem sie Rechenschaft ablegen müssen für die Art und Weise, wie sie sein Recht bekanntgemacht, angewendet und als regierend vertreten haben.
b) Die Kirche weiß, daß allein die in Jesus Christus offenbarte göttliche Gerechtigkeit wirksam und am Werke ist; denn sie allein macht gerecht: die menschliche Gerechtigkeit vermag lediglich, durch Zwangsmaßnahmen das Böse einzugrenzen, das sich Menschen gegenseitig antun. Aber diese menschliche Gerechtigkeit spiegelt etwas von der göttlichen wider oder kann es wenigstens tun ... Die Kirche muß also diejenigen, denen die Aufrichtung und Anwendung des Rechtes aufgetragen ist, darüber aufklären, was Gott

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in seinem Worte vom Zweck des Menschen auf Erden offenbart, was er von den Beziehungen aussagt, deren Existenz unter den Menschen er in seiner Vorsehung gewollt hat, oder von der gesellschaftlichen Ordnung usw. ...
c) Die Kirche, die ja doch selber einen gegliederten Leib darstellt, dessen Haupt Christus is, muß als solche endlich und vor allem in ihrer eigenen Mitte ein dem Willen Gottes gleichförmiges Recht handgreiflich machen, wie es uns in Christus offenbart ist ...” 47).

Dieses lange Zitat von S. de Diétrich zeigt klar die Aufgabe, die der Kirche als Zeugin der Gerechtigkeit Gottes dem Staate gegenüber zugefallen ist: sie und sie allein weiß, worin der wahre Wert des menschlichen Rechtes besteht, was seine Grundlage und was sein Ziel ist, und in welchem Zusammenhang es mit der Gerechtigkeit Gottes steht — und dies muß sie den Staatsmännern und den Nationen sagen! Aber sie darf das nicht wie ein Gesetz, wie eine freibestehende Ethik lehren, sondern streng als Predigt des Evangeliums, weil nämlich Christus könig ist. Sie kann die Predigt des Kreuzes und die Ankündigung der Parusie nicht voneinander trennen, und sie kann also keine Unterweisung über das Recht geben, die nicht notwendig, mit Wort und Leben, in die Bezeugung der Gerechtigkeit Gottes miteingeschlossen wäre, die in Jesus Christus erfüllt ist.

 

Die Kirche hat also gegenüber dem Recht des menschlichen Gemeinwesens eine Aufgabe, die niemand anders erfüllen kann, da ja sie allein dem Recht Bedeutung und Begründung geben kann. Man sieht wiederum, wie sehr zwischen Mensch und Offenbarung, Welt und Kirche eine unlösbare Einheit besteht. Es gibt nicht zwei Bezirke, zwei Sphären, es gibt für den Menschen nur die Eine Lebenswelt, und sie wird von dieser unzerreißbaren Einheit von Kirche und Welt konstituiert. Jedoch ist damit die prophetische Rolle der Kirche im Bereich des Rechts noch nicht erschöpft. Die Kirche ist normalerweise Vorhut, sie warnt das Volk, sie steht auf der Wache (Hes. 33 — welche Ironie, wenn man bedenkt, was unsere Kirche ist!). Und dies tritt in der Welt des Rechtes höchst konkret in Erscheinung.

Wir haben gesehen, welches Gewicht das Recht des einzelnen Menschen als konstitutives Element des Rechtes besitzt. Dieses Recht findet seinen Ausdruck in erster Linie durch die Erhebung des Anspruchs auf Recht. Hier liegt nun aber eine Stelle, an der die Kirche entscheidend zu handeln hat. Wir haben uns zu sehr an eine Kirche gewöhnt, die Liebe „übt”, und zu wenig Ahnung von einer Kirche, die Liebe ist. Wir haben uns zu sehr an eine Kirche gewöhnt, die redet und nicht zeugt (Zeuge = Märtyrer!), die ihr Wohlergehen sucht, statt „an ihrem Leibe die Leiden des Christus vollständig zu machen” (die Kirche, Christi Leib, leidet Christi Leiden für die Menschen mit; Kol. 1, 24), und die es letztlich nicht vermag, Menschen in ihren Dienst zu nehmen.

Gerade im Recht übt nun aber die Kirche Verrat, wenn sie dem Menschen allein die Sorge überläßt, seine Rechte zu erkennen, und die Aufgabe, für ihre Anerkennung einzutreten. Der Mensch kann sich über das, was er


47) S. de Diétrich, a.a.O. S. 46 f.

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verlangt, sehr wohl täuschen. Er kann seine wahren Rechte nicht erkennen. Er ist nicht unfehlbar — weder, wenn er seiner Vernunft, noch, wenn er seinem Interesse folgt. Wie eng aber das Recht des Menschen mit seinem Elende zusammenhängt, wurde uns schon deutlich. Und gerade weil die Kirche dazu da ist, die Liebe Christi gegen alle Menschen zu bezeugen, weil sie dazu da ist, mit den Menschen und für die Menschen zu leiden, darum muß sie auch notwendig die wahren Rechte des Menschen erkennen. Sie wird sich nicht darüber täuschen; denn sie allein hat je die Offenbarung der wahren Natur des Menschen, seiner wirklichen Lage vor Gott und seines eigentlichen Elendes. Darum muß die Kirche im Lauf der Weltgeschichte — und das gehört nun zu ihrer Verkündigung! — in jeder konkreten Situation sagen: das ist das Menschenrecht, hic et nunc, das kann er fordern, hierin muß er geschützt werden! Tut sie das, so wendet sie sich damit an die Gesellschaft und an den Staat. Sie vertritt also die Forderung des Menschen! Und in aller Regel sollte sie die Sorge um die Geltendmachung des Menschenrechts nicht dem Aufruhr überlassen, sondern sie sollte es selbst fordern, ehe der Mensch in Verzweiflung gerät! Die Kirche hat dies im Laufe der Geschichte wohl zu tun gewußt. Aber jetzt schweigt sie seit drei Jahrhunderten. Erfüllt sie diese Aufgabe, so erscheint sie als Ratgeberin des Rechtes, als Macht einer stetigen Entwicklung. Erfüllt sie sie nicht, so kann sie auch niemand anders übernahmen, und das Recht ist dann allen Revolutionen und allem Zerbrechen der Zusammenhänge preisgegeben, je nach den augenblicklichen Einflüssen.

Soll aber die Kirche so handeln, so ist sie unablässig verpflichtet, das Rechtsgefüge der Gesellschaft nach bestimmten Maßstäben zu beurteilen. Macht sie das Menschenrecht geltend, so ergibt sich daraus ein Urteil über das System, in welchem solch ein subjektiven Recht seinen Ausdruck finden soll. Angesichts des objektiven Rechtssystems ist die Kirche dazu berufen, Begründung und Zweckbestimmung des Rechtes nach den allein ihr zukommenden Kriterien zu überprüfen und einer Kritik zu unterwerfen.

Genauer gesagt: die Kirche muß zunächst die Grenzen des Rechtes geltend machen. Natürlich handelt es sich — wie noch einmal bemerkt sei — keineswegs darum, diese Grenzen in abstracto und für alle Ewigkeit bleibend festzusetzen. Die Kirche findet die Anwendung ihres Glaubens im Konkreten! Und diese Anwendung ist nie ein gedankliches System, sondern stets ein „Prüfen” (1. Thess. 5, 21). Gegenüber einem festgelegten objektiven Recht wird daher die Kirche geltend machen, daß es nicht über eine solche Grenze hinausgehen kann.

Ferner muß die Kirche über das Rechtssystem urteilen, und dies geschieht ersichtlich je nach der größeren oder geringeren Achtung, die solche ein System vor den Menschenrechten und vor den von Gott geschaffenen Institutionen an den Tag legt; dabei muß die Kirche natürlich dem Juristen die Notwendigkeit, den Wert und die rechtliche Bedeutsamkeit beider in Erinnerung rufen.

Die Kirche muß endlich, wenn es erforderlich ist, das Recht berichtigen und ihm möglicherweise in offenem Kampf gegenübertreten. Das kann geschehen, indem sie die ihr eigene Gerechtigkeit und das ihr eigene Recht zum Kampf gegen ein dekadentes oder vom Wege abirrendes System einsetzt

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(wie im 4. Jahrhundert unserer Ära). Es kann aber auch so geschehen, daß sie den Kräften der Rechtserneuerung zur Seite tritt, die sich etwa in den möglicherweise gerechten Urteilen des Volkes handgreiflich bekunden.

Weil die Kirche alle Tage von Gottes Gerechtigkeit lebt und weil sie das weiß, so ist sie also völlig in die Auseinandersetzungen über das Recht hineinverwickelt, die auch den sozialen Konflikt und den politischen Kampf mit umfassen.

 

Endlich hat die Kirche noch eine letzte Aufgabe: sie muß für den Bereich des Rechtes in der Tiefe begreifen, daß es „not ist untertan zu sein, nicht allein um der Strafe willen, sondern auch um des Gewissens willen” (Röm. 13, 5). Die Kirche hat also, anders ausgedrückt, die Aufgabe der Unterweisung gegenüber den Christen. Alles, was wir bisher von der Kirche gesagt haben, muß tatsächlich auf die in ihr versammelten Christen bezogen werden. Die Aufgabe, sich an Hand der oben gezeichneten Linien auszusprechen und Stellung zu beziehen, ist in erster Linie Sache der Gesamtheit der Christen und durchaus nicht eines verwaltungsmäßigen Organismus der theoretisch die Kirche darstellen soll. Nur bedarf es dazu für die Christen einer Unterweisung inmitten der Kirche selbst. Und genau so notwendig wie es ist, ihnen deutlich zu machen, was der Staat ist und warum sie ihm gehorchen sollen, so notwendig ist es auch, sie über die Begründung und die Zweckbestimmung des Rechtes zu belehren und ihnen zur Bildung eines Rechtsgewissens zu verhelfen. Einzig wenn Christen wirklich ihre Aufgabe und ihre Verantwortlichkeit in der Gesellschaft und gegenüber demRecht kennen und wenn ihnen die Macht zum Bewußtsein gekommen ist, die ihnen vom Heiligen Geist übertragen ist, wird auch die Kirche selber reden und handeln können, wie es ihr befohlen ist. Jeder Christ muß dahin kommen, daß er versteht, warum er Gehorsam leisten und warum er Gehorsam — verweigern muß. Er muß wissen, wann er fordern muß und wann er verzichten muß, er muß wissen, welche Rechte geltend gemacht werden müssen und welche nicht. Und wenn die Kirche es auf sich nimmt, gläubig zu sein, so nimmt Gott sie in seinen Dienst an der Welt.

 

Nach allem, was wir soeben gesagt haben, muß eine wichtige Folgerung gezogen werden. Wenn die Kirche ihre Aufgabe auf dem Gebiet des Rechts vollständig in die Hand nimmt, und wenn der Staat ihr das Recht dazu zuerkennt, so sehen wir, daß das Recht nicht mehr dem Ermessen des Staates untersteht. Der Staat kann nicht mehr für sich in Anspruch nehmen, daß er der Schöpfer des Rechtes, dem Recht übergeordnet, Schiedsrichter über die Gerechtigkeit sei. Er ist jetzt wirklich Diener — nicht Diener der Kirche (das war der Irrtum des Papsttums im Mittelalter), sondern Diener Gottes zum Zweck des Rechtes. Weil auf dem Gebiet des Rechtes der Staat keine alleinige Entscheidungsbefugnis mehr besitzt, sondern ihm eine Kirche gegenübersteht, die Gottes Offenbarung verkündigt, so erweist sich das Recht jetzt wirklich als unabhängig — vom Staat, von der Kirche und letztlich vom Menschen überhaupt. Das Recht ist nicht mehr die unmittelbare oder mittelbare Resultante aus irgendeiner menschlichen Aktivität, sondern wirklich die autonome Macht, als die Gott es haben will. Wir sind diesem Gedanken

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bereits begegnet, als wir von dieser Macht sagten, sie sei dem Staate parallel, und jetzt begreifen wir von der Kirche her ihre Wirklichkeit. Aber gerade von dem Gedanken des Rechtes als einer autonomen Macht aus läßt sich der ständige Irrtum der Vertreter des Naturrechts einsehen, die meinen, weil das Recht autonom sei, so sei es eben „natürlich”. Um diese Verwechslung zu verhüten, brauchen wir nur zu fragen, wem gegenüber diese Autonomie besteht: das Recht ist ja gegenüber jeder menschlichen Kraft und also auch gegenüber der „Natur” autonom, um ausschließlich von Gottes Gerechtigkeit abhängig zu sein! Von da aus erklärt sich auch die „natürliche” Reaktion des Rechtes: hört es auf, gegenüber einer menschlichen Macht autonom zu sein, so verdirbt es alsbald und hört auf, das Recht zu sein!