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3. Kapitel

 

Göttliches Recht und menschliche Rechte

 

§ 1. Die Elemente des menschlichen Rechtes

Alles Recht ist System. Versuchen wir es, was eine schon oft unternommene Arbeit wäre, auf Grund der von ihm gewonnenen Erfahrung zu analysieren, so werden wir sicher kein klares Ergebnis herausbekommen. Wollen wir die Elemente des Rechtes kennenlernen, so müssen wir im Gegenteil von dem ausgehen, was uns Gott in seiner Schöpfung und in seinem Bunde offenbart. Aber zuvor müssen wir zwei Bemerkungen machen. Die meisten Theologen, die sich mit dem Problem des Rechtes beschäftigen, haben ständig schwere Verwechslungen begangen: zwischen Recht und Gerechtigkeit, gerichtlicher Organisation und Gerechtigkeit, subjektivem und objektivem Recht usw. Die hier jetzt versuchte Analyse soll erstens zeigen, daß die Schrift derartige Verwechslungen nicht begeht, und zweitens, daß ohne solche Unterscheidungen das Problem der Relationen zwischen göttlichem und menschlichem Recht nicht lösbar ist. Dann eine zweite Bemerkung: wenn wir unsere Analyse auf Grund der Schöpfung und des Bundes vornehmen, so geschieht das nicht in der Meinung, als ob wir darin das Ganze des Rechtes erfaßten. Das Recht ist ja, wie wir nie vergessen dürfen, nicht statisch. Wir haben gesehen, daß es stets Akt Gottes ist und d.h. lebendig, in Bewegung, stets irgendwie ausgerichtet. Auf der anderen Seite gewahren wir in der Geschichte die ständige Entwicklung des Rechtes, und unsere Analyse muß also in Beziehung auf dieses „Werden” des Rechtes durchgeführt werden (dessen Bedeutung später zu besprechen ist).

Wir finden im Recht nach der Schrift drei Elemente: die Institutionen, die Menschenrechte und die Gerechtigkeit. Die gleichen Elemente begegnen uns ebenso im Recht der Menschen; aber wenn wir nur dieses in Betracht ziehen, so können wir nicht behaupten, daß jene drei Elemente die einzigen seien (gibt es z.B. nicht auch die Rechtslehre oder die Pflichten des Menschen oder die Rechte der Gesellschaft usw.?), und ebensowenig, daß sie die konstitutiven Elemente des Rechtes darstellten, also jene, ohne welche das Recht nicht bestehen könnte. Die Offenbarung Gottes stellt sie als die einzigen und wesentlichen dar. So wollen wir sie denn untersuchen.

 

1. Die Institutionen 31). Unter einer „Institution” versteht man in der Regel ein organisches Gefüge von rechtlichen Vorschriften, das auf ein


31) Der Sinn dieses Begriffs ist trotz aller neueren Untersuchungen zu diesem ➝

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einheitliches Ziel ausgerichtet ist, ein beständiges und vom menschlichen Willen unabhängiges Ganzes bildet und sich dem Menschen unter bestimmten Verhältnissen verpflichtend auferlegt. Es ist aber trotz aller Forschungen durchweg unmöglich, für die einzelnen „Institutionen” einen festen Ausgangspunkt oder einen vernunftmäßig erkennbaren Ursprung zu ermitteln. So ist z.B. die Ehe eine Institution. Man kann aber nicht ganz genau ermitteln, wann und aus welchen Ursachen die Ehe in der Geschichte zuerst aufgetreten ist. Mit anderen Worten: trotz alles Eingreifens der Soziologen und Psychoanalytiker weiß man nicht, weshalb die Entwicklung über die bloßen Geschlechtsakt hinausgegangen ist. Wie hat sich diese einfache Tatsache, die man nicht einmal mit der neun Monate hernach stattfindende Geburt in einen unmittelbaren Zusammenhang bringen kann, in eine gesellschaftliche Ordnung, ein rechtliches Phänomen umwandeln können? Hier besteht nicht bloß ein Unterschied der Auffassung, der Empfindung, des Sinnes, der Organisation und auch des quantitativen Umfanges — aus der Häufigkeit entsteht die Gewohnheit, die Sitte führt zum Recht —, sondern wirklich ein qualitativer Unterschied. Wo liegt die Brücke zwischen den beiden Phänomenen? Wir wissen darüber tatsächlich nichts, und soweit man zurückgehen mag, stets findet man die Institution der Ehe vor, so verschieden die Formen auch sein mögen. Ob nun Endogamie oder Exogamie herrscht, Polygamie oder Monogamie, Polygamie oder Polyandrie, allemal stellen wir eine Verbindung fest, die sich aus der rein geschlechtlichen nicht erklären läßt, eine Dauerverbindung mit gesellschaftlichem Charakter und in rechtlicher Form (d.h. sanktioniert; man hat z.B. nachgewiesen, daß der Ehebruch in den polygamen Gesellschaften besonders hart bestraft wird). Einer Begründung der Ehe aus der bloßen Geschlechtsverbindung würde einzig die Theorie von der ursprünglichen Promiskuität entsprechen; es hat jedoch niemand — der Mißerfolg Meyers liegt klar zutage — zeigen können, wie daraus die Institution der Ehe hat entstehen können, und tatsächlich ist es auch bloß eine Theorie, die zudem mehr und mehr in Frage gestellt wird.

Wenn wir sagten, daß die Ehe nicht aus einer einfachen materiellen Gegebenheit begründet werden kann, so gilt das gleiche von sehr vielen anderen Institutionen: vom Staat, vom Volk (ursprünglich Clan oder Stamm), vom Eigentum und vom Tausch. Trotz aller Erklärungen, die man für sie geben will, ist ihr Ursprung, ihre Notwendigkeit, ihr Dauercharakter und ihre universale Verbreitung in Dunkel gehüllt. Es gibt bisher keine wirklich überzeugende Theorie darüber. Nun offenbart uns aber die Bibel für manche dieser „Institutionen”, daß sie von Gott geschaffen sind.

Es bedarf jedoch hier einer genauen Verständigung. Diese Institutionen sind nicht in abstraktem Sinne geschaffen wie etwa ein Naturrecht, sie gehen


➝ Gegenstande noch unklar. Jedoch geben sämtliche Juristen zu, daß eine Institution in jedem Falle ein einheitliches Ganzes ist, das organisch und objektiv existiert und also vom Willen des Menschen nicht unmittelbar abhängig ist. Die Institution ist nicht vom Juristen geschaffen. Aber sie ist auch nicht bloß eine aus dem Tatsächlichen herrührende Gegebenheit. Und endlich ist die Institution auf ein bestimmtes Ziel ausgerichtet, das der Mensch nicht von vornherein zu umschreiben vermag; die wissenschaftliche Untersuchung der Institution mündet also in die Feststellung aus, daß der Mensch sie nicht völlig begründen kann.

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auch nicht aus „Tendenzen” hervor, die Gott in den Menschen hineingelegt hätte, und endlich sind sie auch nicht als Bedingungen normalen Lebens geschaffen. Ihre Zugehörigkeit zur Schöpfung ist vielmehr durchaus fundamental. Sie sind genau so Geschöpfe wie Bäume oder Licht, Mensch oder Engel. Staat oder Ehe sind von Gott gewollte Lebensformen, Daseinsweisen für den Menschen, der ihnen gegenüber nicht die Freiheit hat, Ja oder Nein zu sagen. Sie sind vom Willen, von der Zustimmung oder auch den Auffassungen des Menschen völlig unabhängig. Sie drängen sich ihm genau so konkret auf wie die Tatsache, daß er einen Leib hat. Gewiß kann er einen Leib schön und häßlich machen, er kann ihn gebrauchen oder zerstören — womit er freilich sein Leben zerstört! —, und ebenso kann der Mensch diese Institutionen verderben, er kann sie annehmen oder zerstören — womit er ebenfalls sein Leben zerstört. Aber allemal ist es nicht der Mensch, der diese Institutionen schafft. Nicht er kann es herbeiführen, daß aus dem Geschlechtsakt die Ehe wird. Nun aber schließt die Schöpfung der Institutionen ein Merkmal in sich, das uns erst vollständig bestimmen läßt, was sie sind: „Denn in ihm (Jesus Christus) ist alles geschaffen, was im Himmel und auf Erden ist, das Sichtbare und das Unsichtbare, es seien Throne oder Herrschaften oder Fürstentümer oder Obrigkeiten ...” (Kol. 1, 16). Um diese Schöpfung in Jesus Christus handelt es sich, wenn wir behaupten, daß jene Institutionen von Gott geschaffen sind. Das besagt, daß unsere Institutionen keinerlei Wert außerhalb der Tatsache der Fleischwerdung und der Erlösung besitzen, daß sie nur auf sie hin und um ihretwillen ihr Dasein haben und daß sie ein Wesen nur soweit besitzen, wie sie an diesem Werk Jesu Christi teilhaben. Sie sind nicht zum Ergötzen oder zur Bequemlichkeit des Menschen geschaffen, sondern dazu, daß das Heilswerk sich vollziehen kann. Wir müssen uns jedoch noch schärfer ausdrücken. Die Institutionen sind nicht bloß mit dem Heilswerk verbunden, wie es etwa notwendige Bedingungen sein würden, also in einem gewissen Maße doch äußerlich. Sie sind vielmehr organisch an Jesus Christus gebunden. Es besteht hier nicht eine willkürliche Wahl Gottes, als ob diese Institutionen für das Leben des Menschen auch hätten andere sein können. Vielmehr liegt hier eine notwendige Wahl der Institutionen vor, die um der Herrschaft Jesu Christi willen erfolgt. Nicht umsonst wird die Gemeinschaft zwischen Christus und der Kirche mit der Ehe verglichen, nicht grundlos heißt Gott der Vater, die Kirche ein „Volk” und ist der Staat eine „exousia”. Derartige Beispiele könnten wir noch mehr bringen und im einzelnen ausführen. Wesentlich ist die Erkenntnis, daß diese Institutionen vermöge der Schöpfung nicht zu Dingen werden, die der Mensch zur Verfügung hat oder die etwa auch anders sein könnten. Ihre notwendige Verbindung mit dem Tode und der Herrschaft Jesu Christi bewirkt, daß ihr Dasein von allem üblen Gebrauch, den der Mensch von ihnen machen kann, unabhängig ist, und daß ihre Notwendigkeit sogar über die bloße Erhaltung des Menschen hinausgeht. Anders ausgedrückt: selbst wenn der Mensch einmal dazu käme, ohne die Hilfe dieser Institutionen zu leben, so behielten diese dennoch ihre Wahrheit.

Wir haben hier also eine Gruppe von Institutionen vor uns, deren Erklärung nicht möglich ist, deren Ursprung unklar bleibt, deren Verkehrung den Zerfall der Gesellschaft mit sich bringt und die ein Element des

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Rechtes darstellen; diese Institutionen sind ihrem Wesen nach eine Schöpfung Gottes. Ihre Form kann wechseln, und dabei tritt das Handeln des Menschen greifbar hervor, aber ihre Wirklichkeit bleibt sich gleich. Mit irgendwelchen Naturrecht hat das nichts zu tun: der Mensch braucht diese Institutionen nicht erst zu entdecken oder ihnen Gestalt zu verleihen — sie sind! Der Mensch kann sie lediglich gebrauchen. Er soll sie auch nicht als Vorlage verwenden, sondern er lebt von ihnen, und er braucht sie nur an die gegenwärtigen Verhältnisse anzupassen. Es wäre ersichtlich von Belang, diesen Institutionen in der Schrift nachzugehen 32).

 

2. Die Menschenrechte. Wir sahen bereits, wie sie in Gottes Bund gesetzt sind und durch ihn ihre Notwendigkeit empfangen. Es ist ein Irrtum, wenn man meinte, der Gedanke der Menschenrechte sei erst in neuerer Zeit aufgetreten. Neu ist vielmehr der Glaube an die Rechte des Individuums, und das ist nicht dasselbe. Das Altertum hat die Menschenrechte vollkommen anerkannt. Gewiß wird man dagegen die Sklaverei anführen. Man sollte jedoch nicht vergessen, daß der Sklave ursprünglich Kriegsgefangener ist und daß der Kriegsgefangene normalerweise dem Tode verfällt. Ist jemand Gefangener, so gilt er damit als tot, und daß man ihn materiell am Leben läßt, ändert daran nichts. Als später das Recht zum Verkauf des Sklaven aufkommt, verliert jener Gedanke an Kraft, und der Begriff der Menschenrechte verdunkelt sich, um dann übrigens in Rechtssystemen und philosophischen Lehransichten, z.B. der Stoa, wiederaufzutauchen. Zudem ändert die Tatsache, daß man dem Menschen die Möglichkeit, Rechte zu besitzen, abgesprochen hat, gar nichts an der objektiven Wirklichkeit, daß ihm Gott vermöge des Bundes Rechte zuerkennt. Daß dem Menschen Rechte zugesprochen werden, kommt in der Schrift in all den Gesetzen zum Ausdruck, die Einzelnen oder bestimmte Gruppen von Einzelnen bestimmte Sonderrechte gewähren. Der personale und zugleich von Gott gewollte Charakter dieser Rechte wird manchmal deutlich hervorgehoben. So lesen wir: „Du sollst keinerlei Recht antasten und sollst auch keine Person ansehen noch Geschenke nehmen; denn die Geschenke machen die Weisen blind und verkehren die Worte der Gerechten. Was recht ist, dem sollst du nachjagen, auf daß du leben und besitzen mögest das Land, das dir der Herr, dein Gott, geben wird” (Deut. 16, 19. 20). Die Unverletzlichkeit der Menschenrechte ist eine von Gott gesetzte Bedingung für die Erhaltung des Lebens. Das heißt wirklich: diese Rechte sind von Gott gewollt und als notwendig geoffenbart.

Über diese Rechte sagt uns die Bible nun weiter, daß sie dem Menschen nicht als Individuum zuerkannt sind, sondern als Menschen, als Geschöpf Gottes, innerhalb der Lage, in die Gott ihn stellt. Das wird schon aus der Tatsache des Bundes ersichtlich. All die Menschen, mit denen Gott einen Bund schließt, sind mehr, als sie selber; sie sind Repräsentanten einer Einheit von Menschen: Noah repräsentiert die Menschheit, Abraham das erwählte Volk. Allemal handelt es sich um einen Menschen unter anderen Menschen und mit ihnen verbunden, erwählt, aber nicht abgetrennt, im Gegenteil:


32) Vgl. meine Studie Communautés naturelles, in „Vocations, Nr. 3, Communauté”.

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erwählt, um inmitten der anderen der Träger der Gnade Gottes zu sein. Gerade hier kann man natürlich sagen, es läge ein Mythus vor. Aber dieser Bundesmythus zeigt uns gerade, wem hier Rechte anvertraut werden: nämlich einem in die Menschheit eingefügten Menschen, nicht einem, der zu ihr in Gegensatz tritt.

Zwischen Individuum und Gesellschaft klafft kein Gegensatz: man kann den Menschen nicht außerhalb der Gesellschaft begreifen und umgekehrt. Der Mensch kan nur innerhalb der Gesellschaft Inhaber von Rechten sein; die Gesellschaft hat aber keinen Bestand, wenn der Mensch nicht Rechte besitzt. Der Mensch, der Rechte besitzt, ist also der Mensch, der eng an seine Familie, sein Volk, seine Arbeitsgemeinschaft, seine geistige Gemeinschaft gebunden, in sie hineingebunden ist. Die Gemeinschaftsformen sind zwar nicht seiner Seinsweise inhärent, wohl aber seiner Stellung als verantwortlicher Mensch. Verantwortlich aber ist der Mensch nicht bloß für die ihm umgebenden Menschen, sondern ebenso für seine Nachkommen; denn er ist nicht nur Glied einer horizontalen Gemeinschaft, sondern auch einer vertikalen, die ihn mit Vorfahren und Nachkommen verbindet. Dieser Mensch, an diesem Ort und nirgendwo anders, ist es, der von Gott Rechte empfängt. Daher hat die Entfernung des Menschen aus diesem Zusammenhang, wie sie zugunsten des Individuums geschehen ist, gleichzeitig eine Wegnahme seiner Rechte bedeutet. Jetzt kann das menschliche Recht dem Menschen alle nur denkbaren Rechte zuerkennen — Achtung finden diese nicht. Hier steckt das ganze Problem der Menschenrechte im 19. Jahrhundert. Ihre Leugnung kann nämlich auf zweierlei Weise geschehen: einerseits durch eine menschliche Gesetzgebung, die dem Menschen die Rechte verweigert, die ihm Gott gegeben hat, andererseits dadurch, daß der Mensch in eine Lage versetzt wird, in der er von seinen Rechten keinen Gebrauch machen kann, selbst wenn man sie ihm zuerkannt. Es besteht also eine sehr enge Beziehung zwischen der Stellung des Menschen in der Welt und den Menschenrechten, die ja keineswegs unwandelbar oder in seine Natur eingezeichnet, sondern ihm vielmehr gegeben sind, damit er genau die Aufgabe erfüllen und dem Platz innehalten kann, wofür ihn Gott bestimmt hat.

Aber jetzt müssen wir uns unumgänglich die Frage vorlegen, was eigentlich die Menschenrechte sind. Gott gibt uns keine Liste von ihnen. Sie sind nicht formell festgestellt. In der Offenbarung gibt es keine Charta der Menschenrechte. Das ist auch begreiflich, wenn man an unsere Ausführungen über das Naturrecht zurückdenkt. Gott hat nicht vorweg eine Kodifikation hergestellt, auf die man bloß zurückzugreifen brauchte. Der Inhalt der Menschenrechte ist vielmehr wesentlich kontingent und wandelbar. Er hängt wirklich von den geschichtlichen Verhältnissen ab, in die der Mensch hineingestellt ist. Nicht jede Gesellschaft hat die gleichen Erfordernisse. Die Gesinnung der Menschen ist wandelbar, und ebenso sind es ihre wirtschaftlichen und politischen Anschauungen. So müssen die Rechte der menschlichen Person wandelbar sein. Sie sind nicht, wie die Institutionen, wesentlich unwandelbare „Schöpfung”. Sie liegen nicht von vornherein fest. Trotzdem haben wir ein Mittel, um sie zu bestimmen.

Hierin sind uns zwei Grundanschauungen an die Hand gegeben. Einmal: Gott gewährt dem Menschen Rechte in einer bestimmten Abzweckung, auf

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ein Ziel hin. Sie sind für den Menschen nicht bloß ein Vorteil, sondern dazu bestimmt, daß der Mensch etwas vollbringt. Auf diesen Gedanken, der das gesamte Recht bestimmt, müssen wir später noch ausführlich zurückkommen. Zum anderen: diese Rechte werden von dem Beteiligten selbst erkannt. Der Mensch vermag nicht objektiv das Recht oder auch die Rechte der Menschheit zu erkennen, aber er ist vollkommen in der Lage, die Rechte geltend zu machen, die ihm persönlich zukommen oder die er zum Leben braucht. Er kennt sie rein aus seiner Lage heraus, und es bedarf hier keines objektiven Gerechtigkeitssinnes, sondern lediglich des echten Selbsterhaltungstriebes. Man braucht hier bloß an die zahlreichen Stellen in den Psalmen und im Buche Hiob zu denken, in denen es heißt: „Ich will mein Recht vertreten”, oder auch an das Bewußtsein des eigenen Rechtes, daß der Psalmist gegenüber seinen Feinden besitzt.

Jetzt sehen wir, weshalb es notwendig ist, den Blick auf die — freilich in etwa dämonisch aussehenden — Vergeltungsansprüche zu lenken, namentlich auf diejenigen der Armen und der Schwachen, d.h. gerade derer, die nach unseren Darlegungen vor Gott ein Recht besitzen (vgl. dazu außer zahlreichen Stellen des Alten Testaments auch Jak. 5, 4). Wenn der Mensch Klage führt, so gibt er damit, mehr oder weniger gut, mit mehr oder weniger Lauterkeit und Rechtlichkeit, seinem Rechte Ausdruck. An einem solchen Vergeltungsanspruch des Menschen kann man im menschlichen Recht die Menschenrechte erkennen. Damit haben wir also ein zweites Mittel, um die Menschenrecht zu bestimmen.

Ohne Zweifel ist es gefährlich, dem Anspruch auf Recht einen solchen Platz zu geben. Trotzdem erkennt ihn Jesus selber an. Sehen wir von dem kanaanäischen Weibe ab, so müssen wir mindestens auf das Gleichnis vom ungerechten Richter achten (Luk. 18, 2-8). Dieser übt unter dem beharrlichen Drängen der Frau Gerechtigkeit — angesichts der willkürlichen Gewalt, die sie ihres Rechtes berauben kann. Man muß beachten, daß dieser Richter nicht mechanisch in Aktion tritt wie unsere heutigen Gerichte, sondern daß er offenbar eine seinem Ermessen unterworfene willkürliche Gewalt besitzt (so wie sie gegenüber dem Menschen der Staat oder die Gesellschaft hat). Er kann ihr zu ihrem Recht verhelfen, er kann sie aber auch abweisen. Zudem ist es ein „ungerechter Richter”; er glaubt nicht an Gott und nimmt auf keinen Menschen Rücksicht, d.h. er hat gar keinen Grund, Gerechtigkeit zu üben. Er glaubt weder an sein Urteil, noch überhaupt an das Recht; ein Kriterium für Gut und Böse besitzt er nicht. Von ihm selber kann man also gar kein gerechtes Urteil erwarten, etwa daraufhin, daß er Gerechtigkeit kennte. Trotzdem fällt er ein gerechtes Urteil, und zwar um des Drängens der Frau willen, die ihrerseits auf ihrem Recht besteht. Eben damit überführt sie den Richter. Genau bedacht, liegt der springende Punkt des Gleichnisses aber nicht an dieser Stelle. Er zeigt sich vielmehr am Anfang: „Er sagte ihnen aber ein Gleichnis davon, daß man allezeit beten und nicht laß werden solle ...” (18, 1). Wenn uns aber Jesus dieses Gleichnis gibt, so zeigt sich hier erneut, was wir bereits fanden: daß nämlich zwischen dem hier geschilderten Handeln und dem Gebet zu Gott, das nach Gerechtigkeit verlangt, kein grundlegender Unterschied besteht. Denn nach dem Gleichnis

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ist ja von einem solchen Gebet die Rede. Wenn der Mensch betet, so spricht er damit aus, daß er sein Recht geltend macht. Das kann anstößig klingen. Aber eben dies sagt doch der Schluß des Gleichnisses: „Wenn des Menschen Sohn kommen wird, meinst du, daß er auch werde Glauben finden auf Erden?”. Die Gerechtigkeit, die die Erwählten beanspruchen, das Recht, das sie geltend machen — das ist die einzige Gerechtigkeit, die sie haben, nämlich diejenige, die ihnen in Jesus Christus durch den Glauben zukommt! Verlangen sie ihr Recht, so bestehen sie in ihrem Gebet darauf, daß Jesus Christus sie rette, ja es ist solche Rechtsforderung das Verlangen nach der Wiederkunft Christi — Maranatha, darin findet sie ihren Ausdruck!

Man braucht sich nur die Beziehung zwischen dem Recht und der Gerechtigkeit Gottes ins Gedächtnis zu rufen, um zu sehen, welche Tragweite dieses Gleichnis auf rechtlichem Gebiet besitzt, und um zu merken, daß es tatsächlich die Haltung des Menschen, der sein Recht verlangt, rechtfertigt.

Auf der anderen Seite aber führt uns dieses Gleichnis noch zu eine weiteren Ergebnis. Es erhebt sich nämlich unvermeidlich eine Frage: es mag recht und gut sein, sein Recht zu verlangen; aber wer soll denn das Recht der Anderen anerkennen? Für solche Anerkennung können wir nicht auf die Gerechtigkeit als Tugend beim Menschen im allgemeinen rechnen. Aber Jesus gibt uns die Antwort. Der ungerechte Richter handelt gar nicht aus Tugend, wenn er Gerechtigkeit übt, sondern geradezu aus eigenem Interesse: „auf daß sie nicht zuletzt komme und betäube mich” (18, 5). Von hier aus müssen wir vorwärts gehen bis hin zu der Stelle: „Alles nun, was ihr wollt, daß euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch” (Matth. 7, 12). Es geht hier also gar nicht um Tugend, sondern um Gegenseitigkeit. Der Mensch wird aufgerufen, das Recht der Anderen anzuerkennen, weil er nämlich verlangt, daß man auch das seinige anerkennt! Und eben die Haltung, die der Mensch den Anderen gegenüber einnimmt, ist ein Maßstab für ihn selber. Was er für sich selbst verlangt, das soll er für die Anderen tun. Das ist nicht die Haltung der Liebe, sondern die Haltung des Gesetzes! Die Liebe bricht dieses Gleichgewicht, diese Gegenseitigkeit entzwei — das ist der Sinn der gleichen Wendung bei Lukas (6, 31-36). Die Haltung des Sünders, des Heiden, des natürlichen Menschen dagegen ist genau die der Gegenseitigkeit. Sie nötigt ihn dazu, für seine eigenen Rechte Begrenzungen gelten zu lassen. Eben aus diesem Grunde aber ist diese Haltung, so richtig sie im Rechtssinne ist, gerade nicht die des Glaubens. „Die Sünder lieben auch ihre Liebhaber” (Luk. 6, 32). „Die Sünder leihen den Sündern auch, auf daß sie Gleiches wiedernehmen” (Luk. 6, 34). Ihr dagegen: „Liebet eure Feinde” (6, 35)! Hier haben wir also das vor uns, was den Menschen dazu bringt, demjenigen Rechte zuzuerkennen, der sie beansprucht. Jedoch will die Tatsache einer solchen Rechtsforderung auch hier wieder nicht besagen, daß der Mensch sein Recht in sich selber trüge. Es gibt eine merkwürdige Stelle bei Habakuk, die uns deutlich zeigt, wie ein Volk aussieht, das sein Recht auf sich selber gründet, sich als dessen Eigentümer ansieht und überhaupt das Recht in den Menschen hineinlegt. Das sind nämlich an dieser Stelle (Hab. 1, 5-11) die Kaldäer, „ein bitteres und schnelles Volk” (V. 6), „von ihm selber kommen sein Recht und seine Größe” (V. 7). Da haben wir den Anspruch des Menschen vor uns, sein Recht auf sich selber zu gründen und daraufhin zu

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sichern. Aber wie sieht dieser Mensch letztlich aus? „Sie kommen allesamt, daß sie Schaden tun ... und dann werden sie fortfahren und sich versündigen” (V. 9. 11): die Beanspruchung des eigenen Rechtes ist also in Wirklichkeit die Bedrückung der Anderen, und das Recht, das dieser Mensch vorbringt, hindert ihn nicht, schuldig zu sein!

Worauf gründet sich letztlich das „Recht” dieses Menschen? „Also muß ihre Macht ihr Gott sein” (V. 11)! Das können wir nun im ganzen Verlauf der Geschichte feststellen: allemal wenn der Mensch den Anspruch erhoben hat, sein Recht auf sich selber zu gründen und in sich selber zu haben, hat dieses Recht in Wirklichkeit auf der Gewalt beruht! Da gibt es dann keinen Unterschied mehr zwischen Gewalt und Gerechtigkeit. Der Stärkere hat recht! Das ist nun aber genau das Gegenteil von dem, was wir oben sahen: von Gott her empfängt der Schwache ein Recht und kann es vor Gott und Menschen vertreten. Aber hier ist nun freilich eine Unterscheidung vorzunehmen, und sie vollzieht sich nach den Kriterien der oben zuerst genannten Bestimmung der Menschenrechte.

 

3. Der dritte Grundzug des Rechtes ist die Gerechtigkeit. Er bereitet uns ohne Frage am meisten Schwierigkeiten, und zwar zunächst durch seine mangelnde Klarheit und ferner auch durch das Fehlen einer augenscheinlichen Beziehung zur Gerechtigkeit Gottes. Nach dem herkömmlichen Denken soll der Mensch in sich selber ein Empfinden für Gerechtigkeit und eine gewisse Kenntnis von Gut und Böse besitzen; er soll daraufhin auch imstande sein, das, was recht ist, richtig einzuschätzen, und ein gerechtes Recht zu schaffen. Jedoch stößt diese Ansicht bereits auf dem Gebiet der feststellbaren Tatsachen auf mächtige Schwierigkeiten, die sich aus der nahezu völligen Unmöglichkeit ergeben, vom menschlichen Gesichtspunkt aus zu bestimmen, was überhaupt Gerechtigkeit sei. Allgemein einleuchtend ist hierzu die bekannte Äußerung Pascals 33), die lediglich ein Wort Augustins aus den Confessiones wiederaufnimmt 34). So ist anscheinend die Skepsis gegenüber der Gerechtigkeit genau so wie das Naturrecht eine herkömmlich christliche Haltung. Im gleichen Sinne bemerkt neuerdings Max Huber 35), der hier wiederum die christliche Anschauung wiedergibt: „Die Gerechtigkeit läßt


33) Deutlicher noch als die klassische Stelle über die Pyrenäen zeigt das die folgende: „Es ist gefährlich, dem Volke zu sagen, daß die Gesetze nicht gerecht seien; denn es gehorcht ihnen bloß, weil es sie für gerecht hält. Deshalb muß man ihm gleichzeitig sagen, daß es ihnen gehorchen muß, weil sie eben Gesetze sind, so wie man auch den Oberen gehorchen muß, nicht weil sie gerecht, sondern weil sie eben Obere sind! Man verhütet also jeglichen Aufruhr, wenn man das zum Bewußtsein bringt — und das ist überhaupt die ganze Definition der Gerechtigkeit.” Pascal, Pensées, V, S. 326 (Michaut).
34) „Das ist der Irrtum solcher Leute, die sich entrüsten, wenn sie hören, daß in alter Zeit den Gerechten etwas erlaubt war, was in dieser Zeit den Gerechten nicht erlaubt ist, und daß Gott aus zeitlichen Gründen jenen etwas anderes geboten hat als diesen, obwohl beide im Dienste der nämlichen Gerechtigkeit standen .... Manches war soeben noch erlaubt und ist es schon eine Stunde später nicht mehr; was an der einen Stelle erlaubt oder geboten wird, wird an der andern mit vollem Recht verboten und bestraft. Ist nun die Gerechtigkeit verschieden und wandelbar? Nein, aber die Zeiten, die sie regiert, gehen nicht gleichmäßig dahin; denn sie sind Zeiten!” Augustin, Confessiones, III, 7.
35) Max Huber, Das Recht und der christliche Glaube.

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sich nicht definieren. Die Gleichheit oder das suum cuique tribuere ... stellen keine materiellen Rechtsnormen dar, sondern lediglich kritische Prinzipien. Wir wissen wohl, was ungerecht ist; das sagt uns unser Gefühl. Aber was die Gerechtigkeit ist, das kann man nicht definieren. Und doch ist es bedeutsam, daß der Gedanke der Gerechtigkeit unablässig das kritische Prinzip des Rechtes ist”. Die Unmöglichkeit, das Wesen der Gerechtigkeit zu fassen, und die Wandelbarkeit des Inhalts der Gerechtigkeit, der nach Zeiten und Orten sich richtet, sowie endlich die Tatsache, daß der Mensch höchstens formale äußere Prinzipien auffinden kann — das alles muß zu denken geben. Aber es reicht nicht hin, um den Gedanken zu widerlegen, daß der Mensch in sich eine Vorstellung von Gerechtigkeit besitzt 36).

Was sagt uns nun die Schrift hierzu? Ihre Aussage ist stets die gleiche und ganz scharf: der Mensch kennt die Gerechtigkeit überhaupt nicht, ebensowenig wie er das Gute kennt. Den Streit über die Erkenntnis des Guten und Bösen beim Menschen lassen wir hier auf sich beruhen; wir wollen uns auf eine vielfach vertretene Behauptung beschränken, die sich auf das vorliegende Problem der Gerechtigkeit bezieht: der Mensch, sagt man, hat sich der Frucht vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen bemächtigt — also weiß er jetzt, was Gut und Böse ist, und wenn er das Gute nicht tut, so liegt der Fehler einzig in seinem Willen. In dieser Form ist das Problem falsch gestellt. Wenn der Mensch die Frucht jenes Baumes an sich reißt, so bedeutet das tatsächlich seine Trennung von Gott, und seine Erkenntnis von Gut und Böse ist also eine Erkenntnis in der Trennung von Gott, in der Sünde und im Tode. Er erkennt das Gute nicht anders als eben in der Sünde, es wird ihm statisch, von der Liebe Gottes losgelöst; das aber heißt, genau betrachtet, daß er nicht die mindeste Vorstellung davon hat, was das Gute wirklich ist, und daß er in seiner Trennung von Gott auch nicht den mindesten Begriff von Gerechtigkeit besitzt, da diese ja die Übereinstimmung mit Gottes Willen ist. Das lehrt uns die Bibel ohne jede Abschwächung. Von sich aus, von Natur, weiß der Mensch nicht, was Gerechtigkeit ist.


36) Trotz der neueren Untersuchungen bleibt hinsichtlich dieses Gerechtigkeitsbegriffs noch eine ungewöhnliche Unklarheit. Um das wahrzunehmen, braucht man nur das erwähnte Buch von Roubier zu Rate zu ziehen. Nach den Lehren, die jenem Begriff mißtrauisch gegenüberstehen und das Recht von ihm fernzuhalten suchen, finden wir da all die anderen aufgeführt, die ihn zu bestimmen versuchen: nach Duguit ist jene Gerechtigkeit das Empfinden der Masse, nach Rousseau diejenige des Individuums, nach E. Lévy eine Glaubenshaltung der Gesellschaft, nach Le Fur ein geistiger Sinn, nach anderen eine Intuition, ein Instinkt usw.! Und allemal ergeben sich rechtliche Auswirkungen bis ins Einzeln; es handelt sich also nicht bloß um einen Streit um Worte (Roubier, a.a.O., S. 128-144). Für Roubier selber ist diese Gerechtigkeit das Ergebnis eines ständigen Fortschreitens, eine von den Technikern des Rechtes bewirkte Verfeinerung, also ein Werk der Juristen, das auf eine höhere Ordnung gerichtet ist, die in der Welt sich durchsetzen muß und die den Sieg der achtenswertesten Interessen sichern wird. Aber dies findet seinen Ausdruck nicht in festgefügten Vorschriften, die den Triumph des Rechten über das Unrecht endgültig machen und die einen universalen Wert haben, der sich dann an allen Orten zu jeder Zeit anwenden läßt. Es handelt sich hier also in Wirklichkeit um ein Ideal, dem der Jurist kraft der Vernunft zu Annahme und Ausdruck verhilft (Roubier, a.a.O. S. 170-184). Sieht man genauer zu, so ist dies alles nur ein Beiseiteschieben der Schwierigkeit. Im Namen welches Kriteriums wird denn die höhere Ordnung bestimmt? Wer sagt uns, was die achtenswertesten Interessen sind? Hier tappt man weiter im Dunkeln und bleibt im Bereich äußerer, formaler Prinzipien!

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Wir können in der Tat alles in den Satz des Paulus zusammenfassen: „Die Sünder, die nicht nach Gerechtigkeit trachteten, haben Gerechtigkeit erlangt. Nämlich die Gerechtigkeit, die aus dem Glauben kommt. Israel aber, das ein Gesetz der Gerechtigkeit suchte, hat dies Gesetz nicht erreicht” (Röm. 9, 30. 31). Der Mensch kann unmöglich von sich aus ein „Gesetz” der Gerechtigkeit schaffen; und das gilt selbst von Israel. Man darf nicht meinen, diese Stelle beziehe sich lediglich auf die Rechtfertigung; er verurteilt es ja gerade, daß der Mensch die Rechtfertigung dadurch erlangen will, daß er in seinen Beziehungen zu Gott und den Menschen eine Gerechtigkeit verwirklicht; denn es ist eben für den Menschen unmöglich, zu einem Gesetz der Gerechtigkeit zu gelangen. Es hängt also beides streng zusammen. Die Gerechtigkeit hat ihren Sitz in keiner Weise auf Erden; sie ist weder im Herzen des Menschen, noch in der Natur: „Die Gerechtigkeit schaut hoch vom Himmel herab” (Ps. 85, 12)! Sie ist stets Gabe Gottes, stets Gnade. Da, wo der Mensch nicht von Gottes Willen geführt wird, da regiert Unordnung und Ungerechtigkeit (Jes. 24, 5).

Wann bekommt nun der Mensch die Gerechtigkeit zu Gesichte? Wenn er vor Gottes Urteil steht! „Wo dein Urteil im Lande ergeht, da lernen die Bewohner des Erdbodens Gerechtigkeit. Aber wenn dem Gottlosen Gnade widerfährt, so lernen sie nicht Gerechtigkeit ...” (Jes. 26, 9. 10). Und umgekehrt: wenn die Gerechtigkeit sich offenbart, so tut sie wahrhaft ein Urteil Gottes kund: „Man fürchtete den König; denn man sah, daß die Weisheit Gottes in ihm war, um ihn in seinen Urteilen zu leiten” (1. Kön. 3, 28). Auf diesen Gedanken müssen wir später zurückkommen.

Jedoch ist damit diese einzige Quelle für eine Erkenntnis der Gerechtigkeit noch nicht voll erkannt. Tatsächlich über Gott allemal, wenn er richtet, zugleich Gnade. Gerade deshalb werden wir immer wieder darauf hingewiesen, daß die Gerechtigkeit, die der Mensch in Gottes Urteil erkennt, für ihn Gnade, für ihn ein Geschenk ist: einzig durch die Weisheit, die Gott ihm gewährt, kann der Mensch die Gerechtigkeit erkennen. Wir können uns hier an das Gebet das Salomo erinnern (1. Kön. 3), auf das Gott die Antwort gibt: „Weil du die Weisheit erbittet, Gerechtigkeit zu üben, so will ich tun nach deinen Worten ...” (V. 11. 12). So hängt die Gabe der Weisheit wirklich von Gott ab, und allein durch diese Weisheit kann der Mensch die Gerechtigkeit erkennen. Nirgendwo ist das klarer ausgesprochen als in den Sprüchen, wo die Weisheit selber das Wort nimmt und die Gerechtigkeit von sich abhängig sein läßt: „Denn der Herr gibt Weisheit ... Alsdann wirst du verstehen Gerechtigkeit und Recht und Frömmigkeit ... auf daß du wandelst auf gutem Wege und bleibest auf der rechten Bahn ...” (Spr. 2, 6. 9. 20). Dies zeigt uns, daß man zwischen der Erkenntnis und dem Vollzug der Gerechtigkeit keinen Unterschied machen darf, da beide von der Weisheit abhängig sind: „Du wirst verstehen ..., auf daß du wandelst”! In der Weisheit Gottes geht eines nicht ohne das andere. Es ist von Belang, hervorzuheben, daß in dem oben angeführten Text für „Gerechtigkeit” und „Recht” im Hebräischen zädäk und mischpath steht — also gerade die beiden Sinnformen für Gerechtigkeit, die wir oben kennenlernten: göttliche und menschliche Gerechtigkeit. Auch die menschliche Gerechtigkeit kann also nicht anders wirklich erkannt und geübt werden, als kraft der Weisheit Gottes.

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Verweist man nun auf die Schriftstellen, die davon sprechen, das Gesetz Gottes finde sich im Herzen des Menschen, so enthalten die meisten lediglich eine Bestätigung des eben Gesagte: aus Gnaden allein schreibt Gott dem Menschen sein Gesetz ins Herz, und „Gnade” ist hier in dem ganz engen Sinne von „Heilsgnade” gefaßt. Am klarsten zeigt das die Stelle bei Jeremia, wo von dem Neuen Bunde die Rede ist, den Gott an die Stelle des mosaischen setzen wird, und in welchem dem Menschen das Gesetz ins Herz geschrieben sein wird; da „werden mich alle kennen ..., spricht der Herr” (Jer. 31, 31-34). Viele weitere Stellen anzuführen, ist nicht nötig; überall, wo von diesem Gesetz im Herzen die Rede ist, beruht dies auf Gottes Erwählung, auf Gottes Gnadentat und auf der Erkenntnis des Menschen, daß der Gott der Offenbarung, der Gott Jesu Christi, Gott ist. Wir haben also gerade das Gegenteil einer Gerechtigkeit vor uns, die in die Natur des Menschen eingezeichnet wäre!

Trotzdem gibt es eine Stelle, die besonderer Untersuchung bedarf, ohne daß man freilich hoffen darf, alle in ihr liegenden Schwierigkeiten zu beheben. Es ist die Stelle, auf die sich alle Verfechter des natürlichen Gesetzes im Menschenherzen berufen: Röm. 2, 14 f.: „So die Heiden, die das Gesetz nicht haben, doch von Natur tun des Gesetzes Werk, sind dieselben, dieweil sie das Gesetz nicht haben, sich selbst ein Gesetz, als die da beweisen, des Gesetzes Werk sei geschrieben in ihrem Herzen, sintemal ihr Gewissen ihnen zeuget, dazu auch die Gedanken, die sich untereinander verklagen oder entschuldigen.”

Wir haben zu dieser Stelle mehrere Bemerkungen zu machen, ohne ein vollständige Auslegung zu versuchen. Φύσει, „gemäß der natürlichen Einsicht”, oder „gemäß der Natur”, steht ersichtlich dem Gesetz — τὸ ἔργον τοῦ νόμου — gegenüber. Es handelt sich um das „Werk”, das in Übereinstimmung mit dem Gesetz geschieht, und dieses steht mit dem „Herzen” im Zusammenhang!

Der Text will nicht, wie man es mißbräuchlich aus ihm herauslesen will, behaupten, das Gesetz sei in das Herz geschrieben. Es geht ausschließlich um das Handeln des Heiden. Er handelt nach einer Auseinandersetzung, welche sein Gewissen und seine Gedanken führen, und diese stehen ersichtlich in einer Erörterung darüber, welches Handeln zu erwählen ist. Das Handeln des Heiden kann dann — es muß nicht so sein: „So die Heiden ...” — dem Willen Gottes entsprechend, es kann ein gerechtes Handeln sein, und in diesem Augenblick — im Handeln! — bekundet der Heide, daß er sich selber ein Gesetz ist, d.h. daß er wirklich ein Werk des Gesetzes getan hat und dieses Werk aus seinem Herzen hervorgeht, wie Christus sagt: „Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über” (Matth. 12, 34). Es geht in diesem Text nie um das Gesetz an sich, sondern um ein Handeln, das dem Gesetz gemäß ist. Und das ist nun auch alles, was der Heide vermag: er kann, möglicherweise, gemäß dem Willen Gottes handeln, ohne daß er vom Willen Gottes als Gesetz etwas erfahren oder erkannt oder eine Erörterung darüber angestellt hat. Im Hintergrunde ist es, ob man es will oder nicht, das Problem des Glaubens, das hier aufgeworfen ist; man muß ja diese Stelle in den Zusammenhang der Kapitel hineindenken, und da soll sie zeigen, daß es Rechtfertigung, mit oder ohne Gesetz, nur durch den

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Glauben geben kann. Kann man aber ohne das Gesetz zur echten Haltung des Glaubens gelangen, so ist man damit genau so weit wie mit dem Gesetz Moses. Dieser Gedanke würde uns indessen zu weit abführen.

Aber unsere Stelle läßt uns einen für unser Thema äußerst wichtigen Begriff hervorheben, nämlich den des Handelns. Der natürliche Mensch ist von Gott berufen zu handeln, und es kann sein, daß sein Handeln gerecht ist. Nehmen wir Adam als Beispiel. Gott gewährt ihm keine besondere Kraft, keine Tugend, keine Mächtigkeit, er gewährt ihm, daß er sein Leben erhalten und forterben kann usw. Er ist der homo faber. Er empfängt ausschließlich Mittel zum Handeln: einen gewissen Verstand, Hände, Augen usw., also genau das, was er nötig hat, um sein Leben zu erhalten und auszugestalten. Mehr ist der Mensch nicht. Noch deutlicher wird das an Kain sichtbar: er und seine Nachkommen werden zu Erfindern aller Künste, und eben dazu genießen sie den Schutz, den ihnen Gott zusichert. Auf dem Gebiet des Rechtes und der Regelung der Beziehungen in der Gesellschaft weiß der Mensch nicht, was Gerechtigkeit ist — aber er weiß, daß er handeln, ordnen und richten soll! Das ist das Ganze des ihm bereiteten Zustandes.

So ist der Mensch hier wie auf den anderen Gebieten der homo faber: er besitzt eine Vernunft, kraft deren er in gewissem Sinne ein Kriterium für Gerechtigkeit aufstellen kann, das freilich ganz relativ, zeitgebunden und vorübergehend ist, und nach diesem Kriterium begibt er sich dann ans Urteilen. Seine Vernunft setzt ihn ferner in den Stand, dieses Kriterium zu einer Verwaltungs- und Rechtstechnik zu verarbeiten, weil er ja eine bestimmte Ordnung aufrechtzuerhalten hat. Aber genau so, wie er Rechenfehler machen oder in seiner Arbeit Mißerfolg haben kann, so braucht auch das, was er „gerecht” nennt, keineswegs zwingend gerecht zu sein, und was er „Recht” nennt, das ist nicht unfehlbar Recht! Dies ist der Grund, weshalb nach der Schrift das Rechte nicht in dem besteht, was dem menschlichen Rechtsempfinden oder der ordnenden Vernunft entspricht. Wenn der Mensch Recht vollzieht, so sucht er damit nicht eine souveräne Norm des Rechten zu reproduzieren, sondern zu einer gangbaren Ordnung zu kommen. Die Ordnung des Rechtswesens und der Verwaltung sowie die dabei geltenden Regeln haben den Zweck, die Erhaltung des Lebens möglich zu machen, und diesem Zweck fügt sich der Mensch auch ein: er sucht also zu einem Erfolg zu gelangen, und eben dies ist das Kriterium, das er sich für seine Rechtsschöpfung setzt. Er verfolgt also kein Ideal, sondern erstrebt ein praktisches Ergebnis. Er tut sein Werk, und dies kann nach Gottes Willen gerecht sein, es kann aber ebensogut ungerecht sein. Was hier ermittelt werden muß, bezieht sich in Wirklichkeit auf die Erhaltung der Welt, und der Mensch handelt mit seinen Gerechtigkeitsregeln zur Erhaltung der Welt, eben als homo faber. Gerade dies aber ist einer der Zwecke, die Gott dem Recht gegeben hat; denn es ist ein Element der Geduld Gottes gegenüber der Welt.

Als Kriterium dieser Gerechtigkeit können wir also die Tatsache annehmen, daß ein Gesetz oder eine rechtliche Einrichtung organischer Bestandteil der Geduld Gottes ist. So ist also ein Gesetz, das für die Gesellschaft zerstörend wirkt, Unordnung und Tod nach sich zieht und zur

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Auflösung führt, ein ungerechtes Gesetz. Gleichermaßen ungerecht ist aber auch ein Gesetz, das zwar eine formale Ordnung aufrechterhält, aber durch Unterdrückung und Härte die Unvollziehbarkeit geistigen Lebens beim Menschen oder bei Gruppen von Menschen herbeiführt; denn auch eine solche geistige Lähmung durch das Gesetz führt sehr schnell zum Zerfall der Gesellschaft. Endlich würde auch ein Gesetz nicht gerecht sein, wenn es nicht organischer Bestandteil der Geduld Gottes wäre, also den Versuch enthielte, sich außerhalb des Entweder-Oder von Leben und Tod der Gesellschaft und des Menschen zu stellen. Hier muß jedes Gesetz in Dienst treten, und keines kann etwas anderes sein als der Ausdruck für die mehr oder weniger gesicherte Erhaltung des Menschen. Hier liegt der Beziehungspunkt, nach dem im Bereich des Menschen bestimmt werden kann, was „das Rechte” ist. Aber was enthält nun diese rein pragmatische Gerechtigkeit, die der Mensch zu seinem Wohlergehen aufrichtet, Gemeinsames mit der Gerechtigkeit Gottes? Auf den ersten Blick gar nichts! Nimmt man die göttliche Gerechtigkeit zum Ausgangspunkt, so trifft das zu: es gibt dann nichts Gemeinsames. Aber vergessen wir nicht: auch die göttliche Gerechtigkeit ist Handeln, d.h. sie ist konstant und doch zugleich Zielpunkt!

In seiner ordnenden Tätigkeit muß der Mensch mit Grundgegebenheiten rechnen, die sich ihm aufdrängen und die er auch von Ursprung her nicht in Frage zu stellen geneigt ist, weil es sich hier eben um Gegebenheiten handelt. Stellt er sie in Frage, so begibt er sich damit allemal auf einen Weg, der für die ganze Gesellschaft tödlich ist. Hierher gehören zunächst die Institutionen. Der Mensch erkennt sie nicht deshalb an, weil er etwa übernatürliche Erleuchtungen besäße oder einen Sinn für die Gerechtigkeit Gottes oder eine genaue Einsicht in das zum Leben Notwendige hätte, sondern einfach darum, weil sie geschaffen sind und existieren, wie er ja auch das Dasein von Himmel und Wasser oder von magischen Mächten anerkennt. Er macht sie dann zu Bestandteilen des von ihm geschaffenen Rechtes, weil er anders nicht mit ihnen umgehen kann. Er macht sie lediglich explizit, und wenn er Recht schafft, so gibt er ihnen die jeweilige Form.

Ferner stößt der Mensch aber auch auf die Menschenrechte, und auch sie muß er wieder in Rechnung stellen, wenn er das Recht einer Gesellschaft gestaltet; denn wenn er diese Forderungen außer Acht läßt, so kann das Recht keinen Sinn haben, weil es dann nämlich nicht als Recht betrachtet wird. Der Mensch, der einem Rechte unterstellt wird, verlangt ja in der Tat, daß sein eigenes Recht Schutz erfährt; es ist ihm ein Werkzeug, um seiner eigenen Gerechtigkeit Geltung zu verschaffen. Dies ist der Grund, weshalb der materielle Ausgangspunkt des Rechtes in den primitiven Systemen fast stets ein Gefüge von Sanktionen ist. Die Formulierung der Sanktion besteht in aller Regel vor derjenigen des Rechtes. So stützt sich also das Recht allemal grundlegend auf die Rechtsforderung des Menschen, deren wohlbegründeten Charakter die Gesamtheit anerkennt. Sehr bald aber geht man dann dazu über, die Bedingungen für eine solche Anerkennung festzusetzen, oder, was auf das gleiche hinausläuft, die Bedingungen, unter welchen die Sanktion im Interesse der Rechtsforderung des Einzelnen wirksam wird. Die Festsetzung dieser Bedingungen ist dann allgemein die Herausarbeitung des Regeln, nach denen der Richter sein Urteil fällen soll.

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In beiden Fällen ist, wie wir sehen, die Rolle des Menschen formal: er gibt dem bereits bestehenden Recht wie den Institutionen ihre Gestalt. Diese Gestalt modifiziert er nunmehr z.B. nach den socialen und wirtschaftlichen Verhältnissen. Er kann übrigens auch noch weiter gehen: er kann dem Menschen ein ihm zukommendes Recht streitig machen oder ihm etwas zusprechen, was kein Recht ist. Er kann auch Institutionen zerstören. Und dies alles geschieht im Verlauf seiner Gestaltungsarbeit, entsprechend dem, was nun der Mensch Gerechtigkeit nennt und was doch in Wirklichkeit nichts ist als eine gewisse Gleichförmigkeit mit zweckentsprechenden, pragmatischen Kriterien, die der Mensch aufstellt, um die ihn umgebende Welt zu ordnen. Aus diesem Grunde ist es unmöglich, der menschlichen Gerechtigkeit einen Inhalt zu geben. Daß sie die Entsprechung zu den Institutionen und den Menschenrechten darstellte, ist keine glaubwürdige Vorstellung. Ihre Funktion ist eine andere: sie soll den Institutionen und den Menschenrechten die jeweilige Form geben, soll sie im Zusammenhang mit den sozialen, wirtschaftlichen und technischen Verhältnissen ausgestalten und sie untereinander in Einklang bringen, so daß die Rechte des Einzelnen gewahrt bleiben — das ist das bekannte suum cuique tribuere — und im Verhältnis zu den Institutionen den rechten Platz erhalten. Aber man darf nicht denken, diese Gerechtigkeit sei unwandelbar und ewig; sie ist nichts anderes als ein praktisches Kriterium, dessen nähere Bestimmung wechselt.

Will man diese Gerechtigkeit in Beziehung zu Gott setzen, so kommt dafür diese ordnende Gerechtigkeit als solche nicht als Ausgangspunkt in Betracht. Sie erlaubt uns niemals ein Weiterschreiten zur Gerechtigkeit Gottes. Aber Gott hat von sich aus diese Beziehung gesetzt, und zwar ist dabei — wie wir noch sehen werden — seine Gerechtigkeit der Ausgangspunkt, und er steigt abwärts auf jene ordnende Gerechtigkeit zu.

 

Wir haben versucht, die Elemente des menschlichen Rechts zu bestimmen. Daraus ergibt sich weder der Sinn noch der Wert des Rechtes. Aber hier liegt trotzdem der notwendige Ausgangspunkt, und dieser ist dann weiter nur im Zusammenhang mit dem Begriff des Bundes und dem Begriff der Parusie zu interpretieren: das menschliche Recht hat seinen Platz zwischen Bund und Parusie. Wir erfahren aber aus unserer Analyse, daß der rechtliche Aufbau nicht aus Prinzipien hervorwächst, sondern 1. aus Entscheidungen unter konkreten Verhältnissen aus einem — nach Gottes Gerechtigkeit mehr oder weniger gerechten — Urteil über geschichtliche Tatsachen, und 2. aus einem Verhalten des Menschen gegenüber dem Wirksamwerden der Menschenrechte und der von Gott gegebenen Institutionen. Dieses Phänomen, das man als „objektives Recht” qualifiziert, ist also wesenhaft relativ, aber es ist doch nicht lediglich relativ, weil ihm nämlich Gott eine Würde beilegt, die wir nunmehr ins Auge fassen.

 

§ 2. Eschatologie und Recht

Der Begriff des Bundes kann den Begriff der Gerechtigkeit nicht erschöpfend klären. Das ist deshalb unmöglich, weil die Gerechtigkeit Gottes einem

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Ziele zugeht: dem Weltgericht, der Wiederkunft Christi. So muß auch das Recht, das in Gottes Bund seinen Ausgangspunkt hat, nicht bloß von diesem Bunde, von seinem Ursprung her gesehen werden, sondern — weil es so eng mit Gottes Gerechtigkeit zusammenhängt — auch im Zusammenhang mit dem „jüngsten Gericht”, mit der Eschatologie, d.h. also mit seinem Ziel und Endvollzug. Alles, was wir bisher vom Bunde her gesagt haben, kann nur unter der Perspektive dieses Zieles wirklich verstanden werden, das wir bereits bisher mehrfach als Grundansatz für die Bestimmung des Rechtes mit zur Geltung bringen mußten.

Noch genauer müssen wir sagen: das Recht is als zwischen Bund und Endgericht eingeschlossen zu verstehen; es ist eine Zwischengröße, die von Gottes Gerechtigkeit durch Bund und Urteil überdeckt wird. Der Umstand, daß das Recht tatsächlich eine solche Zwischengröße darstellt, die — wie wir es von der menschlichen Gerechtigkeit gesehen haben — in einem gewissen Sinne kontingent ist, rechtfertigt aber nicht die Ansicht, es werde in der Neuen Schöpfung einfach verschwinden. Ohne auf die Stelle in der Apokalypse einzugehen, die von der Ehrung Jerusalems durch die erneuerten Völker spricht (Apk. 21, 24-26), oder die Stelle von dem Fortwirken der Werke des Menschen durch das Gericht hindurch in Erinnerung zu bringen (1. Kor. 3, 13), müssen wir wenigstens den Finger auf das Wort Jesu legen: „Mit welcherlei Gericht ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden” (Matth. 7, 2). Der Text hat natürlich in erster Linie einen „geistlichen” Sinn, der allbekannt ist; aber auch für das Recht ist er sicher nicht ohne Belang, und er muß mit zwei anderen Stellen in Verbindung gebracht werden, die ihn erläutern. In dem Gleichnis von den anvertrauten Pfunden macht sich der Herr das Urteil zu eigen, das der nachlässige Knecht über ihn gefällt hat: „Aus deinem Munde richte ich dich, du Schalk. Du wußtest, daß ich ein harter Mann bin ...” (Luk. 19, 22). Und ferner lesen wir im Römerbrief: „Welche ohne Gesetz gesündigt haben, die werden auch ohne Gesetz verloren werden, und welche unter dem Gesetz gesündigt haben, die werden durchs Gesetz verurteilt werden ... Denn so die Heiden, die das Gesetz nicht haben, doch von Natur tun des Gesetzes Werk, sind dieselben, dieweil sie das Gesetz nicht haben, sich selbst ein Gesetz” (Röm. 2, 12. 14). Dies alles zeigt, daß Gottes Gerechtigkeit nicht der Ausdruck einer unwandelbaren, unveränderlichen Norm ist, sondern im Gegenteil — wie wir sahen — in erster Linie Feststellung des Tatsächlichen und individuelles Urteil. Was aber für den ganzen Geschichtsverlauf zutrifft, das ist auch für das Endgericht gültig. Nicht ein Gesetz richtet, sondern der lebendige Gott richtet gemäß dem Recht des Menschen. Das trifft nun auch hier zu: Gott greift zum Urteil über einen Menschen nicht auf eine „absolute” Gerechtigkeit zurück, sondern auf die Gerechtigkeit dieses Menschen! Er richtet ihn nach seinen eigenen Kriterien, seinen Worten, seinen Lebensregeln oder Rechtsregeln, seinen eigenen Urteilen. Und der Mensch findet sich in erster Linie nicht durch die „absolute” Heiligkeit Gottes verdammt, vor der er zunichte wird und die erst dann wirklich erscheint, wenn Gott verzeiht, sondern vor allem durch seine eigene Gerechtigkeit. Das ist der Sinn der Gerichtshandlungen, auf die sich Gott mit dem Menschen einläßt, in denen er auf die Ebene ihrer Gerechtigkeit herabsteigt, aber zugleich

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seine eigene Gerechtigkeit in Erinnerung ruft. So lesen wir im Hiobbuche: „Ich will dich vernehmen, und du sollst mir Auskunft geben — willst du meine Gerechtigkeit zunichte machen?” (Hiob 40, 7. 8). Dies aber ist auch der Sinn der Kreuzigung, in der der Mensch durch sein eigenes Urteil verdammt wird: der Mensch hat das Todesurteil über den Sohn Gottes gefällt, und dieses Urteil, kein anderes, verdammt den Menschen unwiderruflich, so daß nun kein menschlicher Wert mehr Geltung hat, weil ja die Gerechtigkeit des Menschen selber mit diesem Menschen zunichte wird, wenn Gott eben diese Gerechtigkeit zur Anwendung bringt!

Der Gedanke, daß uns Gott nach den Kriterien unseres eigenen Urteilens richtet, bedarf also großer Aufmerksamkeit. Eben das Recht, das wir von seiner pragmatischen und kontingenten Seite her sahen, greift Gott auf und wendet es gegenüber dem Menschen an. Da liegt der furchtbare Ernst dieses Rechtes. Wir können es nicht mehr leicht nehmen oder menschlicher Leidenschaft preisgeben, wenn wir wissen, daß wir, als Einzelne mitverantwortlich für Familie, Beruf, Volk und Führende, die ja zu uns gehören, von Gott nach den Regeln beurteilt werden, die in dieser unserer Umwelt oder von jenen Führenden angewendet werden.

Um ein Mißverständnis zu verhüten, sei im Vorbeigehen darauf hingewiesen, daß wir damit augenscheinlich nicht die einzigen Kriterien des Urteils Gottes genannt haben, und daß dieses Kriterium nicht das absolute Maß für unsere Sünden abgibt. Aber es gehört zu Gottes Urteil! So wird also das ganze Recht, diese gewaltige Erfindung des Menschen im Verlauf seiner Geschichte, das ganze Recht mit seinen Irrungen und Wirrungen, sogar mit seinen Ungerechtigkeiten letztlich von Gott aufgenommen, und Jesus hat diesem Vorgang bereits Urbild und Sinn gegeben, indem er sich dem Recht des Pilatus und dem Recht der Juden, dem Recht der Heiden und demRecht des erwählten Volkes unterstellte! Aber in dieser Tatsache liegt ein doppelter Sinn, den man in seiner Verschiedenheit betrachten muß. Einerseits: sofern das Recht mit der Sünde verbunden ist, sofern es geradezu ein Ausdruck der Sünde sein kann — das gilt z.B. vom rein technischen Recht, das schließlich auf die summa injuria hinausläuft —, nimmt Gott es auf sich, wie er die Sünde des Menschen selbst auf sich nimmt, aber es wird dabei, obwohl es als Maßstab für die Sünde dient, doch von dieser nicht unterschieden. Ja, man kann geradezu sagen: weil dieses Recht Gottes Gerechtigkeit und Gottes Bund zum Ausdruck bringen soll, darum ist es, wenn es ein „Nicht-Recht”, wenn es Sünde geworden ist, nun der Maßstab für die Sünde; denn eben jetzt will der Mensch seine Sünde rechtfertigen und Gottes Gerechtigkeit nach seinen eigenen Maßstäben messen. Schauen wir noch einmal auf das Gleichnis von der anvertrauten Pfunden zurück, so sehen wir deutlich: das Urteil, das der Knecht über seinen Herrn fällt, ist die Regel des Verhaltens, die er sich selbst auferlegt hat, und eben das „Recht”, mit dem er sich rechtfertigt, ist der Maßstab für seine Sünde. Dies Recht nun, das Gott ebenfalls auf sich nimmt und nach dem er richtet, wird von ihm nicht (für die Neue Schöpfung) beibehalten.

Andererseits: soweit nun aber das Recht mit dem Bund im Zusammenhang steht und ihm entstammt, wird es, wie andere Werke des Menschen,

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von Gott im Himmlischen Jerusalem beibehalten; es hat seinen Platz unter dem, was ihm die Völker an Ehre und Ruhm bereiten, und mit ihm zusammen wird es von Gott angenommen; denn nun ist es ja ein Bestandteil der Herrschaft Jesu Christi geworden, nachdem es das Werk, zu dem es Gott bestimmt hatte, völlig zum Ziele gebracht hat.

Gott nimmt also wahrhaftig dieses menschliche Werk, das das Recht darstellt, an und auf, und zwar in zweierlei Weise. Diese beiden Seiten der Sache treten bereits in der Haltung hervor, die Gott gegenüber dem Königsbegehren der Israeliten einnimmt (1. Sam. 8). Mit diesem Begehren verwerfen sie Gott selber als ihren König, sie sind also völlig ungläubig und ungehorsam. Aber trotz allem erfüllt Gott ihren Willen und setzt das Gesetz des Königs, d.h. er nimmt jenen Ungehorsam gerade auf sich, macht aber aus ihm zugleich den Maßstab zur Verurteilung des Volkes. An Saul tritt dann diese Verdammnis besonders deutlich ans Licht. Auf der anderen Seite vollzieht sich in David, der ja der Typus der Königsherrschaft Jesu Christi ist, eine Wiederherstellung des früheren Verhältnisses durch Gott. Nunmehr werden die Israeliten, die Gott als ihren König verworfen haben, der Königsherrschaft Gottes erneut unterstellt, weil Gott das Königtum auf sich selber nimmt und dazu erhebt, Zeichen der Königsherrschaft zu werden, die er in ewiger Gestalt in Jesus Christus aufrichtet! So wird der Akt der Israeliten, obwohl er streng auf der gleichen Ebene verbleibt, doch zu einem Akt der Segnung und des Heils.

Genau so geht es mit dem Recht zu. Gott kehrt den Zustand des menschlichen Rechtes eben in dem Augenblick völlig um, in dem er es zum Werkzeug der Verurteilung für den Menschen macht. Weil Gott es seinerseits annimmt, so macht er in diesem Augenblick aus ihm weit Größeres als ein Gefüge von Rechtsregeln, die der Mensch geschaffen hat. Er macht aus ihm ein Zeichen seiner eigenen Gerechtigkeit. So empfängt das Recht eine ganz ungewöhnliche Würde deshalb, weil Gott es letztlich in die Hand nimmt. Und jetzt sehen wir das Wesentliche: das Recht besitzt seine Geltung für uns nicht kraft seines Ursprungs oder kraft seines Zusammenhangs mit dem Bunde — damit könnte nie etwas anderes ans Licht kommen als die Ungerechtigkeit unseres Rechtes im Verhältnis zu Gottes Gerechtigkeit, es könnte darin nichts anderes liegen als der Maßstab, der seinen Unwert enthüllte, und das könnte für uns also bloß die Nichtbeobachtung dieser menschlichen Regeln mit sich bringen, die dann nichts anderes sind als jene Tradition, die Jesaja und Christus verurteilen, oder als der Ausdruck des menschlichen Willens, der sich Gott entgegenstellt („man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen”) —, nein, das Recht hat Geltung, weil Gott es schließlich in seinen Dienst nimmt! Am Ende seiner Geschichte macht Gott dies Recht authentisch und läßt er es gleichsam in das Reich seiner Gerechtigkeit eingehen. Am Ende der Zeiten gibt es keinen Unterschied mehr zwischen zedakah und mischpath. Verheißen ist das Reich der Gerechtigkeit, der einen und einzigen Gerechtigkeit, die alle Gerechtigkeit in sich hineingenommen hat, und darum ist es vergebens, sich zu fragen, auf welche Gerechtigkeit sich jene Verheißung bezieht, die denen gegeben ist, „die da hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit” — denn diese Verheißung ist eschatologisch. Sie richtet sich an alle, die eine Gerechtigkeit gesucht haben, welche es auch

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sei, innere oder soziale oder Gerechtigkeit im Recht; denn alle echte Gerechtigkeit geht schließlich in Gottes Gerechtigkeit ein, sie kann von ihm nicht abgelöst werden, nicht ihres Ursprungs wegen, sondern um der Gnade willen, die Gott im Jüngsten Gericht dieser Gerechtigkeit antut: daß er sie nämlich mit seiner Gerechtigkeit vereint. Diese Gnade ist uns wohlbekannt; denn es ist keine andere als die, welche in Jesus Christus „alle Gerechtigkeit erfüllt”.

 

Wir sprachen eben von „echter Gerechtigkeit”. Tatsächlich zeigten bereits unsere Erwägungen über den Doppelcharakter im Handeln Gottes gegenüber dem Recht, daß Gott auch über das Recht sein Urteil trifft. Gott vollzieht die Unterscheidung zwischen jenen beiden Seiten unseres Rechtes; er trennt zwischen dem, was zu „Ehre und Ruhm” der Nationen gehört, und allem übrigen, wie er ja alle Werke „durchs Feuer” gehen läßt. Es wird also nicht einfach unser Recht von Gott angenommen. Und doch empfängt all unser Recht, im ganzen Verlauf der Menschheitsgeschichte, seine Geltung aus der Tatsache, daß Gott es einst annehmen wird! Wahrlich, Gott allein vermag diese Unterscheidung zu vollziehen, er allein kann jene beiden Seiten des Rechtes scheiden, die für uns gerade deshalb vereint sind, weil wir kein letzte Kriterium für die Gerechtigkeit besitzen, das uns zur Verfügung stände und außerhalb unserer Sünde bliebe. Wir wissen letztlich nicht, was Gott von unserem Recht behalten wird. Dieses Nichtwissen wird man zugeben, wenn man sich darauf besinnt, daß wir nicht einmal wissen können, was die Geschichte von unserem Recht und unseren gegenwärtigen Institutionen beibehalten wird. Da wir nun schon außerstande sind, die Unterscheidung der Geschichte zu ermessen, wie sollen wir da Gottes Entscheidung nachmessen wollen? Wir können uns also nicht an Gottes Stelle versetzen. Dies bestimmt unsere Stellung gegenüber das Recht, die wir später zu untersuchen haben. Wir müssen jetzt noch dem Zusammenhang nachgehen, der zwischen Ausgangs- und Endpunkt, Bund und Gericht besteht. Wir können ihn, weil unser Verstehen in der Zeit liegt, notwendig nur linear fassen; tatsächlich ist er ewig und liegt bereits im Bunde selbst beschlossen. Das Jüngste Gericht Gottes ist dasselbe wie der Bund; nur hat es seine Stellung gleichzeitig als letztes Ereignis der Geschichte und als die Gegenwärtigkeit des neuen Äon, während der Bund eine Institution Gottes innerhalb des Geschichtsverlaufs ist und also eine relative und verborgene Selbstbekundung darstellt.

Im Kommen des neuen Äon finden wir wesentlich die gleichen Grundtatsachen wieder wie im Bunde: Urteil, Gnade, Wiederaufrichtung der Herrschaft Gottes in Jesus Christus. Nur handelt es sich hier um ein Urteil, das nicht mehr verkannt oder abgewiesen werden kann, um eine Gnade, die alles ans Licht bringt und nichts im Verborgenen läßt, und um die grundlegende, allgemeine, allumfassende Wiederaufrichtung einer Herrschaft, die sich auch dem Augenschein nach so durchsetzt, daß ihr nichts entgeht. Es wird also hier der letzte Bund offenbar und erfüllt, wie er in Jesus Christus geschlossen ist. Und der Zusammenhang zwischen den verschiedenen Bundschlüssen und dem Komen des neuen Äon ist so zu verstehen: der neue Äon ist die völlige, endgültige Erfüllung aller Bundschlüsse, und diese

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besitzen für uns heute eine gegenwärtige Wirklichkeit, die in Hoffnung kraft ihrer Erfüllung in Jesus Christus gültig ist.

Dies sollte natürlich näher entfaltet werden; aber in unserem Zusammenhang hat sich das Nötige bereits ergeben: wir sehen, daß die Funktion des Rechtes in der menschlichen, bruchstückweisen, kontingenten Verwirklichung eines Bundes besteht, der erst am Ende der Zeiten seine Erfüllung findet. Alles, was mit dem Ursprung des Rechtes gegeben ist, besitzt also seinen wahren Wert allein in dieser Vollendung, und das Recht selber ist unlöslich an sie gebunden, weil es von Ursprung her mit dem Bunde im Zusammenhang steht.

So ist also das Recht ausschließlich in Jesus Christus begründet und in seinem Wert und Wirkungsumkreis schlechthin begrenzt.

 

§ 3. Die Zweckbestimmung des Rechtes

I. Die Ausdrucksform des Rechtes

Wie stehen wir nun als Menschen dem Recht gegenüber da? Nach dem oben Gesagten steht uns nicht der Versuch zu, zwischen dem, was in Ewigkeit gültig ist, und dem, was verworfen werden muß, zu scheiden: diese Scheidung findet noch nicht statt; sie geschieht eerst im Gericht. Wir sollen also zunächst die Gesamtheit des Rechtes, so wie es besteht, annehmen; denn dies Recht ist von Gott zum Dienst bestimmt; dabei soll das Recht in seiner Gesamtheit nicht deshalb angenommen werden, weil es gerecht wäre, sondern weil Gott es aufnimmt. Aber gleichzeitig können wir uns dem Rechte keineswegs ohne Vorbehalt ausliefern. Wir können nicht einfach annehmen, was in rechtlicher Form angeblich in Übereinstimmung mit der Gerechtigkeit existiert; wir wissen ja sehr genau, daß es das Gegenteil von Recht sein kann und daß also auch ein Verdammungsurteil über das gegenwärtige Recht besteht, dem wir unterstellt sind. Und hier wird wiederum die Gesamtheit des Rechtes in Frage gestellt! Von einer einfachen Anpassung an das Bestehende kann keine Rede sein; denn wir wissen, daß das Ganze des Rechtes durch das Gericht hindurch muß. Das sind die beiden Stellungnahmen, zwischen denen wir uns befinden; sie sehen gegensätzlich genug aus — aber sie sind es nicht. Auf der einen Seite muß es uns darum gehen, die Anarchie, die Herrschaft der Rechtsverletzung, zu verhüten, der Entstellung des Rechtes zugunsten persönlicher Interessen und der Bevorzugung von Personen oder Klassen entgegenzuwirken. Auf der anderen Seite aber haben wir dem Recht gegenüber immer schärfere Forderungen zu erheben, damit es — wie wie sahen — gewissermaßen im Rahmen der Gerechtigkeit die Institutionen und die Menschenrechte für den gegenwärtigen Augenblick immer klarer formuliert. Wir können deshalb das Recht, wie es besteht, und den Zustand, wie er von diesem Recht als normativ geschaffen ist, unter keinen Umständen hinnehmen. Die spezifische Aufgabe des Christen besteht, gerade weil er sich in jener zweiseitigen Lage befindet, darin, die gültigen Forderungen des natürlichen Menschen hinsichtlich seiner Rechte anzuerkennen und ihnen ins Recht Eingang zu verschaffen, ohne daß dies unter dem Druck des

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Zwanges oder der Vergeltungsforderung geschieht; es soll eben das Recht nicht das bloße Produkt der Gewalt sein, und es soll das, was an den Rechtsforderungen des Menschen gerecht und gesund ist, nicht satanisch werden. Aber es ist möglich, dieses Verhältnis schärfer zu erfassen bzw. den Beweggrund für das Handeln des Christen im Rechtsbereich genauer zu bestimmen.

Die eschatologische Perspektive, die wir im Blick auf das Recht zu ziehen versuchten, führt uns nun gleichfalls zu der Einsicht, daß sich dieser Zustand des Rechtes in menschlichem Maß abzeichnet: das Recht bleibt nicht bei der Geschichte stehen, aber es ist Bestandteil der Geschichte. Weil es nicht bei der Geschichte stehen bleibt, gehorcht es aber einem Ziel: es ist orientiert, es ist nicht dem Zufall seiner freien Entfaltung von seinen Ursprüngen her überlassen. Was auf der Ebene des Bundes und des Gerichtes gilt, das trifft auch auf der Ebene der menschlichen Geschichte zu. Das Recht hat auf Erden eine Zweckbestimmung. Dies ist der zweite bestimmende Grundgedanke, auf den der Christ in seinem Handeln Bezug nehmen muß. Es geht also nicht um die Verwirklichung eines Modells oder um die bloß annähernde Erreichung eines Zieles, sondern um die Verwirklichung eines gesetzten Zweckes und die Erfüllung einer Aufgabe: dazu ist das Recht von seine Ursprung her bestimmt. Wir müssen, wohlverstanden, sogleich die Vorstellung ausschließen, als könnte das Recht ein Mittel sein, um das Kommen des Reiches Gottes auf die Erde herbeizuführen. Wir brauchen die Frage nicht zu vertiefen, sondern wir halten sie fern, indem wir darauf verweisen, daß nach unserem Glauben das Reich Gottes durch Gottes eigenes Handeln kommen wird, das sich in einer völligen Umwandlung der ganzen Schöpfung bekundet. Das Recht vermag das Kommen des neuen Äon weder aus der Nähe, noch von ferne vorzubereiten oder anzubahnen. Aber trotzdem hat es eine Funktion, die nicht übersehen werden darf: wie wird durch seine eschatologische Tragweite bestimmt. Damit haben wir die Zweckbestimmung des Rechtes vor uns; wir müssen sie unter zwei Gesichtspunkten untersuchen, indem wir danach fragen, was das Recht zum Ausdruck bringt, und was es zu bedeuten hat 37).

 

Es genügt nicht, einfach zu sagen: Gott gibt ein Recht, um Ordnung, Gerechtigkeit usw. regieren zu lassen. In der Offenbarung gibt uns nichts die Gewähr dafür, daß es sich so verhält. Und diejenigen, welche den Versuch gemacht haben, sich in diesem Zusammenhang auf angeblich christliche Prinzipien zu stützen, haben durch die klaffende Gegensätzlichkeit ihrer Anschauungen den Beweis erbracht, daß man, solange man sich nicht auf die in der Schrift bezeugte Offenbarung bezieht, auf rationalem Wege mit einem solchen Recht alles decken kann, was man will.

Bisher haben wir gesehen, daß Gott den Rechten des Menschen einen Zweck gesetzt hat: er erkennt sie dem Menschen zu, damit dieser imstande ist, als sein Partner mit ihm im Bunde zu stehen, m.a.W. damit er in einem


37) Die Zweckbestimmtheit des Rechtes wird übrigens in ihrem menschlichen Zusammenhang von zahlreichen Juristen anerkannt. Sie findet ihren Ausdruck nach ihrer Meinung in dem Ziel, das das Recht erreichen muß, um die Gesellschaft zu ordnen und das Gleichgewicht der Interessen aufrecht zu erhalten.

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gewissen Sinn ein Gegenüber für Gott sein kann. Die Weise, wie Gott ihm solche Rechte zuerkennt, ist höchst konkret, wie wir sahen. Es trifft zu, daß der Mensch ein solches Gegenüber bestimmt nicht sein kann, wenn er ohne die Rechte dasteht, die ihm das Leben sichern, und zwar ein Leben solcher Art, daß er dem Worte antworten kann, das Gott an ihn richtet, wenn er mit ihn seinen Bund eingeht. Es gehörte schon Idealismus dazu, das Gegenteil zu behaupten, und ein Idealist ist die Bibel nicht!

Hiernach ist die erste Grundlinie in der Zweckbestimmung des Rechtes: das menschliche Recht muß derart gefaßt sein, daß der Mensch, der in ihm existiert, alle notwendigen Rechte genießt, die ihn in den Stand setzen, das Bundeswort zu vernehmen, das Gott an ihn richtet, und darauf zu antworten. Bringt das Recht den Menschen in einen Zustand, der die Verkündigung des Bundes sinnlos macht, so macht es die Rechte zunichte, die Gott dem Menschen zuerkennt, und eben damit vernichtet es sich selbst: leugnet es diese Rechte, die sein vornehmster Inhalt sind, so hat es überhaupt keinen echten Gehalt mehr. Ersichtlich ergibt sich daraus die Anerkennung nicht bloß abstrakter Menschenrechte, sondern im Gegenteil — höchst konkret — bestimmt umrissener Freiheiten, die die Gesamtexistenz des Menschen umfassen und nicht bloß, wie die Gewissensfreiheit, sein inneres Leben. Denn der Bund ist nicht nur, mit Abraham, als Bund des Heiles geschlossen, sondern auch, mit Adam und Noah, als Bund der Erhaltung. Und beide haben in Jesus Christus ihre Verwirklichung gefunden, „von dem, durch den, zu dem alle Dinge sind” (1. Kor. 8, 6; Röm. 11, 36). Diese drei Aussagen geben vollständig darüber Kunde, was in Wahrheit der Bund ist. Und um des Bundes willen kann sich das Recht jener Zweckbestimmung nicht entschlagen; denn der Bund ist nicht bloß ein Ausgangspunkt, sondern, juristisch gesprochen, ein sukzessiver Vertrag, ein solcher also, der sich nicht im einmaligen Vollzug erschöpft, sondern dessen Wirkungen fortgehen — und zwar eschatologisch! So beziehen sich jene Rechte, die dem Menschen zuerkannt werden müssen, damit er Gott Antwort geben kann, nicht blos auf die Situation, in der ihm das Evangelium verkündigt wird, sondern zunächst einmal auf die Situation des Menschen, sofern er von Gott berufen ist, ganz einfach zu leben! Wir brauchen hier nur darauf zu verweisen, daß in den Bundschlüssen jedesmal die Forderung des „Lebens” wiederholt wird. Mit Gott einen Bund zu schließen, das bedeutet zunächst: leben zu können, und dann auch: die Verpflichtung zur Erhaltung des Lebens auf sich zu nehmen! Man hat hieraus den allgemeinen Gedanken der „Erhaltung der Welt” abgeleitet. Das ist zum Teil, wie wir sehen werden, richtig; aber es ist zuerst, vor der Welt, der Mensch gemeint! Versetzt man also den Menschen in eine Lage, in der ihm das Leben unmöglich wird, so handelt man dem Zweck des Rechtes zuwider. Dem Menschen ist die Frage gestellt: „Willst du leben? Willst du leben lassen?” — und das Recht muß so beschaffen sein, daß er darauf Ja sagen kann. Dies heißt noch nicht, daß der Mensch notwendig Ja sagen muß (denn die Sünde stößt ihn in den Tod!), auch nicht, daß er wirklich leben kann (das kann er nicht ohne die Gnade), sondern ganz einfach: daß die vom Recht geschaffenen Daseinsbedingungen sozialer, wirtschaftlicher und politischer Art so beschaffen sein müssen, daß der Mensch nicht von vornherein in den Tod getrieben wird.

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Wir sagten: „vom Recht geschaffene Daseinsbedingungen”. Darin zeigt sich der teilweise selbständige Charakter des Rechtes gegenüber dem Wirtschaftlichen und Sozialen; das Recht ist nicht einfach ihr Ausdruck, sondern es muß, um jene Daseinsbedingungen zu gestalten, normativ sein und sogar manchmal das in der Wirtschaft oder Gesellschaft Bestehende unterdrücken, wenn nämlich das Bestehende für den Menschen tödlich ist. Kraft seiner Zweckbestimmung ist das Recht dem Wirtschaftlichen übergeordnet.

So erfahren wir auch, in welcher Richtung wir handeln müssen, wenn wir wahrnehmen, wie das Recht den Menschen aus der ihm bereiteten Lage heraus zur Verzweiflung, zum Aufruhr oder zur Verneinung des Lebens und seiner Fortpflanzung treibt!

Jedoch haben diese Rechte des Menschen, aus denen sich leicht Folgerungen ziehen lassen, zu ihrem Zweck den Bund, der dazu bestimmt ist, die Welt zu erhalten. M.a.W. Gott erhält, wie wir sahen, die Welt, wenn der Mensch die Bestimmungen des Bundes innehält. Gewiß ist es nicht das Handeln des Menschen, das die Welt erhält, sondern Gottes Gnade, ohne daß der Mensch etwas getan hätte, um sie zu verdienen — aber der Mensch soll jenen Bestimmungen Ausdruck verleihen, indem er sie verwirklicht! So besteht die Aufgabe des Rechtes von Gott her nicht bloß darin, dem Menschen das Leben zu ermöglichen, sondern auch die Gesellschaft so aufzubauen, daß sie von Gott erhalten wird. Hier finden wir nun das Gegenstück des oben Dargelegten: Wie der Mensch um des Bundes willen seine Rechte empfangen hat, so wird die Welt um des Gerichtes willen erhalten! „Also auch der Himmel, der jetzund ist, und die Erde werden durch sein Wort” — das Wort der Schöpfung und des Bundes — „gespart, daß sie zum Feuer behalten werden auf den Tag des Gerichts und der Verdammnis der gottlosen Menschen” (2. Petr. 3, 7). Wir sehen, daß das Recht als zweite Bestimmung die hat, die Aufgabe der Erhaltung der Welt zu erfüllen: auch dies ist eine seiner Zweckbestimmungen.

Aber was soll das heißen: die Welt zum Gericht aufbehalten? Mit der Vorstellung eines launischen Gottes, der die Welt nur dazu im Leiden beläßt, daß er sie umso besser verdammen kann, hat das nichts zu schaffen. Tatsächlich wird das Gericht durch die Verkündigung des Wortes mitten in dieser Welt erfahren, und das Wort allein „scheidet” wie ein „zweischneidig Schwert” (Hebr. 4, 12), d.h. das Wort vollzieht das Gericht! So wird also die Welt in Wirklichkeit dazu erhalten, daß das Wort in ihr ausgerichtet, das Heil in Christus ihr verkündigt werde. Gott läßt ihr möglichst lange eine Chance. Das alles ist wohlbekannt.

Aber wir wollen darüber nachzudenken suchen, was dies unter dem Gesichtspunkt des Rechtes bedeutet; denn dies hat ja, wie wir sahen, die Aufgabe, auf Erden den Bund Gottes zu bekunden und daraufhin diese Welt zu ihrer Erhaltung auf das Gericht hin zu ordnen. Dieser Zweck schließt zunächst in sich, daß das Recht sich selber als relativ erkennt und von sich selber weiß, daß es dem Gericht unterworfen ist. Es trifft nun tatsächlich genau zu, daß jeder Zerfall des Rechtes mit seiner Verabsolutierung beginnt, d.h. damit, daß das Recht sich selbst als Zweck setzt, daß es von sich aus das Heil des Menschen und die in sich geschlossene Ordnung der Gesellschaft zu sichern versucht. Die dämonische Versuchung des Rechtes

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ist die Vorstellung einer Gesellschaft ohne Zweck oder zu einem anderen Zweck als dem hic et nunc durch die Predigt des Evangeliums ergehenden Urteil Gottes! Hier müssen wir nun ebenso urteilen wie bereits zuvor: wenn das Recht die Gesellschaft zum Zwecke — d.h. ausschließlich zum Zwecke — der menschlichen Glückseligkeit oder der Produktion oder der Macht oder der Ehre oder des Reichtums ordnet und nicht auf das Gericht hin, so hört es auf, die Welt zu erhalten. Denn Gott erhält die Welt nur auf das Gericht hin, und wenn das Recht diese Aufgabe nicht mehr erfüllt, so wird es in der Gesellschaft zum Element der Unordnung, der Anarchie und des Todes.

Wenn wir aber sagen, daß das Recht da ist, damit durch die Predigt des Wortes das Gericht vollzogen werde, so heißt das zugleich, daß das Recht keinen moralischen und auch keinen religiösen Inhalt haben kann. Es ist ein Element der Ordnung und des Gerichts — wir finden auch hier wieder, im Blick auf die Zweckbestimmung des Rechtes, den pragmatischen Charakter desselben —, aber es ist kein Element geistlicher oder innerlicher Leitung. In Sachen des Heils soll sich der Mensch nicht nach den Vorschriften des Rechtes richten. Das Recht ist also notwendig weltlich; denn es soll ja für das geistliche Geschehen, das sich im Reden Gottes vollzieht, lediglich einen Rahmen zu schaffen suchen, nicht aber soll es das Wort in rechtliche Formeln umwandeln oder mumifizieren. Indessen schließt diese Weltlichkeit des Rechtes ein, daß die vom Recht geordnete Gesellschaft eine offene sein muß, ein Bereich, in dem materiell und geistig Gottes Urteil geschehen kann! Das ist alles, was man vom Recht fordern kann: man kann weder verlangen, daß es eine Kenntnis vom Worte Gottes habe, noch daß es günstige Bedingungen für die Verkündigung anbahne, sondern einzig, daß es sich stets im Sinne einer Aufrechterhaltung der Offenheit der Gesellschaft ausrichtet, d.h. der Möglichkeit zur Entwicklung und Veränderung. Ein Gesetzgeber, der die ganze Gesellschaft kodifiziert und sagt: „Jetzt bleibt das Recht stehen”, wie Justinian oder Napoleon, ist nicht bloß unbesonnen, sondern das Gegenteil eines wirklichen Gesetzgebers. Und ein Gesetzgeber, der sagt: „Ich schaffe ein goldenes Zeitalter, eine Welt, in welcher der Mensch nicht mehr nötig und nichts mehr zu verlangen hat”, ist ebenfalls ein Fälscher, selbst wenn es stimmt, daß seine Gesetzgebung vollkommen ist, ja — besonders wenn es so ist!

 

Es ist schwierig, den Begriff des Rechtes zu erörtern, ohne gleichzeitig denjenigen der Ordnung mitzudenken, mit welchem Namen man sie auch nennen mag: öffentliche Ordnung, Sicherheit, Polizei. Wir haben alle mehr oder weniger die Überzeugung, daß Recht und Ordnung miteinander verbundene Dinge sind, und das trifft auch teilweise zu. Teilweise: denn wir verstehen darunter zumeist, daß das Recht die Ordnung schafft. Die Ordnung existiert auf die einfältigste Weise, wenn die Polizei die Straße beherrscht und Unruhen verhindert, wenn das Gebäude der Gesellschaft keinem Wandel unterworfen ist (für viele ist „Ordnung” gleichbedeutend mit „Erhaltung”), sie existiert in durchdachteter Form, wenn es dem Recht gelingt, zwischen den Forderungen, Leidenschaften und Notwendigkeiten des Menschen einerseits, und der Stabilität, Sicherheit und Organisation der Gesellschaft

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andererseits ein gewisses Gleichgewicht herzustellen oder auch Produktionsmittel und Verteilungsmethoden miteinander in Einklang zu bringen. Wir verstehen daher das Recht gewissermaßen als Schöpfer der Ordnung, und deshalb sehen wir es mit einer gewissen Macht ausgestattet, um der von ihm geschaffenen Ordnung Respekt zu erwirken. So sind die römische Ordnung oder die bürgerliche Kodifikation Napoleons nichts anderes als der Ausdruck für eine bestimmte Herrschaftsgewalt, die sich in einem Recht bekundet, das eine Ordnung aufbaut. Ist „Ordnung” nicht mehr als dies, so haben die Marxisten recht. Kein Idealismus kann uns die Behauptung erlauben, eine solche Ordnung beruhe auf etwas anderem, als auf den Interessen der herrschenden Klasse, die aus dem Recht ein Instrument zur Versteinerung einer vorteilhaften gesellschaftlichen Lage macht, das man dann „Ordnung” nennt. Nach menschlicher Sicht läßt sich die Geschichte des Rechtes anders überhaupt nicht verstehen. Daher kann die Ordnung in sich selbst keinen Wert darstellen, ebensowenig wie das Recht die Ordnung rechtfertigt; denn genau betrachtet ist das Recht dann allemal ein Instrument des Stillstandes; wir betrachten die Ordnung, scharf genommen, als etwas Statisches, aber wir können nicht ohne schlechtes Gewissen behaupten, diese Ordnung sie etwa das Wahre! Nein, sie ist in Wirklichkeit — mit Mounier zu reden — nicht Ordnung, sondern „Einrichtung gewordene Unordnung”!

In Wirklichkeit ist die Ordnung nicht eine Schöpfung des Rechtes, sondern umgekehrt! Die Ordnung besteht bereits, und dann wird sie vom Recht auf eine Formel gebracht. Jedoch müssen wir uns hier von zahllosen Verwechslungen hüten. Welches ist dann die Ordnung, die uns von Gott geoffenbart ist? Es gibt keine andere als die von Gott geschaffenen Institutionen! Wir haben weder die Möglichkeit, in der Natur oder in der Vernunft nach einer Ordnung zu suchen, noch aus dieser Ordnung den eigentlichen Rechtstitel für das Recht zu machen (Mittelpunkt des Rechtes ist, wie wir sahen, vielmehr die Gerechtigkeit), noch auch, die Lücken in der Offenbarung mit rationalen Spekulationen oder theologischen Konstruktionen auszugleichen. Gott hat eine Ordnung geschaffen, in welche der Mensch sich hineingestellt findet, damit ihm das Leben möglich ist. Es sind nicht alle Elemente dieser Ordnung rechtlicher Natur (man denke z.B. an die physischen Gesetze); aber vor Gott sind sie alle gleichen Wesens: Kreaturen zum Dienste an der Kreatur! Auf dem Rechtsgebiet haben wir die von Gott geschaffenen Institutionen, deren Merkmale oben aufgewiesen wurden. Eine andere Ordnung als die damit gegebene existiert nicht. Das bedeutet: wir können das, was wir etwa erfinden, mit jenen Institutionen nicht auf die gleiche Ebene bringen. Zwischen den von Gott geschaffenen Institutionen und den sonstigen rechtlichen Formen — die wir übrigens ebenfalls „Institutionen” nennen — besteht der gleiche Unterschied wie zwischen Gesetzen und Hypothesen auf dem Gebiet der Wissenschaft.

Aber welchen Merkmale können wir dieser Ordnung zuschreiben? Zunächst: sie ist fragmentarisch; die von Gott geschaffenen und von ihm geoffenbarten Institutionen reichen als solche zur Schaffung von Recht nicht hin. Der Rechtsbetätigung des Menschen verbleibt also ein beträchtlicher Spielraum für eigene Entdeckungen und Anwendungsformen. Diese Institutionen sind lediglich die festen Beziehungspunkte für die Herausarbeitung der Ordnung

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einer Gesellschaft. Ferner: diese Ordnung ist „wesenhaft”; Gott gibt uns keine rechtlichen Formen, die wir lediglich auf eine Gesellschaft anzuwenden, und auch kein Muster, dem wir bloß nahezukommen brauchten. Er offenbart uns bleibende Elemente einer Ordnung, die zum Bestandteil seiner, auf ihn bezogenen Ordnung darstellen (und nicht der unsrigen zugehören!), d.h. genau: die dem von Gott verfolgten Werke zugeordnet sind, nämlich dem Heil des Menschen.

Gewiß offenbart uns Gott in der Schrift diese Elemente seiner Ordnung in einer bestimmten Gestalt, und es geht darum, unter dieser Gestalt ihre Wirklichkeit zu sehen: sie ist, wie wir oben sahen, christozentrisch. Diese Wirklichkeit aber gilt es als eine für jede rechtliche Ordnung notwendige Institution im Auge zu behalten. Das menschliche Recht kann nur dann ein Recht sein, wenn es diese Ordnung beobachtet. Seine Aufgabe auf diesem Gebiet besteht dann darin, jenen Institutionen die jeweilige Form zu geben und dem Hohlraum auszufüllen, der zwischen den von Gott gewollten Institutionen besteht und dessen Vorhandensein sich in jeder gegebenen Gesellschaft bekundet. Es ist z.B. eine Institution, daß das Eigentum die von Gott als Einrichtung gesetzte Form der Beziehungen zwischen Mensch und Dingen ist, daß es eine christozentrische Bedeutung hat, daß es Zeichen einer Gnade ist und daher im Zusammenhang mit dem Erbe steht. Dagegen ist uns rein nichts über die Form des Eigentums gesagt: ob es persönliches oder Familien- oder Kollektiveigentum sein soll, und nichts über seine Handhabung in einer bestimmten Gesellschaft, z.B. im Bezug auf Vertretung oder Übertragung. Die Tatsache aber, daß das Eigentum eine von Gott geschaffene Institution ist, schließt für seinen Gebrauch, seine Ausdehnung, seinen Dauercharakter und seine Exklusivität bestimmte Beschränkungen in sich. Mit anderen Worten: damit Ordnung besteht, muß die Form des Eigentums durch zwei Elemente bedingt sein, durch die Tatsache, daß es von Gott erschaffen ist, und durch die Tatsache bestimmter politischer, sozialer und wirtschaftlicher Verhältnisse.

Endlich stehen die Institutionen mit dem Recht in einer organischen Verbindung: das Recht erfüllt seine Aufgabe nicht, wenn es sie beiseiteläßt oder durch eine ihnen nicht entsprechende Form wirkungslos macht; verfährt es so, dann schafft es tatsächlich Unordnung, und zwar immer aus dem gleichen Grunde; entweder gehorcht es dann nicht seinem Zweck, oder es versteht sich als Schöpfer der Ordnung, oder es wil die Ordnung zu etwas Unbeweglichem machen, oder es verwechselt die rechtliche Form mit der Ordnung selbst. Ohne jene Institutionen, die Gott geschaffen hat, fehlen dem Recht seine tragenden Organe und kann es den Erfordernissen in der Gesellschaft nicht mehr entsprechen.

Der damit entwickelte Begriff der Ordnung läuft darauf hinaus, daß in der Ordnung der Welt eine gewisse Permanenz notwendig ist, wie sie Gott in der Schöpfung gewollt hat, daß aber andererseits die Ordnung nie statisch sein kann, sondern vielmehr stets im Wandel begriffen ist, um den Bedürfnissen der Kreatur zu entsprechen.

Dies wird noch deutlicher erkennbar, wenn wir die Ordnung in Beziehung auf ihr Ziel begreifen: jene Institutionen sind ja ein Element jener Permanenz, die von der Schöpfung bis zur Parusie währt. Es gibt freilich eine Ordnung

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der Schöpfung, die, wie gesagt, von Grund auf zerstört ist, und zwar derart, daß das einzige Ergebnis der Tod hätte sein müssen. Jene Institutionen waren ein Bestandteil der Schöpfung; das zeigt sich an ihrem christozentrischen Charakter. Gott hat jedoch dem Adam das Leben erhalten und zugleich das, was zu diesem Leben notwendig ist — wobei aber beides nichts Vergleichbares mehr mit dem ha, was vor dem Fall Leben und Ordnung war. Trotzdem: aus der Schöpfung ist das Leben erhalten geblieben, und sein Wert wird uns immer neu ins Gedächtnis gerufen. Aber auch die Bedingungen dieses Lebens haben einen Wert gleicher Art. Die Institutionen, die einen Bestandteil jener von Gott zum Zwecke des Lebens aufrechterhaltenen Ordnung bilden, existieren als ein Zeichen der von Gott gewährten Permanenz, und wie sie in der Schöpfung da waren (nur daß wir ihre Gestalt letztlich nicht kennen), so finden sie sich auch im Himmlischen Jerusalem wieder (nur daß wir auch hier nicht wissen, wie), mindestens ihrer Wirklichkeit nach, auf die sie uns lediglich ein Hinweis sind. Wenn dies zutrifft, so ist deutlich, daß also die Ordnung, deren wesentliche Elemente jene Institutionen auf dieser Erde darstellen, Permanenz und beständige Veränderung zugleich ist: Permanenz, weil die Institutionen als Zeichen dieser Permanenz existieren, beständige Veränderung, weil sie ihre Richtung auf die Parusie haben, jenen Augenblick, in dem die Wiederkunft Christi jene Zeichenhaftigkeit als notwendig ausweist, mit der seine Inkarnation und sein Sterben die Institutionen versehen hat, die um seinetwillen mehr sind als lediglich materielle Lebensbedingungen! 38).

 

Ein letztes Problem stellt sich uns im Blick auf die Tatsache, daß die Menschenrechte ständig verkannt, die Institutionen ständig entstellt und verderbt werden und das Recht aus sich heraus nie genügt, sondern manchmal geradezu die Unordnung etabliert. Es besteht also um die Menschenrechte und die Institutionen ein unabwendbarer Streit, und dieser muß seinen Abschluß in einem Urteil finden. Den Begriff des Urteils brauchen wir hier nicht im gerichtlichen Sinne zu verstehen; wir wollen hier nicht von einem Urteil sprechen, das von einem Gericht gefällt wird, sondern es geht um das Urteil, das aus dem in Röm. 2, 14 geschilderten Widerstreit hervorgeht. Der Mensch gelangt zu einem Urteil über die jeweilige Form, welche die Institution annehmen soll, über die Anerkennung oder Verwerfung des — je bestimmten — Menschenrechts, aber auch über die Weise, wie man den gegenwärtigen Formen des Rechts oder auch — in einem sich erhebenden Streitfall — dem guten Recht einer einzelnen Person Rechnung tragen soll. Dieses Urteil bezieht sich also vornehmlich auf die Feststellung eines Rechtes, im weiteren aber auch auf die Wiederherstellung oder Herstellung von Ordnung. Ich behaupte gerade nicht, daß hier etwa Gerechtigkeit an sich geübt wird; es geht vielmehr auch hier lediglich um die bereits erörterte pragmatische Gehalt der Gerechtigkeit. Und dabei erscheint ein solches Urteil


38) Diese Ordnung ist offensichtlich etwas völlig anderes als die „Sicherheit”, die die Juristen meinen und die manche als Ursprungselement des Rechtes betrachten. Diese Juristen kommen meistens von der Lehre nicht los, daß der Staat in Sachen des Rechtes allmächtig sei. Sie sehen in der Sicherheit das, was der Staat zustandebekommt; es geht ihnen also um eine formale Ordnung, während ich hier die institutionelle meine.

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als das Wirksamwerden dessen, was uns Gott als Elemente des Rechtes gegeben hat. Dies ist die eigentliche Tätigkeit des Menschen; er übt sie aus, ohne genau verstanden zu haben, daß hier eine ihm von Gott zugeteilte Aufgabe vorliegt; aber er kann sie auch nicht unterlassen, weil seine Existenz selber ihn dazu nötigt, sie zu üben.

Dieses Wirksamwerden hat also seinen Ausgangspunkt darin, daß der Mensch nicht isoliert ist, weil ihn nämlich Gott in bestimmten sozialen Beziehungen erhalten hat. In diesem Tätigwerden, das rein vom Nutzen bestimmt ist, leistet der Mensch Gott in der gleichen Weise Gehorsam wie darin, daß er arbeitet. Er soll arbeiten, um zu essen, und so soll er auch dieses Urteil, das dann zur Erarbeitung von Recht führt, ausüben, damit seine Beziehungen zu den anderen Menschen nicht lediglich in der Gewalt bestehen. Er vollzieht dieses Urteil von einer Lage aus, die ihm Gott bereitet — nämlich von dem Zeichen aus, das Gott dem Kain anhaften läßt und das dazu führt, daß Kain vor den Menschen, die ihn sonst töten würden, Schutz findet; er wird ja durch eine siebenfach wirksame Vergeltung geschützt. So urteilen nun Kain und die anderen Menschen, die mit ihm die gleiche Sache treiben, über jene Beziehungen von dem Schutze Gottes aus; dieser ist gewiß durchaus kein Recht und auch keine schlechthinnige Immunität, die dem Kain zu tun erlaubte, was ihm beliebt, sondern sie ist ein der tatsächlichen Gegebenheiten für die Beziehungen unter den Menschen, und diese Gegebenheit zieht dann von ihrer Seite ein Urteil nach sich. Es ist damit genau so wie mit dem Noahbunde: auch hier werden die Menschen gegeneinander geschützt, indem nach einer der Bundesklauseln das Blut des Menschen von dem, der es etwa vergießt, zurückverlangt wird (Gen. 9, 5. 6). Das geht weit über den Gedanken einer immanenten Gerechtigkeit hinaus, die sich außerhalb des menschlichen Willens auswirken würde, oder über eine bloße Rechtfertigung der Todesstrafe; vielmehr muß dies alles zugleich in der nämlichen eschatologischen Perspektive gesehen werden wie alle anderen Elemente des Rechtes. Was wir hier vorfinden, ist die dem Menschen auferlegte Nötigung, über konkrete Situationen, die sich aus seinen Beziehungen zu den anderen Menschen ergeben, ein Urteil zu fällen und, wenn ein Mensch die Ordnung (etwa auch durch Starrheit!) verletzt hat, sie wiederherzustellen.

Dieses Urteil zeigt zwei Merkmale. Erstens verwickelt es den Menschen, der es fälle, in den vielfältigen Widerstreit des Rechtes, der Gesellschaft und der Ordnung; das Urteil kann in keiner Weise abstrakt oder objektiv sein. Wer es fällt, macht sich selbst zum verpflichteten Partner: er steht nun der rechtlichen Lage des Menschen nicht mehr indifferent gegenüber, er ergreift Partei für oder gegen die Institution, für oder gegen das Menschenrecht und letztlich für oder gegen Gott. Es kann natürlich immer nur das Urteil eines sündigen Menschen sein, und wenn es einmal gerecht ist, so bedeutet das keineswegs, daß der Mensch von Gottes Gerechtigkeit Kenntnis hätte oder gerettet wäre, sondern einzig daß dieser Mensch an dem Werk der Erhaltung der Welt teilhat und darin tut, was ein sündiger Mensch zu tun vermag. Das hat dann keinen Heilswert, aber es ist, wie wiederum Röm. 2, 14zeigt, nicht ohne Wert vor Gott. Nun kommt aber, wie wir sahen, der Mensch um ein derartiges Urteil gar nicht herum. Das bedeutet: es gibt keinen Menschen,

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der nicht für oder wider Gott Partei ergriffe, weil es eben keinen Menschen gibt, der nicht an diesem Urteil über die Beziehungen unter den Menschen teilhätte und sich nicht mehr oder weniger im einen oder anderen Sinne engagierte.

An diesem Urteil, aus dem das menschliche Recht sich herausentwickelt — so wie das Urteil Gottes der Ausgangspunkt für Gottes Gerechtigkeit ist — haben alle Menschen teil; denn es nimmt unendlich vielfältige Gestalt an: Gewohnheiten, gerichtliche Urteile, Berufsgenossenschaften, Revolution, Presse, Wahlen — das alles gehört dazu. Dieses Urteil aber macht daher nicht bloß die eine oder andere politische oder rechtliche Form zur Frage, sondern geradezu die gesamte Haltung, die der Mensch gegenüber der Ordnung der göttlichen Gerechtigkeit einnimmt.

Das zweite Merkmal: das Urteil des Menschen ist nur dann ein wirkliches Urteil, wenn es sich auf diese Ordnung bezieht und die Aufgabe der Herausarbeitung von Recht erfüllt. Es darf also nicht vom persönlichen Interesse, von Gunst oder Leidenschaft abhängig sein. Ist es so (und ohne Frage kann auch ein solches Urteil gefällt werden!), dann vermehrt es die Unordnung und zerstört das Recht; es leugnet nämlich dann bestimmte Menschenrecht oder macht eine bestimmte Institution sinnlos. Hierher gehören die Schriftstellen von den Pflichten der Richter. So z.B.: „Du sollst nicht vorziehen den Geringen, noch den Großen ehren; sondern du sollst deinen Nächsten recht richten” (Lev. 19, 15), oder: „Keine Person sollt ihr im Gericht ansehen” (Deut. 1, 17). Besonders bemerkenswert ist die zweite Stelle, die sich unmittelbar an den Richter wendet, während die erste an das Gesamtvolk geht. Ebenso: „Es ist nicht gut, die Person des Gottlosen achten, zu beugen den Gerechten im Gericht” (Spr. 18, 5). Diese Stellen und andere dazu haben natürlich zunächst den Sinn, daß der Richter die Gerechtigkeit gemäß dem Gesetz üben soll, ohne Gunst. Aber sie können nicht isoliert verstanden werden; man muß sie in den Gesamtzusammenhang der biblischen Lehre von Gerechtigkeit und Recht einordnen. Dann wollen sie sagen: was unter rechtlichem Gesichtspunkt an der Lage des Menschen beachtenswert ist, das ist nicht seine Macht oder sein Elend oder sonst irgendeine individuelle Eigenschaft, sondern vielmehr sein Recht! Sein Recht, das Gott ihm zuspricht und das dazu führt, daß er in einer bestimmten rechtlichen Lage recht hat! Sein Recht, das das Gegenteil seiner äußeren Erscheinung ist! Diese Auslegung stützt sich auf ein Wort Jesu selber, der in Joh. 7, 24 die erwähnte Stelle Deut. 1, 17, die sich nach dem Zusammenhang auf die Rechtspflicht der Richter bezieht, aufgreift und auf sich selber umdeutet: „Richtet nicht nach dem Anschein, sondern richtet ein rechtes Gericht”! Das führt hinüber zu einer ganzen Reihe von Stellen, die von dem Recht Christi selber handeln; man kann als ihre Zusammenfassung das Wort über den Sabbat betrachten: „Der Sabbat ist um den Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen. So ist des Menschen Sohn ein Herr auch des Sabbats” (Mark. 2, 27. 28). Es besteht also eine echte Ordnung, die der Mensch in seinem Urteil über die scheinbare Ordnung hinaus anzuerkennen berufen ist, und nur wenn er sie anerkennt, ist sein Urteil echt 39).


39) Die Mittel, die der Mensch zur Formulierung seines pragmatischen Urteils anwendet, ➝

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Dieses Urteil hat nun größte Bedeutung; denn von ihm hängt die jeweilig gültige Form des Rechtes ab, ja noch mehr: an ihm wirkt sich die eschatologische Spannung im Rechte aus. In der Schrift begegnet uns diese Spannung etwa in dem Wort: „Wer das Schwert nimmt, der soll durch Schwert umkommen”. Dieses Wort findet sich an zwei Stellen: in Matth. 26, 52 und in Apk. 13, 10 (was eine Gewähr für ihren eschatologischen Sinn ist). Und beide verhalten sich zueinander wie Gegenstücke. Nach der ersteren lehnt Christus ein Eingreifen mit dem Schwert ab, das ihn vor der Verhaftung retten soll. Warum? „Wie würde denn die Schrift erfüllet?” (Matth. 26, 54). Hier bekundet er sich als der Erfüller des Wortes; denn die Schrift ist für ihn nicht eine tote Thora, sondern Gottes Wille selbst. Und wir sahen, daß eben die Erfüllung dieses Willens die Gerechtigkeit ist. Was Jesus also verdammt, is an dieser Stelle der Gebrauch des Schwertes, der die Gerechtigkeit hindert. Er formuliert mit seinen Worten geradezu das Urbild des gerechten Urteils — des schlechthin gerechten, weil es von Jesus Christus ausgeht! Und der Gebrauch des Schwertes wird hier verdammt, weil er diesem schlechthin gerechten Urteil zuwiderläuft.

Die zweite Stelle (Apk. 13, 10) bezieht sich auf das „Tier aus dem Abgrund”, auf die schlechthin ungerechte Gewalt, die Gott lästert, die Heiligen mit Krieg überfällt, Macht über diese Welt hat und sich unbefugt anbeten läßt — die also die Ungerechtigkeit in jeder Form erfüllt und eben zu dieser Ungerechtigkeit das Schwert gebraucht! Auch spricht das „Tier” kein Urteil, sondern es gebraucht lediglich seine Gewalt; an die Stelle des Urteils setzt es die Lästerung, und die Willkür seines Willens beherrscht die Anwendung des Schwertes. Das Widerspiel des Urteils ist der Geist der Gewalt, den im Bereich der Politik und des Rechtes das Tier aus dem Abgrund repräsentiert.

Indessen wird damit der Gebrauch des Schwertes nicht an sich verurteilt. Man braucht nur an Röm. 13, 4 zu erinnern. Er steht lediglich unter einer möglichen Verurteilung — „der muß mit dem Schwert getötet werden” — und von dieser Drohung heißt es, daß sie nichts anderes ist als „Geduld und Glaube der Heiligen” (Apk. 13, 10), d.h. völlig gebunden an die gewisse Hoffnung auf Jesus Christus, auf die Parusie und die Wiederherstellung aller Dinge. So steht der Gebrauch des Schwertes unter dem Eindruck einer Drohung, die sich nur dann verwirklicht, wenn das Schwert das ist, was unsere beiden Texte zeigen: Hemmnis für die Gerechtigkeit oder Werkzeug für den Geist der Gewalt! Diese eschatologische Sicht erlaubt uns, dem Urteil, zu dessen Vollzug der Mensch in der Sphäre des Rechts berufen ist, seinen ganzen Wert beizumessen: um dieses Urteils willen wird die Führung


➝ haben wir hier nicht zu untersuchen. Sie sind eine Betätigung des Rechtes. Hier sei nur darauf aufmerksam gemacht, daß sie äußerst verschieden sind: es muß hier die Vernunft angewendet werden, aber ebenso die Erfahrung und die Feststellung soziologischer und geschichtlicher Tatbestände, und zum Ganzen tritt dann auch die Rechtstechnik hinzu. Dabei stellen Rechtssprache und Rechtskategorien im besonderen sehr sichere Instrumente dar. Und endlich muß man auf die Anwendung dieser Werkzeuge die formalen Prinzipien der Gerechtigkeit einwirken lassen; es muß also die ausgleichende wie die vergeltende Gerechtigkeit zu Worte kommen wie auch das „gemeine Beste”. Man sieht, was diese Prinzipien nach meiner Ansicht bedeuten: sie gewähren keine absolute Erkenntnis von Gerechtigkeit, sondern sie sind im konkreten Fall anwendbare Instrumente zur Bildung eines Urteils, das seinerseits der Ausformung des Rechtes dient.

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des Schwertes nicht verdammt werden. Jeder sonstige Gebrauch des Schwertes läuft dem Willen zur Erhaltung der Welt zuwider, und einzig der Tod könnte ihn sanktionieren. Aber eben dies gibt dem Recht sein Gewicht und seinen Wert: die Anwendung von Gewalt aus sich heraus wird zum Tode verurteilt, das Recht aber erlaubt vor Gott den Gebrauch der Gewalt, und dieses Urteil braucht zu solcher neuen Einordnung der Gewalt nicht gerecht im Sinne der Gerechtigkeit Gottes zu sein. Wir wissen, was dies Urteil ist, wir kennen seinen relativen, kontingenten, rein praktischen Charakter, es ist uns klar, daß es auch irrig sein kann — aber es genügt; denn es ist das Gegenteil der Willkür und des Geistes der Gewalt, es bezeugt, auch wenn es ungerecht, wenn es irrig ist, von Seiten des Menschen den Willen zur Unterwerfung unter eine Vorschrift, den Willen, Grenzen anzuerkennen und sich nicht selber als Anfang und Ende des Rechtes anzusehen.

Dieses Urteil aber hat dann Geltung; denn am Ende der Zeiten nimmt Gott es mitsamt dem ganzen Recht an und auf 40).

 

§ 4. Die Zweckbestimmung des Rechtes

II. Die Bedeutung des Rechtes

Die Zweckbestimmung des Rechtes — also das dem Recht von Gott gesteckte Ziel — ist mit den Ausführungen über die rechtliche Gestalt als Ausdruck nicht erschöpft. Das Recht trägt eine Bedeutung in sich: es ist da, um etwas zu be-deuten, Zeichen für etwas zu sein.

Die Einrichtung von Recht, die Tatsache einer Urteilsfällung — dar sind zunächst einmal Fingerzeige, die der Mensch empfängt: dem Menschen wird eine Frage gestellt, und zwar die Frage nach der Gerechtigkeit selbst. Der Mensch, der seine Aufgabe im Recht ernst nimmt, kann an dieser Frage nicht vorbei. Aber zugleich: beantworten kann er sie nicht! Dieser Hohlraum, den der Mensch nicht ausfüllen kann, ist bereits ein Zeugnis, das er Gott gibt. Mit menschlichen Antworten kann sich der Mensch unmöglich begnügen; denn im Recht geschieht ein Handeln Gottes, das nicht auf etwas anderes zurückgeführt werden kann, und seit dem Kommen Jesu Christi gilt allen Richtern die Mahnung: „Sehet zu, was ihr tut; denn ihr haltet das Gericht nicht den Menschen, sondern dem Herrn, und er ist mit euch, wenn


40) Was wir die Zweckbestimmung des Rechtes nannten, hat mit dem, was die Juristen so nennen, schlechthin nichts zu tun. Es geht ihnen in Wirklichkeit darum, festzustellen, wer als Zweck im Recht zu gelten hat: das Individuum oder die Gesellschaft. Hier liegt „der letzte Zweck der Rechtsvorschriften” (Roubier, a.a.O., S. 230; vgl. zum gesamten Problem S. 184-242). Dieses Problem ist also danach der Kern aller Probleme des Rechtes. Aber in Wirklichkeit haben wir damit bloß eine Tatsachenfeststellung im Blick auf das abendländische Recht seit dem 18. Jahrhundert vor uns. Ein letzter Zweck der Rechtsvorschriften ergibt sich daraus nicht. Eher dagegen möchte ich dem Gedanken des „transpersonalen” Rechtes zustimmen, der dem Recht die Idee der Zivilisation zum Zwecke setzt (Gurvitch, Le temps présent et l’idée du droit social). Das ist wirklich ein offener Begriff, der auch die Hinentwicklung des Rechtes auf eine Zweckbestimmung mitdenken läßt, die ihrerseits weder im Rechte selbst, noch in seinem Gegenstande liegt. Der Übergang zu einem transzendenten Zweck des Rechtes wird nun möglich, obwohl ihn die Urheber dieser Theorie nicht im Auge hatten.

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ihr Urteil spricht” (2. Chron. 19, 6). Das heißt nicht, daß Gott jedes Urteil inspiriert. Im Gegenteil: dem Menschen wird die ganze Verantwortlichkeit überlassen: „Sehet zu, was ihr tut”. Aber die Stelle will zunächst sagen, daß Gott bei jedem Akt der Justiz gegenwärtig ist, bei allem, was mit dem Recht zu tun hat, und ferner: daß kein Justizakt seinen Wert und seine Auswirkungen lediglich im Bereich des Rechtes hat, sondern jeder eine theologische Tragweite besitzt. So bekommt das Recht einen ganz anderen Mittelpunkt, als es ihn herkömmlich hat; denn jetzt wird es auf Gott ausgerichtet.

So wird nun dem Menschen, wenn er vom Recht Gebrauch macht, unaufhörlich seine eigene Verantwortlichkeit in Erinnerung gerufen, und eben dies ist die Bestimmung des Rechtes. Verantwortlich ist der Mensch in diesem Akt, weil er eine Macht wirksam werden läßt, die Gottes Bereich ist — die Gerechtigkeit —, weil er eine Funktion einnimmt, die Gott gehört — die des Richters —, und weil er einen Akt vollzieht, der Gott zusteht — das Urteil. Verantwortlich ist er, sofern er dies alles nur tun kann durch Gottes Weisheit und Gottes Geist (1. Kön. 3, 28), nur in ständigen Rückbezug auf Gottes Recht, das über jedem anderen Recht steht (Deut. 4, 8) und das als solches von allen Völkern der Erde anerkannt werden muß (Esr. 7, 25). Aber dem Menschen ist diese Frage lediglich gestellt; er kann nichts anderes tun als sie anerkennen; eine Antwort bringt allein die Offenbarung in Jesus Christus, vermöge des Lichtes, das von der Erfüllung der Gerechtigkeit Gottes ausgeht. Trotzdem ist auch diese Bestimmung des Rechtes sehr wichtig; denn sie lehrt uns, daß das Recht nie und nimmer ein geschlossenes System sein kann, das Grundlage, Prinzipien und Zweck in sich selber trüge. Das Recht muß im Gegenteil nach Ursprung und Ziel offen sein, es muß in einer Parenthese stehen, die aus ihm einen Zeugen Gottes inmitten der Gesellschaft der Menschen macht.

 

Aber wir müssen noch weiter gehen. Das Recht bedeutet noch mehr als jene Gegenwart Gottes. Das menschliche Recht ist zugleich eine Prophetie auf die Gerechtigkeit Gottes (Jes. 56, 1).

Wie unvollkommen das Recht auch sein mag, so ist es jedenfalls dazu da, hinsichtlich der Gerechtigkeit Gottes uns drei wesentliche Wahrheiten im Gedächtnis zu rufen:

Die erste Wahrheit ist, daß die Gerechtigkeit regiert. Allemal, wenn ein gerechtes Urteil ergeht, wird damit der Welt ein Zeichen gegeben, daß die absolute Gerechtigkeit, die Gerechtigkeit Gottes in die Welt eingreift — genau so, wie jede vollzogene Heilung ein Zeichen dafür ist, daß die Vergebung in die Schöpfung eingreift! Gewiß ist dies nur für den ein Zeichen, der Augen hat, zu sehen, und Ohren, zu hören; es genügt nicht, um jemand zu bekehren, es genügt auch nicht, um Gottes Macht augenfällig zu machen. Aber es ist ein Hinweis dafür, daß dieser Mensch, der von sich aus nichts ist, daß Gott ihn leitet und ihm zu leben erlaubt, und daß Jesus Christus die satanischen Mächte real überwunden hat — es kann ja die Gerechtigkeit sich manchmal schon auf Erden, in einem Menschenurteil bekunden! So ist jedes gerechte Gesetz, jedes gerechte Urteil in Wirklichkeit eine Verheißung des Sieges Jesu Christi. Aber noch ist dieser Sieg verborgen, er

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bekundet sich zurückhaltend und sporadisch, und zwar durch Tatsachen wie eben das Recht; eines Tages wird er offenkundig sein. Und doch ist dem Menschen schon hier das Recht als Zeichen dieses Sieges gegeben. Wir sahen, wie groß die Bedeutung des Urteils im Recht ist. Und wir wissen auch, daß mit dem Zeugnis der Schrift von dem „jüngsten Gericht” das Ziel und die Erfüllung aller Urteile gemeint ist.

Aber der Weg geht nicht bloß in einer Richtung. Nicht nur alle Urteile der Menschen haben die Richtung auf Gottes Urteil. Es spiegelt sich zugleich auch der Wert und die Macht jenes Urteils Gottes in den Urteilen der Menschen wieder. M.a.W. jedes Urteil ist eine Verheißung vom Kommen und von der Gegenwärtigkeit des absoluten Urteils Gottes. Jeder Richterspruch, jede Wahl, jede rechtliche Entscheidung ist nichts als ein Wegweiser zu dem Urteil, dem die ganze Schöpfung zutreibt. Da liegt die Größe des menschlichen Richters. Der öffentliche Amtsträger ist, wenn er sein Urteil fällt, Prophet; er weist prophetisch auf die augenblickliche Gegenwart der Gerechtigkeit Gotts und das Kommen des Urteils Gottes hin. Darin aber liegt auch seine Verantwortlichkeit. Denn manchmal ist er auch ein Prophet wie Kaiphas, als er den Sinn des Todes Christi prophezeite (Joh. 11, 51)!

Und endlich die dritte Wahrheit, die das Recht von Gottes Gerechtigkeit aussagt: diese Gerechtigkeit ist objektiv. Die biblischen Texte verweisen recht oft auf die Pflichten des Richters; verschiedene dieser Stellen begegneten uns schon. Diese Pflichten sind sehr einfacher Natur, und der dargebotene Wortlaut geht nicht über den Rahmen gewöhnlicher Rechtsvorschriften hinaus. Nur laufen sie, wie wir sahen, sämtlich auf die Achtung vor dem Menschenrecht hinaus, und auf der anderen Seite darf nicht vergessen werden, daß sie von Gott geoffenbart sind und sich auf Jesus Christus beziehen. Tatsächlich meinen alle diese Texte die Objektivität des Richters. Nur ist diese Objektivität, weil Gott an sie gemahnt, viel wichtiger als die Objektivität unserer Rechtssammlungen; sie ist eben in Wirklichkeit dazu da, uns höchst konkret die Objektivität des Urteils Gottes zu verkündigen! Aber was sollen wir darunter verstehen? Daß Gott ohne Leidenschaft richten wird? Gewiß nicht! Sondern dies: daß Gott im Urteil über den Menschen weder das Wohl noch das Wehe dieses Menschen im Auge hat, sondern sein Recht. Aber wo befindet sich das Recht des Menschen? Von sich aus hat der Mensch keines, sondern er empfängt es von dem, der ihm eine Gerechtigkeit und ein Recht erworben hat, von Jesus Christus. Das Recht des Menschen vor Gott, das ist Jesus Christus, „der uns gemacht ist ... zur Weisheit und zur Gerechtigkeit, zur Heiligung und zur Erlösung” (1. Kor. 1, 30). Die Objektivität der Gerechtigkeit Gottes besteht darin, daß er Jesus Christus anschaut in jenem Gericht, und nicht den Menschen! Und jedesmal, wenn ein Richter auf das Recht des Menschen Bedacht nimmt und also objektiv richtet, verkündigt er jene gute Botschaft von der Objektivität des Urteils Gottes.

 

Die biblischen Texte führen uns aber noch zur Erörterung eines weiteren Funktion des Rechtes. „Haltet des Morgens Gericht und errettet den Beraubten aus des Frevlers Hand” (Jer. 21, 12). „Schaffet Recht dem Armen und Waisen und helfet dem Elenden und Dürftigen zum Recht” (Ps. 82, 3). „Richtet recht, und ein jeglicher beweise an seinem Bruder Güte und

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Barmherzigkeit; und tut nicht unrecht den Witwen, Waisen, Fremdlinge und Armen; und denke keiner wider seinen Bruder etwas Arges in seinem Herzen!” (Sach. 7, 9. 10). Diese verschiedenartige Stellen, deren Zahl sich leicht vermehren ließe, zeigen, daß das Recht der Menschen als Ausdruck der Gerechtigkeit Gottes da ist und daß es als solches eine Anerkennung des Rechts des Armen darstellt. Die Gerechtigkeit ist die Befreiung des Armen von der Bedrückung und seine Zurückversetzung in den Zustand, der ihm als Mensch gebührt. Die Gerechtigkeit kann also auch in ihrer Objektivität kein harter Mechanismus, keine Kombination von rechtlichen Vorschriften, keine mehr oder weniger vollendete Technik für Ordnung und regelmäßigen Ablauf sein: das Recht kann nicht von der Barmherzigkeit abgetrennt werden, es ist selbst eine Gnade Gottes und ist berufen, diese Gnade Gottes kundwerden zu lassen. Ein Schutz für den Schwachen und eine Rettung für den Elenden muß integrierender Bestandteil des Rechtes sein; ohne dies hat das Recht keinen Sinn. Und auch das ist Verkündigung des Heils in Jesus Christus, der die wahre Gerechtigkeit ist.

Allerdings hat diese — von der Offenbarung als unabdingbar aufgewiesene — Verbindung von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit im Bereich des Rechtes einen anderen Sinn: sie ist ein höchst förderlicher Hinweis, der uns für das Urteil gegeben wird, das der Mensch auf diesem Gebiet allezeit zu fällen berufen ist. Wir sahen schon, daß dieses Urteil das Gegenteil zum „äußeren Ansehen” darstellt. Hier haben wir nun das Gegenstück dazu: das Urteil muß von der Barmherzigkeit eingegeben sein! In der Verarbeitung des Rechtes darf man nicht bei einer oberflächlichen Feststellung der Tatsachen stehenbleiben, so wie sie äußerlich erscheinen, und auch nicht bei einer Kombination von rechtlichen Prinzipien oder Vorschriften. Das Hervorsprossen des Rechts aus Rechtsprinzipien oder auch die ständige Anwendung des Rechtes auf untergeordnete, sekundäre Fragen der Gesellschaft stellen Anzeichen für falsche Urteile dar, und falsche Urteile machen das Recht wirkungslos. Nein, das Urteil muß von der Barmherzigkeit inspiriert sein. Das bedeutet nicht im mindesten, daß man anarchisch nach Gefühlen vorgehen oder konkrete Kriterien der Gerechtigkeit beiseitelassen, noch gar, daß man dem Schuldigen verzeihen dürfte — an dieser Stelle liegt nicht die Aufgabe des Rechtes. Sondern es heißt in erster Linie, daß man die Menschen wirklich nehmen muß, wie sie sind, und daß man sie in ihren wirklichen Verhältnissen sehen muß: man darf nicht vergessen, daß sie elend daran sind, man darf kein Recht schaffen, das die Schwäche des Unglücklichen, den Schwachen, ausnutzt oder ihn einfach übersieht, indem es praktisch sein Dasein leugnet (so der Code Napoléon).

Dies bedeutet weiter, daß man die wirklichen Probleme ins Auge fassen muß, die das Recht zu regeln berufen ist, in ihrer ganzen Weite und ihren ganzen Ernst: hier stellt sich die Barmherzigkeit als das Suchen nach einer wahren und echten Lösung der Fragen dar, welche die menschlichen Beziehungen in einem bestimmten Zeitpunkt aufgeben. Der Typus eines falschen Rechtes ist jenes Recht, das im 19. Jahrhundert die Beziehungen zwischen Fabrikherren und Arbeitern regelte, und dieses falsche Recht zieht im Wege der Reaktion stets anderes falsches Recht nach sich, nämlich das gegenwärtig zur Regelung der nämlichen Beziehungen geschaffene. Und das

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kommt alles daher, daß man diese Beziehungen nicht in ihrem wahren Charakter in Betracht ziehen wollte. So ist das Recht durch jene Eigenschaft des Urteils (nämlich die Barmherzigkeit) dazu berufen, immer neu an die entscheidenden Fragen heranzugehen, nicht bloß an Einzelheiten; und in diesen entscheidenden Fragen bietet das Recht eine Antwort dar, welche die Probleme nicht umgeht. Das ist also die Bekundung der Barmherzigkeit in der Verarbeitung des Rechtes, und damit haben wir eine der Grundeinsichten vor uns, die den Menschen bei seiner Wahl und seinem Urteil leiten können. Die andere, nämlich den Gedanken der Wirksamkeit und Zweckdienlichkeit, müssen wir weiter unten überdenken.

 

Die Berufung, die dem Rechte zuteil geworden ist, setzt seine Universalität voraus. Es erhebt sich hier eine Frage, die nicht übersehen werden darf. Das Recht hängt eng mit dem göttlichen Recht zusammen; dieses aber ist geoffenbartes Recht und also nur solchen Menschen bekannt, denen Gott selber sich offenbart hat. Wie soll nun dieses Recht das Recht der Menschen sein können?

Diese Frage zerfällt in Wirklichkeit in zwei Teilfragen. Das Recht der Menschen ist, wie wir zu zeigen versuchten, ein auf die Menschen angewandtes und ihnen bekanntes Recht. Sofern dieses Recht in weitem Umfang eine ordnende Vorschrift des Menschen selber ist, kann hier keine Frage aufkommen. Wir wissen jedoch, wieso dieses Recht einen Wert und eine Geltung erlangt, und auch, daß es vor Gott gültig ist und nicht bloß eine übergehbare menschliche Erfindung darstellt. Das steht sehr deutlich bei Hesekiel, in einem Verdammungswort gegen Jerusalem: „Es hat sich schuldiger gemacht, als die Heiden und die Völker ringsumher; denn es hat meine Gesetze verachtet und meine Gebote nicht befolgt. Darum spricht der Herr, Herr, also: weil ihr abtrünniger gewesen seid als die Heiden um euch her, weil ihr meine Gebote nicht befolgt und meine Gesetze nicht innegehalten habt und auch nicht nach den Gesetzen der Heiden gehandelt habt, die um euch sind ..., so will ich auch an dich und will meine Gerichte in deiner Mitte ergehen lassen ...” (Hes. 5, 5 ff.). So wird also Jerusalem nicht nur deshalb verdammt, weil es das Gesetz Gottes beiseitegelassen hat, sondern zugleich, weil es nicht einmal imstande gewesen ist, das Gesetz der anderen Völker zu befolgen, das zwar dem Gesetze Gottes untergeordnet, aber doch ein gültiges Gesetz ist, dem sich Jerusalem hätte unterwerfen müssen! Das ist besonders bemerkenswert, wenn man sich an die vielen Stellen erinnert, in denen Jerusalem das Gebot erhält, nur ja nicht die anderen Völker nachzuahmen. So ist also das Recht des Menschen in Geltung; aber das Wort des Hesekiel lehrt uns zugleich, daß Gottes Recht universal ist: es schließt tatsächlich in sich, daß auch die Heiden in Wirklichkeit jenem göttlichem Recht unterworfen sind. Damit haben wir die zweite Teilfrage vor uns. Gottes Recht wird wirklich auf alle Völker angewendet, und zwar weil Gott über alle Völker Gericht hält 41). Das Gericht, welches das Menschenrecht gültig macht, macht auch das Recht Gottes universal; denn kraft dieses Rechtes wird ja das Urteil gesprochen, und alle Völker werden schon jetzt


41) Visser ’t Hooft, a.a.O. S. 83.

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kraft dieses Rechtes gerichtet, weil ja das Urteil Gottes bereits gegenwärtig ist. Jesaja spricht einmal von dem Gericht über Tyrus (Jes. 23) und über Babel (Jes. 24); da zeigt er, daß dies Gericht sich in einer tiefgreifenden rechtlichen Unordnung bekundet — „es geht dem Herrn wie dem Knecht ... dem Verkäufer wie dem Käufer, dem Leiher wie dem Borger, dem Gläubiger wie dem Schuldner” (24, 2). Diese Stelle gehört hierher, weil nämlich nach Jesajas Worten das Gericht daher kommt, daß diese Völker das göttliche Recht nicht geachtet haben: „Das Land ist entheiligt von seinen Einwohnern; denn sie übertreten das Gesetz und ändern die Gebote und lassen fahren den ewigen Bund” (24, 5). Die hebräischen Ausdrücke lassen erkennen, daß hier Gottes Gesetz gemeint ist. Es handelt sich, wohlverstanden, um das göttliche Recht in seinem Zusammenhang mit dem menschlichen, aber eben um das Recht, das in Jesus Christus offenbart ist, sowie s einst in absoluter Weise, ohne Eingrenzung, offenbar werden wird, wenn Christus wiederkommt, um die Völker zu richten und seine Gerechtigkeit ans Regiment zu bringen. Dann wird das göttliche Recht von allen Völkern als das anerkannt werden, was es ist, und alle Arbeit an einem menschlichen Recht wird dann von Gott zugleich gerichtet und angenommen.