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Schlußbemerkung

Aus dem Gesagten ergibt sich auch die Stellungnahme zum Naturrecht:

1. Das Naturrecht ist eine historisch bedingte Erscheinung, die sich aus der Kritik an einem jeden positiven Rechtssystem entfaltet, aber sich auch darin erschöpft und als eine bloße Phase des Denkens ihr Ende findet.

2. Es gibt kein der Natur des Menschen inhärentes Recht, da Gott allein das Recht gibt. Dieses ist daher notwendig geoffenbartes Recht und nicht Naturrecht.

3. Der Naturbegriff als vieldeutige, aber zugleich ungegliederte Abstraktion ist nicht geeignet, die Existenzialität des Rechtsbegriffes zu entfalten und zu erhellen. Aber auch die Ersetzung des Naturbegriffs durch einen ebenso summarischen Schöpfungsbegriff als einen Inbegriff autoritativ gegebener Ordnungen hilft nicht weiter, da auch diese Ordnungen in ihrer bloßen Gegebenheit keinen ausreichenden Rückbezug auf die theologische Existenz des Menschen haben.

4. Die Ableitung des Rechtsbegriffes aus dem allgemeinen Sittengesetz und dem Begriff des Guten bietet keinen Ansatzpunkt für das Verständnis der konkreten Personalität des Rechts und verdeckt das Machtproblem, statt es zu lösen. Ein Versuch des katholischen Juristen Frh. v.d. Heydte, Existenzphilosophie und Naturrecht zu verknüpfen (Naturrecht als Gewissen des Positiven) bleibt im Ethischen stecken und stößt nicht zu einer existenziellen Konstruktion des Rechtsbegriffs vor (Stimmen der Zeit 74 S. 185 ff.). Mit den Begriffsmitteln der Scholastik und erst recht der Aufklärung ist die Struktur des Rechtes nicht zu erhellen.

5. Selbstverständlich haben auch nicht-christliche Völker echtes Recht, nämlich institutionelles Recht der Volksordnungen. Aber schon die eschatologisch-negative Seite des Rechtsbegriffs ist bei ihnen nicht oder nur in höchst unvollkommenen Ansätzen vorhanden. Diesen Gedanken entwickelt zu haben, ist die religionsgeschichtliche und rechtsgeschichtliche Bedeutung des Judentums. Die vielfältigen, ernsten und tiefen Versuche des antiken Rechtsdenkens, das Recht aus einer Lehre von aequum, von der Natur, von der Gerechtigkeit zu entwickeln, setzen den Verfall oder mindestens die Krise der Sakralordnungen bereits voraus, stehen aber grundsätzlich nicht zwischen Schöpfung und Gericht, sondern zwischen Schöpfung und Tod. Gericht und Gnade aber

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sind in Christus zusammen erschienen. Es ist daher dem Christen nicht erlaubt, ja auch gar nicht möglich, hinter diese Heilstatsache in das Stückwerk der antiken Rechtsphilosophie zurückzugehen. Die Unfähigkeit der westlichen Welt, mit den rechtszerstörenden Bewegungen der Gegenwart geistig fertig zu werden, beruht gerade darauf, daß sie eschatologischen Religionsbewegungen, die das Christentum zur Voraussetzung haben, obwohl sie es vernichten wollen, mit vorchristlichen Denkmitteln begegnet. Soweit sie selber spiritualistischen Charakter trägt, treibt sie den Teufel mit Beelzebub aus.
Es ist hier nicht der Ort, sich mit einzelnen Lösungsversuchen für das gleiche Problem auseinanderzusetzen. Jedenfalls muß die von Ellul einseitig christologisch versuchte Begründung des Rechts zu einer trinitarisch-heilsgeschichtlichen Sicht erweitert werden.

Die Epoche des autonomen, rationalen Denkens hat sich mit ihrer letzen, zerstörenden Möglichkeit des Marxismus erschöpft. Verzweifelt und reaktionär wehrt er sich gegen die Erkenntnisse der neuen Naturwissenschaft, die die alten Kategorien der Substanz und Kausalität in Frage stellen. Die großen weltlichen Ideologien verlieren ebenso zunehmend ihre Glaubwürdigkeit wie die kämpfenden Konfessionen z.Zt. der Glaubenskriege. Aber der letzte Gedanke des alten Zeitalters könnte, aus seinem proletarischen Ghetto befreit, der erste des neuen sein: der Gedanke der Existenz. Diese Entwicklung ist schon weit vorgeschritten. Aber menschliche Existenz kann in zwei Weisen gedacht werden, von Gott her und vom Menschen her, trinitarisch oder monistisch, in Relationen oder autonom. Rechtliche Gestalt aber kann nur das annehmen, was echte Allgemeingültigkeit besitzt. Der weltliche Existenzialismus kann jedoch endgültig nur in mutiger Skepsis enden; er ist vermöge der Punktualität und Diskontinuität seines Denkens seiner Natur nach unfähig zur Rechtsbildung. Ob die großen Erkenntnisse einer neuen trinitarischen Theologie eine Rechtsordnung hervorzubringen vermögen, wissen wir nicht. Vielleicht ist die Möglichkeit solcher Erkenntnisse gerade ein Zeichen dafür, daß sie nicht mehr zu geschichtlicher Form erwachsen werden. Aber nichts entbindet uns von der Pflicht, den uns gezeigten Weg voranzuschreiten, ohne zurückzuschauen.


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Dombois, H. (1952b)