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II

Ellul beschreibt mit Recht als die erste Phase der Rechtsgeschichte die Epoche sakral-rituellen Rechts. Das Verständnis dafür, worum es dem Rechtsdenken jener Zeit in Wirklichkeit gegangen ist, muß trotz aller umfassenden rechtsgeschichtlichen Untersuchungen eigentlich erst wiederhergestellt werden. Es handelt sich nicht darum, daß die Völker zu solchen Zeiten aus irgendwelchen seltsamen Gründen Objekte priesterlicher Herrschaft gewesen sein, so daß dann dieses herrschende Priestertum ebenso zum Gesetzgeber geworden wäre wie etwa später ein absoluter Fürst. Vielmehr fallen Kultus und Recht sachlich ein eins zusammen, und nur deshalb und insoweit kann man von einem sakralen und priesterlichen Recht sprechen. Recht ist das, was mit der Weltordnung übereinstimmt, mit ihr gleichläuft; und dies vollzieht, deutet und kündet der Priester. Alle Völker haben in ihren frühen Zeiten eine Vorstellung von dem kosmisch-dynamischen Geschehen, gleichviel wie ihre Gottesvorstellungen im einzelnen sind. Das Recht gehört in die Phänomenologie der Religion.

„Viele Völker des Altertums kennen die Vorstellung eines Weltweges, der aber nicht so sehr begangen wird, als er vielmehr selber geht, der nicht eine abstrakte Gesetzmäßigkeit ist, wie unsere Naturgesetze, sondern vielmehr eine lebendige, sich in der Welt auswirkende Kraft. Tao bei den Chinesen, Rta in Indien … Dike in Griechenland sind solche Ordnungen, die zwar theoretisch die Gesamtrechnung der Welt ausmachen, dennoch aber als lebendige und unpersönliche Mächte mana-artigen Charakter haben.”
(Van der Leeuw, Phäonomenologie der Religion, Seite 10/11.)

Aus der Dike werden das dikaion und die dikaiosyne, Recht und Gerechtigkeit abgeleitet. Das Grundsätzliche und Überzeitliche dieser Anschauungen ist die Tatsache, daß alles Rechtsdenken ein solches transzendentes Gegenüber hat, aus dem es sich ableitet. Recht ist Macht, die aus jener Dynamis des Weltweges abgeleitet ist. Es ist nicht Macht schlechthin, sondern durch ihren heiligen und deshalb fraglos richtigen Ursprung begründete und gerechtfertigte Macht. Unrecht ist Macht, die diese Legitimation nicht besitzt, ist nichtgerechtfertigte Macht. Die Gleichsetzung faktischer Macht mit dem Recht liegt hier freilich sehr nahe und wird häufig vollzogen. Aber diese Tatsache darf den charismatischen Charakter dieses Rechtsdenkens nicht verdunkeln. Woran die Rechtfertigung dieser Macht erkannt wird,

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ist dem gegenüber eine grundsätzlich sekundäre Frage. Das Recht entspringt dem Charisma und die Übertragung von Rechten ist gleichbedeutend mit der Übertragung realer Mächte, welche ein Teil jener kosmischen Ordnung sind.

Aus diesem Grunde ist hier ein Auseinanderfallen von Rechtsakt, Rechtsform, Rechtszweck und Rechtsgedanken begrifflich unmöglich.

Seiner inneren Struktur nach ist dieses Rechtsdenken institutionell. Das heißt: es beruht auf einer von den Göttern gnadenvoll verliehenen Macht über Menschen und Dinge, welche auf dem Wege des realen Traditio fortgepflanzt und weitergegeben wird.* Wir verstehen heute das Sachenrecht als absolutes, das Schuldrecht als relatives Recht. In Wahrheit ist das Sachenrecht seiner Struktur nach ein ebenso relatives, nämlich von dem besseren Recht des Vorbesitzers abgeleitetes. Dieser ursprüngliche Rechtsgedanke kommt in dem deutsch-rechtlichen Begriff der Gewere und im heutigen angelsächsischen Liegenschaftsrecht noch klar zum Ausdruck, während der in Deutschland sehr viel später entstandene Eigentumsbegriff diese Tatsache verdunkelt. Er faßt die Rechtswirkungen der Traditio unter Loslösung von diesem Vorgang abstrakt zusammen. Aus dieser Tatsache erklärt sich die psychologische Anziehungskraft, welche die germanischen Rechtsgedanke auf dem Gebiete des Lehnrechts und Sachenrechts bis heute immer wieder ausgeübt haben. Die Relativität dieser Rechte ist kennzeichnend verschieden: das Sachenrecht wird von einem besseren und höheren Recht sozusagen in der Vertikalen abgeleitet, das Schuldrecht ist ein Anspruch gegen den gleichberechtigten Nebenmenschen in der Horizontalen. Sachenrecht und Schuldrecht verhalten sich strukturell zueinander wie in der systematischen Theologie Offenbarung und Ethik. Es wird von da aus verständlich, daß der Vertrag zwischen formal Gleichberechtigten in dem Augenblick zum prototypischen Leitbild alles Rechtsdenkens wird, in welchem der Offenbarungsbegriff aus dem Denken verschwindet.** Jene Art, traditionell zu denken, ist freilich heute kaum noch verständlich


* Das Wort „Institution” ist für viele Leser auf Grund einer spiritualistischen Tradition wahrscheinlich schon an sich eine Anfechtung. Viele vermögen darunter kaum etwas Anderes zu verstehen als die Tendenz zur Ausbildung verhärteter sozialer Gefüge, die fast zwangsläufig den lebendig machenden Geist erdrücken. Demgegenüber ist begrifflich festzuhalten: Institutio ist ein konkreter schöpferischer Akt, Institution ist ein Ergebnis, das allerdings an der Vergänglichkeit ihrer Träger Anteil hat. Aber der ausschließliche Blick auf das Letztere hat das Verständnis für das Erstere fast völlig aufgehoben — und damit die Bereitschaft, es dort anzuerkennen, wo es echt vorhanden ist.
** Vgl. Heinrich Mittels, Die Geschichte der Rechtswissenschaft im Rahmen der Allg. Kulturgeschichte, Juristenzeitung 1951, S. 673 ff.

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zu machen, obwohl jeder Professor des bürgerlichen Rechts im Sachenrecht und Wechselrecht dieses Prinzip noch lehrt. Es ist heute völlig zu einem technischen Mittel herabgesunken.

Auf dieser Grundlage institutionellen Rechtsdenkens bilden sich dann in reicher Fülle die vielfachen Formen des Rechtslebens — bis zu einem grundsätzlichen Punkte: irgendwann entsteht nämlich in der freien Fortbildung der einmal geschaffenen Formen der Ehe, des Königtums als der politischen Herrschaft und des Eigentums als der Sachherrschaft, also aller Hauptinstitutionen ein Widerspruch zwischen Rechtswirklichkeit und Rechtsbewußtsein. Die Entfernung von dem charismatischen Ausgangspunkt wird einmal so weit, daß die Entwicklung gewissermaßen ein Übergewicht erlangt, kopflastig wird und in eine neue Phase übergeht. Dies ist in der Tat der Punkt, wo eine kritische Besinnung einsetzt, die man als naturrechtliches Denken bezeichnen kann. Dieser grundsätzliche Bruch, dieser Sündenfall der Rechtsgeschichte ist mit Recht von Comte, Ellul und Nygren als echte Phase hervorgehoben worden. Dieses naturrechtliche Denken muß jedoch ebenfalls auf seine Struktur hin untersucht werden.

Hierfür bietet das scholastische Naturrechtssystem ein klassisches Beispiel. Sein erster Unterschied vom sakralen Recht liegt in seiner Rationalität. Während institutionell-traditionales Recht irrationalen Charakter trägt und von der konkreten Gnade der Schöpfung, der einmal in unvordenklichen Zeiten erfolgten Begabung mit dem Rang des Blutes, mit sakraler Weisheit und der Macht des Besitzes abhängt, wird das Recht nunmehr vernünftigen Maßstäben unterworfen. Es wird aus einem konkreten und personalen Recht zu einem abstrakten Recht, welche dem Menschen noch nicht tatsächlich zusteht, ihm aber nach einer allgemeinen Ordnung der Welt unaufhebbar zustehen sollte. Dieses Rechtsdenken ist daher auf der einen Seite ontologisch bestimmt. Aus einer Aussage über das Wesen des Menschen und seiner sozialen Beziehungen wird eine Lehre vom richtigen Recht entwickelt. Aber diese Lehre wird zugleich ergänzt, ja eigentlich erst ermöglicht durch eine gleichzeitige Aussage über die Bestimmung des Menschen. Denn nur so wird möglich, das bloße geschöpfliche Sein des Menschen auch als einen Gegenstand des Sollens zu erweisen. Diese beiden Denkelementen stehen in einer eigentümlichen Wechselbeziehung. Das Sein wird aus der Bestimmung beschrieben und gedeutet, die Bestimmung wiederum aus dem Sein. So ergibt sich ein geschlossener Kreis, ein Zirkelschluß ohne Anfang und Ende, eine Dachkonstruktion, in der die eine Seite die andere stützt — oder wenn man will auch ein Kartenhaus. Sein und Sollen werden zu bruchloser, idealer Einheit

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harmonisch zusammengedacht. Dabei ist die Tatsache wichtig, daß mit dem Gedanken der Bestimmung ein grundsätzlich neues Denkelement hinzukommt, welches dem institutionellen und auch dem ontologischen Denken fremd ist und es sachlich in einer Fortentwicklung überschreitet. Der Gedanke der Bestimmung ist ein eschatologischer, der sich an den letzten Dingen ausrichtet und sie im Blick hat. Aber beide, das Moment des Seins wie das der Bestimmung, sind doch auch in einer sehr eigentümlichen Art und Weise verkürzt. Aus der irrationalen Institutio der Schöpfung und der Tradition wird eine rationale Ontologie, aus dem ebenfalls irrationalen Moment der Eschatologie, der letzten Dinge, der letzten Entscheidung, die nicht in Menschenhand liegt, wird eine rationale Teleologie, eine wenigstens annäherungsweise erfüllbare Sinnbestimmung.

Das Naturrecht hat also im Gegensatz zum sakralen Rechtsdenken nicht eine eindeutige, sondern eine doppelte, eine gebrochene, dialektische Struktur. Diese Tatsache ist bei den bisherigen Erörterungen des Naturrechtsproblems regelmäßig übersehen worden. Die meisten Abhandlungen auf diesem Gebiet vermengen beide Dinge in unkritischer Weise miteinander. Ebenso erklärt sich daraus die Unsicherheit aller dieser Versuche gegenüber dem Problem der Institutionen, deren Ableitung unterzubringen man in offensichtlicher Verlegenheit ist. Vor allem aber überwiegt in den heutigen Untersuchungen in starker Einseitigkeit der teleologische Charakter. Man tritt im Wettbewerb mit profanen Weltanschauungen, welche eine andere rationale Lehre von der Bestimmung des Menschen vertreten, und setzt diesen etwas formal Entsprechendes, nur inhaltlich Anderes entgegen, welches man freilich von einer ontologischen Schau der Dinge her zu ergänzen und aufzufüllen trachtet. Dabei besteht auch die sehr praktische Gefahr, daß bei dem bloßen Wettbewerb verschiedener Lehren von der Bestimmung des Menschen diese naturrechtliche Lehre ihr Besonderes und Zwingendes verliert. Wer sich auf die Ebene der Gegner begibt, ist häufig schon allein dadurch der Besiegte. In der Frage beispielsweise der Elternrechte wird man um die grundsätzliche Frage nicht herumkommen, ob Ehe und Familie nicht institutionell gesehen werden müssen und ein eigenes und eigenständiges Recht besitzen, welches seine Rechtfertigung nicht allein aus den Vorteilen für eine personenhafte Erziehung der Kinder herleitet.

Schließt also an die Phase des sakralen Rechtes eine naturrechtliche kritische Stufe mit innerer Notwendigkeit an, so ist allerdings die Frage entscheidend, wie es dann weiter geht, wie diese Phase endet. Auf diese Frage

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gibt jene Dreiphasentheorie keine oder nur höchst unzulängliche Antwort, indem sie mit einem großen Sprung von dort aus in den staatlichen Positivismus der Gegenwart überleitet. Das Naturrecht selbst wird freilich von seinen Verfechtern als eine überzeitliche Größe und in idealistischer Weise als unsterblich angesehen. Die Auseinandersetzungen der Gegenwart werden in einem bedauerlichen Maße mit großen und summarischen Werturteilen über geschichtliche Entwicklungen geführt. So gehört es zum festen Bestand der römisch-katholischen Polemik, daß alles Unheil vom Nominalismus herkomme, weil man die Naturrechtslehre preisgegeben habe und damit unvermeidlich in eine Entwicklung hineingekommen sei, die beim Gesetzespositivismus der Gegenwart endete. Mit entgegengesetztem Vorzeichen trifft sich hier die römische Kirche mit der aufgeklärten Fortschrittstheorie. Was für diese ein fortschreitendes Ablösen anmaßender religiöser Ansprüche und haltloser metaphysischer Spekulationen ist, ist für jene eine Linie des Verfalls und ein Gegenstand der Kritik.

Eine Untersuchung dieses Gegenstandes auf evangelischem Boden muß jenseits dieser gleichlaufenden Fragestellungen stehen. Dieser ganzen Sicht steht ein grundsätzlicher Einwand entgegen. Es mußte vielmehr die Aufrichtung des großen rationalen Systems der thomistischen Theologie, in welchem die Naturrechtslehre nur einen — freilich unablösbaren — Bestandteil bildet, mit innerer Notwendigkeit eine grundsätzliche Gegenwirkung herbeiführen. Der Thomismus selbst steht hinter einem grundsätzlichen Bruch, einer echten Stufe, einer Vorentscheidung, welche sich im 12. Jahrhundert vollzogen hat. Diese Vorentscheidung ist zwischen dem orthodoxen Schisma und der Reformbewegung von Cluny auf der einen und dem IV. Laterankonzil von 1215 auf der anderen Seite gefallen. Rechtsgeschichtlich liegt der große Umschwung kurz nach dem Decretum Gratiani in der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts. Es ist die Entwicklung, in welcher die katholische Kirche das Recht in Anspruch nahm, eine eigene rechtsetzende Körperschaft zu sein. Rudolf Sohm, dessen liberale Privattheologie hier nicht zur Erörterung steht und dessen Kirchenrechtstheorie auf der Ökumenischen Naturrechtstagung in Treysa im August 1950 mit Recht einem einstimmigen Anathema verfallen ist, hat doch als Rechtshistoriker mit klassischer Klarheit den Umschwung vom Altkatholizismus des ersten in den Neukatholizismus des zweiten Jahrtausends beschrieben. Nunmehr fließt nicht mehr das Kirchenrecht aus den Sakramenten, sondern die Kirche wird eine dem Staat analoge körperschaftliche, souveräne Macht. Das Kirchenrecht wird zum zweckhaften Körperschaftsrecht; die Kirche

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als Heilsanstalt wird auf ihre Bestimmung hin organisiert. Die folgerichtige Vollendung dieser Entwicklung ist erst im Vaticanum von 1870 erfolgt. Jener Umbruch des 12. Jahrhunderts entspricht sachlich genau der Rationalisierung und Verkürzung, dem Auftreten abstrakter Zweckgedanken, wie des summum bonum und des bonum commune, welche das sakrale Rechtsdenken der älteren Zeit in das Naturrechtsdenken des Thomas überführt hat. Dieser Bedeutungsvollen Epoche vor Thomas müßten sich alle Anstrengungen theologiegeschichtlicher Forschung und Kritik zuwenden. In ihr sind die verhängnisvollen Vorentscheidungen im Verhältnis von Kirche und Staat, von Kirche und Welt getroffen worden. Hier würden auch recht eigentlich die Wurzeln der Glaubensspaltung aufzuweisen sein. Denn jene Überhöhung des rationalen thomistischen Systems, der Anspruch auf rechtliche Verfügung über das die Kirche doch konstituierende sakramentale Sein mußte mit innerer Notwendigkeit einen ebenso radikalen Gegenschlag erzeugen. Dem theologischen Realismus mußte sich mit innerer Notwendigkeit ein theologischer Nominalismus entgegenstellen. Die Einsichtigkeit und Bezüglichkeit beider Denksysteme wird uns heute gerade besonders sichtbar und hat sich philosophiegeschichtlich in der Unlösbarkeit des Universalienstreits abgezeichnet. Hier geht es jedoch nicht darum, sich negativ an Thomas zu orientieren, sondern eine Position vor und jenseits zu finden und sich damit von der Kategorien des scholastischen Denkens überhaupt freizumachen.

Für die Entwicklung des Rechtsdenkens ist nun die durch den Nominalismus gekennzeichnete Phase nicht ganz leicht zu erkennen und darzustellen. Es gehört zu den erstaunlichsten Tatsachen, daß die Reformation, welche symbolisch mit der Verbrennung auch des Kirchenrechts begann, vermocht hat, dieses ganze Rechtssystem mit einem Schlage zu beseitigen. Es ist in der Tat wie ein Kartenhaus zusammengefallen und dies hat gezeigt, wie fragwürdig die rationalen Aussagen der Ontologie sind. Worauf beruhte diese durchschlagende Kraft? Hier wurde gegenüber einer feinsinnigen und doch blassen Konstruktion der unmittelbare und unbedingte Anspruch Gottes auf den Menschen wieder in den Vordergrund gestellt. Dies hat auch für das Rechtsdenken ganz bestimmte Folgerungen gehabt. Wenn der Mensch derartig in seiner konkreten Lage, in seinem Jetzt und Hier fraglos vom Willen Gottes in Anspruch genommen wird, so bedeutet das systematisch zweierlei. Erstens wird der Stand nicht im Sinne einer spekulativ erfaßbaren, im kosmischen Zusammenhang stehenden Ordnung, sondern im Sinne der faktischen Lage für ihn zur Bestimmung Gottes, der er nicht entfliehen darf. Hieraus erklärt sich die eigentümlich diffuse

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Benutzung des Begriffes Stand für Bauernstand, Ehestand, ja Stand der Betrüger. Hier kommt ein irrationales eschatologisches Moment zum Ausdruck. Der Mensch erfüllt seine Bestimmung, indem er in seinem Stande das Seinige tut.

„Gib, daß ich tu mit Fleiß,
Was mir zu tun gebühret.
Wozu mich Dein Befehl
In meinem Stande führet.”

Dein Befehl — mein Stand! Dieser Choralvers ist eine klassische Darstellung jener Haltung. Indem der Mensch aber zugleich in seinem Stande durch den Befehl Gottes festgehalten wird, gewinnt dieser Stand als Ordo, so wie er vorfindlich ist, eine religiöse Bedeutung. Wir haben also in dieser lutherischen Haltung, deren nominalistischer Einschlag unbestreitbar ist, wiederum zwei Strukturelemente; der Gedanke der Bestimmung und derjenige der Ordnung als eines Gegebenen sind miteinander in einer eigentümlichen Weise verknüpft. Während aber Ausgangspunkt und Schwerpunkt des thomistischen Systems in der Ontologie liegt, hat dies die lutherischen Position im Eschatologischen. Aber auch hier sind wie im Thomismus die Dinge in eigentümlicher Weise verkürzt. Die Lehre vom Beruf und Stand des Menschen als seiner Bestimmtheit ist sehr scharf abgegrenzt gegen jede schwärmerische Vorwegnahme der letzten Dinge, gegen die Aufhebung aller Dinge in der Endzeit. Gegen nichts hat sich Luther schärfer gewehrt als gegen das Schwärmertum. Aber damit tritt das eschatologische Moment selbst gegenüber dem „Jetzt und Hier” ganz in den Hintergrund. Dieses eschatologische Moment ist insofern verkürzt, als der Stand ja nur so wie er einmal gegeben ist, als gottgewollt aufgenommen wird. Die konstruktiven Antriebe zur ontologischen Sicht und damit auch zur Weiterbildung und Ausbildung der Institutionen sind an der Wurzel getroffen, ja beinahe abgeschnitten. Man zehrt von den gegebenen Institutionen, aber man baut sie nicht selbst auf, weil die Traditio keine grundsätzliche Rolle mehr spielt und man sich selbst eine rationale Sinndeutung dieser Institutionen verwehrt. Die lutherische und thomistische Position haben also gemeinsam ihren dualistischen und dialektischen Charakter, sie unterscheiden sich aber im Schwerpunkt und schließlich darin, daß das eine ein rationales, das andere ein irrationales System ist. Räumlich dargestellt stellt das thomistische System ein hierarchisches, vertikales, von oben nach unten geordnetes dar, während das lutherische in der Gleichheit aller Stände vor Gott, auf die Endzeit gerichtet in der Horizontalen liegt.

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Trotz jener eigentümlichen Schwäche gegenüber dem Problem der Institutionen sind aus diesem lutherischen Ansatz ganz unvermeidlich sehr starke Antriebe für die Gestaltung des Rechtes erwachsen. Ob eine Theologie rechtsgeschichtliche Wirkungen entfaltet, hängt in keiner Weise davon ab, ob sie es will. Unausweichlich führen ihre sozial-ethische Folgerungen positiv oder negativ zu rechtlichen Gestaltungen. Eine Trennung von Theologie und Recht ist denkunmöglich und folgeweise auch geschichtlich unmöglich.

Aus jenem Ansatz bildet sich nämlich ein eigentümliches Amtsdenken. Luther sagt einmal, der einzelne Christ solle, wenn er in seinen Rechten gekränkt wird, nicht vor Gericht darum streiten, sondern lieber Unrecht leiden, aber die anderen sollten dafür sorgen, daß er zu seinem Rechte kommt. Der Mensch hat also von dieser geistlichen Sicht her ein Recht niemals für sich, sondern nur eine Pflicht gegenüber dem Nächsten; diese Pflicht bindet ihn aber, dem Nächsten zu seinem Recht zu verhelfen. Die Art dieses Rechtsdenkens steht in unmittelbaren Zusammenhang mit der Rechtfertigungslehre Luthers. Aus der Lehre von der justitia passiva ist niemals ein Ansatz zu unmittelbaren eigenen Rechten des Menschen zu gewinnen. Der eigentümliche, dialektische Ansatz der Formel „simul justus, simul peccator” stellt den Menschen in eine Unsicherheit hinein, aus welcher er nur im liebevollen und pflichtmäßigen Handeln für den Nächsten zur Gewißheit entbunden wird. Aus diesem Ansatz ist ein Amtsdenken entstanden, welches sowohl im Ständestaat, im Patriarchalismus des 16. und 17. Jahrhunderts wie in dem Beamtenstaat des Absolutismus eine breite Entfaltung gefunden hat. Müller-Armack hat darauf hingewiesen, daß die kameralistische Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts fast durchweg in den lutherischen Ländern erschienen ist, also eine Lehre welche die pflegliche Verwaltung des Staates im Sinne eines hausväterlichen Regiments zum Gegenstande hat.

In der Linie des christlichen Rechtsdenkens ist nun aber die Reihenfolge mit der Ausprägung des lutherischen Berufsbegriffs wiederum nicht in dem Sinn zu Ende, daß man von da aus nunmehr den modernen Positivismus ableiten könnte. Die lutherische Epoche bildet für die Rechtsgeschichte insofern eine negative Phase, als sie Anlaß zu institutionellen Neubildungen nur in den Ausprägungen dieses Amtsdenkens gegeben hat. Diese eigentümliche Negativität, das Denken allein vom Dienste her, ist die Ursache dafür gewesen, daß dieser Abschnitt christlichen Rechtsdenkens in seiner Besonderheit und Grundsätzlichkeit bisher nicht eigentlich ins Blickfeld getreten ist. Günther Holstein hat in seiner Schrift „Luther und

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die deutsche Staatsidee” die Auffassung vertreten, die Erben Luthers in der lutherischen Orthodoxie hätten es versäumt, aus seinem Ansatz ein großes System der Sozialethik zu entwickeln. In diese Lücke sei erst später der deutsche Idealismus eingetreten. Ich habe diese Auffassung bereits in meiner Schrift „Menschenrechte und moderner Staat” bekämpft. Ich kann hier nur wiederholen: eine Theologie, die es versäumt, aus ihrem dogmatischen Ansatz die sozialethischen Folgerungen zu ziehen, gibt es nicht. Hätte es in der Linie des lutherischen Ansatzes gelegen, zu einem solchen System zu kommen, so würden es seine Nachfolger gut oder schlecht jedenfalls aufgebaut haben. Antriebe und Richtpunkte der Rechtsentwicklung liegen immer in transzendenten Gerechtigkeitsvorstellungen, auch wenn es scheinbar und äußerlich um Zweckmäßigkeitsfragen geht. Zu Zeiten des hl. Thomas wie zu der Luthers ging es um das transzendente Heil des Menschen, nicht um ein Heil, welches ein rationaler Glaube in der innerweltlichen Glückseligkeit sucht.

Im Zuge der Entwicklung des christlichen Rechtsdenkens folgt vielmehr als nächste Form die des Calvinismus, mit dem sich puritanische und täuferische Richtungen untrennbar verschmelzen. Auf den großen Synoden von Dordrecht und Westminster wurde das calvinische Dogma zentral auf der Lehr von der doppelten Prädestination aufgebaut. Hieraus ist die spezifische Rechtslehre des Calvinismus entstanden und in der puritanischen Revolution Cromwells verwirklicht worden. Während Luther lediglich die geistliche Hierarchie der römischen Kirche beseitigte, aber die weltliche Ordnung bestehen ließ, weil für ihn Beseitigung oder Veränderung der weltlichen Ordnung nicht Gegenstand des gläubigen Interesses sein konnte, hat der Puritanismus mit der bischöflichen Staatskirche Englands zugleich die politische Verfassung, Königtum und Oberhaus beseitigt und die Alleinherrschaft des Parlaments zu begründen unternommen. Dieses Parlament war nicht die Vertretung des Volkes im modernen Sinne, sondern die repräsentative Versammlung der erwählten Heiligen. Nur dem gutgesinnten Volke im Sinne der puritanischen Gemeindezucht billigte man politische Rechte zu. Die zu jener Zeit entwickelte Theorie der Menschenrechte ist in ihrem Ursprung nicht eine Lehre von der Rechten des Menschen als solchen. Es handelt sich vielmehr um die heilsnotwendigen Freiheitsrechte der Erwählten, die sie brauchen, um sich in ihrem Glaubensstande in der Welt zu bewähren. Erst auf dem Wege einer späteren naheliegenden Verallgemeinerung sind aus diesen Rechten der Heiligen die Rechte der Menschen geworden. Auch an dieser Stelle muß ich erneut darauf hinweisen, daß die

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Menschenrechte dem Naturrecht feindlich sind, wie dies bereits Jellinek 1904 in seiner Schrift „Über die Menschen- und Bürgerrechte” belegt hat. Denn die Menschenrechte sind ihrer Struktur nach nicht gegründet auf seinsmäßige, ontologische Aussagen über den Menschen kraft seiner geschöpflichen Beschaffenheit, sondern auf den Gedanken der Erwählung. Dieser streng eschatologische Gedanke schließt alle seinsmäßigen Begründungen begrifflich aus. Insofern bedeutet die Entwicklung dieser Theorie strukturell einen weiteren Schritt in der Fortentwicklung des christlichen Rechtsdenkens. Die Doppelschichtigkeit des Luthertums, welches noch ontologische und eschatologische Momente im Berufsbegriff verknüpft, wird zugunsten eines strengen Monismus aufgelöst. Seine Verwandtschaft mit dem lutherischen Ansatz besteht darin, daß beide innerhalb dieser Entwicklung auf der eschatologischen Seite stehen. Die calvinische Form ist jedoch wiederum eine streng rationale. So unerforschlich der Ratschluß Gottes über den Menschen ist, so rational vermag doch der Mensch wiederum die Gewißheit seines Heils der Fruchtbarkeit seines Wirkens zu entnehmen. Diesem rationalen Monismus entsprang die starke durchschlagende Kraft des Puritanismus in der Geschichte; gerade en den Ansatzpunkte dieser geschichtlichen Erfolge hat jedoch Karl Barth in seiner kirchlichen Dogmatik neuerdings herbste Kritik geübt.

Mit dieser letzten Form sind die großen Möglichkeiten des christlichen Rechtsdenkens, das sich auf dem Boden der lateinischen Kirche ausgeprägt hat, erschöpft. Naturrecht, Berufsgedanke und Menschenrechte sind die drei großen Lösungen, welche die Christenheit für die gleichen Probleme in dieser Linie darzubieten hatte. Sie stehen alle in einer Entwicklungsreihe hinter dem großen Bruch der geistigen Einheit der Kirche im 12. Jahrhundert und sind insofern schon unabhängig von jeder äußeren Kirchenspaltung konfessionelle Lösungen. Mit dem Ende der großen Dogmenbildung ist dann auch die rechtsschöpferische Kraft der Christenheit zu einem einstweiligen Ende gekommen. Die große Dogmenbildung war und ist entscheidend für die Gemeinschaftsbildung und damit gleichzeitig für die Ausbildung des Rechtsdenkens. Solange man sich an den großen dogmatischen Fragen einte und schied, waren auch diese großen Soziallehren unmittelbar verpflichtende Wirklichkeit. Über das Verhältnis ihrer Nachwirkungen zu dem späteren Rechtsdenken ist noch nicht zu sprechen.

Eine historisierende Theologie hat sich in den letzten Jahrzehnten mit außerordentlicher Mühe und Genauigkeit darum bemüht, aus den Werken insbesondere der Reformatoren deren juristischen und sozialethischen

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Gehalt zu entwickeln. Man hat vor allem versucht festzustellen, wie weit Luther und Calvin den Begriff des Naturrechts besessen haben, und ist bemüht, diese einzelnen Dinge zu einem System zu vereinigen. Gegen diese gewiß wichtigen und interessanten Versuche besteht ein zentraler Einwand. Wenn schon wir mit dem vollen Überblick über das theologische Erbe der reformatorischen Väter und allen Hilfsmitteln moderner Wissenschaft nur mit Mühe vermögen, aus jenen verstreuten Einzelheiten einigermaßen ein Ganzes zu bilden, so können die Zeitgenossen und unmittelbaren Erben jener Männer unmöglich imstande gewesen sein, daraus ihre vorzüglichsten Weisungen zu entnehmen. Auch Ellul hebt die geschichtliche Bedeutungslosigkeit der calvinistischen Naturrechtslehre hervor (S. 16). So gewiß Luther und Calvin in Fragen des öffentlichen Lebens konkrete theologische Entscheidungen getroffen haben, die richtungweisend wirkten, wie beispielsweise die Stellungnahme Luthers gegenüber dem Bauernkrieg, so gewiß stand der sozialethische Ansatz ihrer Kirchen nicht auf diesen Einzelentscheidungen, sondern wurde an diesen höchstens sichtbar. Der zentrale Ansatz, das zentrale Verständnis, welches alle nachfolgenden Erscheinungen zu einer inneren Einheit verbindet, besteht nicht in der Summe dieser Einzelentscheidungen oder der Aussagen über das Recht, sondern in der spezifischen Rechtfertigungs-Theologie, von der aus alles geistliche und weltliche Handeln bestimmt wurde. Auch die Naturrechtslehre des Thomas ist zentral nur verständlich von der katholischen Rechtfertigunslehre aus, die sich in der Formel zusammenfassen läßt:

gratia naturam non tollit, sed perficit.

Aus diesem Grunde entspringen jene Bemühungen einem grundsätzlichen Mißverständnis, welches über den Einzelheiten verkennt, welche Momente geschichtlich treibend und wirksam waren. Die nominalistische Tendenz der reformatorischen Theologie drängt die Systematik ebenso in den Hintergrund, wie die römische systematische Theologie die Exegese in eine dienende Stellung verweist. Der Begrenztheit menschlichen Denkens ist es offenbar nicht möglich, beide Dinge in einem rechten Gleichgewicht zu halten.