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Vorwort

Nach dem Kriege ist im ganzen Bereich des Protestantismus die Diskussion über die theologischen Grundlagen des Rechts wieder aufgenommen worden. Dabei blieb von früheren Ergebnissen nicht allzuviel übrig. Nicht nur sehr verschiedenartige deutsche Theologen, sondern auch Emil Brunner schieden stillschweigend aus der Debatte aus. Die Kirche bewährte ihre geistige Einheit durch die kritische Kraft, überholte Positionen mit Selbstverständlichkeit abzustoßen. Als bedeutsame Aufgabe blieb der von Karl Barth in „Rechtfertigung und Recht” gegebene und noch nicht ausgewertete Ansatz bestehen.

Die Leitung der Evangelischen Kirche in Deutschland griff das Problem dadurch auf, daß sie der Generalsynode in Bethel 1949 ein Referat erstatten ließ. Sie meinte offenbar, hierdurch die Grundlinien abstecken zu können, innerhalb deren dann die Gelehrten weiterarbeiten könnten. Bei Gewicht und Umfang des Problems mußte dieser Versuch fehlgehen. So wurde mit der Bearbeitung des Fragenkreises eine gemischte Kommission von Theologen und Juristen beauftragt, die im Mai 1949 in Göttingen zusammentrat. Die Ergebnisse ihrer Arbeit sind in der kleinen Schrift „Kirche und Recht”* veröffentlicht worden. Sie sind in mehrfacher Richtung bedeutsam. Es ergaben sich zwei Grundansätze, die miteinander nicht zu vereinen waren: der heilsgeschichtlich-trinitarische und der christomonistische. In diesen — nicht absoluten, sondern relativen — Gegensätzen erneuerte sich der Gegensatz von Luthertum und Calvinismus ohne Rücksicht auf konfessionelle Zugehörigkeiten von der Sache her. So standen und stehen auch eine Reihe von lutherischen Theologen unter dem Einfluß der kritischen Theologie auf dem christomonistischen Ansatz, während eine umgekehrte Erscheinung nicht zu beobachten war. Es zeigte sich an den Grundfragen der Sozialethik im Allgemeinen und der theologischen Begründung des Rechts im Besonderen, daß es keine Unionstheologie gibt. Auf der anderen Seite ergab sich eine weitgehende praktische Übereinstimmung, die in einem ausdrücklichen Consensus am Ende der genannten


* Verlag Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen.

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Schrift formuliert ist. Die gleiche Kommission hat später der Kirchenleitung in einer Reihe von praktischen Fragen von grundsätzlicher Bedeutung, wie der Menschenrechtssatzung der UNO und der Kriegsverbrecherprozesse, durch ihr Votum wertvolle Dienste geleistet.

Die Erörterung wurde dann auf der deutschen und der Ökumenischen Naturrechtskonferenz von Treysa 1950 weitergeführt. Auch hier zeigten sich zwangsläufig die gleichen Unterschiede des Grundansatzes in einem (trinitarischen) Mehrheits- und einem (christologischen) Minderheitsvotum. Auch die maßgeblichen Vertreter der Anglikaner, Presbyterianer und der anderen Denominationen konnten sich nur zwischen diesen, von der kontinentaleuropäischen Theologie entwickelten Positionen entscheiden.

Über die Thesen von Göttingen und Treysa ist man bisher jedoch nicht hinausgekommen. Der Göttinger Sitzung hatte man als Material zunächst die Schrift des französischen reformierten Juristen Jacques Ellul „Die theologische Begründung des Rechts” zugrundegelegt, um sie im Laufe der Aussprache als unzulänglich aufzugeben. Einer der Einwände gegen Ellul ging dahin, daß er nicht verstanden habe, die Institutionen des Rechts mit seinen theologischen Darlegungen zu verknüpfen. Dieser Einwand besteht jedoch nach meinem Eindruck gegen die ganze bisherige Arbeit. Recht und Gerechtigkeit werden in begrifflicher Allgemeinheit erfaßt und vom konkreten Leben her nicht gefüllt. Man kann infolgedessen über sie sprechen, ohne von der Wirklichkeit des Rechtslebens eine ausreichende Vorstellung zu haben.

Weder als theoretischer noch als praktischer Jurist kann ich mich für befriedigt erklären. In bedeutsamer Weise werden Recht und Gerechtigkeit — auch im kirchlichen Bereich weit entfernt von Sohms Rechtsverneinung — als legitime theologische Probleme anerkannt. Aber man endet bereits, wo man gerade erst begonnen hatte, und begnügt sich mit ein paar recht fragwürdigen Nutzanwendungen. Eine wirkliche Konfrontation von Theologie und Rechtswissenschaft hat noch nicht stattgefunden. Tiefverwurzelte Hemmungen der evangelischen Theologie machen sich hier bemerkbar. Zunächst erdrückt schon eine tiefgründige und scharfsinnige Exegese durch ihr Übermaß den systematischen Trieb. Sodann zeigen sich an Stelle der abgelehnten kirchlichen Tradition die „traditiones humanae negativae Protestantium”, die oft genug in einfachen Rationalismus auslaufen. Schließlich sind von einem gewissen erkenntnistheoretischen Ansatz her weite Bereiche der Erkenntnis ausgeschaltet und abgeschnitten — nämlich alles, was Phänomenologie, Lehre von Gestalt und Struktur

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heißt. Wer den scholastischen Idealismus bekämpfen will, sollte zunächst im eigenen Hause dessen Widerbild, den Nominalismus, vertilgen.

Die Summe der Einwände und Gedanken, die mir als Teilnehmer jener Arbeitstagungen und weiterer Aussprachen zurückgeblieben ist, und die ich zum Teil schon auf einer Ökumenischen Wochenendkonferenz in Göttingen 1951 vorgetragen habe, habe ich in der nachfolgenden Schrift zusammengefaßt. Ich sehe es als meine Aufgabe an, Folgerungen zu ziehen und auszusprechen, an denen die Theologen wegen jener Hemmungen nicht interessiert sind: daß es nämlich keine autonome Rechtswissenschaft gibt, gegeben hat und geben kann. Es handelt sich nicht darum, die Theologen in Problemgebiete zu verführen, in denen sie notwendig versagen müssen; ihre genuine Rechtsfremdheit ist eine ernsthaft zu erörternde Erscheinung. Sondern da es den Menschen nicht ohne Gott gibt, gibt es auch keine andere Lehre vom Menschen als eine theologisch begründete. Kraft der Gleichheit des Gegenstandes und der Existenzialität ihrer Aussagen müssen unbeschadet der Verschiedenartigkeit ihrer Blickpunkte alle Humanwissenschaften ihre kategoriale Struktur mit der Theologie gemeinsam haben. Dies gilt von der Rechtswissenschaft in hervorragendem Maße, weil sie eine dogmatische Wissenschaft ist, weil ihre Begriffe und Phänomene von besonderer Präzision sind. Systematische Theologie und theoretische Physik sind die Eckpfeiler jedes Weltbildes; ihren Wandlungen folgen alle anderen Wissenschaften zwangsläufig nach; auch die Rechtswissenschaft sollte dem Umbruch jener Disziplinen Rechnung tragen.

Der Sinn dieser Schrift ist, jene Erörterungen auf ein neues Feld hinüberzuspielen. Wenn sie dies erreicht, hat sie ihren Zweck erfüllt, mögen noch so viele ihrer Formulierungen durch bessere abgelöst werden.

Fulda, Januar 1952.

Hans Dombois