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Es ist die vornehmste Aufgabe des Historikers, Institutionen, die zu ihrer Wirksamkeit immer einen gewissen Grad von Härte besitzen müssen, aus den Kräften verständlich zu machen, durch deren lebendigen Fluß sie geschaffen worden sind. Nur durch dieses Verständnis von dem Lebensprozeß, der sie hervorgebracht hat, werden sie vor der Verhärtung bewahrt und entwicklungsfähig erhalten. Wenn der Geschichtsschreiber diesen Dienst am Leben geleistet hat, hat er sich im allgemeinen zu bescheiden und dem Systematiker und Praktiker den Weg frei zu geben.

Wenn im Folgenden bewußt eine Ausnahme von dieser Regel gemacht wird, dann darum, weil es sich in unserer Darstellung um Institutionen gehandelt hat, die in der Weise, wie das Reformationsjahrhundert sie geschaffen hat, heute nicht mehr bestehen. Sie müssen neu geschaffen werden. Und wir beschäftigen uns mit ihnen nicht aus einem antiquarischen, sondern aus einem brennenden Gegenwartsinteresse, das im Gefühl unseres Mangels seinen Ursprung hat.

In der Frage der Gemeindezucht und des Gemeindeamtes ist das Luthertum über erste, bald verdorrte Ansätze nicht hinausgekommen; und was der Pietismus und speziell die Innere Mission davon neu geweckt haben, ist von der Kirche noch nicht übernommen und organisch ihrem Leben und ihrer Verfassung eingefügt worden. Die heutige Konfirmation aber hängt nur durch einen ganz dünnen Faden mit den Programmen und Institutionen des 16. Jahrhunderts zusammen; sie ist viel mehr durch andere Faktoren, nicht zuletzt durch den allgemeinen Schulzwang des modernen Staates146) zu ihrer gegenwärtigen Bedeutung gelangt. Gerade deswegen aber ist die Frage nach der rechten Konfirmation der Kirche heute gestellt; und die einander widersprechenden Antworten lenken unseren Blick auf die Geschichtsmächtigkeit der geistigen Kräfte zurück, die jene kirchliche Einrichtung ursprünglich geschaffen haben.

Immerhin hat in allen drei Stücken, an denen wir heute Mangel leiden, die hessische Kirche das Erbe der Reformation noch relativ am treusten bewahrt. Nur so rechtfertigt sich auch das Wagnis, eine „hessische Säkularerinnerung” an den übrigen Protestantismus zu richten. Aber gerade dabei muß dann auch aus der Geschichte deutlich gemacht werden, ob und wie weit die Kräfte, die einst jene Institutionen geschaffen haben, heute noch wirksam sind. Damit ist dann freilich die strenge geschichtliche Fragestellung verlassen und vom heutigen Standpunkt aus die Wertfrage gestellt. Aber der Historiker, der sie oft aus den abgeschlossenen Tatsachenreihen der Vergangenheit beantworten muß, sollte


146) Wilhelm Diehl hat an verschiedenen Stellen darauf hingewiesen, welche große Bedeutung der Einführung der Konfirmation für die Entstehung der Volksschule in Hessen und darüber hinaus zukommt. Aber man muß auch die Kehrseite betrachten: durch die Verbindung mit dem Schulzwang ist dem Zuchtmotiv der hessischen Konfirmation der Charakter der Freiwilligkeit genommen, sie dadurch also in ihrem Wesen verändert worden.

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damit auch die Berechtigung erbracht haben, sie für die Gegenwart aufzuwerfen und zu ihrer Lösung beizutragen.

In diesem Sinne sind die folgenden thesenartigen Sätze zu verstehen, die die Ergebnisse unserer Untersuchung zusammenfassend werten und damit zur gegenwärtigen kirchlichen Aussprache einen Beitrag leisten wollen:

1.) Wer die von uns behandelten drei Fragenkreise für die Gegenwart richtig erfassen will, darf nicht von vornherein mit der konfessionellen Alternative an sie herangehen. Es sollte nicht mehr möglich sein, im Sinne konfessioneller Selbstabschließung zu sagen: „Kirchenzucht ist reformiert” oder: „Das Luthertum kennt nur das Amt der Wortverkündigung.” Auf dem Gebiete der Konfirmation laufen vielmehr — das wird wohl allgemein zugegeben — die Beziehungen hin und her. Aber auch auf den beiden anderen ist das der Fall. In einem vorkonfessionellen Stadium ihrer Entwicklung hat die lutherische Kirche sowohl eine Mannigfaltigkeit des geistlichen Amtes als auch eine eigenständige Abendmahlszucht erstrebt bzw. besessen. Sie ist damit die Lehrmeisterin des Calvinismus geworden. Es ist zu fragen, ob sie beide Stücke nicht wiedergewinnen kann.

2.) Der Gegensatz der beiden evangelischen Konfessionen bricht in diesen Verfassungsfragen erst auf angesichts der Stellung zum Staat. Das Luthertum sah davon ab, sich im Kampfe mit ihm ein eigenständiges Zuchtrecht und Zuchtamt zu ertrotzen. Daraus ergab sich für eine Volkskirche im modernen Staat nur der Verzicht — nicht der grundsätzliche, wohl aber der praktische. Es ist zu fragen, ob sich für den Staat heute noch jene negative Einstellung zur Kirchenzucht als notwendig erweisen wird.

3.) Die Stellung zum Staate ist mitbestimmt durch die Stellung zu Schrift und Tradition. Wo man im Gefolge des christlichen Humanismus — der selbst dabei von Strömungen des ausgehenden Mittelalters abhängig ist — die biblischen Normen und das damit übereinstimmende altkirchliche Vorbild für Amt und Zucht der Kirche als unveränderliche Gottesgesetze versteht, ohne deren Befolgung Kirche nicht Kirche ist, muß man nicht nur jenen Kampf mit dem Staate aufnehmen um Gottes Willen, sondern sich auch von anders verfaßten kirchlichen Gemeinschaften abschließen. Der christliche Humanismus, so unionsfreundlich er sich immer gab, ist das Ferment der konfessionellen Spaltung auf dem Boden des Protestantismus. Und es ist zu fragen, ob er noch heute dazu innerlich die Macht hat.

4.) In allen diesen Fragen der kirchlichen Zucht ringt auch das Luthertum um seine eigene rechtliche Gestaltung. Das Recht, das es dabei erstrebt, ist ein Liebesrecht; es stützt und schützt die brüderliche Gemeinschaft. Es kann darum nicht in feindliche Konkurrenz mit dem obrigkeitlichen Rechtsgefüge treten. Es bedarf vielmehr seiner ebensosehr, wie es ihm den notwendigen sittlichen und religiösen Halt gibt. Kirchenordnung und Volksordnung gehören hier zusammen, gerade weil sie in zwei

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verschiedenen Sphäre wirksam sind. Es ist zu fragen, ob dieser innere Ausgleich — getrennt arbeiten, gemeinsam dem christlichen Volke dienen — heute noch möglich ist.

5.) Aus dieser Zusammengehörigkeit der beiden Bereiche erwächst das evangelische „Laien”amt. Seine Träger üben ihren Beruf in Gottes Auftrag aus, nicht nur in der weltlichen Sphäre von Obrigkeit und Familie, sondern gleichzeitig und mit den gleichen Mitteln wie dort in der Kirche als einer kultischen Gemeinschaft. Indem sie in Diakonie, Lehre und Zucht das christliche Verhalten der Kirchenglieder zueinander regeln, bekleiden sie ein Liebesamt, dem als solchem geistlicher Charakter und geistliche Würde eignet. Mit ihrem Wirken, in dem „weltlicher” und „geistlicher” Beruf sich verschwistern, ragt die volkstümlich gewachsene Ordnung von Recht und Sitte hinein in den Bereich der Kirche, wird hier in der Verantwortung vor Gott geheiligt und zum Gefäß geistlichen Lebensgemacht. Im evangelischen „Laien”amt kommt die innere Zusammengehörigkeit von Volks- und Kirchenordnung zu personhafter Prägung. Es ist zu fragen, ob die Kirche im öffentlichen Leben des Volkes noch genügend Männer besitzt, die bereit und fähig sind, ein solches geistliches Amt in ihr zu übernehmen; und ob sie selbst über genügend innere Lebendigkeit verfügt, um es aufs neue aus sich herauszusetzen.

6.) Die Entwicklung, die der Diakonat inzwischen in der evangelischen Kirche gewonnen hat, verschärft den Ernst dieser Fragen. Aus den Kastenmeistern der Reformation sind vielfach Angestellte geworden, die — bei aller kirchlichen Gutwilligkeit — auch in einem kaufmännischen Betrieb ihr Brot verdienen könnten, ohne geistlich stärker beansprucht zu werden. Kirchliche Verwaltung ist Diakonie, Liebesdienst, der nur unter seelsorgerlicher Verantwortung recht geschehen kann. Die Verweltlichung einer Kirche fängt jedesmal beim Gelde an; und die Säkularisation des kirchlichen Vermögens hat immer in der Kirche ihren Ursprung. Darum müssen die, die in ihrem Dienste am meisten damit zu tun haben, am stärksten durch ihr Amt mit ihr in geistlicher Verbindung stehen. Das das nicht allein durch eine kirchliche Einführung und Verpflichtung geschehen kann, ist klar; wie es geschehen soll, muß allerseits Gegenstand ernster Sorge sein.

Entsprechend sind die juristischen Mitglieder der Kirchenleitungen nicht in erster Linie höhere Verwaltungsbeamte, sondern „Archidiakone”, Träger eines geistlichen Amtes. Viele von ihnen fühlen sich als solche, beklagen aber umsomehr die geistliche Wurzellosigkeit ihrer Existenz. Die evangelische Kirche ist es ihnen schuldig, mit dem geistlichen Charakter ihrer leitenden Behörden auch die eigentümliche Art der dort geübten Diakonie mit allem Ernst geltend zu machen.

Kirchliche Verwaltung steht also als diakonischer Liebesdienst gleichwertig neben Armen- und Krankenpflege. Hierfür hat das 19. Jahrhundert

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der evangelischen Kirche ja das Diakonen- und Diakonissenamt wieder geschenkt. Obwohl es der Gemeinde dient, ist es kein geistliches Amt der Gemeinde im strengen Sinn geworden; die Form des Vereins und des Angestelltenvertrags ist nicht kirchlich legitim. Die Verhältnisse drängen zur Lösung; auch die kirchliche Stellung der Brüder und Mutterhäuser hängt davon ab. Aber es darf nur eine umfassende Lösung geben, die dem Diakonat in allen seinen Ausprägungen seinen geistlichen Charakter wiedergibt. Und neben seinen beamteten Trägern dürfen die vielen Hilfskräfte in den Gemeinden nicht vergessen werden, die, grundsätzlich gesehen, als „Diakone” das gleiche Amt innehaben.

7.) Während der Diakonat im biblischen Sinne fast ganz verschwand, haben die Lehrer — einst Amtsträger der Kirche — sich ganz aus deren Vormundschaft gelöst. In demselben Maße aber sind der Kirche in ihrer Jugendarbeit eine Menge freiwilliger Hilfskräfte erwachsen, für die sie nicht dankbar genug sein kann. Ansätze dazu, diese Helfer in Kindergottesdiensten, Jugend- und Singekreisen, Posaunenchören und dergl. für ihre kirchlichen Aufgaben zu schulen, sind genug vorhanden. Es fehlt die Erkenntnis von der grundsätzlichen Notwendigkeit, diese Freiwilligen offiziell in den Dienst der Gemeinde zu ziehen, sie dadurch zu legitimieren, aber auch sie verantwortlich zu binden. Erst dadurch werden sie „Lehrer” in der Gemeinde.

8.) Für die Erneuerung der seelsorgerlichen Zucht sind wohl die meisten Ansätze da. Viele Gemeinden sind in kleine Bezirke aufgeteilt, die durch Männer oder Frauen seelsorgerlich betreut werden. Solche Gemeindehelfer, die mitten in den Gemeinden stehen, sind wohl am ehesten geeignet, das Amt der Zucht wieder zur Geltung zu bringen; nur müssen sie dazu wirklich einen kirchlichen Auftrag bekommen. Fraglich bleibt, wie die Kirchenzucht mit Vorbereitung und Feier des Abendmahls in Verbindung zu bringen ist.

9.) Die Reifsten und Erfahrensten aus allen drei Amtskreisen haben zusammen mit dem Pfarrer die Leitung der Gemeinde inne. Wahlen gibt es nicht mehr. Wer in der Gemeinde verantwortlich arbeitet, hat auch das Recht, verantwortlich für die rechte Verteilung und Ausrichtung der Arbeit zu sorgen. Und wer zu seinem Dienst — nach vorhergegangener Bewährung — vor der Gemeinde kirchlich bestätigt ist, kann durch Kooption zur Mitleitung der Gemeinde berufen werden.

10.) Die Vorschläge in den Punkten 6 bis 9 sind nicht bloße Wunschbilder. Sie gründen sich vielmehr auf die tägliche Erfahrung; das Gemeindeamt wächst uns heute zu. Und sie finden ihre Bestätigung durch die Geschichte. Es kommt nur darauf an, die rechte Form zu finden. Und das muß rechtzeitig geschehen, ehe die Auflösung aller rechtlichen Ordnungen in den Gemeinden weiter fortschreitet. Die Kirche muß durch ihre Gestaltung selbst den Beweis darbringen, daß sie die Synthese mit der Volksordnung nicht nur erstrebt, sondern auch erreicht.

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11.) In unsrer Darstellung sahen wir noch eine andere Synthese um ihren vollkommenen Ausdruck ringen. Das 16. Jahrhundert sucht den Ausgleich zwischen der Bildungsbewegung des christlichen Humanismus und den religiösen Kräften der Reformation. Aus diesem Streben erwächst auch die evangelische Konfirmation. In der Form, die Butzer ihr für Hessen gab, kommt die volkspädagogische Gewalt beider Bewegungen in vereinter Kraft zum wirkungsvollen Ausdruck. In der geschichtlichen Notwendigkeit jener Synthese liegt der Einfluß begründet, den die hessische Konfirmation für den gesamten Protestantismus gewonnen hat. Aber ihre Stärke ist zugleich ihre Schwäche. Mit dem Augenblick, wo die Ideale eines christlichen Humanismus ihre Kraft verlieren, gerät auch die evangelische Konfirmation in eine tödliche Krisis. Ihr Neuaufbau muß von der Erkenntnis dieser geistigen Situation geleitet sein.

12.) Heilmittel dafür ist nicht die sog. katechetische Konfirmation, sondern die Reform der Katechese. Deren „Entschulung” muß erreicht werden. Es gilt mit dem Grundsatz der humanistischen Erziehungsweisheit zu brechen, als ob der Mensch zu einer bestimmten — auch christlichen — Überzeugung erzogen werden könnte durch die Mitteilung bestimmter Lehren und die Weckung bestimmter Entschlüsse. Damit kommt man über eine Philosophia christiana nicht hinaus, mag auch ihr Inhalt orthodoxer sein als bei Erasmus.

Die Reformatoren haben die vom christlichen Humanismus geforderte Katechese — nicht der Substanz aber der Methode nach — in weitem Umfang übernommen. Eine katechetische Konfirmation, die auf dieser Grundlage geschaffen wird, kann nichts andere tun als feststellen, ob ein bestimmtes Maß von Wahrheiten und Lehren angeeignet sei. Insoweit diese Feststellung eine Anerkennung der Christlichkeit des Betreffenden in sich schließt — und irgendwie wird das immer der Fall sein müssen —, ist sie außerordentlich gefährlich; denn sie macht den christlichen Glauben zu einer Sache der Einsicht und des Willens und wird ihm damit nicht gerecht. In allen Formen, die die evangelische Konfirmation inzwischen angenommen hat, in Orthodoxie, Pietismus und Aufklärung, herrscht jene Auffassung von der Katechese vor und belastet das Konfirmationsverständnis aufs schwerste.

Während die Katechese des christlichen Humanismus vom Ziele her bestimmt ist, das durch sie erreicht werden soll, hat sich der kirchliche Unterricht auszurichten an den göttlichen Gegebenheiten, die den Christenstand der Katechumenen begründen. Es sind die Gaben, die durch die Taufe mitgeteilt werden, die das ganze Leben des Getauften umfassen und sich erst in seiner Todesstunde voll und ganz entfalten. Mit Christus sterben und mit Christus leben — das ist der Sinn der christlichen Taufe; und in ihn einzuführen ist die Aufgabe der kirchlichen Katechese.

Das bedeutet nicht, ihn lehrhaft zu entwickeln. Damit würde man die Geheimnisse des christlichen Glaubens vorzeitig enthüllen und ihnen

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durch begriffliche Abstraktion ihre eigentliche Tiefe nehmen, eine Tiefe, die erst ein Mensch erfassen kann, der Tod und Leben erfahren hat. Darum langt das ganze Menschenleben nicht zu, den Reichtum der Taufe zu erschließen. Darum hat die kirchliche Kinderunterweisung nur den Zweck, in ihn einzuführen, die Verbindung zu pflegen, die von Gott in der Taufe geknüpft worden ist.

Darum macht sie das Kind heimisch im Gottesdienste, zunächst im Kindergottesdienst, dann auch in den gottesdienstlichen Feiern — auch Sakramentsfeiern — der Erwachsenen. Sie läßt es Anteil nehmen am Gebet der Kirche; ja sie ist in der Hauptsache Gebetserziehung. Auf direktem und mehr noch auf indirektem Wege — durch Beeinflussung des Hauses — sucht sie das Gebetsleben des Kindes zu fördern. Von der Lehre empfängt es nur das, was es beten kann; — und damit ist vor allem die Apologetik, die sein Herz und Gewissen zerreißt, ausgeschlossen. Auf diesem Wege kann auch das gebetete Glaubensbekenntnis wieder „der Kinderglaube” werden. Daß die Konfirmanden „Betkinder” seien, ist heute noch in manchen Gegenden die Weisheit des christlichen Volkes. Daß es die Weisheit der Kirche wieder werde, ist das allernotwendigste Stück der Erneuerung des kirchlichen Unterrichts und damit der Konfirmation.

So beginnen sich die Gaben der Taufe in der durch die Katechese vermittelten Gemeinschaft mit der Kirche zu entfalten. Es ist ein Anfang; in gewissem Sinne bleibt jeder Christ zeitlebens ein Katechumene. Und insofern hatte Flazius ganz recht, machte er mit Luthers Taufanschauung Ernst, wenn er im Kampf gegen die melanchthonische Konfirmation spottete, eigentlich müsse man jeden Christen jedes Jahr konfirmieren147).

Denn von hier aus gesehen kann Konfirmation nur die Bestätigung, „Vertröstung” der mit der Taufe empfangenen Gaben durch die Kirche bedeuten. Sie muß immer wieder erfolgen und ist an und für sich an keinen bestimmten Zeitpunkt gebunden. Sie geschieht ja auch immer dann, wenn der Mensch die Absolution empfängt. Besonders nötig aber ist sie in den Augenblicken des Lebens, da ihm der Blick auf die Taufe zu entschwinden droht. Diese Gefahr besteht ohne Frage in der Zeit, da der in zartester Kindheit getaufte Mensch die Schwelle der Reifezeit überschreitet. Da ist die Gemeinde, in deren Mitte er getauft wurde, ihm zu sagen schuldig, daß seine Taufe auch jetzt noch — und gerade jetzt — gültig sei, daß das Band der Gemeinschaft mit Christus und seiner Kirche, das durch sie geknüpft ist, unzerrissen bleibe. Die Fürbitte ist die rechte Art solchen Zuspruchs, die Handauflegung sein bis in das Gefühl leiblicher Geborgenheit hineingreifendes eindrucksvolles Zeichen. Was so entstünde,


147) Vgl. Walter Caspari: Die evang. Konfirmation, vornämlich in der lutherischen Kirche. 1890, S. 40, zu Anm. 28. Dieselbe Forderung bei Calvin s. oben S. 71 Anm. 49 Abs. 4.

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wäre nicht eine katechetische Konfirmation, in der ein gelernter Stoff nachgewiesen wird, sondern der feierliche Abschluß einer Katechese, die ganz auf die Begründung eines seelsorgerlichen Gemeinschaftsverhältnisses ausgerichtet ist.

13.) Der seelsorgerlich weiterführende Sinn dieser Kindersegnung kann darum nur der sein, daß sie den Zugang erschließt zur christlichen Beichte. Die segnende Handauflegung bei der Konfirmation ist ja nichts anderes als ein erster Zuspruch der Absolution, die ihrerseits wiederum als eine erneuerte Zusage der Taufgnade verstanden werden muß. Die Wiedergewinnung der rechten evangelischen Beichte kann nur von der Jugend aus erfolgen. Sie setzt einen seelsorgerlichen Konfirmandenunterricht voraus, der den reifenden Menschen bis an die Schwelle des Geheimnisses führt, das ihm seine Taufe für sein ganzes Leben groß und wichtig macht: daß nämlich das Mitsterben und Mitleben mit Christus in geistgewirkter Reue und göttlicher Vergebung erfahrbar ist. Solche Erfahrung ist nicht lehrbar; sie muß geübt werden. Sie zu vermitteln und durch die Übung von Beichte und Absolution zu befestigen ist die Aufgabe, die im Katechumenat der Reifezeit gelöst werden muß.

14.) Keinesfalls darf aber die Zulassung zum Abendmahl schon ohne weiteres von jener ersten Handlung segnender Fürbitte abhängig gemacht werden. Denn die Teilnahme am Sakrament schließt nicht nur die persönliche Erfahrung von Schuld und Vergebung in sich, sondern ebenso auch das Bewußtsein von der gliedhaften Zugehörigkeit zu Christus und seiner Kirche und von der Verantwortung, die sich daraus ergibt. Sie setzt damit eine geistliche Erfahrung voraus und eine Reife des willentlichen Entschlusses, zu denen ein junger Mensch von 14 Jahren im allgemeinen noch nicht fähig sein wird.

Tiefe pädagogische Weisheit und heilige Schau vor dem Mysterium haben die Kirche einst bestimmt, die Zulassung zum Abendmahl von einer Zeit der Vorbereitung und Bewährung abhängig zu machen. Es war eine Weisheit der Seelenführung, deren Blick ursprünglich ausschließlich auf die Erwachsenen gerichtet war. Seitdem durch die Einführung der Kindertaufe in den christianisierten Völkern das Kind Gegenstand der kirchlichen Seelsorge geworden ist, gilt es jener Erkenntnis auch im Blick auf die in ihrer Jugend Getauften Rechnung zu tragen.

Es ist ein Zeichen innerster Übereinstimmung mit der Ehrfurcht, in der die Alte Kirche dem Sakrament entgegengetreten war, daß die Reformation die Forderung der Abendmahlszucht mit solchem Ernste geltend machte. Die christlichen Humanisten, die diese Verwandtschaft empfanden, waren von einem richtigen Gefühl geleitet. Und Butzers Verdienst, jener Forderung im Rahmen der evangelischen Konfirmation gerecht geworden zu sein, gilt nicht nur für seine Zeit. Wollte die evangelische Kirche die Verbindung von Zucht und Abendmahl aufgeben, so würde sie damit

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unter die von der Reformation erreichte Stufe des Sakramentsverständnisses zurücksinken.

Man wende nicht ein, daß die Mehrzahl derer, die heute noch das Sakrament begehren, weder über ihren Glauben Rechenschaft zu geben vermögen noch imstande sind einzusehen, daß sie sich durch den Sakramentsempfang in eine Gemeinschaft brüderlicher Zucht begeben, von der sie nehmend und gebend beansprucht werden. Eine Kirche, die das Sakrament ernst nimmt, kann sich mit diesem Zustand nicht beruhigt abfinden. Und sie darf davon überzeugt sein: je ernsthafter sie der Würde des Sakramentes Rechnung trägt und je anschaulicher sie die sakramentale Gemeinschaft als eine Gemeinschaft brüderlicher Liebe darzustellen vermag, um so mehr wird das Sakrament in ihrer Mitte begehrt werden148).

So bedarf sie also einer „zweiten Reformation”, die auf jener segnenden Fürbittehandlung am Ausgang des Kindesalters aufbaut, und die die seelsorgerliche Führung im Jugendkatechumenat zum einstweiligen Abschluß bringt. Sie bedeutet die Aufnahme in die volle Sakramentsgemeinschaft. In ihrem Mittelpunkt steht wie in den hessischen Ordnungen von 1538 die freiwillige Übernahme der Kirchenzuchtverpflichtung. Sie schließt also das Gelöbnis ein, sich den seelsorgerlichen Dienst der Zucht gefallen zu lassen und sich selbst für dessen Ausübung der Gemeinde zur Verfügung zu stellen. Sie bringt damit die Eigenart evangelischer Kirchenzucht zum Ausdruck, daß sie nämlich auf allen Zwang — groben wie feinen — verzichtet und nur an denen vollzogen werden kann, die sich ihr aus freiem Entschluß zur Verfügung stellen. Sie bezeugt schließlich das Vorhandensein der inneren Voraussetzungen und schafft die äußerlich rechtlichen Voraussetzungen für den aktiven Dienst in der Gemeinde, für die Übernahme einer ihrer Ämter, je nachdem es der äußeren Stellung im öffentlichen Leben und der geistlichen Begabung und Führung des einzelnen entspricht.

15.) So sind die beiden, in einem gewissen zeitlichen Abstand auf einander folgenden Formen der Konfirmation eingeordnet in den Kranz der christlichen Sakramente. Die erste ist die Bestätigung der Taufe, die zweite die Zurüstung auf das Abendmahl. Zugleich bilden sie beide zusammen die Grundlage evangelischer Kirchenzucht. Die erste eröffnet mit dem Zugang zur Beichte den Weg zur Erfahrung von dem tröstenden Wort der Absolution, die zweite führt ein in die christliche Gemeinschaft der freien brüderlichen Liebe und Zucht, die gestiftet wird durch die heilsame Gegenwart Christi im Sakrament. Dessen Heiligkeit bilden den Maßstab für die reinigende und scheidende Kraft christlicher Zucht; und jeder Vollzug des Sakramentes


148) Der oft ausgesprochene Vorwurf, die Reformation habe den Gemeinschaftscharakter des Abendmahls verkannt, muß angesichts der gemeinevangelischen Forderung der Abendmahlszucht verstummen. Sie entspringt dem Gefühl der Verantwortung, das sich aus dem sakramentalen Gemeinschaftsbewußtsein ergibt.

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erneuert die Verpflichtung, diesen Maßstab mit rücksichtsloser Liebe geltend zu machen149).

Evangelische Kirchenzucht und mit ihr evangelischer Konfirmation liegen eingebettet zwischen Taufe und Abendmahl. Beichte und Absolution, durch die der Christ zur Taufgnade zurückgeführt und zur Abendmahlsgnade zubereitet wird, sind ihre eigentümlichen Ausdruckmittel. Im Wort der Absolution, in dem die Fürbitte der Kirche nach Christi Verheißung sich wandelt in wirkende Kraft, liegt die bindende und lösende Gewalt dieser Zucht beschlossen. Das Sakrament wirkt mit — nicht neben — dem Wort; und nur, wo der Wirksamkeit beider Raum gegeben wird, kommt es zu einem Neubau evangelischer Kirchenzucht und evangelischer Konfirmation.

16.) Damit aber sind auch die Voraussetzungen gegeben für eine Erneuerung evangelischen Kirchenrechts. Auch in diesem Sinne ist es wahr, daß das Schicksal der evangelischen Kirche an der Konfirmation hängt. An die Mannigfaltigkeit des geistlichen Amtes ist ihre Wirksamkeit geknüpft. Soll der Pfarrer sie in dem oben geschilderten Sinne durchführen, dann muß er die Arme frei haben für eine individuelle Seelsorge an Jugend und Elternhaus. Das echte beichtväterliche Verhältnis,


149) Es wird also in unserem Konfirmationsvorschlage wieder getrennt, was im Laufe des 16. Jahrh. zusammengewachsen war. Aber die damals geschaffene Verbindung hat sich ja nach unserer Darstellung als künstlich und unnatürlich erwiesen. Die Konfirmation, die Erasmus als notwendige Folge der Kindertaufe erstrebte, ist grundsätzlich verschieden von der, der sich aus den Erfordernissen einer lutherischen Abendmahlszucht ergab.
Der Versuch, beide Arten der Konfirmation zu einer einzigen kultischen Handlung zu vereinigen, muß in seinen Folgen die Sakramente entwerten. Man fordert eine Wiederholung des Taufbekenntnisses, sieht dieses zugleich als Beichtbekenntnis an und erklärt es als genügende Vorbereitung zum Abendmahl. Das führt im Blick auf die Taufe zu einem Synergismus, der Gottes Gnadenhandeln für ergänzungsbedürftig erklärt. Wohl muß der Glaube sich die angebotene Gabe zu eigen machen; aber sie ist wirksam, auch wo das persönliche Bekenntnis noch fehlt. Wer eine eigene kirchliche Handlung schafft, um die Kindertaufe zu vervollständigen, leugnet grundsätzlich jene Wirksamkeit.
Aber jenes Verfahren nimmt auch der Beichte ihren eigentlichen religiösen Tiefgang; denn es macht dabei aus dem Sündenbekenntnis ein Lehrbekenntnis. Und es schränkt die Wirkung des Abendmahls in unzulässiger Weise ein. Denn dieses ist mehr als Bestätigung der Taufgnade, mehr auch als Vergewisserung der Sündenvergebung. Es verwirklicht in der Gemeinschaft mit dem erhöhten Christus die gliedhafte Verbundenheit des Leibes Christi auf Erden. Damit bestärkt es den einzelnen nicht nur in der Gewißheit seiner in der Taufe hergestellten Gotteskindschaft, sondern stellt ihn zugleich in die brüderliche Tischgemeinschaft unter Gottes Hausgenossen. Das ist kein „Mehr” in dem Sinne, daß es quantitativ oder der Art nach über das hinausginge, was die Taufgnade schon gegeben hat. Aber als persönliche Zueignung jener Verbundenheit ruft es den einzelnen auf zur persönlich verantwortlichen Entscheidung. Der Empfang des Abendmahls schließt das Bekenntnis in sich zur christliche Kirche als Gemeinschaft brüderlicher Liebe und Zucht, und dieses Bekenntnis het ein Wachsen und Reifen in der Taufgnade zur Voraussetzung. ➝

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das die lutherische Kirche Jahrhunderte hindurch gekannt hat, muß wiederhergestellt werden. Zugleich aber braucht der Pfarrer Entlastung, von vielen bisherigen Amtsgeschäften durch den Diakonat, und die seelsorgerliche Hilfe vonseiten der Lehrer und Ältesten in seinem Dienst. Erst im Zusammenwirken des vierfachen geistlichen Amtes kann die Neuordnung der Konfirmation Wirklichkeit werden.

Auf der anderen Seite aber bildet die Neuordnung der Konfirmation die Voraussetzung für die von uns geforderte Aufgliederung des geistlichen Amtes. Sie schafft die Abendmahlsgemeinde, in deren Mitte durch Wort und Sakrament die Kräfte der brüderlichen Liebe voll entbunden werden; durch sie wird diese Gemeinschaft beständig erneuert. Und aus dieser Gemeinschaft erwachsen wiederum die Männer und Frauen, denen ein Amt in der Gemeinde anvertraut werden kann. Die Konfirmation läßt also die ordnende Kräfte von Wort und Sakrament in der Kirche sichtbar in Erscheinung treten.

Denn in Wort und Sakrament liegt der Mutterboden für ein eigenständiges kirchliches Recht. Indem sich aus beiden der christliche Gottesdienst gestaltet, entbinden sie die Elemente der Ordnung, die die Gemeinde


➝ Das Gelöbnis also, das als Ergänzung zur Kindertaufe fehl am Platz ist, hat bei der erstmaligen Zulassung zum Abendmahl seine Stätte. Die Folgerungen, die von dieser Erkenntnis aus für die evangelische Konfirmation zu ziehen sind, liegen auf der Hand: Eine Konfirmation, die auf die Taufe Bezug nimmt, muß gelübdefrei sein; sonst entspricht sie nicht dem evangelischen Verständnis dieses Sakraments. Eine Konfirmation, die als Vorbereitung zum ersten Abendmahlsgang dienen soll, muß ein Gelübde enthalten; sonst widerstreitet sie dem evangelischen Verständnis des Abendmahls. Darum können die beiden Formen der Konfirmation nicht zu einem kultischen Akte vereinigt werden; wie sie aus verschiedener Wurzel geschichtlich entstanden sind, so müssen sie auch praktisch wieder getrennt werden.
Daß diese Scheidung keine Beziehungslosigkeit bedeutet, ergibt sich aus der engen Verbindung, die zwischen der segnenden Fürbittehandlung einerseits, Beichte und Absolution andererseits besteht. Die Beichthandlung bildet die Brücke von der Taufe zum Abendmahl. Die Taufe bildet ihre Grundlage und wird durch sie bestätigt; auf das Abendmahl weist sie hin und bereitet vor auf seinen gläubigen Empfang. Die „Einsetzung” wird dadurch, daß sie als erstmalige Anwendung der Absolution verstanden wird, zugleich gegen ein mögliches Mißverständnis gesichert. Sie ist keine christliche Jugendweihe, in der schlechthin die natürliche Entwicklung des Jugendlichen nach Leib und Seele der Güte Gottes befohlen wird. Sondern sie heiligt das junge Leben, das in der Taufe Gott dargebracht worden is, indem sie es unter den Ernst der göttlichen Forderung und unter den Reichtum der göttlichen Vergebung stellt. Darum ist diese Segnung ja auch kein einmaliger Akt, sondern ein immer wiederholtes Geschehen. Sie eröffnet einen Weg, der den begnadeten Sünder einführt in die sakramentale Gemeinschaft der Gotteskinder. Auch hier behalten Beichte und Absolution ihren notwendigen Platz; denn auch hier gibt es keine vollendeten Heiligen, sondern Fallende und Aufstehende. Aber wer hier aufgenommen ist in die brüderliche Tischgemeinschaft, lernt nicht nur, das Band der Liebe zu wahren, das Gott mit ihm in der Taufe geknüpft hat, sondern gewinnt in dieser Gemeinschaft auch Kraft zum Dienst für Christus und seine Brüder.

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gliedern. Nur in dem Maße, da solche Kräfte frei werden, entfaltet sich kirchliches Recht in seiner ihm eigentümlichen Sphäre, in der es der weltlichen Ordnung dient, ohne von ihr gestört oder gar zerstört werden zu können.

Entscheidend für den Neuaufbau unserer Kirche nach den Grundsätzen der Reformation ist es, daß diese scheidenden und lösenden Kräfte, die aus Wort und Sakrament hervorgehen, mit ihrer geistlichen Vollmacht unter uns lebendig werden. Dann wächst geistliche Liebeszucht, entfaltet sich in der Mannigfaltigkeit des geistlichen Amtes die Fülle geistlicher Begabung, schafft sich die Kirche neue Formen für ihren seelsorgerlichen Dienst, besonders an der Jugend.

Die Ansätze zu einer kirchlichen Neugestaltung, die mit den beiden hessischen Ordnungen von 1538 gegeben waren, sind nicht zur Erfüllung gekommen. Mögen nun unter neuen Verhältnissen und in neuen Formen nach ihrem Vorbild für die gesamte deutsche evangelische Kirche ähnliche heilsame Ordnungen geschaffen werden. Dann erfüllt sich noch nach 400 Jahren, was Luther einst schrieb: Placet exemplum Hassiacae excommunicationis.