III.

Worum es sich hier handelt, wird erstaunlicherweise erst durch eine vergleichende Betrachtung des Inhalts der Zehn Gebote klar. Diese enthalten kein Gebot, der Obrigkeit untertan zu sein oder sonstige politische Pflichten zu erfüllen, auch kein negatives Gebot, jenseits des Politischen ein friedliches und ehrbares Leben zu führen. Sie schweigen über politische Dinge vollkommen. Das 4. bis 10. Gebot sprechen vielmehr ausschließlich von sittlichen Regeln für das Verhalten gegenüber dem Nächsten, zeitlos und unabhängig von allen geschichtlichen Bedingungen. Etwas politischen Bindungen Vergleichbares enthalten allein das 1. bis 3., vor allem das 1. Gebot. Es begründet nämlich ohne Rücksicht auf jedes Verhalten gegenüber dem Nebenmenschen vorweg eine Treupflicht gegenüber Gott. Daß auch heidnische Völker, die dieses Gebot der alleinigen Verehrung des offenbarten wahren Gottes nicht

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besitzen, das 4. bis 10. Gebot ihren Inhalten nach kennen und befolgen, mindestens zu befolgen versuchen, wird auch im Alten Testament nicht bestritten. Wenn dort von der Hurerei der Heiden die Rede ist, so handelt es sich regelmäßig nicht um deren sittliche Verworfenheit, sondern um die Verehrung falscher Götter; den gleichen Sprachgebrauch finden wir auch in der Offenbarung Johannis. Luther rühmt zuweilen die gute Zucht der Türken und hält sie den Christen als Vorbild vor, und bekämpft doch bedingungslos diese Türken, weil ihr Sieg den Untergang der Christenheit bedeuten würde.

Die Dialektik von Gesetz und Evangelium ist also bereits im Alten Testament vorhanden. Sie liegt im Wesen der Offenbarungsreligion überhaupt. Die göttliche Verheißung des Alten Bundes ist freilich eine andere als die des Neuen. Zugleich aber sind die ethischen Gebote des übrigen Dekalogs nur die Folgerungen aus dem ersten Gebot: um Gottes willen sollen wir die Menschen dergestalt achten. Alles ethische Handeln, das das Vorzeichen des falschen Glaubens hat, ist schon deswegen in Frage gestellt, erscheint als unzulänglich und verderbt.

Genau die gleiche Dialektik aber besteht im Bereich des Staates. Auch der Staat ist auf seiner Ebene — ganz abgesehen von jeder religiösen Begründung — nach der ihm innewohnenden Gesetzlichkeit ein eifersüchtiger Herr. Auch er beansprucht Ausschließlichkeit gegenüber anderen politischen Mächten — vom Verhältnis zur Kirche ganz abgesehen. Zur Erfüllung dieses Anspruches aber genügt nicht ethisches Wohlverhalten. Die Gesetze des Landes muß auch der Fremde erfüllen; um Bürger eines Reiches zu sein, muß man auch an seiner politischen Gemeinsamkeit teilhaben. Der politische Anspruch des Staates auf den Menschen ist — um jedes Mißverständnis auszuschließen — ein natürlicher, kein geistlicher; aber er ist seiner Form und Struktur nach der gleiche wie der religiöse Anspruch Gottes — der Anspruch einer allumfassenden Macht und die freie Hingabe eines ihm existenziell auch ohnedies Unterworfenen. In der Dialektik von Gesetz und Evangelium gehört daher das Recht auf die Seite des Gesetzes, der Staat auf die Seite des Evangeliums. Von da aus wird uns erst das abgründige Mißtrauen des Heiligen Augustin verständlich, der ungeachtet aller Staatstradition seines Römertums die civitas terrena als eine dämonisch schillernde Größe der civitas dei gegenüberstellt. Denn der Staat als der Ausdruck des Politischen, der bewußten Sonderung, des menschlichen Selbstbehauptungs- und Durchsetzungswillens steht mit seiner Selbstsucht und Selbsterhöhung dem Reiche der freiwilligen Erniedrigung, der Liebe, dem Reiche Gottes antithetisch gegenüber. Diesen geistlichen Abstand vom Staate haben wir erst in der Gegenwart nach dem Ende des konstantinischen Bundes wiedergewonnen.

Das Gesagte ist vielleicht gegenüber der gewohnten theologischen Begriffsbildung befremdend. Wir sind gewohnt, den Alten Bund des Gesetzes dem Neuen Bund des Evangeliums gegenüberzustellen — gewiß mit Recht. Aber diese Sicht ist nicht vollständig. Anerkanntermaßen sind die sämtlichen Gebote nur Entfaltungen des ersten. Dieses erste betrifft das Verhältnis des Menschen zu Gott, die übrigen, mindestens das 4. bis 10., dasjenige von Mensch zu Mensch. Diese letzteren sind also im Verhältnis zum ersten das nachfolgende Gesetz. Sie allein sind im Grunde genommen gesetzliche Forderungen. Wie kann man Furcht und Liebe Gottes ein Gesetz nennen, da sie doch jenseits jedes konkreten Tuns das Verhältnis des ganzen Menschen, die Wendung seines Herzens bedeuten!

Auch der Alte Bund hat eine Verheißung, die Verheißung des zeitlich langen, nicht die des ewigen Lebens. Auch das Alte Testament ist deshalb eine Offenbarung des trinitarischen Gottes, verhüllt in der Vorläufigkeit des

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Gesetzes. Auch das Alte Testament hat in der Forderung des 1. bis 3. Gebots die Forderung des werkelosen Glaubens, es hat sodann die im Gesetzesgebot verhüllte, unvollkommene Liebe der nachfolgenden Ethik, und es hat schließlich die Hoffnung auf eine Verheißung. Die Eschatologie des Täufers steht am Ende des Alten und am Beginn des Neuen Bundes wie die Eschatologie des anderen Johannes am Ende der Heilsgeschichte des Neuen Testaments. Alle Offenbarung ist daher eine trinitarische; alles Politische aber ist als Geschichtliches offenbarungsförmig, religionsförmig.

Damit wird aber zugleich klar, daß der Staat als der Prototyp, als die stärkste Steigerung der gefallenen Schöpfung, aus seiner Verlorenheit nicht durch das Gesetz gerettet und geheilt werden kann. Hier wie überall folgt das Gesetz immer nur dem Glauben nach. Es war der Sinn des konstantinischen Bundes, durch die Unterwerfung der weltlichen Macht unter das Evangelium ihr die echte Legitimation zu geben, sie zu befähigen, die jeder Macht innewohnende Dämonie mit der höheren Macht des Glaubens zu bändigen.

Angesichts der Parallelität der Dialektik von Gesetz und Evangelium, von Recht und Macht, von Sittlichkeit und emotional-freien Handeln, von ordentlicher und politischer Gerichtsbarkeit wird verständlich, daß wie bei allen Rechtsproblemen sich die geschichtlichen Lösungsversuche für diesen Fragenkomplex nach dem jeweiligen Verständnis des Verhältnisses von Gesetz und Evangelium richten.

Zum vollen Verständnis muß man jedoch noch voraussetzen, daß der Mensch keineswegs einfach seine Macht aus einem höchsten Prinzip legitimiert und sich damit zufrieden gibt. Das wäre nicht viel mehr als die anthropomorphe Erhebung seines Selbst ins Absolut. Im Gegenteil: vor dem Angesichte des Höchsten — wie er ihn auch immer fasse — und mit dem vollen Anspruch, ihn zu vertreten, empfindet er doch auch diese Macht als usurpiert — obwohl er gar nicht anders kann, als so zu handeln und sein Handeln zu rechtfertigen. Die Existenz des Menschen in der Freiheit seines Abfalls ist als solche böse — und er weiß es, wenn er es sich auch nicht eingestehen will und wenn er auch mit keinem Mittel aus dem Zwang geschichtlichen Handelns heraustreten kann. Der Ausdruck dafür ist die Tatsache, daß er diese Macht mit allen Mitteln zu verbergen und verkleiden sucht, wie Adam sein Angesicht vor dem ihn rufenden Herrn.

Von da aus sind auch die geschichtlichen Lösungsversuche unseres Problems zu sehen. Sie liegen in zwei gegensätzlichen Richtungen. Der eine Lösungsversuch ist der römische, und ihm analog der liberale. Liberalismus ist rational-verebneter Katholizismus. Hier wird versucht, durch die Erfüllung des Gesetzes schrittweise das Problem der Macht einzuengen und zu bewältigen. Den guten und freien ethischen Willen nimmt im Katholizismus die Gnade ergänzend auf, sie vollendet die Natur. Im Liberalismus ist dieses transzendente Moment der Gnade ausgeschieden; das Vernunftgesetz bildet eine ungebrochene geschlossene Einheit. Je mehr alles Leben von Ethik, Gesetz und Vernunft fortschreitend durchdrungen wird, desto mehr wird ebenso fortschreitend der Erdenrest des Machtstrebens überwunden. Das dritte einem ontologisch-gesetzlichem Ansatze entsprungene System ist das des Bolschewismus. Dem entspricht auch die politische Organisation dieser Systeme. Im Katholizismus ist mit steigender Konsequenz alle geistliche Macht im Papste konzentriert und allen anderen Angehörigen der Kirche abgenommen worden. Einsam steht der Papst mit der Macht und der Last geschichtlicher Verantwortung Gott gegenüber. Der Liberalismus hat keinen Papst und verdeckt die Macht der esoterischen Kirche des Freimaurertums. Er unternimmt, alles

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dem formalen, prinzipiell der Sittlichkeit adäquaten Gesetz unterzuordnen. Kein Mensch hat Macht, sondern nur das Gesetz. Das gleiche liegt im Bolschewismus vor; nicht das formal-logische Gesetz, sondern das materiale Gesetz der ökonomischen Dialektik, das jede schöpferische Freiheit und jede Willkür ausschließt, herrscht hier und soll herrschen und vom Menschen nur bedient und vollzogen werden. Deswegen haben auch die Antipäpste Lenin und Stalin formell nicht die höchsten Ämter innegehabt, sondern standen und stehen auf ehrenvollen Seitenposten, um jeden Schein persönlicher Macht — wenn auch nur in der Theorie — auszuschließen und zu vermeiden. Der totalen juristischen Gesetzlichkeit des bürgerlichen Rechtsstaates tritt die totale Gesetzlichkeit der Ökonomie in vollendetem Umschlag gegenüber. Damit wird auch der Versuch totaler Gesetzlichkeit in der pol. Ger. durch eine ebenso totale Politisierung der Gerichtsbarkeit abgelöst. Mit der Ablösung des bürgerlichen Rechtshorizontes im Sinne von Karl Marx und der Aufhebung des Rechtsbegriffes überhaupt ist erst die Diktatur vollendet. Die sämtlichen faschistischen Systeme sind formal dem Katholizismus nachgebildet.

Diese Systeme unterliegen damit einer grundlegenden, aber sehr typischen Täuschung: der Inversion des rationalen Denkens. Nämlich nicht die Heiligung schafft die Voraussetzung der Gnade, die Befolgung der Vernunftgesetze die Freiheit, die ökonomische Dialektik die klassenlose Gesellschaft, sondern umgekehrt: die Gnade schafft die Heiligung, die Idee der Freiheit das System rationaler Gesetz, der geschichtliche Herrschaftswille des Proletariats in seiner ganzen brutalen Willkürlichkeit tilgt alle nichtproletarischen Lebensformen aus. Die allumfassende römische Kirche und der ebenso allumfassende Liberalismus des bürgerlichen Zeitalters leben mit allen ihren Institutionen, Gesetzen, Gewohnheiten, Besitztiteln und Ordnungen von der Kraft des über das Abendland ausgegossenen christlichen Glaubens, bzw. von der allgemeinen Anerkennung der Dogmen der Vernunft und des Fortschritts. Ebenso lebt der Bolschewismus von der Kraft des eschatologischen Glaubens des klassenbewußten Proletariats, das sich zum wahren Menschentum der Machtlosigkeit erwählt weiß.

Die genau umgekehrte Lösung des Machtproblems bieten die beiden protestantischen Konfessionen. Der Glaubende des Luthertums und der Erwählte des Calvinismus besitzen vom Evangelium her eine gesetzlich nicht einzuschränkende Freiheit des Handelns in der Welt. Aber kraft des Verhältnisses von Evangelium und Gesetz ist diese Freiheit, diese Macht, wiederum aufs stärkste gebunden im Luthertum in das irrationale geschichtliche Jetzt und Hier, im Calvinismus in das neue Gesetz, an dem es sich zu bewähren hat, in die Pflicht der gottgegebenen Chance, beide in der stärksten innerweltlichen Askese, die alle Macht nur als Dienst versteht, die den Genuß der Früchte des Schaffens verbietet und gerade dadurch die expansiven Kräfte entfaltet. Wird diese Dialektik aufgehoben, so endet man nicht wie der Katholizismus im Libertinismus, sondern im Naturalismus einerseits, im Perfektionismus andererseits. Auf dem Wege der Gesetzesethik biegt der Calvinismus im praktischen Ergebnis wieder in die römische Linie ein.

Auch die beiden protestantischen Lösungen sind universale und universalistische. Die lutherische Auffassung ist die eines irrationalen Universalismus. Ein großartiges Bewußtsein der Einheit und des Getragenseins alles Lebens in der Hand Gottes und daraus folgend ein Gefühl des Gleichgewichtes aller Dinge drückt sich darin aus. Der größte Geschichtsdenker dieser Anschauungen ist bei aller Verhaltenheit seines Ausdrucks wohl Ranke, ihr größter Staatsmann Bismarck mit seinem unendlich feinen Fingerspitzengefühl für Unwägbarkeiten, bezeichnenderweise aber weit überwiegend in der Außenpolitik.

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Die Ablehnung internationaler pol. Ger. auf der einen Seite und die unbefangene Bejahung innerstaatlicher pol. Ger. (Sozialistengesetz) bei Bismarck ist durchaus konsequent, aber auch für eine grundsätzliche Betrachtung sehr wichtig. Die gleiche Legitimation zur pol. Ger., die für internationale Beziehungen von ihm verneint wird, wird im nationalen Bereich ebenso unbedenklich bejaht. Gerade daraus zeigt sich, daß im Zuge dieser Auffassung politisches Handeln in der spezifischen Form der pol. Ger. sehr wohl gerichtet werden kann, daß es sich aber wirklich um die Frage der Legitimation dreht. Der Grundsatz der internationalen Gerichtshöfe, daß political affairs nicht judiziabel sind, findet seinen Grund nicht in der Struktur des Gegenstandes selbst, sondern allein im Mangel einer echten Souveränität. Mit dieser Feststellung fängt das Problem eigentlich erst an. Wenn das Handeln einer Nation oder ihrer Repräsentanten als freier nicht gerichtet werden kann, muß eigentlich auch das Handeln des einzelnen prinzipiell frei sein. Das führt letztlich mit der Privilegierung der Gesinnungstäterschaft zur Auflösung des Staates. Völker sind aber immer zugleich Gemeinschaften höchster Werte. Große reichsbildende Nationen sind solche, die ein besonderes eigenartiges Verständnis der letzten und höchsten Dinge zu entwickeln vermocht haben. Die Souveränität des Staates wird gerade dadurch bedingt und begrenzt, daß er eine Gemeinschaft der höchsten Güter ist. Die tatsächliche Schranke der Machtentfaltung liegt dort, wo die gleiche Einschränkung vom Gegner erwartet werden kann. Internationale pol. Ger. kann deshalb nur so weit theoretisch begründet werden, als die Gültigkeit gewisser Werte von allen Beteiligten einschließlich der zu Richtenden anerkannt wird. Es gibt kein Gericht ohne Rechtsgenossenschaft. Gerade dort also, wo diese Gemeinsamkeit prinzipiell, nicht nur faktisch durchbrochen und bestritten wird, kann eine internationale pol. Ger. nicht legitimiert sein. Wer sie trotzdem in Anspruch nimmt, spricht nicht Recht, sondern übt Macht aus mit allen Folgen und Verantwortlichkeiten der Machtausübung. Daß diese Macht subjektiv als unabhängig von der Anerkennung der Rechtsunterworfenen und als absolut bestehend in Anspruch genommen wird, entspringt dem religiösen Absolutheitscharakter dieser Dinge, gibt aber noch keine juristische Begründung für den, der an diesem Glauben keinen Teil hat. Die überspitzte Ausbildung nationaler Souveränitäten war ein Zwischenzustand zwischen dem corpus christianum und der Entstehung großer pseudoreligiöser Kultgemeinschaften, die in ihrem Bereich für eine Einschränkung innerer Streitigkeiten ebenso notwendig sorgen müssen, wie solchem Streit innerhalb der Christenheit sehr bestimmte Grenzen gezogen waren; insbesondere konnte Existenz und Unabhängigkeit einer christlichen Nation niemals grundsätzlich in Frage gestellt werden.

Jedes jener theologisch-philosophischen Systeme hat also seinen besonderen Ausdruck für die letzte Lösung des Machtproblems in der Form richterlicher Entscheidung, für das Problem der pol. Ger. gefunden, mag man nun einen höchsten Richter bestellen oder Gott die Entscheidung anheimstellen. Rechtsgeschichte ist Geschichte des Glaubens.

Gerade darum aber stehen diese Dinge unter einen letzten Wahrheitsfrage — an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen. Jene eigentümliche Umkehrung, der die rationalen Systeme verfallen, die ewige „Inversion des Rationalismus”, verführt zu dem Irrtum, man könne mit den Mitteln der Gerichtsbarkeit das halten, was doch aus dem Glauben allein lebt. Solange die Einheitlichkeit des christlichen Glaubens dem Prinzip nach unangefochten war, konnte man sich mit den Mitteln der Kirchenzucht und einer kirchlichen Gerichtsbarkeit von relativ beschränkter Ausdehnung begnügen. Das Entsprechende gilt für die Zeiten unbestrittener Gültigkeit bürgerlicher Ideale im 19. Jahrhundert. Hieraus erklärt sich die eingangs erwähnte tatsächliche

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Zurückdrängung des Phänomens der pol. Ger. in dieser Zeit. Als diese Werte aber erst einmal von Grund auf in Frage gestellt waren, half weder kirchliche Inquisition noch politische Gerichtsbarkeit mehr. Zehntausende von Scheiterhaufen, Millionen von Konzentrationslagerhäftlingen aller Richtungen vor und nach 1945, die ungeheuerlichsten Leiden einer gequälten und sich gegenseitig quälenden Menschheit schaffen die geistigen Tatsachen nicht mehr aus der Welt, die jene Spaltungen hervorgebracht haben, und damit diese selbst. Sie kündigen zusammen mit zerstörenden Religionskriegen lediglich das Ende geschichtlicher Epochen an. Gerade Faschismus und Bolschewismus sind gewaltsame Versuche, diese Einheit mit politischen Mitteln künstlich wieder herzustellen, und die Westmächte sind diesem Denken weitgehend erlegen. Genau so unbefangen wie die Territorialfürsten des 16. und 17. Jahrhunderts das jus reformandi, das Recht, den Glauben in ihrem Lande zu bestimmen, nehmen die Mächte von heute in Ost und West in Anspruch, die gültige politisch Lehre zu bestimmen und zwangsweise durchzusetzen.

Aber auch der lutherische Ansatz kann, das ist das ernste Erlebnis der Gegenwart, zur Flucht vor der Verantwortung der Macht werden. Die Bindung der Freiheit in den Dienst an der Welt, die Verabsolutierung des Dienstgedankens in einem entleerten und sogar dämonisierten Apparat führt zum gleichen Ausweichen wie die katholischen Denksysteme.

Daraus ergibt sich eine neue Lage. Der lutherische und deutsche Protest — was nicht dasselbe ist — gegen den Versuch einer universalen Weltgerichtsbarkeit steht nicht allein da. Der einzige Ort, wo das Problem der Macht nicht geleugnet, sondern in seiner ganzen Gefährlichkeit offen gesehen wird, ist heute das Papsttum. Eine Macht, die mit voller Überzeugung das Richt zu binden und zu lösen in Anspruch nimmt, muß allen Versuchen kritisch gegenüberstehen, die nur aus einer weltlichen Eschatologie zu begründen sind. Dies ist auch deutlich hervorgetreten. Die Männer jedoch, die 1919 vergeblich Kriegsverbrecherprozesse vorbereiteten, und diejenigen, die sie 1945 durchführten, wußten gut genug, daß es sich um quasi-justiziarische Verfahren handeln konnte, und sprachen das auch aus. Damit aber war der Absolutheitsanspruch bereits preisgegeben. Es lohnt sehr, diese lehrreichen Geständnisse festzuhalten.