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3. Die Bedeutung des Staates für die Kirche

Man hat zur Beleuchtung des Gegenübers von Kirche und Staat mit Recht Gewicht darauf gelegt, daß das πολίτευμα oder die πόλις der Christen nicht in der Gegenwart, sondern im neuen Äon, nicht hier auf Erden, sondern dort im Himmel, zu suchen und zu finden ist. Phil. 3, 20; Hebr. 11, 10, 13-16; 12, 22; 13, 14 ist davon in eindrucksvoller Weise die Rede. Und Apc. 21 wird diese πόλις der Christen, mit ihren Mauern, Toren, Straßen und Grundsteinen ausgemessen und dargestellt: „die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott her aus dem Himmel herabkommend, gerüstet wie eine Braut, die für ihren Mann geschmückt ist” (v 2). In dieser Stadt wird bezeichnenderweise der Tempel fehlen: „Denn der Herr, der allmächtige Gott, ist ihr Tempel und das Lamm” (v 22). Dafür heißt es von ihr: „Die Völker werden in ihrem Licht wandeln und die Könige der Erde bringen ihre Herrlichkeit in sie. Und ihre Tore werden nicht geschlossen werden am Tage — denn dort wird es keine Nacht geben — und man wird die Herrlichkeit und die Pracht der Völker in sie bringen. Und nicht wird irgend etwas Unreines in sie eingehen, noch wer Greuel übt”, sondern nur die, „welche im Lebensbuch des Lammes geschrieben stehen” (v 24-27). Man wird hier vor allem betonen müssen, daß es sich bei dieser künftigen πόλις, in der die Christen doch jetzt und hier schon, ohne sie schon bewohnen zu können, ihre Bürgerrecht haben, nicht um einen idealen, sondern um einen realen, ja sogar um den allein realen, nicht um einen gedachten, sondern um den allein wahrhaft seienden Staat handelt. Und eben dies, daß sie in diesem, dem realen Staat Bürgerrecht haben, macht die Christen im Staat oder in den Staaten dieser Zeit und Erde zu jenen Gästen und Beisaßen. Eben dies und also ihr Glaube und ihre Hoffnung — nicht etwa der Blick auf die Unvollkommenheit oder auch Verkehrtheit der Staaten dieser Zeit und Erde! Es ist kein Ressentiment, sondern ein positives Pathos, von dem erfüllt sie im Unterschied zu den Nicht-Christen wissen, daß sie hier keine „bleibende Stadt” haben (Hebr. 13, 14). Weil er sich „bewacht” weiß durch den Frieden Gotts, der höher ist als alle Vernunft (Phil. 4, 7), darum — und nicht wegen irgendwelcher direkter Bedenken

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— kann die Pax Romana einem Paulus „nicht als ein Allerletztes” imponieren25). Weil die Heiligen die Welt richten werden, darum — und nicht wegen einer besonderen Schlechtigkeit der korinthischen Gerichte — sollen die Christen nach 1. Kor. 6, 1-6 fähig dazu sein, in bestimmten Grenzen auf die Anrufung der staatlichen Gesetze und Gerichtsbehörden verzichten zu können. Es ist der gewaltig hereinbrechende neue Äon, dessen Hoffnung die Kirche vom Staate, nämlich vom Staate dieser Zeit und Erde trennt. Es fragt sich nur, ob nicht gerade diese Hoffnung sie auch in eigentümlicher Weise mit jenem verbindet. Nach H. Schlier26), der diese Frage mit Recht bejaht, wäre diese Verbindung nun freilich die folgende: „Wer das menschliche Leben im Glauben eingeordnet und eingebaut sieht in die von Gott bereitete Welt ... der wird in dem Anspruch der faktischen irdischen Bindungen, in denen der Mensch vorkommt, und in dem Anspruch auch der übergreifendsten Bindung, des Staates, den Willen Gottes hören und in ihm von Gott geschaffene Bindungen sehen ... In dem eschatologischen Wissen um das faktische Ende der Welt meldet sich die gegenwärtige Welt in ihrem eigentlichen und wahren Charakter als Schöpfung Gottes zu Wort”. Dazu möchte ich fragen: Ob sich das Neue Testament etwa irgendwo für „die gegenwärtige Welt in ihrem eigentlichen und wahren Charakter als Schöpfung Gottes” anders als in der Weise interessiert, daß es sie als in Christus begründet, zusammengefaßt und wiederhergestellt findet? Sollte dann aber bei dem Aufweis jener Verbindung nicht besser entscheidend von vorne, von dem kommenden Äon, von Christus, statt von hinten, d.h. in abstracto von der Schöpfung und ihren angeblich göttlichen Bindungen her gedacht werden müssen?

Eines geschieht ja im Neuen Testament ganz unzweifelhaft, und das ist die Bezeichnung der Ordnung gerade des neuen Äons als einer politischen Ordnung. Wir gedenken der für seine neutestamentliche Charakterisierung so wichtigen Benennung als βασιλεἰα τοῦ θεοῦ oder τῶν οὐρανῶν und der wahrlich ebenfalls politischen Würdetitel des Königs dieses Reiches: Messias und Kyrios. Und wir entnehmen aus Apc. 21: nicht etwa die reale ἐκκλησία sondern gerade die reale πόλις ist


25) Vgl. K.L. Schmidt, a.a.O. Sp. 8.
26) Die Beurteilung des Staates, a.a.O. S. 320.

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die Verfassung des neuen Äon. Oder anders ausgedrückt: nicht in einem himmlischen Spiegelbild ihrer eigenen Existenz, sondern gerade in dem realen himmlischen Staat sieht die reale irdische Kirche ihre Zukunft und Hoffnung. Indem sie jetzt und hier die Rechtfertigung der Sünder durch das Blut des Lammes glaubt und verkündigt, sieht sie vor sich „von Gott her aus dem Himmel herabkommend” die Stadt des ewigen Rechtes, in der es keine Übertreter gibt und deren Tore nicht verschlossen zu werden brauchen, die aber auch keines Tempels bedarf, weil dasselbe Lamm ihr Tempel sein wird. Und diese Stadt wird ja nicht einfach auf den Trümmern der vernichteten Herrlichkeit der Völker und Könige dieser Erde ihrem Bestand haben, sondern es wird diese ganze irdische Herrlichkeit nachträglich gleichsam als Tribut in sie eingeliefert werden. Könnte die Kirche der Rechtfertigung dem Staate des Rechts eigentlich eine höhere Schätzung zuteil werden lassen, als indem sie gerade in ihm, nämlich in seiner himmlischen Realität, in deren Licht dann nachträglich doch auch sein irdisches Wesen zu stehen kommt, das entscheidende Prädikat ihres eigenen Hoffnungsgutes sieht? Eine Vergötterung des Staates ist von da aus offenbar unmöglich: nicht darum, weil es eine Göttlichkeit des Staates nicht gäbe, wohl aber weil sie die Göttlichkeit des himmlischen Jerusalem ist und als solche dem irdischen Staat nicht zukommen kann. Unmöglich ist aber von da aus auch das Gegenstück solcher Vergötterung, das gewissermaßen in einer Verteufelung des Staates bestehen würde. Es geht nicht einmal an, die civitas terrena, wie Augustin es gerne tat, so ohne weiteres als die civitas Cain zu verstehen. Nicht weil ihre Vertreter, Träger und Bürger sie davor schützen könnten, zum Staate Kains oder auch des Teufels tatsächlich zu werden, wohl aber weil auch das himmlische Jerusalem ein Staat ist und jeder, auch der schlechteste und verkehrteste irdische Staat darin seine unverlierbare Bestimmung hat, dereinst zu der Herrlichkeit des himmlischen Jerusalems beizutragen, so oder so seinen Tribut dorthin zu bringen.

Man versteht von hier aus zunächst zwei Stellen aus dem Epheserbrief, in welchen der Verfasser — obwohl ihm doch das Wort von dem Reich Christi, das nicht von dieser Welt ist, wenn nicht im Wortlaut, so doch der Sache nach bekannt sein

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mußte — kein Bedenken trägt, die Kirche (in einem Zusammenhang, in welchem er jedenfalls auch auf ihre irdisch-zeitliche Wirklichkeit blickt) selber als die πολιτεία τοῦ Ισραήλ (Eph. 2, 12) und nachher ihre Glieder (in ausdrücklicher Gegensatz zu ihrem vergangenen Sein als ξένοι καὶ πάροικιοι) als συμπολῖται τῶν ἁγίων (Eph. 2, 19) zu bezeichnen. Es braucht kein Wort darüber verloren zu werden, daß diese „Politisierung” nun auch der irdischen Kirche als eine Politisierung von oben, vom Eschaton her, ihre Fremdlingschaft in diesem Äon und also auch dem irdischen Staat gegenüber weder aufhebt noch auch nur berührt. Merkwürdig und wichtig bleibt es darum doch, daß sich alles auf einmal auch in der Weise umkehren kann, daß die sonst für die Christen so bezeichnenden Begriffe „Fremdlinge und Beisassen” auch zur Bezeichnung gerade der noch nicht zur Kirche Gehörigen und daß gerade der für den antiken Staat so bezeichnenden Begriff der πολιτεία auch zum Prädikat der Kirche auf Erden werden kann. Man wird auch von hier aus die Frage unterstreichen müssen: ob der Einwand der Christen gegen den irdischen Staat und ob das Bewußtsein ihrer eigenen Fremdlingschaft in diesem Staat nicht entscheidend dies bedeutete, daß er ihnen, die um den eigentlichen Staat im Himmel wußten, viel zu wenig (und nicht etwa allzusehr!) Staat gewesen ist? Oder positiv: ob sie in der Botschaft von der göttlichen Rechtfertigung (auf dem Umweg über die himmlische Hoffnung der Gerechtfertigten) nicht etwa den Gründen und Ursprüngen des irdischen Staates gegenüber die unendlich viel bessere, die eigentliche und allein wirkliche Quelle und Norm gerade alles menschlichen Rechtes auch in diesem Äon gesehen haben? Der Wunsch oder Ratschlag des Paulus 1. Kor. 6, 1-6, der ja deutlich auf so etwas wie eine eigene Gerichtsbarkeit in der Gemeinde hinzielt und in welchem jene Umkehrung offenbar sichtbar wird, wäre ohne diese Sicht der Dinge nicht verständlich.

Es ist wesentlich, daß es zu dieser Andeutung — man möchte fast sagen: zu dieser Prophetie — kommen muß: daß die Predigt der Rechtfertigung als Predigt vom Reiche Gottes schon jetzt und hier das wahre Recht, den wahren Staat, begründet. Es ist aber ebenso wesentlich, daß es bei dieser Andeutung oder Prophetie als solcher bleibt, daß die Kirche auf

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Erden nicht etwa dazu übergeht, sich selbst als solche mit den Prädikaten des himmlischen Staates auszustatten und sich so dem irdischen Staat konkret als der wahre Staat gegenüberzustellen bezw. überzuordnen. Daß sie das tun könne und solle, kann die Meinung auch von Eph. 2 und 1 Kor. 6 darum nicht sein, weil der himmlische Staat für das Neue Testament streng und exklusiv der himmlische, der nicht von Menschen, sondern von Gott aufgerichtete Staat ist und bleibt, der als solcher keiner Verwirklichung innerhalb dieses Äons, auch nicht in der Kirche, fähig ist. Es war die Anschauung einer späteren Zeit, aus der heraus Clemens Alexandrinus27) die vom Logos gelenkte Kirche als uneroberte, von keiner Willkür unterjochte, ja mit dem „Willen Gottes auf Erden wie im Himmel” identische irdische Stadt feiern und aus der heraus Augustin28) den stolzen Satz schreiben konnte: Vera iustitia non est nisi in ea republica, cuius conditor rectorque Christus est. Es dürfte dem gegenüber kein Zufall sein, daß etwa der Verfasser des Hebräerbriefs oder der des 1. Petrusbriefs es unterlassen haben, die in dieser Zeit und Welt heimatlosen Christen damit zu trösten, daß sie immerhin in der Kirche eine Heimat jetzt und hier schon hätten. Es bleibt vielmehr dabei, daß sie hier keine bleibende Stadt haben und daß die irdische Kirche dem irdischen Staat als παροικία und nicht als ein Staat im Staate oder gar als Staat über dem Staat gegenübersteht, wie es später der Anspruch der römischen Papstkirche, aber auch der aller grober und feiner Schwärmereien geworden ist.

Aber — und das haben wir zunächst aus Eph. 2 und 1. Kor. 6 zu lernen — eben diese παροικία als solche wartet offenbar nicht beziehungslos, nicht umsonst auf die künftige Polis, denn was geschieht in dieser παροικία? Wir dürfen (ein wenig vereinfachend, aber sicher nicht fälschend) antworten: hier geschieht die Predigt von der Rechtfertigung und in ihr bestätigt diese παροικία ihre Hoffnung auf die künftige Polis. In ihr — d.h. in der Verkündigung, daß Gott sich des sündigen Menschen in der Person des Messias Jesus aus lauter Gnade ein für allemal angenommen, seine Sünde und seinen Tod zu seiner eigenen


27) Strom. IV 171, 2.
28) De civ. Dei II 21.

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Sache gemacht und damit diesen Menschen nicht nur freigesprochen, sondern für das ihm verlorene Leben freigemacht hat für Zeit und Ewigkeit. Was die παροικία glaubt, ist schlechterdings nur die Wirklichkeit dieses Sachverhalts. Und was sie hofft, ist schlechterdings nur die Enthüllung dieses wirklichen, aber jetzt und hier noch verborgenen Sachverhaltes. Man bemerke: nicht etwa der Mensch oder die Menschheit, sondern das Lamm, der Messias Jesus ist der Mann, für den jene Braut, die himmlische Polis, gerüstet und geschmückt ist. Er, seine Gegenwart, und zwar eben seine Gegenwart als die des erwürgten Lammes, macht sie zu dem, was sie ist: zu der Stadt des ewigen Rechtes. Sein Recht — wir befinden uns hier ganz anderswo als in jener „eigentlichen” (κυρίως) Polis der Stoiker, auf die sich Clem. Alex. an jener Stelle bezieht — das in seinem Tod erworbene und in seiner Auferstehung proklamierte Recht Jesu Christi ist dieses ewige Recht. Und dieses ewige Recht Jesu Christi ist der Inhalt der Rechtfertigungsbotschaft, die jetzt und hier die Aufgabe der Kirche ist. Die Kirche kann die Enthüllung dieses ewigen Rechtes nicht vollziehen, weder an ihren eigenen Gliedern, noch an der Welt. Sie kann die „Hochzeit des Lammes” (Apc. 19, 7) nicht vorwegnehmen, nicht in diesem Äon feiern wollen. Sie kann und soll sie aber ankündigen.

Und sie kann und soll sie — damit kommen wir weiter, wirklich auch der Welt verkündigen. Es lohnt sich, darauf zu achten, daß gerade in allen direkt mit unserem Problem beschäftigten Epistelstellen ein ganz eigentümliches und auf den ersten Blick auch immer etwas befremdliches Fensteraufreißen nach dieser Seite stattfindet, sofern das in ihnen von den Christen geforderte Verhalten zum Staat überall in den Zusammenhang ihres Verhaltens zu allen Menschen gerückt wird. „Leistet Allen, was ihr ihnen schuldig seid! ... Bleibt niemandem etwas schuldig — außer (dem, was ihr wesensmäßig nur in der Gemeinde selbst erfüllen könnt) der gegenseitigen Liebe!” (Röm. 13, 7-8). Sie sollen „Bitten, Gebete, Fürbitten und Danksagungen darbringen für alle Menschen” lesen wir 1. Tim. 2, 1 vor — und: „Erweiset Sanftmut gegen alle Menschen” lesen wir Tit. 3, 2 hinten dem Wort über die Obrigkeit. Endlich ist 1. Petr. 2, 13 wiederum zunächst von der πᾶσα ἀνθρωπίνη κτίσις die Rede und nachher v 17, wieder in

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die Weite gehend (auch hier von dem ἀγαπᾶτε ἀδελφότητα deutlich unterschieden): πἀντας τιμήσατε. Was bedeutet das? Das bedeutet nach de, wie mir scheint, unzweideutigen Zusammenhang 1. Tim. 2, 1-7 folgendes: Wir haben darum wie für alle Menschen, so insbesondere für die Könige und alle in obrigkeitlicher Stellung Befindlichen zu beten, weil wir nur unter der Voraussetzung, daß es solche gibt, „ein ruhiges und stilles Leben führen können in aller Frömmigkeit und Ehrbarkeit”. Warum ist es nötig, daß wir ein solches Leben führen können? Ist es richtig29), an dieser Stelle das Wort „bürgerlich” einzuschalten und also die Christen letztlich um die Erhaltung irgend eines Weide-Glücks beten zu lassen? Die Fortsetzung lautet doch ganz klar: „denn dies — offenbar die Möglichkeit dieses „unseres ruhigen und stillen Lebens” — ist gut und angenehm vor Gott, unserem Erretter, der will, daß alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen. Denn es ist ein Gott, es ist auch ein Mittler zwischen Gott und den Menschen, der Mensch Christus Jesus, der sich selbst als Lösegeld für Alle gegeben hat und das Zeugnis für bestimmte Zeiten, für die ich als Herold und Apostel bestimmt bin”. Also: das „ruhige und stille Leben” unter dem Regiment des Staates, um deswillen nach dieser Stelle für die Staatsmänner gebetet werden soll, ist gerade kein selbstzweck, wie die Existenz der Gemeinde in ihrer Unterscheidung von allen anderen Menschen, überhaupt kein Selbstzweck sein kann. Es ist der Herold und Apostel, der jenes „ruhigen und stillen Lebens” bedarf, und nicht im Dienst eines allgemeinen Schöpfer- und Erhaltergottes steht dieser Apostel und stehen mit ihm die, mit denen er sich hier zusammenschließt, sondern er wie sie im Dienst des θεὸς σωτήρ, der will, daß alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen, der der eine Gott ist in dem einen Mittler, der sich für Alle dahingegeben. Wozu bedarf die Gemeinde eines „ruhigen und stillen Leben”? Sie bedarf seiner, weil sie in ihrer Weise und an ihrem Ort ebenfalls κῆρυξ καὶ ἀπόστολος für Alle und weil sie zur Ausübung dieser ihrer wesensmäßig alle Menschen angehenden Funktion des Raumes, der Freiheit im Bereich aller


29) Mit H. Schlier, Die Beurteilung des Staates, a.a.O., S. 325.

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Menschen bedarf. Diese Freiheit kann ihr aber nur garantiert werden durch die Existenz der das Zusammenleben aller Menschen ordnenden irdischen Polis. Wird die Unterwerfung unter die bürgerliche Rechtsordnung nicht auch 1. Petr. 2, 15f. damit begründet: es sei der Wille Gottes, daß sich die Christen als die von Rechts wegen als ἀγαθοποιοῦντες Anerkannten die Unwissenheit der törichten Menschen zum Schweigen zu bringen hätten: — als Freie, die doch aus dieser ihnen durch die Polis garantierten Freiheit nicht einen Vorwand zur κακία, d.h. zum Rückfall in die Linien dieses Äons machen werden, sondern in dieser Freiheit als Diener Gottes? Weil dem so ist, daß diese Freiheit der ἐκκλησία nur durch die Polis garantiert werden kann, darum kann es nun wieder nicht anders sein, als daß die Gemeinde ihrerseits durch ihr Gebet die Existenz der irdischen Polis garantieren muß. Daß diese gegenseitige Garantie grundsätzlich nur eine vorläufige sein, d.h. daß sie sich ihrem Wesen gemäß nur auf diese Zeit und Welt erstrecken, daß der Staat der Kirche die von ihr geforderte Garantie nur mangelhaft leisten oder auch überhaupt verweigern, daß endlich die Kirche irgend eine Garantie hinsichtlich der Geltung und Wirkung ihrer Botschaft vom Staate nicht verlangen kann noch darf, das Alles ändert nichts daran, daß die dem Staate von der Kirche gebotene Garantie eine schlechterdings ernsthafte ist und darum auch ihren Gliedern nicht ernst genug ans Herz gelegt werden kann. Das Gebet für die Träger der Staatsgewalt gehört zum eisernen Bestand ihrer eigenen Existenz. Sie wäre nicht Kirche, wenn sie an dieser apostolischen Mahnung vorüberginge. Sie müßte dann vergessen haben, daß sie die allen Menschen verheißene Rechtfertigung zu verkündigen hat.

In der 1. Tim. 2 gewiesenen Richtung, d.h. in der Richtung auf diese gegenseitige Garantie, ist aber bestimmt auch die Loyalitätsforderung der anderen hierher gehörigen Epistelstellen zu verstehen. Tit. 3, 1-8 wird sie, erstaunlich genug, mit der Wiedergeburt durch die Taufe und den Heiligen Geist in Zusammenhang gebracht. Das ist dann nicht erstaunlich, wenn die nach v 2 durch die Gnade Jesu Christi Gerechtgesprochenen und künftigen Erben des ewigen Lebens das Alles nicht für sich,

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sondern in der Kirche und als Glieder der Kirche für alle Menschen haben, und also nicht für sich, wohl aber für das Wort der Kirche Freiheit und also menschliches Recht nötig und also dessen Träger und Vertreter zu respektieren haben. Und lesen wir Röm. 13, 3-4 und 1. Petr. 2, 14, es sei der Obrigkeit darum Gehorsam zu leisten, weil es ihr Amt sei, die Guten zu belohnen, die Bösen zu bestrafen, so scheint es mir eine im Context beider Briefe ganz unmögliche Auslegung, die Verfasser allgemein und neutral von einem unter die staatliche Justiz fallenden allgemeinen und neutralen Guten und Bösen reden zu lassen. Warum sollten nicht beide Verfasser nach dem Gebrauch, den sie sonst von diesen Begriffen machen, die Christen aufgefordert haben, das gute Werk ihres Glaubens zu tun, in dessen Verrichtung sie im Unterschied zu den κακὸν ποιοῦντες die Staatsgewalt auf keinen Fall zu fürchten haben, in dessen Verrichtung sie vielmehr von diesem Ehre empfangen werden? Warum sollen nicht beide Verfasser zunächst an jene dem Pilatus so klar zugesprochen ἐξουσία, Jesus freizulassen oder zu kreuzigen gedacht, warum sollen sie die Christen nicht hinsichtlich des Staates zunächst auf dessen bessere, d.h. eigentliche Möglichkeit, auf die Möglichkeit des von ihm den „Guten”, d.h. der Kirche gewährten Rechtsschutzes (auf die Möglichkeit eines „Konkordates”!) hingewiesen und sie im Blick auf diese Möglichkeit zu jener Unterordnung aufgefordert haben? Daß der Staat faktisch von der anderen Möglichkeit Gebrauch machen, daß er faktisch die Bösen ehren, die Guten strafen könnte, das mag sein, das kann aber an seiner Sendung und damit an der Begründung des christlichen Verhaltens ihm gegenüber und damit an diesem selbst nichts ändern. Wenn überhaupt, so wird er eben durch das trotzdem bewährte christliche Verhalten zu seiner Sendung und damit zu seiner eigenen echten Möglichkeit zurückgerufen werden. Und er wird, auch wenn es dazu nicht oder noch nicht kommt, auch im Gebrauch jener anderen Möglichkeit seiner göttlichen Einsetzung dennoch Genüge leisten, die Kirche erst recht, wenn auch ganz anders, garantieren müssen! Die ihr vom Staat erwiesene Ehre wird dann in dem im 1. Petrusbrief geschilderten Leiden in der Nachfolge Christi — und die Strafe der κακοί wird dann darin bestehen, daß ihnen

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die Herrlichkeit dieses Leidens vorenthalten wird. Der Staat wird also so oder so der göttlichen Rechtfertigung dienen müssen.

Es ist ohne weiteres deutlich, daß die Kirche in und mit dieser starken Beziehung ihrer Existenz zu der des Staates nicht selber Stat und daß umgekehrt der Staat nicht selber Kirche werden kann. Auch die Kirche wendet sich zwar höchst grundsätzlich an alle Menschen; sie tut es aber mit dem Wort ihrer Verkündigung und sie ruft zum Glauben; sie sammelt sich also in Form von freien Entscheidungen, hinter denen Gott noch ganz anders freies Erwählen steht und sie wird in diesem Äon niemals damit rechnen, alle Menschen in sich versammelt zu haben. Sie muß es vertrauensvoll ihrem Gott überlassen, so oder so dennoch der eine Gott aller Menschen zu sein. Der Staat aber hat immer schon alle in seinem Bereich lebenden Menschen in sich versammelt und hält sie als solche zusammen durch seine mit Gewalt ausgerichtete und aufrecht erhaltene Ordnung. Der Staat als Staat weiß nichts von Geist, nichts von Liebe, nichts von Vergebung. Der Staat trägt das Schwert und er trägt es gerade in jenem Röm. 13 vorgesehenen besten Fall nicht umsonst. Auch er muß es wohl Gott überlassen, wie den Menschen auch noch anders als eben durch das durch die Gewalt bestätigte Recht geholfen werden könnte. Er müßte sich selbst aufgeben, wenn er Kirche werden wollte und die Kirche kann es um ihrer selbst, nein, um ihres Auftrages willen, nicht wünschen, daß er aufhörte, der Staat zu sein. Er kann ja gar nicht wahre Kirche werden. Er könnte, wenn er das Wahnsinnige wagte, nur eine Götzenkirche werden. Und erst recht müßte die Kirche sich selbst aufgeben, wollte sie Staat werden und also durch Gewalt Recht setzen, wo es ihre Aufgabe ist, die Rechtfertigung zu verkündigen. Sie könnte nicht wahrer Staat, sie könnt nur Pfaffenstaat werden, mit bösem Gewissen wegen ihrer vernachlässigten Aufgabe, untüchtig dazu, auf dem ihr fremden Boden Allen gerecht zu werden, wie es des Staates Sache sein muß.

Dieses Verhältnis schließt nun aber nicht aus, sonder ein, daß das Problem der Polis, nämlich das Problem des Rechtes sich auch auf dem Boden der irdischen ἐκκλησία stellt und beantwortet sein will. Jene Wendungen in Eph. 2 sind keine leeren Floskeln, sondern beziehen sich konkret darauf, daß es in

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der Kirche selbst — jene starke Beziehung, in der sie zum irdischen Staate steht, macht sich jetzt geltend — auch so etwas (ich wähle absichtlich einen unbestimmten Ausdruck, weil es der Sache entspricht) wie eine πολιτεία gibt und geben muß: Ämter und Ordnungen, Arbeitsteilungen und Gemeinschaftsformen. Kirchenrecht nennt man diese Sache und es war bekanntlich Rud. Sohm, der in dem Entstehen von Kirchenrecht, das nach ihm erst im 2. Jahrhundert stattgefunden hätte, den großen Sündenfall der alten Kirche gesehen hat. Aber die vom freien Geist heute so und morgen so, hier so und dort so bewegte christliche Gemeinde des 1. Jahrhunderts, wie Sohm sie sich vorstellte, hat wirklich nie existiert. Einen kirchlichen Grundsatz würde man jedenfalls nur zugleich mit der Auferstehung Christi und damit mit der Mitte des ganzen Neuen Testaments in Abrede stellen können: die Autorität des Apostolates, und aus diesem einen ergaben sich von Anfang an viele, in Freiheit gewiß, aber in der Freiheit des Wortes Gottes und nicht in irgend einer anderen Freiheit. Das Wort des Paulus (1. Kor. 14, 33) von dem Gott, der kein Gott der Unordnung, sondern des Friedens ist und überhaupt der Zusammenhang 1. Kor. 12-14 dürfte hier bezeichnend sein. Wie könnte die Kirche vom Staate Recht erwarten und sich zugleich dem Rechte selber verschließen? Wie sollte und wie soll sie der ihr aufgetragenen Lehre leben und sich der Sorge für die die Lehre schützende Ordnung in ihrem eigenen Raume etwa entschlagen können? Mehr als „auch so etwas” wie eine πολιτεία, nämlich eine mit der für den Staat bezeichnenden Zwangsmitteln arbeitende Rechtsgemeinschaft, ist die Kirche der ersten Zeit freilich nicht gewesen und hat sie später nur zu ihrem Urteil werden können. Kirchliche Autorität ist geistliche, d.h. mit dem Zeugnis des Heiligen Geistes rechnende Autorität. Ist sie darum weniger strenge, ist sie nicht gerade so die strengste Autorität? Gab es jemals eine zwingendere Rechtsordnung als die, die wir in den Briefen der Apostel vorausgesetzt und gehandhabt sehen?

Aber die andere Seite der Sache ist in unserem Zusammenhang noch bemerkenswerter: Das so gegensätzliche Verhältnis von Kirche und Staat schließt nun doch auch das nicht aus sondern ein, daß das Neue Testament, wenn man genau zusieht, die Ordnung des Staates und ihre Respektierung keineswegs als

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eine das Leben der christlichen Gemeinde nur von außen berührende Frage, sondern irgendwie (ich wähle wieder absichtlich den unbestimmten Ausdruck) als die Frage einer Art da draußen in der Welt aufgerichteten Annexes und Außenpostens des christlichen Gemeindelebens selbst behandelt und insofern gewissermaßen in die Ordnung der Gemeinde als solche einbezogen hat. Der gewissen notwendigen Politisierung der Kirche selbst entspricht ebenso notwendig eine gewisse Verkirchlichung, in der von der Kirche aus der Staat gesehen, gewürdigt und angeredet wird. Es gab wohl zu allen Zeiten Formen gerade eines Staatskirchentums, die wenigstens in dieser Hinsicht von dem neutestamentlichen Bild der dinge viel weniger weit entfernt waren als es auf den ersten Blick erscheinen möchte. Man beachte, wie die Mahnung bezüglich des Staates Röm. 13 wirklich schon im Zusammenhang gesehen unmöglich eine naturrechtliche Sonderbelehrung sein kann, weil sie förmlich eingebettet ist in eine Reihe von Zusprüchen, die alle die christliche Existenz als solche zur Voraussetzung und zum Ziel haben. Sie steht im 1. Timotheusbrief an der Spitze einer Reihe von Mahnungen, die sich auf das Verhalten von Mann und Frau im Gottesdienst, auf das Bischofsamt, auf das Diakonenamt beziehen. Sie steht im Titusbrief am Ende und im 1. Petrusbrief wieder am Anfang einer ähnlichen Reihe. Das für den Imperativ dieser Mahnung so bezeichnende Verbum ὑποτάσσεσθαι (Röm. 13, 1; Tit. 3, 1; 1. Petr. 2, 13) ist nicht nur dasselbe, das Tit. 2, 9; 1. Petr. 2, 18 auf das Verhalten der christlichen Sklaven gegenüber ihren Herren, sondern das Kol. 3, 18; Eph. 5, 22; Tit. 2, 5; 1 Petr. 3, 1, 5 auch auf das der Frauen gegen die Männer, das 1. Petr. 5, 5 auf das der Jüngeren gegen die Ältesten in der Gemeinde, das Eph. 5, 21, 1. Petr. 5, 5 (?) auf das der Christen untereinander im allgemeinen angewendet wird. Wie kommen die ἐξουσίαι ὑπερεχούσαι, die ἄρχοντες, wie kommen der βασιλεύς und seine ἡγεμόνες in diese Gesellschaft? Folgt daraus, daß sie sich in dieser Gesellschaft befinden, nicht deutlich, daß wir uns im Zug einer spezifisch christlichen Mahnung befinden, daß die Obrigkeit und die Stellung zu ihr auf einmal gewissermaßen hereingenommen ist in den Zug der Ordnungen, in denen die Christen ihre ὑποταγή Gott und zwar dem in Jesus Christus offenbaren Gott gegenüber zu betätigen haben? Und was soll man eigentlich

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dazu sagen, daß die staatliche ἐξουσία Röm. 13, 4 als θεοῦ διάκονος und Röm. 13, 6 die Staatsbeamten mit ihren verschiedenen Forderung an das Publikum als λειτουργοὶ θεοῦ30) bezeichnet werden? Wie kommen sie zu diesen sakralen Namen? Das sie „irgendwie” tatsächlich in der sakralen Ordnung stehen, nicht als membra praecipua, wie man später viel zu servil sagte, wohl aber als ministri extraordinarii ecclesiae, das scheint mir deutlich zu sein.

Das von der himmlischen Polis auf die irdische Ecclesia herabfallende reflektiert sich in einem von der irdischen Ecclesia auf die irdische Polis hinüberfallenden Licht, in der beschriebenen zwischen beiden stattfindenden Wechselbeziehung. Wenn die Frage, wie diese Wechselbestimmung zu erklären ist, durch 1. Tim. 2 im Zusammenhang mit Apc. 21 nicht tatsächlich erklärt sein sollte, dann müßte eben eine bessere Erklärung gesucht werden. Das Phänomen als solches kann nicht gut in Abrede gestellt werden.


30) Röm. 15, 16 hat Paulus sich selbst als λειτουργὸν Ἰησοῦ Χριστοῦ εἰς τά ἔθνη bezeichnet, Phil. 2, 25 seinen Mitarbeiter Epaphroditus; Hebr. 1, 2 tragen die Engel Gottes diesen Namen und Hebr. 8, 2 Christus selber!