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Die Überschrift „Rechtfertigung und Recht” hat die Bedeutung eines Stich- und Merkwortes für die in diesen zwei Worten nur angedeutete Frage, mit der ich mich in dieser Arbeit beschäftigen möchte.
Die Frage lautet zunächst: Gibt es eine Beziehung zwischen der Wirklichkeit der von Gott in Jesus Christus ein für allemal vollzogenen Rechtfertigung des Sünders allein durch den Glauben und dem Problem des menschlichen Rechtes: eine innere, eine notwendige, eine solche Beziehung, durch die mit der göttlichen Rechtfertigung auch das menschliche Recht in irgend einem Sinn zum Gegenstand des christlichen Glaubens und der christlichen Verantwortung und damit auch des christlichen Bekenntnis wird? Aber wir können offenbar dasselbe sofort auch unter Einsetzung anderer Begriffe Fragen: Gehört das Problem der Ordnung, die nicht mehr oder noch nicht die des Reiches Gottes, das Problem des Friedens, der nicht mehr oder noch nicht der ewige Gottesfriede, das Problem der Freiheit, die nicht mehr oder noch nicht die Freiheit der Kinder Gottes ist — gehört das Alles mit hinein in den Bereich der Wirklichkeit der neuen Zeugung der Menschen durch Gottes Wort, in die Wirklichkeit seiner Heiligung durch den Geist? Gibt es bei aller Verschiedenheit in irgend einer inneren und notwendigen Zugehörigkeit neben dem etwa Jak. 1, 27 bezeichneten Gottesdienst der christlichen Existenz und außer und neben dem, was wir als den „Gottesdienst” der Gemeinde als solcher zu bezeichnen pflegen, auch so etwas wie einen politischen Gottesdienst, d.h. nun eben einen Dienst Gottes, der, allgemein gesagt, in der Auseinandersetzung mit allen jenen Problemen oder, in Wiederaufnahme unseres Stichwortes gesagt, in irgend einer Anerkennung, Förderung, Verteidigung, Verbreitung menschlichen Rechtes nicht trotz, sondern gerade wegen der göttlichen Rechtfertigung bestehen würde? In welchem Sinn kann und darf und muß man mit Zwingli unterscheiden, aber doch auch verbindend in einem Atemzug „von göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit” reden?
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Man bemerke: das Interesse dieser Frage fängt dort an, wo das Interesse der reformatorischen Bekenntnisschriften und überhaupt der reformatorischen Theologie aufhörte oder doch erlahmte1). Daß es Beides gebe: die göttliche Rechtfertigung und das menschliche Recht, die Verkündigung Jesu Christi, den Glauben an ihn und das Amt und die Autorität der Obrigkeit, den Auftrag der Kirche und den Auftrag des Staates, das verborgene Leben des Christen in Gott und nun doch auch seine Bürgerpflicht — das haben uns die Reformatoren allerdings sehr kräftig eingeschärft. Und sie haben sich auch große Mühe gegeben, klar zu machen, daß Beides einander nicht widerspreche, wie Beides vielmehr sehr wohl nebeneinander bestehen und gelten könne. Es ist aber mit Händen zu greifen, daß sie uns hier — Luther in seiner Schrift „Von weltlicher Obrigkeit” von 1523 und Calvin in dem magistralen Schlußkapitel seiner Institutio nicht ausgeschlossen — etwas schuldig geblieben sind. Wir sollten doch offenbar nicht nur wissen, daß und inwiefern Beides einander nicht widerspricht, sondern zuerst und vor Allem: daß und inwiefern denn Beides zusammengehört. Auf diese Frage, auf die Frage nach dem Zusammenhang dessen, was sie hier — und gerade hier mit höchstem polemischen Nachdruck — bekannten, mit der sonst streng genug als solche geltend gemachten Mitte ihrer christlichen Botschaft bekommt man bei den Reformatoren keine oder in Form dürftiger Andeutung nur sehr unbefriedigende Antwort. Wie man sich auch zu dem Inhalt jenes letzten Institutio-Kapitels De politica administratione stellen möge (und wir haben Anlaß, uns auch zu ihm an sich sehr positiv zu stellen), das ist sicher, daß man bei seiner Lektüre an die früheren Teile des Werkes, insbesondere an das zweite und dritte Buch und deren Kardinalaussagen über Jesu Christus, den Heiligen Geist, die Sünde und die Gnade, den Glauben und die Buße nur wie an dem Reisenden auf einmal in merkwürdige Ferne gerücktes anderes Land zurückdenken kann. Denn darüber, inwiefern nun wirklich auch die politica administratio nach dem Titel des vierten Buches zu den externis mediis vel adminiculis gehört, quibus Deus in Christi societatem nos invitat et in ea retinet,
1) Vgl. dazu die instruktive Zusammenstellung von H. Obendiek: Die Obrigkeit nach dem Bekenntnis der reformierten Kirche, München 1936.
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darüber wird man in diesem Kapitel bei allem Reichtum, den es sonst enthält, nur bescheidenste Belehrung finden. So steht es aber auch mit den entsprechenden Darlegungen Luthers und Zwinglis und so mit denen der lutherischen und reformierten Bekenntnisschriften. Daß Obrigkeit und Gesetz auf einer besonderen ordinatio der göttlichen Vorsehung beruhe, nötig um der noch nicht überwundenen Sünde willen, dienlich dazu, die Menschheit vor deren greifbarsten Äußerungen und Folgen einigermaßen zu schützen und darum von ihr in Dankbarkeit und Ehrfurcht anzunehmen — das sind gewiß richtige und biblische Gedanken, das genügt aber nicht, um die Beziehung sichtbar zu machen, in der diese Sache mit der anderen steht, die die Reformation im übrigen als die entscheidende und letztlich alleinige Sache des Glaubens und des Bekenntnisses geltend gemacht hat. Was meint Calvin, wenn er einerseits versichert, spirituale Christi regnum et civilem ordinationem res esse plurimum sepositas2), um dann andererseits doch zweimal3) die Stelle Ps. 2, 10f. auf die Unterordnung aller irdischen Machthaber unter Christus zu deuten und um das ideale Ergebnis jener göttlichen ordinatio dann doch als die politia christiana zu bezeichnen4)? Inwiefern christiana? Was hat Christus mit dieser Sache zu tun? fragen wir uns und werden mit dieser Frage wirklich ohne Antwort stehen gelassen, als ob ein besonderes Walten einer allgemeinen, gewissermaßen anonymen Vorsehung hier doch das letzte Wort wäre. Und wenn wir bei Zwingli5) den starken Satz lesen, die weltliche Gewalt habe „Kraft und Befestigung aus der Lehre und Tat Christi”, so lautet die Erklärung dieses Satzes enttäuschenderweise doch nur dahin, daß Christus nach Matth. 22, 21 geboten habe, dem Kaiser zu geben, was des Kaisers, Gott, was Gottes ist, und daß er das durch die Leistung des Didrachmon (Matth. 17, 24f.) selber bestätigt habe. Das ist wieder an sich ganz richtig6); aber, so beziehungslos gesagt, ist das trotz der Anrufung der Evangelientexte keine evangelische, sondern eine gesetzliche Begründung.
2) Inst. IV 20, 1.
3) ib. 20, 5 u. 29.
4) ib. 20, 14.
5) Schlußreden, Art. 35.
6) Matth. 17 gehört zwar, weil es um eine Tempelsteuer
gehe, nicht hieher!
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Man wird diese Lücke in der Unterweisung, die wir von den Vätern unserer Kirche empfangen haben, den Mangel an einer evangelischen und das heißt im strengen Sinn: christologischen Begründung dieses Teils ihres Bekenntnisses weder übersehen noch leicht nehmen können. Daß sie auch hier nur biblisches Gut zur Darstellung bringen wollten, kann natürlich keine Frage sein. Wohl aber besteht die Frage: ob und inwiefern sie bei der Einführung dieses biblischen Gutes in ihr Bekenntnis der Richtschnur folgten, an die sie sich sonst für gebunden hielten, ob sie nämlich auch das Recht auf die Rechtfertigung, auch die politische Gewalt auf die Gewalt Christi begründet oder ob sie hier nicht heimlich auf einem anderen Grund gebaut und damit dann trotz alles scheinbaren Biblizismus jenes biblische Gut doch nicht wirklich zur Darstellung gebracht haben? Man bedenke, was geschehen mußte, wenn dem so war: war der Gedanke des menschlichen Rechtes der Erkenntnis der göttlichen Rechtfertigung bloß angeklebt, statt sachlich mit ihr verbunden, dann mußte es einerseits möglich sein, die Erkenntnis der göttlichen Rechtfertigung von dem fremden Zusatz gewissermaßen zu reinigen und auf sie eine sehr spirituale Botschaft und Kirche zu begründen, die in großer Innerlichkeit Alles von Gott und von Gott Alles zu erwarten vorgab, und die dieses „Alles” nun doch faktisch bestritt, indem sie zu der ganzen Welt des menschlichen Fragens nach Recht und Unrecht vor lauter Reich Gottes, Sündenvergebung und Heiligung keinen Zugang mehr suchte und fand. Und es mußte dann andererseits möglich sein, die Frage nach dem menschlichen Recht mit festem Griff, vielleicht immer noch unter Berufung auf die allgemeine göttliche Vorsehung, aber nun gelöst aus dem reformatorischen Nebeneinander von Recht und Rechtfertigung selbständig in die Hand zu nehmen und eine säkulare Botschaft und Kirche des Menschenrechts zu bauen, bei dessen emphatischer Zurückführung auf „Gott” es doch nicht verborgen bleiben konnte, daß damit der, der Vater Jesu Christi ist, daß also seine Gerechtigkeit mit dem proklamierten Menschenrecht auf keinen Fall gemeint sein könne. Diese beiden Möglichkeiten und damit die pietistische Unfruchtbarkeit auf der einen, die aufklärerische auf der andern Seite sind bekanntlich seit der Reformation in vielen Spielarten Wirklichkeit geworden. Man wird aber nicht gut leugnen können,
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daß zwischen dieser Tatsache und jener Lücke in der reformatorischen Unterweisung ein Zusammenhang besteht. Und nun stehen wir heute in einer Zeit, in der einerseits auf dem Boden der Kirche die Frage nach der göttlichen Rechtfertigung und andererseits im politischen Leben die Frage nach dem menschlichen Recht in je ganz neuer Eigenart und Schärfe erwacht sind und hier wie dort auf heue noch unübersehbare Entwicklungen hinzudrängen scheinen. Es liegt nahe, sich heute dessen wieder zu erinnern, daß beide, Rechtfertigung und Recht, oder: das Reich Christi und die anderen Reiche, oder: die Kirche und der Staat im reformatorischen Bekenntnis einst nebeneinander gestanden, daß die Reformatoren unter einem Gottesdienst im Geist und in der Wahrheit ein Leben in diesem und in jenem Bereich verstanden haben. Aber wenn es heute nicht alsbald aufs Neue zu jenen unfruchtbaren und gefährlichen Scheidungen kommen soll, dann genügt es heute nicht, sich der Reformation zu erinnern, die Formeln, in denen sie die beiden Bereiche nebeneinandergestellt hat, zu wiederholen, „die reformierte Staatsauffassung” und dergleichen noch und noch einmal mit mehr oder weniger historischer Treue und nachempfindendem Pathos zu rezitieren, als wäre jene Lücke nicht vorhanden, als trüge die reformatorische Lehre mit jener Lücke die Versuchung zu jenen Scheidungen nicht in sich. Wenn die eigentümliche Dynamik unserer Zeit uns zum Heil und nicht zum Unheil werden soll, dann muß die eingangs formulierte Frage gestellt werden: die Frage nach dem sachlichen und also inneren und notwendigen Zusammenhang der beiden Bereiche.
Was hier vorgelegt wird, ist eine Studie und zwar eine biblische, genauer neutestamentliche Studie zur Beantwortung dieser Frage. Die Problematik der reformatorischen Lösung ist ja entscheidend die Problematik des damals in dieser Sache maßgebenden Schriftbeweises. Sollen wir heute weiterkommen, so müssen wir auf alle Fälle zunächst auf die Schrift zurückgehen. Dazu soll hier ein Teilversuch gemacht werden6a).
6a) Der Leser wird schon gut tun, zu beachten, daß in diesem Heft nur dies und nicht mehr als dies versucht wird: auf exegetischem Weg zu einer besseren Sicht des Problems „Kirche und Staat” vorzustoßen. Es wäre m.E. schon viel gewonnen, wenn Einige zugeben würden, daß dieser Versuch als solcher notwendig ist.
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Ich beginne, indem ich als, soweit ich sehe, letzte wichtigere Kundgebung der in dieser Sache zuständigen theologischen Fachwissenschaft in einigen Sätzen das wiedergebe, was K.L. Schmidt in seiner Basler Antrittsvorlesung vom 2. Dezember 1936 unter dem Titel „Das Gegenüber von Kirche und Staat in der Gemeinde des Neuen Testamentes”7) zu unserem Thema herausgearbeitet hat: Die grundlegende Belehrung der Kirche über ihr Verhältnis zum Staat ist „das grelle Bild der Hinrichtung Jesu Christi durch seine Behörde”. Was ist dieser Staat? Er ist eine von jenen jederzeit von der Dämonisierung, d.h. von der Selbstverabsolutierung bedrohten Engelmächten (ἐξουσίαι) dieses Äons. Was ist ihm gegenüber die Kirche? Sie ist das eigentliche πολίτευμα des neuen Himmels und der neuen Erde, also solches jetzt und hier allerdings noch verborgen und also im Raume des Staates eine Fremdengemeinschaft (παροικία). Aber die Solidarität der Not und des Todes verbindet die Christen wie mit allen Menschen so auch mit den Trägern der Staatsgewalt. Indem die Kirche lieber die Verfolgung durch die zum „Tier aus dem Abgrund” gewordene Staatsgewalt erduldet, als die Vergötterung des Cäsars mitmacht, weiß sie sich doch auch für ihn verantwortlich und betätigt sie diese ihre Verantwortlichkeit, ihren „prophetischen Wächterdienst”, zuhöchst und entscheidend, darin, daß sie für ihn und seine Beamten unter allen Umständen betet. — Schmidt’s Darstellung beschäftigt sich ausdrücklich nur mit einem Ausschnitt des Problems „Kirche und Staat im Neuen Testament” und zwar mit der
7) Theol. Bl. 1937 Nr. 1. Nach Abschluß dieser Arbeit begegnete mit der Aufsatz von Gerhard Kittel, „Das Urteil des neuen Testamentes über den Staat” (Zeitschr. f. Syst. Theol. 14. Jahrg. 1937, S. 651-680, erschienen im Juni 1938). Er bringt in der mich interessierenden Richtung nichts Neues. — S. 665 dieses Aufsatzes wird jemandem gepredigt, seine Auslegung möge „sich ernsthaft prüfen, ob sie noch ,Auslegung’ ist, das heißt, ob sie wirklich allein die Ermittlung des im Text Gegebenen zum Ziel hat oder ob es ihr letztlich um eine — mag sein unbewußte — Eintragung eigener Wünsche sich handelt”. Nun, das ist eine Mahnung, die jedermann immer wieder mit Nutzen hören kann. Nur daß man solche, die hinsichtlich dessen, was sie heute gerade in dieser Sache sagen müssen und nicht sagen dürfen, so sehr im Glashaufe sitzen, bitten darf, sich in der Apostrophierung anderer einige Zurückhaltung aufzuerlegen. Was in dem erwähnten Aufsatz selbst z.B. gleich S. 652f über „Fremdstaat” und „Volksstaat” gesagt und nicht gesagt ist, dürfte mit den „Wünschen” des Verfassers sowie mit denen gewisser „Mächte und Gewalten” bestimmt in einigem Zusammenhang stehen.
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unserer Frage scheinbar gerade entgegengesetzten Frage nach dem „Gegenüber” der beiden Bereiche. Es scheint mir wichtig, festzustellen, daß auch bei dieser anderen Problemstellung bei Befragung des Neuen Testamentes eine ganze Reihe von Gesichtspunkten unvermeidlich sichtbar wurde, die nun doch auch zur Beantwortung unserer Frage nach dem positiven Zusammenhang der beiden Bereiche von höchster Bedeutsamkeit sind, so sichtbar, daß ich mich im Folgenden einfach an diese Reihe halten kann.